Читать книгу Nur ein Regenbogen - Erzählungen aus fünf Jahreszeiten - Gertrud Fussenegger - Страница 4

Der gelbe Saal

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Einige Jahre vor Beginn des großen Krieges vollzog sich in einer kleinen Stadt des deutschen Südens ein merkwürdiges Schicksal, das wohl dazu angetan gewesen wäre, die Aufmerksamkeit der Menschen zu erwecken; denn es kam dahin, daß ein altes Leben, das all seine Tage in treuester Redlichkeit und Strenge gegen sich selbst verbracht, an seinem Ende Zuflucht zum Verbrechen nahm, um sich in seiner Einsamkeit an einer armen, vom Atem des Wahnsinns angefachten Liebesflamme zu erwärmen.

Allein damals gab es wenige, die nach diesem einfältigen und glücklosen Leben fragen mochten. Erst in unseren Tagen erinnerte man sich wieder daran, und so mag auch diese verschollene Geschichte hier wieder berichtet werden.

In einem Gartenhaus am Rande der Stadt wohnte ein Mann, Jakob, mit seiner Frau; er stand in den Diensten eines reichen Kaufherrn, der sich hier an heißen Sommertagen oder in den langen milden Wochen des Herbstes mit den Seinen zu erholen pflegte. Dann wirbelte der Rauch aus dem Küchenkamin zwischen den besonnten Platanenwipfeln empor, und aus den Fenstern drang der leckere Geruch von Braten und Backwerk. Leichte Frauenkleider raschelten, mit ihren Schleppen schwänzelnd, über die Freitreppen hinauf und hinab, und im Laubengang promenierte der Hausherr mit seinen Gästen in behaglichem Gespräch. Zum Abschied wurden wohl auch bunte Lichter angesteckt, und mit dem fröhlichen Lärm der Tafelnden vermischten sich die wiegenden Klänge eines altmodischen Walzers.

Sonst war es still und einsam in Haus und Garten. Leer stand der große gelbe Saal, in dessen Fenstern Blumen und Früchtetrauben nickten, leer die schönen Schlafstuben und die von Kupfer und Nickel funkelnde Küche. Nur das dienende Walten des Besorgers und seiner Frau machte die tägliche und manchmal mühselige Runde. Nie hatten sich die beiden einfallen lassen, die Räume der Herrschaft zu ihrem eignen Vergnügen zu betreten, nie ein wenn auch noch so kleines Recht an den unbenützten Dingen sich anzumaßen. Sie lebten in ihren zwei engen Kammern unterm Dach und kannten keinen andern Wunsch, als den Glanz der Herrenwohnung ungetrübt zu bewahren. Die Sorgfalt, die sie darauf verwandten, diesen ihnen anvertrauten Schatz zu hüten, war einer Leidenschaft nicht unähnlich, die ihren eintönigen Alltag erfüllte und ihr Wesen immer tiefer durchdrang.

Nicht anders als mit der Wohnung verfuhren sie mit dem Garten. Weit und breit war kein besseres Obst, kein strotzenderes Gemüse zu finden, und die Blumen entfalteten sich unter Jakobs Pflege Jahr um Jahr prächtiger als anderswo. Hinter dem weißen Staketenzaun sah man die kantige Gestalt des Mannes von der Schneeschmelze bis tief in den Herbst hinein zwischen den Pflanzungen umherwandern, sich bückend niedertauchen und wieder erscheinen. Er stach um, säte und setzte, jätete und begoß und brachte endlich die Früchte ein. Allein er versagte es sich, von ihnen zu nehmen, er behielt nur den Abfall für den eignen Tisch. Brachte er die Ernte in das Haus seines Dienstherrn, wartete er wohl heimlich darauf, daß ihm ein Teil davon angeboten würde. Aber da dies nur allzuselten geschah und er nicht bitten wollte, vertröstete er sich selbst, daß er das nächste Mal vielleicht um so reichlicher erhalten werde; und endlich dachte er bei sich, daß er und sein Weib ja die Freude an dem Wachsenden und Reifenden genössen und mit dem stillen Glück des Gärtners schon gut genug belohnt seien.

