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Ein Dach überm Kopf oder Es gibt noch Wunder

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»Übersiedeln, schon wieder übersiedeln!« sagte die Mutter und sank ächzend auf den Küchenhocker. Da saß sie in ihrer alten gelben Wachstuchschürze, die sie sich eben zum Geschirrspülen umgebunden hatte, saß kopfschüttelnd, beide Hände vors Gesicht geschlagen. Der Vater stand vor ihr, – er hatte soeben die Nachricht gebracht –, und blickte mit schuldbewußter Miene auf sie nieder.

Aber sie saß nicht lange so. Sie ließ die Hände sinken, stand auf, atmete tief und strich sich die Schürze glatt. »Also gut, gut«, sagte sie »wenn es sein muß. Es wird das dreizehnte Mal sein.«

Das dreizehnte Mal in zwölf Jahren: daran hatte die Weltgeschichte schuld – und der Staat. Zuerst der Staat.

Mein Vater war k.u.k. Offizier, also einer von den Zehntausenden, die – mit Sternchen am Kragen – erst im bunten, dann im feldgrauen Rock einem Staatsgebilde dienten, das vom Bodensee bis zum Eisernen Tor, von Galizien bis in die montenegrinischen Berge reichte, in zwanzig Zungen sprach und an endlosen Grenzen bewacht werden mußte. Die Folge war, daß es die Leute, die ihm dienten, hin- und herschob, von einer Garnison in die andere, aus einem Kronland in das übernächste, aus dem Deutschen ins Ungarische, aus dem Ungarischen ins Tschechische, aus dem Polnischen ins Italienische: der Rösselsprünge gab es kein Ende. Auch mein Vater wurde herumgeschoben und, da er Familie hatte, diese selbstredend mit. So hieß es übersiedeln und wieder übersiedeln, es war ein ewiges Wandern mit Betten und Schränken, Kredenzen und Tischen, mit dem Flügel aus Mahagoni und dem Salonluster aus Gablonz. Dazu Kisten mit dem guten und dem weniger guten Porzellan, mit dem guten und mit dem weniger guten Glas und mit dem großen goldgerahmten Bild: Die letzten Opfer der Schreckensherrschaft.

Alles, was da war, packte meine Mutter ein und aus; sie hätte sonst niemanden daran gelassen. Dann sah sie zu, wie ihre Möbel, die sie mehr liebte als gut war, von groben, ungeschickten Packburschen gefaßt, gedreht, gekippt, über Treppen gehievt und in einem Wagen verstaut wurden. Ihr tat das Herz weh, wenn die schönen Polituren Kratzer abbekamen und wenn die geschnitzten Zierleisten eine Matze kriegten. Wie zitterte ihr Herz in stiller Qual, wenn der geliebte Flügel, um einen Türstock gerummst, metallisch aufwimmerte und wenn es aus der Kiste, in die der Gablonzer Kristalluster versenkt war, gefährlich klirrte.

Was beim Ausziehen geschah, konnte natürlich auch beim Einziehen geschehen, und es war ja das Schlimmste nicht. Noch schlimmer war, daß man wieder einmal in eine Fremde kam: fremd war der Divisionär, bei dem sich der Vater zu melden hatte, fremd die Kameraden, fremd die Untergebenen; fremd das Haus, in das man einzog, fremd die Einteilung der Räume, der Ausblick aus den Fenstern, fremd der Krämer, bei dem man einkaufen, fremd der Schuster, bei dem man sich die Schuhe anmessen lassen mußte; fremd der Hausmeister, der Kommen und Gehen überwachte, fremd die Lehrer, zu denen man die Kinder in die Schule schickte – und fremd der Arzt; und das war vielleicht das Schlimmste, denn man war nicht gesund.

