Читать книгу Mai-Schnee - Gertrud Wollschläger - Страница 13

HAUSSCHATTEN

Оглавление

Er wusste, dass er zu Hause nichts sagen oder fragen durfte wegen seiner Ängste, die ihn seit dem Tod seiner großen Schwester verfolgten. Wie oft schon hatte er versucht, bei der Mutter Antworten auf sein Warum zu bekommen. „Jetzt nicht“, sagte die dann oft mit schmerzlich verzogenem Gesicht. Und beim Vater ging gar nichts. Der wurde sofort grob: „Hast du nichts anderes zu tun, als wie dumme Fragen stellen? Mach deine Arbeit und lass mir meine Ruhe.“

Dabei hätte er doch so viele Fragen an die Eltern gehabt, also solche wie „Wer passt jetzt eigentlich auf uns drei auf, den Hannes, den Ludwig und mich? Das ist doch gefährlich, wenn wir kehren müssen hinter der Scheune etwa, wo uns keiner sieht. Da kann sich doch leicht einer anschleichen.“ oder „Wie hat der das gemacht mit der Sonja, wie kriegt der die tot? Warum hat sie denn nicht um Hilfe geschrien?“ Er, Jürgen, wusste doch ganz genau, wie stark seine Schwester war. Keine Chance hatte er gegen sie, wenn die mal richtig hinlangte. Schließlich gab er es auf, quälte sich durch den Tag und fürchtete die Nacht, alleine in der Dunkelheit seines Zimmers.

Es kostete den Jungen jeden Tag eine große Überwindung, in den dunklen Hausgang zu gehen. Schon wenn er die Tür aufmachte, hielt er den Atem an. Er wollte ihn nicht riechen, diesen Geruch nach Finsternis, feuchter Kühle und der unbeschreiblichen Mischung aus dem Unheimlichen, das ihn aus jeder dunklen Ecke ansprang. Jürgen ließ die schwere Eingangstür aus Holz, die immer so seltsame Geräusche von sich gab, hinter sich offen, als könnte er vom Sonnenlicht und der sommerlichen Wärme etwas ins Haus mitnehmen.

Er hatte auch festgestellt, dass die Treppenstufen, die nach oben in die Wohnung führten, weniger laut knarrten, wenn er schnell über sie tappte. Langsam und leise schleichen ging gar nicht. Er konnte den Flur nicht schnell genug hinter sich lassen. Es gab Tage, an denen er fest davon überzeugt war, in der Dunkelheit unter der Treppe sitze einer. Jürgen hätte auch schwören können, dass er jemanden schnaufen hörte. Ganz deutlich war das zu hören, wenn er am Abend dem Vater ein Bier aus dem Keller holen sollte.

Dann meldete sich das Angstgespenst in seiner Brust und umklammerte ihn ganz stark, so dass er fast keine Luft mehr bekam. Irgendwie schaffte er es aber immer wieder, während kaltes Grausen über seinen Rücken lief. Hoch und runter lief es, immer abwechselnd, runter und hoch, hin und her. Das rollte und rollte wie ein Wellholz auf dem Nudelteig, von einer Richtung in die andere. Froh war er, wenn er sich in die hell erleuchtete Küche retten konnte und dem Vater vor lauter Erleichterung mit weit aufgerissenen Augen, viel zu laut, die Flasche ungestüm auf den Tisch stellte.

„Spinnst du, was rennst denn so? Im a Weile lässt du noch die Flasche fallen, dann haben wir die Sauerei.“ Die Mutter hob dann nur den Kopf und sah ihrem Sohn still ins Gesicht mit einem fernen Blick, den Jürgen von ihr nicht kannte. Dieses Schauen der Mutter war fremd und neu. Er spürte, dass sie weit weg war von ihnen.

Er hatte auch bemerkt, dass der Vater nicht mehr mit der Mutter zurechtkam. Der war jetzt noch öfter unterwegs als früher. Es vermisste ihn auch keiner. Im Gegenteil. Es war ein ruhigeres Arbeiten und Leben auf dem Hof.