Jakob und Anna waren nicht mehr jung und glaubten, die Mitte ihres Lebens längst überschritten zu haben, als ihnen ein Knabe geschenkt wurde. Unerwartet fanden sie eine seit vielen Jahren scheu verhehlte Sehnsucht aufs lieblichste erfüllt. Die staunende Freude der beiden alternden Menschen verwandelte sich in helles Entzücken, als sie sahen, daß das Kind wohlgeraten und schön war, daß es – wie die Kinder jüngerer Eltern – lächeln und strampeln lernte, daß es bald Vater und Mutter von Fremden unterschied und seine Nahrung mit derselben tiefsinnigen Verständigkeit nahm, wie jeder gesunde und hungrige Säugling sie zu nehmen pflegt.

Sie gaben ihm in der Taufe den Namen Wilhelm, welcher der Name von Jakobs Vater war. Dieser hatte in einem ansehnlichen Marktflecken das Amt eines Bürgermeisters bekleidet, und sein Bild, das einzige Prunkstück der bescheidenen Wohnung, hing in goldenem Rahmen unter dem Kruzifix. Sonntags, wenn die Arbeit ruhte und der kleine Wilhelm satt und zufrieden in seinem Bettchen lag, holte sein Vater eine alte Mappe hervor, die alle Erinnerungen an Wilhelm, den Bürgermeister, enthielt. Bedächtig schlug er Blatt für Blatt um und las, die Lippen flüsternd bewegend, die vergilbten Zeitungsausschnitte wieder, die seines Vaters Erwähnung taten. Da stand Anna von ihrem Platz an der Wiege auf, blickte ihrem Mann über die Schultern, nickte und lächelte schließlich mit blanken Augen. Und es geschah nicht selten, daß Jakob Annas Hand ergriff und die Frau auf seine Knie zog. So saßen sie atmend still, bis das sinkende Licht zum Abendbrot mahnte.

Der Knabe bekam Zähne und lernte laufen, und es vergingen kaum zwei oder drei Sommer, bis er sich als Herr über Haus und Garten fühlte. Von der Straße und den Zäunen der Nachbarn holte er sich Spielgefährten herbei, und bald begann zwischen Beeten und Büschen ein lustiges Treiben, über die blank gebohnerten Treppen trappelten Kinderfüße, und an den blitzenden Fensterscheiben des gelben Saales drückten sich kleine Rotznasen platt: es gab darin so vieles zu bestaunen.

Dem reichen Kaufherrn war es leid, daß die träumerische und behagliche Stille seines Sommersitzes auf solche Weise gestört worden war. Mit ärgerlichem Stirnrunzeln bemerkte er, daß hier und dort ein kleiner Fuß eine Pflanzung betreten, einen Stengel geknickt hatte; lästig schien es ihm, daß, führte er seine reichen und vornehmen Gäste umher, er dem unbekümmert schwärmenden Bubenvolk auf Schritt und Tritt begegnen sollte. Mit scharfen Worten fuhr er gegen den kleinen Wilhelm los, der solches Gelichter herbeigelockt hatte, und jagte seine Gefährten kurzerhand zum Tor hinaus.

Nun mußte der Knabe bei seiner Mutter in der Stube bleiben und schmollend, weinend vor Ungeduld, die grüngoldenen Wochen des Sommers fast als Gefangener verbringen, bis der Kaufherr mit den Seinen zur Stadt zurückfuhr.

Doch mit den Jahren wuchs seine Kraft und die unbändige Sehnsucht, diese Kraft in Spielen und Knabenstreichen frei zu regen. Es war, als habe sich der starre Rechtssinn des Vaters in ihm zu trotzigem Ungestüm verwandelt, den Jakobs Ermahnungen und selbst die flehentlichen Bitten der Mutter stets nur für kurze Zeit zu dämpfen vermochten.

Eines Tages, da er mit seinen heimlich eingelassenen Kameraden Räuber und Büttel spielte, wagte er das Unerhörte: er stieg durch das offene Fenster des gelben Saales ein, um sich dort zu verbergen. Von der Lust am Spiel berauscht hörte er, wie die Gefährten draußen vergeblich nach ihm suchten, er lockte sie durch verstellte Rufe dahin und dorthin, und um sich an den Mühen der Genasführten zu weiden, schlich er ans Fenster, spähte, fand sich entdeckt und sprang noch einmal zurück. In diesem Augenblick klirrte schon die Scheibe eines kostbaren Spiegels in tausend Scherben über den Boden hin.