Man schleppte alte Leiden mit sich herum: der Vater, hager und überreizbar, litt an der Schilddrüse, die Mutter an einem schweren Herzklappenfehler und an einer Indisposition der Galle, die ihr viele Schmerzen verursachte. Sie hätte sich schonen sollen, beide hätten sich schonen sollen; statt dessen Dienst und Unruhe und Umgewöhnung – und diese Umzüge, einer nach dem anderen.

Dann kam der Krieg, die Trennung und die Sorge, und als der Krieg zu Ende war, Armut, neue Heimatlosigkeit und – wie denn anders? – neue Übersiedlung. Die Mutter hatte die letzten Kriegsjahre in Böhmen, im Haus ihrer Eltern verbracht, da hätten wir wohl bleiben können, zweifellos. Doch der Vater ertrug es nicht, in dem neuen Staat zu leben, der sich damit brüstete, am Untergang des alten Staates mitgewirkt und ihn an allen Fronten mituntergraben zu haben. Er mochte nicht mehr aus dem Haus gehen, seit er Aufläufen begegnet war, die sich jubelnd um einen Galgen scharten, und an dem Galgen hing die Puppe des alten Kaisers.

Also neuer Aufbruch, diesmal in die alte Familienheimat Vorarlberg, obwohl der Vater dort kaum jemanden kannte und obwohl er nicht wußte, wovon er dort würde leben können. So lag die Zukunft als unabsehbare Ungewißheit vor uns.

Wir Kinder begriffen noch nicht viel von unserer Lage. Aber wir spürten, daß sie uns mitbetraf, wenn der Vater noch wortkarger und noch gereizter war als früher und wenn sich in unserer Mutter schönes ernstes Gesicht ein noch tieferer Leidenszug eingrub.

In Vorarlberg fanden wir lange keine eigene Wohnung, und als wir endlich eine gefunden hatten (sie hätte uns gefallen können mit ihren großen, niederen vielfenstrigen Stuben, mit ihren Decken-Täfelungen und dem weiten Blick über das Rheintal zum Säntis und zum Bodensee), stellte es sich leider heraus, daß unsere Hauswirte, die im Stockwerk unter uns wohnten, an allerlei Wahnideen litten und daß sie alle, Eltern, Großeltern und Kinder, abwechselnd in die Landesirrenanstalt eingeliefert werden mußten. Es war unleidlich, an ihren Türen vorbeizugehen und immer fürchten zu müssen, daß der eine oder andere hervorschoß und seine unsinnigen Beschimpfungen und Anklagen vorbrachte. Schließlich wurde uns Kindern verboten, die Haustreppe zu benützen, wir mußten durch die hinten angebaute Scheune und über Leitern klettern, wir fanden das so übel nicht, doch unseren Eltern schien es unerträglich.

Dazu kam: Der Vater hatte keine Arbeit und damit auch keinen Verdienst, wir lebten, ich weiß nicht wie, ziemlich kümmerlich.

Einmal glaubten wir, eine Zuflucht zu finden auf dem Gut eines Onkels, das Gut war in Kärnten gelegen, in schöner Gegend. Indessen war dieser Onkel alles andere als ein guter Landwirt, schon eher ein bramarbasierender Abenteurer, der alle, die ihm über den Weg liefen, zu sich auf seinen Hof einlud, mit dessen Besitz er großtat wie mit einer glänzenden Musterwirtschaft. In Wirklichkeit gab es da nichts zu essen als Kohlsuppe, Kohlsuppe, in der die mitgekochten Würmer schwammen, das waren greuliche Mahlzeiten. Auch unsere Unterkunft war ziemlich schmählich: ein winziges Blockhaus, in dem es von Mäusen wimmelte, wir lagen auf Strohsäkken dicht gedrängt wie Sardinen in der Büchse. Zu allem Überfluß brach dann auch noch ein Unwetter über die Gegend herein, der Hagel zerdrosch die Feldfrucht, der Bach schwoll an und schwemmte das Heu davon, das Kleinvieh ersoff, die Katastrophe war komplett.