Der Kurtle hatte sicher Recht. Der sagte nämlich in der großen Pause zu ihm: „Du wirst schon sehen, bestimmt müsst ihr jetzt alle sterben. Du als nächster, weil du gleich nach deiner Schwester kommst. Solche machen das immer so, dem Alter nach, weißt, halt nacheinander.“ Im Kreis standen sie beisammen auf dem Schulhof und verdrückten, zwischen den ziemlich präzisen Mordvoraussagen, hungrig ihre Vesperbrote. Die anderen nickten arg mit dem Kopf, als wüssten sie alle genau Bescheid, was mit ihm und seinen Geschwistern in der nächsten Zeit passieren würde.

Eigentlich ging es ihm gar nicht so schlecht, denn seit Tagen schon, um genau zu sein, seit dem Tod seiner Schwester, war er der Gefragteste unter seinen Mitschülern. Jeder wollte plötzlich sein Freund sein, tat sich wichtig mit ihm. Aber heute, als er diese ungeheuerliche Neuigkeit hörte, wäre es ihm lieber gewesen, er hätte wohin verschlupfen können, wo ihn kein Mensch auf der Welt mehr finden konnte.

Er dachte an seine zwei Brüder. Vielleicht war ja einer von denen der nächste und nicht gerade er. Er würde heute Abend auf jeden Fall intensiv um eine gute Lösung beten. „Das hilft“, hatte die Mutter früher immer gesagt, wenn in der Familie irgendwas Schlimmes passiert war und es einfach nicht weiterging. Er wusste bloß noch nicht, wen er von den Brüdern opfern sollte. Den Hannes oder den Ludwig? Über die hatte er schon das Sagen und konnte oft bestimmen, wo es lang ging. Wobei ihn der Ludwig mehr ärgerte und verpetzte. Wegen dem hatte er schon mehr Hausarreste aushalten müssen, als wie er Vierer in Klassenarbeiten geschrieben hatte. Aber dafür konnte der gut Fußball spielen und das würde ihm, Jürgen, bestimmt fehlen. Also der Hannes! Aber auch das hätte Auswirkungen auf sein Leben und zwar schlechte. Der Hannes war noch klein, gerade mal sechs Jahre alt, aber dem konnte er schon so manche Arbeit auf dem Hof und im Stall aufs Auge drücken, wenn er selbst keine Lust dazu hatte. Wenn man dem noch versprach: „Du darfst am Sonntag mit in die Hütte“, dann machte Hannes ohne Murren alles für einen. Ihre Hütte im Wald war nämlich ein sicherer Ort, wo man alles tun konnte und wo die Erwachsenen einen nicht störten.

In solch anstrengende Gedanken versunken ging Jürgen die Dorfstraße entlang. Schwüle Mittagshitze lag wie eine zu heiße Glocke über dem Tal. Die Sommersonne brannte in seinen Nacken, der in diesem Jahr schon tiefbraun war. Wer ihn kannte und so gehen sah, merkte sehr schnell, dass mit dem Jürgen heute was nicht stimmte. Kein bisschen Kinderfröhlichkeit war zu spüren. Ein erfrorenes Gesicht und entsetzte Augen waren es, die dem Betrachter entgegenblickten. Aber wer sah das schon? Eigentlich keiner. Und wer hinsah, schaute schnell wieder weg, um nicht Antworten geben zu müssen. Sie waren nicht leicht, diese Antworten. Fanden die Erwachsenen doch selber keine auf all die drängenden Fragen. Eigentlich machte sich niemand viele Gedanken über die Gefühle der Geschwister. Überhaupt war der Kerle doch schon groß, überragte seine Mitschüler um einiges. Für seine neun Jahre sah er älter aus, als er tatsächlich war. Glaubte man deshalb: „Der wird schon damit fertig werden?“

Jürgen legte einen Zahn zu. Er durfte nicht trödeln, sonst fuhr ihm der Bus vor der Nase weg. Er musste rechtzeitig an der Haltestelle sein. Keinesfalls wollte er alleine den schrecklichen, einsamen Waldweg auf den Berg nach Hause gehen, wo doch hinter jedem Baum der Eine stehen konnte mit einem Messer in der Hand. Bei dem Gedanken liefen seine Beine von ganz alleine schneller. Er fühlte sein Herz kräftig an seine Rippen klopfen.