Verzagten Herzens wanderten Jakob und seine Frau in das Haus des reichen Kaufherrn, Abbitte zu leisten. Doch die erwartete Scheltrede blieb aus. Mit trauriger Miene reichte jener ihnen die Hand. »Arme Leute«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben, »ihr werdet an eurem Kinde noch viel Kummer erleben müssen.«

Am Abend, als Wilhelm schon schlief, saßen die verstörten Eltern noch bei ihrer Ölfunzel wach. Endlich hob die Mutter das verweinte Gesicht von den Händen. »Wir haben unsern Wilhelm zu lieb gehabt, Vater«, sagte sie. »Ich sehe es nun, wir haben ihn zu lieb gehabt.«

»Meinst du das wirklich?« fragte der Mann. Er trat zum Herd, da gloste noch ein wenig Glut, er starrte in ihr düster-rotes Licht und konnte seine Augen nicht mehr wegwenden. »Dann haben wir eine schwere Sünde gegen ihn begangen.«

»Ja«, sagte die Mutter, »das haben wir wohl. Und wir müssen nun streng sein gegen ihn.«

Der Mann nickte, und nach einer Weile nickte er wieder, als fiele es ihm schwer, diesen Gedanken in sich zu fassen, obwohl er ihm willig sein wollte. »Streng sein …«, sagten die Eltern vor sich hin. »Ja, das müssen wir nun.« Und dann weinten sie wieder.

Von diesem Tag an begegneten sie ihrem Sohn anders als vorher. Sie zwangen ihn, seine kindlichen Spiele aufzugeben und an ihrer Arbeit teilzunehmen. Sie schlossen die buntbebilderten Bücher fort, in denen er so gern gelesen hatte, wachten darüber, daß er nicht mehr mit den Gefährten zusammentraf, von denen, wie sie meinten, der Trotz des Knaben aufgewiegelt würde. Sie suchten seine Lehrer auf und baten sie, ein scharfes Auge auf ihn zu haben. Sie weihten ihn nicht mehr in die kleinen Geheimnisse ihres Lebens ein, sondern hielten ihn fern von sich, in der Meinung, so seine Ehrfurcht zu erwecken.

Wohl sahen sie, daß Wilhelm diesen Wandel nicht begriff. Er war, wie alle Kinder, stets bereit gewesen, seine kleinen oder größeren Übeltaten zu vergessen, und vergaß sie, sobald er glauben konnte, daß auch die Eltern sie vergessen hätten. Allein diesmal wartete Wilhelm vergeblich. Ein Tag nach dem andern verging, und was ein kurzes Ungewitter geschienen, breitete sich zu einem Landregen aus, einer nicht enden wollenden Trübe. Dem Knaben war, als hätte er sich unversehens in ein fremdes kälteres Land verirrt, aus dem es keinen Ausweg gab. Voll Schmerz und Trotz versuchte er sich die Rückkehr in das verlorene Paradies zu erzwingen, doch sein wildes Aufbegehren erschreckte die Eltern noch mehr. Sie machten ihr Herz hart gegen ihn und verbargen ihre Liebe.

Als Wilhelm vierzehn Jahre alt war, erbot sich der reiche Kaufherr, ihn zu sich in die Lehre zu nehmen. »Vielleicht mache ich noch was Ordentliches aus ihm«, sagte er. »Ich will nichts unversucht lassen, euch zuliebe, denn ihr seid gute Leute und habt das Böse nicht verdient.« So trat Wilhelm in das Geschäft seines Herrn ein, zuerst als Tütendreher und Laufbursche, später als Verkäufer. Er war jetzt ein langer und hagerer junger Mensch geworden, die dumpfe Luft in den Warenhäusern bleichte seine Haut, und seine Augen trübten sich ein wenig. Die Leute, die ihn früher gekannt hatten, stießen einander an. »Seht, das war das schöne Kind von Jakob und Anna, jetzt ist er häßlich; aber er verdient sein Brot.«

Eines Tages – es war kurz vor der Weihnachtszeit und das Wetter bitter kalt – kam der Kaufherr in sein Gartenhaus. Anna lief, als sie das Gefährt vor dem Gartentor erblickte, geschäftig hinab in den Saal, um ein Feuer anzumachen. Da blinkte und blitzte der Boden, obwohl niemand von der Herrschaft zu erwarten gewesen war, und es lag kein Stäubchen auf den Möbeln und kein dürres Blättchen unter der Zimmerlinde. Die Frau rückte den Polsterstuhl an den Ofen, eilend, dem frierenden Herrn einen Kaffee zu kochen. Aber er lehnte mit finsterer Miene ab, verlangte nach Jakob und ließ sie beide lange wartend an der Türe stehen, ehe er das grämliche Gesicht nach ihnen wandte. »Euer Sohn«, begann er, »hat mir meine Güte schlecht belohnt. Doch ich habe nie etwas von ihm gehalten, mich trügen meine Augen nicht.«