Also weg aus Kärnten und zurück nach Vorarlberg und wieder ins Blaue hinein gewartet, gehofft und mit dem nächsten Umzug gerechnet. Der kam dann auch, doch diesmal willkommen, trotz Müh’ und Plag’. Denn der Vater hatte endlich eine Stellung gefunden, im Tirolischen, er sollte dort ein Gut verwalten, es war heruntergekommen in den vergangenen Jahren, er sollte es wieder in Ordnung bringen und Ertrag erwirtschaften. Konnte er denn das? Er konnte es, er mußte es können, er las einschlägige Bücher, er befragte Einheimische, er holte sich Rat von erfahrenen Leuten, vor allem aber gehorchte er dem eigenen gesunden Menschenverstand, der eigenen Vorsicht und Geduld. Er erwartete nie etwas Außergewöhnliches. Darum konnte ihm das Normale gelingen. Als wir ins Tirolische übersiedelten, sagte meine Mutter zu mir: »Hier darfst du drei Steinchen vom Boden aufheben und sagen: sie sind mein.«

Drei Steinchen. Das war nicht viel. Trotzdem begriff ich damals: Es war ein Anfang, ein Anfang um einzuwurzeln.

Meine Mutter kam aus einer Familie, die seit langem seßhaft war. Dort in Pilsen, in der rußigen Stadt zwischen Bierbrauereien und Schwerindustrie, war die Familie einheimisch, bürgerlich, ehemals wohlhabend. Ein Urgroßvater hatte ganze Häuserzeilen besessen und, vor der Stadt, Felder, Wiesen, sogar einen Weinberg. (Ich bezweifle, daß dort jemals Wein gediehen war.) Der große Reichtum hatte sich zwar unterdessen verflüchtigt. Immerhin: Da gab es Grund und Boden. Das war meiner Mutter in Fleisch und Blut übergegangen: nur Grund und Boden verleihen etwas wie Stand und Gewicht, nur das eigene Dach überm Kopf ist Heil und Erlösung. Wer es hat, ist befreit von Angst. Er kann nicht gekündigt und von Schikanen verfolgt werden. Er braucht keinen Hauswirt zu fürchten und keine Mieterhöhung, er braucht nicht mehr einzupacken und auszuziehen und durch die Welt zu zigeunern.

So wollte sie sich und den Ihren Grund und Boden verschaffen und ein Dach überm Kopf.

Danach strebte sie mit allen Sinnen, allen Kräften und über ihre Kräfte hinaus.

Wie schon gesagt: Ihr Herz war geschädigt. Die Pumpe ging rasselnd. Ein Arzt hatte ihr einmal gesagt: »Älter als achtundvierzig werden Sie nicht.« Mit diesem Urteil lebte sie. Anfangs mag es sie nicht tiefer beunruhigt haben. Da lag der Zeitpunkt noch fern. Doch er rückte näher. Jetzt war sie vierzig. Jetzt war sie dreiundvierzig; dreiundvierzig, als der Glücksfall eintrat mit der Stellung im tirolischen Inntal; als sie sich nicht mehr sorgen mußte: Woher nehme ich das Geld für die Winterkartoffeln? für eine Zwirnrolle? für einen Schürzenstoff? und woher vor allem für die Miete? – Jetzt wohnten wir umsonst, und Vaters Hof lieferte das Nötigste: Milch und Brennholz, Käse und Nüsse. In einem Garten zogen wir Gemüse, im Hof scharrten einige Hühner. Jetzt konnte sie endlich sparen, sparen in dem Sinn, daß sie ansparte, Groschen um Groschen, Schilling um Schilling für das, wovon sie träumte, für Grund und Boden, für das Dach überm Kopf im eigenen Haus.