Die Eltern fingen an zu zittern. »Gnädiger Herr«, stammelte die Frau, sie faltete ihre alten, von der Arbeit gekrümmten Hände. »Gnädiger Herr, seien Sie nicht zu hart. Ich bitte Sie! Aber wenn unser Wilhelm wirklich etwas verfehlt haben sollte, wollen wir alles gutmachen, ich und mein Mann …«

»Was wollt ihr gutmachen? fragte der Kaufherr. »Er ist ein Dieb geworden, es liegt an seiner Ehre.«

Die Mutter schrie auf, und Jakob mußte sie am Arm fassen und hinausführen. Dann kehrte er in den gelben Saal zurück; alle die alten und wohlbekannten anvertrauten Dinge standen da, blank und glänzend, und grinsten ihn höhnisch an. Der Kaufmann saß am Ofen und stemmte die Füße gegen die Kacheln, er hatte seine blaugefrorene Nase im Pelz vergraben. Aber das Feuer knatterte munter, und seine Wärme weckte einen leisen Duft wie nach gebratenen Äpfeln und Behaglichkeit. Da schaute der Kaufherr auf und sagte: »Laß mir einen Glühwein bringen, Jakob! – Du willst wohl wissen, was er gestohlen hat, der Wilhelm. Hundert Kronen sind es – jawohl, sie waren in meinem Schrank versperrt.«

Es war schon spät, und der Mond zeigte sein weißes Gesicht zwischen den kahlen Ästen der Bäume und dem bewegten Gewölk, das an ihm vorbeitrieb, als die Tür ging und Wilhelm nach Hause kam.

Er trat in die Kammer, da lief die Mutter auf ihn zu und schrie: »Was hast du getan, Wilhelm, was hast du getan? Haben wir dich gelehrt, ein Dieb zu werden?«

Der Sohn knickte zusammen; sein Mund zitterte, da er ihn endlich auftat; er fragte so verwundert, daß die Eltern vor Schmerz winselten: »Glaubt ihr es denn, ihr auch?«

Doch als keine Antwort kam, lief seine Stirn dunkelrot an, sein Blick wurde glühend starr, er schrie: »Ihr seht mich nie mehr wieder …« Damit sprang er die Treppen hinab und in die Nacht hinaus.

Von dieser Stunde an blieb Wilhelm verschwunden. Ein langer, grimmiger Winter verging, und als endlich der Frühling schüchtern seinen Einzug in den verödeten Fluren und Gärten der Vorstadt hielt, saßen die beiden Alten immer noch allein in ihrem Sommerhaus und warteten. Sie warteten Tag und Nacht, ihr Schweigen war ein Hinauslauschen geworden und ihr Schlaf nur wie ein dünner Schleier, der sich für kurze Stunden auf ihre Bangnis senkte. Manchmal verließen sie ihr Heim und wanderten ein Stück ins offene Land hinaus und suchten mit ihren Augen alle Wege ab.

Die Spalierbäume begannen zu blühen, der Rasenplatz stand von weißen Narzissen voll, da kam der Wagen des reichen Kaufherrn wieder vorgefahren. Doch nicht er entstieg dem Gefährt, sondern seine Frau, eine dicke, muntere Dame mit vollen Wangenrosen. Sie stieß das Tor hastig auf und segelte auf Jakob zu, daß ihr Busen wogte. »Freuen Sie sich, lieber Mann«, rief sie und ergriff seine Hände. »Ihr Sohn ist unschuldig, die hundert Kronen haben sich gefunden: die Geldrolle ist in dem alten Schrank hinten in ein Geheimfach gekollert.«

Dem alten Jakob entfiel das Setzholz, er sagte: »Gott sei Dank …« und ließ die gnädige Frau stehen, er lief zu Anna in den gelben Saal, die dort kniete und den Boden scheuerte. Nach einer Weile erschien auch die gnädige Frau; nachdem sie Annas Hand gedrückt hatte, bat sie um Kaffee. »Eine Flasche Wein habe ich mitgebracht«, jubelte sie. »Und einen Kuchen; wir wollen dieses Fest doch feiern, zu dritt!«

Aber die Mutter wollte das Glas nicht auf die glückliche Entdeckung leeren. Die Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie kam nicht nach, sie mit der Schürze abzutrocknen. »Jetzt muß er wiederkommen«, stammelte sie ein um das andere Mal. »Im Tagblatt soll es stehen, daß der Wilhelm unschuldig ist. Dann muß er wiederkommen.«