Denn für ewige Zeiten, das wußte sie, würde auch die gute Bleibe im Tiroler Oberland nicht zu haben sein. Der Vater, längst weißhaarig, vom Krieg verbraucht, würde nicht immer arbeiten können. Schon wurde es ihm sauer, täglich hinaufzuwandern zu dem Hof, den er verwaltete; doppelt sauer die Rundgänge durch den Forst, der sich über Hunderte Meter hinaufzog ins Gebirge, dreifach sauer der Aufstieg zu den Almen. Eines Tages würde es damit ein Ende haben. Dann hieß es wieder wandern – wohin? Die Mutter hatte sichs geschworen: Ins eigene Haus. Das würde dann der letzte Umzug sein.

Es konnte nicht anders kommen: ihre Sparsamkeit nahm manischen Charakter an. Ich war noch zu jung, um größere Wünsche zu haben als etwa eine Rippe Schokolade oder eine kitschige Postkarte mit bunter Herbstlandschaft. Meinen älteren Geschwistern setzte die Sparsamkeit schon schlimmer zu. Sie wären, denke ich heute, auch einmal gern ins Kino gegangen oder hätten mit Freunden ein Glas Limonade im Wirtshaus getrunken. Aber das gab es nicht. Es gab fast nichts, was Geld kostete, und selbst ich, die verhätschelte Jüngste, bekam ein Donnerwetter um die Ohren, wenn ich mir in der Schule einen neuen Bleistift klauen ließ. Der Untergang wurde mir prophezeiht: »Du wirst noch einmal als Bettlerin sterben.«

Jede Ausgabe, die vermieden werden konnte, wurde vermieden. Schon längst hatten wir keine Hilfe mehr im Haus. Mit eigenen Händen wuschen Mutter und Schwester die Wäsche. Wenn dann abends die Finger wundgerieben waren an der eisernen Rumpel, aufgebissen von der scharfen Lauge, dann wurde davon kein Wesen gemacht: so waren doch wieder drei Schilling gespart – oder gar fünf – für das Dach überm Kopf, für das künftige Haus.

Alle Abende saß der Vater und zeichnete Pläne, Grundrisse, Aufrisse, Schnitte durchs Treppenhaus und Dachgestühl. Er zeichnete und bedachte genau, berechnete Mauerstärken und Ziegelmengen und zerbrach sich den Kopf, wo noch ein Quadratmeter eingespart werden könnte. Die Mutter saß dabei und gab Ratschläge, und wir Kinder standen hinter dem Vater und beobachteten bewundernd, wie fein er strichelte und wie zierlich er die Fassade zeichnete, die sollte ja wunderschön werden, darin war unser nüchtern-sachlicher Vater doch ein Kind seiner schmuckfreudigen Zeit, daß er sich sein Haus nicht anders denken konnte als mit geschnitzten Balkonen, gedrechselten Säulchen und buntbemalten Fensterläden, und in jedem Fenster blühten schon Geranien.

Doch wo dieses Traumhaus stehen sollte, war noch gar nicht ausgemacht.

Im Tiroler Oberland wollten die Eltern nicht bleiben. Sie dachten an Innsbruck, und schließlich war von Hall die Rede, der kleinen Stadt östlich von Innsbruck: dort, hieß es, habe ein Zimmermann einen Grund zu verkaufen, und derselbe Zimmermann biete sich an, auch das Haus zu bauen, hübsch und so solide wie nur möglich. Die Gasse, an der die Parzelle liege, habe den Namen Fuxmagen.

Fuxmagen! Einen so seltsamen Straßennamen hatten wir noch nie gehört. War da nicht gleich ein Wolfsleberplatz in der Nähe oder eine Bärenlungenallee? – Wir Kinder wollten uns totlachen.

Unseren Eltern hingegen war nicht zum Lachen zumute; keineswegs zum Lachen. Denn ehe man daran denken konnte, mit dem Zimmermann übereinzukommen, die Parzelle zu erwerben oder gar zu bebauen, da mußte ja doch erst das Geld beschafft werden für das ganze Unternehmen, und das Geld war ja noch gar nicht vorhanden. Aller Sparsamkeit zum Trotz, allem Verzicht entgegen, aller manisch Groschen auf Groschen häufenden Knickerei, – es war nicht mehr als ein Siebentel zusammengebracht, zusammengefuchst und -gerittert, ein Siebentel von dem, was der Zimmermann als unvermeidliche Mindestsumme nannte. Sechs Siebentel fehlten. Was tun?

Hilfesuchend wendete sich meine Mutter an ihre Familie in Böhmen.

Dort hatte sie noch nie vergeblich angeklopft. Ebenda ergab sich ein Glücksfall. Nach dem Tod des alten Vaters beschloß die Erbengemeinschaft, eins der alten Stadthäuser zu verkaufen, es war in einer guten Straße gelegen, war groß und aufwendig gebaut, das durfte schon eine schöne Summe tragen. Fünf Geschwister waren da, die würden sich die Kaufsumme teilen, eins davon war meine Mutter, und eine ihrer Schwestern war bereit, auf ihren Anteil zu verzichten und ihn einzubringen in das Haller Haus.

So weit, so gut und sehr gut. Aber, aber! Zwischen Pilsen, der alten böhmischen Heimat, und Österreich lag eine Grenze, eine Staats-Wirtschafts- und Devisengrenze, ähnlich wie heute.

Mauer und Stacheldraht – Nein, die gab es noch nicht. Noch waren keine Minen ausgelegt, noch standen keine behelmten Posten auf Wachtürmen mit Maschinenpistolen, noch kreisten nachts keine Scheinwerfer über kahlgeschlagenen Todesstreifen. Trotzdem: die beiden Staaten, CSR und Österreich, waren einander nicht grün. Nichts Gutes gönnten sie einander. So war es verboten, Geld und Geldeswert – es seien denn winzige Sümmchen – in den Nachbarstaat auszuführen.

Also mußte man schmuggeln.

Geschmuggelt wurde in jener Zeit von fast jedermann. Mit Schmuggel ignorierte man die Grenze, die, damals erst wenige Jahre alt und nach jahrhundertelanger Grenzelosigkeit, noch keine allgemein anerkannte Tatsache war. Für uns Österreicher war sie noch nicht legitim. Hatte das Land da drüben nicht vorher zu uns gehört? Noch schien die Trennung wider die Natur. Dennoch wußte man sehr wohl, daß die neuen Machthaber in Prag keinen Spaß verstanden, daß sie kein Pardon kannten und daß man eine Menge riskierte, wenn man ihre Gesetze umging.

Nun galt es in diesem Fall, eine gewaltige Menge zu riskieren. Aber wie und wer? Wer sollte sich getrauen, mit einem starken Bündel großer Scheine über die Grenze zu wechseln? Die Zollwache war wachsam. Wie wachsam, das war noch zu erproben.

»Ich werde es tun«, sagte meine alte Großmutter. Sie war an die siebzig, vielleicht schon drüber. »Ich werde es tun.«

»Du, Mutter, du?« – Söhne und Töchter standen um sie herum, bestürzt, möglicherweise auch ein wenig erleichtert.

»Ja, ich!« sagte sie. »Ihr seid mir alle viel zu aufgeregt.«

Meine arme Großmutter! Sie hatte zwar schon manches über die Grenze geschwindelt, was eine bornierte Obrigkeit mit Zoll und Zollstrafen belegt hätte: selbstgestrickte Strümpfe und Jäckchen für Enkelkinder, einen silbernen Löffel als Patengeschenk, eine Flasche nach Hausrezept verfertigten Kirschlikörs. Alles verboten – in sturer Feindseligkeit zwischen Staat und Staat. Doch wie verboten war erst ihr neuestes Vorhaben!

»Ich werde das Geld in den Schuhen verstecken«, sagte die Großmuter, »und in meinem Rockbund. Dort wird es niemand vermuten.« – Die Gute! Sie hatte keine Ahnung, daß jede wachsame Obrigkeit zuerst die Schuhe und dann die Säume durchfieselt.