Im Tagblatt erschien denn auch eine Nachricht, allein sie hatte von anderem zu berichten als von der wiederhergestellten Ehre des Gärtnersohnes: Ein Förster gelangte auf einer Streife in einen sehr abgelegenen Teil seines Reviers und fand dort unter den tiefhängenden Ästen einer Schirmtanne eine menschliche Leiche in einer Drahtschlinge hängend. Die Leiche war von Füchsen und anderem Raubzeug übel zugerichtet, fast bis zur Unkenntlichkeit verwest, aber der eine oder der andre meinte, in ihr den verschollenen Kaufmannslehrling erkennen zu dürfen. So begrub man die armen Reste an der Friedhofsmauer, wo Selbstmörder und Andersgläubige in ungeweihter Erde liegen. Der reiche Mann, in dessen Diensten Wilhelm gestanden, stiftete ein steinernes Kreuz, dem er Wilhelms Namen und ein von Rosen umranktes »Ruhe in Frieden!« einmeißeln ließ.

Aber kaum war dies geschehen, so pochte der alte Jakob an das Haus seines Brotherrn und bat, den Namen seines Sohnes von dem Kreuz zu entfernen. »Die wüste Leiche war unser Wilhelm nicht«, sagte er. »Unser Wilhelm war unschuldig, was hätte er sich erhenken sollen? Gott bewahre, er war ein frommer Junge, der hat seine Seele nicht dem Teufel verschrieben.« So wurde der Name wieder entfernt, und das Grab blieb unbestellt, weil sich keiner darum kümmern wollte. Niemals sah man Jakob oder Anna bei dem eingesunkenen Hügel stehen; wenn sie auf den Friedhof kamen, schlichen sie scheu daran vorbei und gönnten ihm keinen Blick.

Die Jahre vergingen, grau waren die beiden Alten geworden, verrunzelt und gebrechlich. Noch immer hausten sie auf dem Sommersitz des Kaufherrn, und noch immer blitzten die Fensterscheiben spiegelklar zwischen Wein und Klematis hervor. Mit Besen und Tuch wanderte Anna durch die hellen Räume, die gewohnte Pflicht erfüllend; doch ihr Augenlicht begann nachzulassen, sie trug eine grüne Brille, und wenn sie auf den Dielen einen feuchten Tritt oder eine Staubflocke vermutete, mußte sie auf allen vieren suchend umherkriechen – »wie ein Hund«, meinte sie dann selbst, »der seines Herrn Spur erschnüffelt …«

Auch den Mann schien das alte Gärtnerglück zu verlassen. Das pflanzliche Leben wollte sich seinen Händen nicht mehr fügen, es welkte und starb dahin, als wäre Jakobs Pflege von einem heimlichen Unsegen begleitet. Mit jedem Male wurde die Ernte karger, die er in die Stadtwohnung seines Dienstherrn brachte. »Hier ist es – und es ist alles«, sagte er, sein zahnloser Mund lächelte bitter. »Ich habe kein Äpfelchen für mich behalten, gnädiger Herr. Ich bin kein Dieb, auch ich nicht.«

Geh nur, Jakob! Dir fährt das Alter in den Kopf. Du wirst sonderbar.«

Von ihrem Sohn sprachen die Eltern selten und seltener. Aber eines wußte vom andern, daß es nicht aufgehört hatte zu hoffen und zu harren. Wilhelms Wiederkehr war etwas, das sie gleichsam am Rande ihres Lebens zu sehen erwarteten, das in irgendeiner Weise bereits zu den letzten geheimnisvollen Dingen gehörte, die Gott an der menschlichen Seele im Augenblick ihres Abscheidens vollzieht. »Wir werden nicht mehr Zeit haben, alles gutzumachen«, meinte Jakob einmal. »Ach, wie könnten wir, wie könnten wir!« antwortete die Mutter. »Selbst wenn wir ihm die ganze Welt zu Füßen legten, was wäre sie gegen unsre Reue!«

Vor Weihnacht, wenn sich der Tag jährte, an dem Wilhelm verschwunden war, wurden beide stets von einer tiefen Unruhe ergriffen. Heimlich buk die Mutter Lebkuchen und brachte wie einst eine kleine Tanne vom Markt, Wachslichter und Flitterwerk. In den langen Mittwinternächten dünkte sie der Sohn näher als sonst zu sein, sein Bild erfüllte ihre Sinne wie eine leibhaftige Gestalt, und seine Stimme schien als ein leiser Nachhall in den verlassenen Gemächern zu schweben. Qualvoll beglückt durchstreiften sie Haus und Garten, sahen die bereiften Bäume zauberisch im Dunkeln stehen. Eine fremde Spur im Schnee ließ sie plötzlich verstummen, den zwei alten Menschen war, als hielten Himmel und Erde rings um sie den Atem an vor dem, was geschehen sollte.