Am Vorabend der Reise waren etliche Tausender unter die Brandsohlen ihrer schwarzen Schnürschuhe geschoben, etliche andere unter den Bund ihres Rockes genäht.

Da erschien, miteingeweiht, da der Familie seit Jahrzehnten vertraut, ein tschechisches Kusinchen: ein schon etwas ältlich gewordenes Fräulein, das sich, ohne Vermögen und ohne erlernten Beruf, so durchbrachte, daß sie bei Verwandten lebte und sich dort nützlich zu machen versuchte. Sie nähte sehr hübsch und vor allem akkurat. Sie flickte die heikelsten Spitzenstoffe so geschickt, daß das Loch kaum noch zu ahnen war. Sie richtete die herzigsten Päckchen her mit Bändchen und Maschen und garnierte die prächtigsten Geburtstagstorten. Jetzt ließ sie sich zeigen und vorführen, wo das Geld versteckt war.

»Nein, aber doch nicht so«, rief sie, »so geht das nicht, das kriegt ja jeder spitz, er braucht nur einmal hinzuschauen.«

Sie machte sich ans Werk. Zuerst bügelte sie die Scheine weich und geschmeidig wie Seide. Dann öffnete sie das Innenfutter der Schuhe und schob etliche Scheine hinein. Dann garnierte sie den Rockbund rundum, Saum für Saum. Dann nähte sie alle Verstecke mit den feinsten Stichen zu, deren ihre geübten Hände fähig waren. »Also in Gottes Namen«, sagte sie, als sie fertig war. »Ich werde beten, Tanterl, daß du gut hinüberkommst.«

Sie betete, ja, betete sie wirklich? Denn vielleicht – o Menschenseele, was bist du für ein Rätsel! – vielleicht schlug eben in derselben Nacht ihr nationales tschechisches Gewissen: sie, die ihr Volk inbrünstig liebte und seit dem Jahr 1918 glücklich war, einer befreiten Republik anzugehören und nicht mehr unter Österreich-Habs-burgs Tyrannei schmachten zu müssen, sie mußte sich in dieser Nacht sagen, daß hier Verbotenes geschah, ihrem Land zum Schaden, und daß sie, die sich doch immer als treue Tochter ihrer Nation gefühlt hatte, ihre Hand dazu geliehen. Und vielleicht (ich will es nicht behaupten) lief sie in jener Nacht noch zur Polizei oder drehte eine Telephonkurbel oder vertraute sich auch nur einem ihrer tschechischen Freunde an … denn –

Denn als meine Großmutter am nächsten Morgen losfuhr und nach vier oder fünf Stunden banger Bahnfahrt (so lange brauchten damals die Züge für knappe 150 km) in der Grenzstation einfuhr und noch bei rollenden Rädern einen Blick auf den Bahnsteig tat, da sah sie schon eine ganze Reihe Tellermützen aufgefädelt, eine Reihe von Pelerinen im unverkennbaren Mausgrau der tschechischen Zollwacht, und als der Zug hielt, schwärmten sie in noch unverkennbarerem Eifer aus und stürzten in die Waggons.

Und da kam schon einer daher, verlangte den Paß und lachte, als er den Namen las. »Da ist ja die gnädige Frau, da ist sie ja! Wir werden die Fahrt hier ein bißchen unterbrechen, wenn es gefällig ist. Aussteigen, bitte, aussteigen! – und das Gepäck nehmen wir auch mit.« Meine Großmutter, siebzig damals, vielleicht auch schon drüber, hatte viele böse Augenblicke in ihrem Leben überstanden. Sie war eingeübt, böse Augenblicke zu überstehen. Aber in diesem mag sie bis in die Lippen blaß geworden sein. Dennoch stand sie ruhig auf, nahm ihren Pompadour, ihren Mantel, ihren Hut; der Beamte trug das Gepäck, so stiegen sie aus – und dann ging es los.