In einer solchen Nacht war es, als Anna plötzlich von einem Geräusch erwachte, es war ein leises Scharren, das für Sekunden aussetzte, doch immer wieder begann. Sie weckte Jakob, nun lauschten beide atemlos. »Es ist jemand draußen«, flüsterte er.

»Mach Licht, mach Licht! O Jesus Christus!« schrie sie leise, als die Schwefelhölzer zwischen seinen bebenden Fingern nicht sogleich aufflammen wollten. »Der Wilhelm!« Ihre Stimme zerbrach in Entzücken und Grauen, zitternd sprang sie auf die Beine und versuchte in ihre Kleider zu fahren. Aber die Augen versagten ihr den Dienst, sie tappte hilflos umher.

Unterdessen hatte der Mann eine Kerze zum Brennen gebracht und war auf den Flur getreten: nun war das Scharren ganz deutlich zu vernehmen, es drang aus dem Dachraum, zu dem sich eine schmale Stiege durch eine Falltür emporwand. Barfuß, vor Kälte und Erregung schlotternd, stieg der Greis die Stufen hinan. »Wilhelm!« rief er. »Wilhelm, bist du es?«

Mit dem Kopf im Dachraum auftauchend, sah er einen Mann vor einer Truhe knien und im Licht einer winzigen Laterne mit Dietrich und Feilen hantieren. Es war die Truhe, in der sie des Sohnes Kleider und Wäsche aufbewahrten. Der Fremde kehrte Jakob den Rücken zu, doch jetzt, durch den Ruf oder den Schein der Kerze gewarnt, erhob er sich, blickte zurück. Es entfuhr ihm ein gurgelnder Laut des Entsetzens, einer sinnlosen Bewegung zur Flucht folgte sekundenlang schwankendes Stillestehen, endlich sprang er hin und schmetterte die Falltür über dem Alten zu.

Die Mutter hatte den Schlag und das polternde Kollern eines Körpers vernommen. Sie stürzte in die Finsternis hinaus, stolperte und fand ihren Mann am Boden liegend, seine Hand hielt noch die erloschene Kerze krampfhaft umschlossen. Sie tastete über ihn hin, ließ ihn liegen, klomm die Stufen hinan und stemmte stöhnend die schwere blechbeschlagene Platte auf. »Wilhelm, Wilhelm …«

Im Dachraum brannte das kleine Diebeslicht, und in seinem ungewissen Schein stand ein Mensch; er war groß und breit und hatte ein wollenes Tuch um den Hals gebunden. Die alte Frau ging auf ihn zu, furchtlos, sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und brachte ihre halbblinden Augen nahe an sein Gesicht. »Du bist es, Kind!« flüsterte sie unter Tränen.

»Gott sei gelobt!«

»Kind …?« fragte der Mann.

»Mein Wilhelm …«

»Ich heiße nicht Wilhelm«, erwiderte der Fremde. »Ich weiß nicht, was Ihr wollt!«

»Verberge dich doch nicht vor mir!« rief die Mutter ausbrechend. »Ach, du bist lange fort gewesen. Aber wir wußten, daß du wiederkommen würdest, der Vater und ich. Wir haben immer daran geglaubt, daß du uns schließlich verzeihen würdest.«

Der Mann schüttelte den Kopf, wollte reden, vermochte es jedoch nicht. »Ich verstehe Euch nicht«, murmelte er endlich verwirrt. »Ich bin ein Dieb, ein Einbrecher. Einer, der nachts in fremde Häuser schleicht … Ich wollte Kleider holen, mich fror – es ist so kalt. Da kam der Alte …« Er stand eine Weile da, seine Augen suchten die Falltür, jetzt schauderte er heftig zusammen. »Der alte Mann … er fiel doch die Treppe hinab, und ich … ich bin noch hier!«

Er riß sich von Anna los, öffnete eine Luke und zwängte sich hindurch. Die Frau hörte den dumpfen Fall seines Körpers, doch kurz darauf sah sie einen hastenden Schatten zwischen den verschneiten Büschen verschwinden. Da warf sie die Arme empor und schrie …

Wenige Stunden später war das stille Haus voll fremder Menschen. Polizisten standen umher, während ernst blickende, schwarzgekleidete Männer jeden Raum Zoll für Zoll durchmaßen. Die Leiche des alten Jakob hatten sie in seiner Kammer auf das Bett gelegt, sie war nicht entstellt, nur aus Mund und Nase waren zwei feine Blutfäden hervorgesickert, die dem hohlwangigen, verrunzelten Gesicht den Ausdruck stiller Vergnügtheit gaben.

Im gelben Saal liefen Schritte hin und her, rastlos, ohne Ende. Von Zeit zu Zeit versuchte eine Hand an der Türklinke zu rütteln, dann erhob sich eine dunkle Stimme, die voll Geduld, aber auch voll Festigkeit war: »Setzen Sie sich nieder, liebe Frau. Sie dürfen jetzt nicht hinausgehen. Sie werden Ihren Sohn bald wiedersehen …«

Man fand den Mörder in einem nahen Schuppen, wo er sich im Heu vergraben hatte. Als er hörte, daß der alte Mann tot sei, beteuerte er jammernd, das habe er nicht gewollt.

Kurz vor Fastnacht trat das Schwurgericht zusammen, um über den Mann, der in einem Sommersitz eingebrochen und dabei den Hausbesorger erschlagen hatte, zu richten. Er nannte sich Albrecht Hegner, aus einem fernen Teil des Landes gebürtig, und erzählte sein Leben, wie es bisher verlaufen war, das Leben eines eltern- und heimatlosen Menschen, der es zuerst versucht hatte, redlich durchzukommen, und schließlich Hehler und Dieb geworden war. Jetzt hatte er getötet.

Als Kronzeugin erschien eine alte, gebückte, eisgraue Frau, die ihre halbblinden Augen nicht für eine Sekunde von der Anklagebank wandte, die aufstand und lauschte, wenn der Angeklagte zu reden anhub. Sie sagte, er sei ihr Sohn. Zehn Jahre habe sie auf ihn gewartet, um ihm abbitten zu können, was sie ihm einst angetan. Sie habe ihn, ihr einziges Kind, aus dem Elternhause vertrieben durch ihre Härte und den häßlichen Verdacht des Diebstahls, dem sie auch nur eine Stunde lang Glauben schenken konnte. Ihr Wilhelm habe zuviel Ehre gehabt, um das zu ertragen. Nun sei er heimgekehrt; wenn er sich auch einen andern Namen gegeben habe, sie habe ihn erkannt, sie wüßte, wer er sei. Und sie, die Mutter, wolle für ihn zeugen.

Die Richter hörten ihr schweigend zu, sie wagten nicht, die Frau in ihrem Elend anzublicken. Es wurde still im Saal, sehr still, niemand rückte auf seinem Stuhl, niemand flüsterte ein Wort, nur der Angeklagte krümmte sich zusammen, es schüttelte seinen Körper, und schließlich weinte er hemmungslos.

Vor der Urteilsverkündung ließ der Vorsitzende die Frau hinausführen. Sie duldete es willig; doch vor der Schranke, hinter der der Mörder saß, hielt sie inne und sandte ein blindes zitterndes Lächeln tröstend zu ihm empor.

Der Gerichtshof verurteilte den Angeklagten zu vier Jahren Zuchthaus. Dieser nahm die Strafe an, und auch die Mutter klagte nicht, als sie davon hörte. »Zehn Jahre sind es bis jetzt gewesen, nun noch vier …, sie werden mir nicht mehr so lange währen.«

So kehrte sie in ihr Gartenhaus zurück und lebte dort einsam für sich, Tag um Tag zählend, keinen andern Gedanken hegend als den an die Heimkehr des Sohnes zur Gesellschaft. Wenn es erlaubt war, die Gefangenen zu besuchen, machte sie sich auf und brachte einen Korb Eßwaren und Wäschestücke ins Zuchthaus. Bald war sie dort bekannt, man erzählte sich ihre Geschichte, und es geschah nicht selten, daß rohe Menschen ihrer zu spotten versuchten.