Es ging damit los, daß sich das ganze Rudel Zollbeamter um sie sammelte, wie Jagdhunde, die ihre Beute schon zwischen den Zähnen haben. Man fragte sie: »Wo haben Sie das Geld?« und als sie den Kopf schüttelte und auf ihr mit wenigen kleinen Scheinchen beschicktes Portemonnaie verwies, brach man in Hohngelächter aus: Man habe doch ein Haus verkauft, oder nicht? So habe man doch wohl eine Stange Geld gekriegt, oder nicht? und wenn man jetzt ins Ausland fahre, so geschehe das aus einem ganz bestimmten Grund, oder nicht? man habe doch eine Tochter in Österreich, wie bekannt, die fahre man besuchen, wie erwiesen, die Fahrkarte hier, die laute auf einen Ort in Tirol.

Nun wurde das Gepäck meiner Großmutter geöffnet und sie selbst einer Frau übergeben, die sie untersuchen sollte. In einem zellenartigen Raum mußte sie sich entkleiden.

Was nun geschah, wird für immer ein Rätsel bleiben.

Die untersuchende Beamtin fand nichts. Oder sie tat, als habe sie nichts gefunden. Sie schaute in die Schuhe, sie griff den Rockbund ab, sie ließ alle Kleidersäume durch ihre Finger gleiten, sie griff meiner Großmutter in die Frisur und löste ihr dürftiges Zöpfchen. Meine Großmutter (ich glaube sie vor mir zu sehen) saß dabei still, bewegte sich kaum, nur ihre Lippen zuckten ein wenig, weil sie ein lautloses Ave sprach.

Dann sagte die Beamtin: »Ziehen Sie sich wieder an.«

Draußen stand die Meute und drängte heran: »Na – und? wieviel?«

»Nichts«, sagte die Beamtin. »Nichts.«

»Das gibt es nicht«, riefen die Tellermützen wie aus einem Munde. »Sie muß es bei sich haben. Im Gepäck war nichts zu finden.«

Noch einmal zurück in die Zelle.

Noch einmal Schuhe, Hemd, Rock, Frisur, jedes Stück durchgeschüttelt, durchgegriffen. Die Beamtin zuckte die Achseln. – »Es ist wirklich nichts da«, sagte sie noch einmal.

Die Tellermützen wichen zurück. Sie stürzten sich noch einmal über die Koffer. Doch da war ja wirklich keine Beute zu machen. Zuletzt zerstreuten sie sich, mißmutig murmelnd. Der Zug war längst abgefahren. Meine Großmutter mußte drei, vier Stunden auf den nächsten warten. Sie saß auf irgendeinem Hocker, den ihr eine mitleidige Seele vor das Bahnhofsgebäude gestellt hatte, sie saß mit geschlossenen Augen, als schliefe sie, die gichtverkrümmten abgerackerten Hände fest im Schoß gefaltet.

So wurde dann unser Haus in Hall gebaut.

Im Sommer 1925 wurde der erste Spatenstich getan.

Im Sommer darauf war es fertig.

Im Haller Lokalanzeiger erschien ein längerer Artikel. Der Bau wurde als besonderes Ereignis gefeiert. Es sei, hieß es darin, das erste Haus, das nach dem Krieg in der ganzen Gemeinde errichtet worden sei.

Meine Mutter erlebte es nicht mehr, daß wir einzogen.

Sie konnte gerade noch dabei sein, als die Dachgleiche gefeiert wurde. Wenige Tage später brach bei ihr die Krankheit aus, die ihr der Arzt zwanzig Jahre zuvor angekündigt hatte. Sie starb im Juni 1926 und wurde auf dem Friedhof bestattet, auf dessen Vorplatz die Fuxmagengasse mündet.

Ich lebte viele Jahre in dem Haus. Es war meine Zuflucht und meine Rettung in einer Zeit, in der es sonst keine Zuflucht und keine Rettung für mich gegeben hätte.

Der Goldschatz aus Böhmen - Erzählungen und Anekdoten

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