Als die vier Jahre vorüber waren und Albrecht Hegner die Freiheit erlangte, führte ihn Anna zu sich auf den Sommersitz ihres reichen Brotherrn. Es war ein so lauer Winter gewesen, daß die Bäume schon Knospen trugen, und das Gras war nicht ganz verblichen. Die Luft stand milde über dem Land, das in der Ferne leuchtend blau war, der Südwind trieb Wolken vor die Sonne, und ruhelos wechselte das feuchte, flackernde Licht auf den Dächern der Stadt.

Die Frau geleitete den Freigelassenen durch den Garten, ihre Wangen brannten im Fieber, und ihr Schritt war leicht, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Sie öffnete das Haus: da stand die Flügeltür zum gelben Saal aufgeschlagen, hinter die Bilder waren Tannenreiser gesteckt und alles, was das Glashaus an Blüten hergab, auf den Simsen aufgestellt. Die Frau rückte den hohen Lehnstuhl an den Tisch und hieß den Mann darin niedersitzen.

Die Glocken läuteten den Mittag ein, nie schienen ihre Stimmen feierlicher gerufen zu haben; das volle Licht brach hernieder, es spiegelte sich in den blanken Dielen und den hohen golden gerahmten Scheiben, und jeder Winkel des Saales war von Glanz erfüllt. Da ging Anna und steckte noch Kerzen an, siebenmal drei Kerzen in den sieben schönen, hohen, metallenen Leuchtern. Sie öffnete den Schrank und nahm den feinsten Damast, um den Tisch zu decken, und das schwerste Silber. Aus dem Keller holte sie Wein, brachte Schinken und Backwerk und leerte die großen irdenen Töpfe voll köstlichen eingemachten Obstes in kristallene Schüsseln.

»Iß und trink, Wilhelm!« rief sie. »Wir wollen fröhlich sein!« Der Mann saß da und blickte um sich; nach den Jahren der Entbehrung gelüstete ihn zu kosten und zu genießen, ihm wässerte der Mund nach dem Überfluß. Allein ein Grausen faßte ihn an, denn er sah den Wahnsinn aus der Alten Angesicht leuchten. Mehr und mehr häufte sie vor dem Platz des Gastes auf; was zur Erde fiel, schleuderte sie ungeduldig mit dem Fuß zur Seite, sie achtete nicht darauf, daß Wein und Tunke über das kostbare Tischtuch flossen. Sie, deren Hände ein Leben lang nur gedient hatten, gierte jetzt danach, die sorgsam gehüteten Dinge an sich zu reißen, sie zu genießen, zu verderben, zu vernichten. »Laß es dir gut gehen, Wilhelm, mein Wilhelm. Hier bist du daheim. Auf diesen Tag hab’ ich mich eine Ewigkeit gefreut.«

Endlich ließ sich der Mann überreden, er trank, nahm von den Speisen, und kaum hatte er den Anfang gemacht, war er schon von seiner Gier überwältigt.

»Sieh dort den Spiegel … Weiß du’s noch? Es war der Beginn, von ihm ging alles Unheil aus.« Sie ergriff eine silberne Tasse und schleuderte sie gegen die Scheibe, die zerbrach. Von dem Klirren der Scherben entzückt, erhob sich die Greisin, trat auf das Bild des reichen Kaufherrn zu, der unterdessen längst gestorben war, sie zerrte es von der Wand und zerstampfte es unter ihren Füßen.

Nachbarn waren es, die, durch das Lärmen angelockt, in den Garten drangen und, durch die Fenster spähend, der Vernichtung ansichtig wurden; eiligst sandten sie nach der Stadt, um die Besitzer herbeizuholen.

Als die Erben des reichen Kaufherrn ankamen, war es Abend geworden. Die Lichter im gelben Saal waren ausgebrannt, nur ein einziger kleiner Stumpf beleuchtete mit seinem irren Geflacker die zerscherbten Gläser, die umgestürzten Schüsseln, den verwüsteten Tisch. Der Platz, an dem der Einbrecher gesessen hatte, war leer. Doch in dem Stuhl ihm gegenüber lehnte ein schwarzes Bündel, die Gestalt der alten Frau, das erlöste Gesicht zur Decke gewandt. Sie war tot.

Am Tage, da man Anna, die Witwe Jakobs, begrub, sah man am Hause des reichen Kaufherrn von unbekannter Hand die Worte geschrieben: »Wehe über die Hartherzigen, denn sie machen die Redlichen treulos, die Gehorsamen widerspenstig. Den Samen der Gerechten machen sie zu Spreu.«

Nur ein Regenbogen - Erzählungen aus fünf Jahreszeiten

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