Heute Mittag war er der erste am Bus. Der stand schon da. Penibel genau geparkt neben der vorgeschriebenen weißen Linie. Sein Motor brummte beruhigend leise vor sich hin. Herr Schaible, der Busfahrer, saß gemütlich auf dem Trittbrett an der Fahrerseite und zog an seiner Zigarette. „Du bist ja heute so früh, sogar der erste und ganz verschwitzt bist du. Bist du so schnell gelaufen? Ja, ja, es ist aber auch heiß heut. Sitz nur rein, wenn du möchtest.“

Der Herr Schaible sah Jürgen mitleidig an. Er dachte an die Geschehnisse und fand, dass es eine echte Heimsuchung war, was dieser Familie geschehen war. Der Fahrer stand auf, schaute auf den Jungen hinunter und fuhr ihm kurz mit der Hand durch das dunkle Haar. „Du bist schon ein armes Büble, was du alles miterleben musst.“ Die mitleidigen Worte kamen wie Peitschenhiebe bei Jürgen an. „Der Herr Schaible weiß sicher auch Bescheid, dass ich der Nächste sein werd.“ Er zog den Kopf weg, machte, dass er in den Bus kam und ließ sich auf seinen Sitz fallen. Warm war es im Bus. Jürgen war froh, dass noch keiner der Freunde da war. Er hatte so viel zu denken. Der Schulranzen, der sonst als erstes unter den Sitz flog, blieb auf dem Rücken. Er hatte ihn vergessen.

Jeder hatte seinen Platz im Bus. Wehe, einer setzte sich falsch hin, dann war der Streit vorprogrammiert und der Busfahrer musste streng durchgreifen. Dieser Bus war neu. Seit dem Tod seiner Schwester wurde er eingesetzt. Kein Kind sollte mehr nach Schulschluss alleine durch den Wald nach Hause gehen müssen.

Die Anspannung nahm dem Bub die Luft. Er weinte. Merkte nicht, wie seine Schultern zuckten. Es war ein trockenes Schluchzen und Schlucken, das den Körper erschütterte. Jürgen presste sein Gesicht an die Scheibe und empfand die glatte Glasfläche wie eine wohltuende Berührung.

Von Weitem hörte er seine Schulkameraden lärmend und durcheinanderredend die Straße entlangkommen. Sie drängten und schoben über die Treppe in den Bus, schubsten sich rauf und runter. „Da bist du ja. Warum bist du ab?“ Mit lautem Geplapper haute sich der Erwin in den Sitz neben Jürgen. „Ach lass doch den! Der wollt bloß der erste im Bus sei“, schnaubte ziemlich verächtlich der Edgar, der ihn sowieso nicht leiden konnte. „Wir waren noch am Kaugummiautomat. Der Kurtle hat Geld dabeigehabt. Zwei Mark. Wir haben alles verputzt. Guck, was wir rausgeholt haben! Eine Pfeife und einen Ring.“ „Und der Ewald hat am Schluss noch den Schlitz vom Kasten mit einem Kaugummi zugeklebt. Da kommt nix mehr raus. Die werden sich wundern!“

„Komm Jürgen, ruck mal auf die Seite, des isch doch mein Platz auch. Mach dich net so breit, zieh deine Haxen ein!“ So ging es durcheinander, bis Herr Schaible ein Machtwort sprach. Dann war Ruhe. Jeder hatte seinen Platz eingenommen und es wurde durchgezählt. Achtundzwanzig Kinder. Es stimmte. Vom Berg waren es sieben, die anderen aus der Nachbargemeinde.

Jürgen saß steif auf seinem Platz und hoffte, dass ihn keiner mehr ansprach. Sein einziger Gedanke war: „Hoffentlich fährt der Bus bald los. Ich muss zu meinem Onkel Arthur, der weiß bestimmt Rat.“

Der Onkel wusste immer Rat. So manches Mal hatte er ihn schon vor dem Vater in Schutz genommen, wenn ihm, Jürgen, eine saftige Strafe drohte. Meistens wegen einer Arbeit, von der es auf dem Hof genug gab, die nicht im Sinne der Eltern erledigt worden war. Der Vater war für seine Überstrenge bekannt. Ein Glück, wenn Onkel Arthur in der Nähe war. Da genügte schon ein scharfer Blick vom Onkel hin zum Vater, dessen Wut nach kurzem, lautem Geschrei in ärgerliche Maulerei umschlug. Hochrot im Gesicht und mit geballten Fäusten drehte der Vater meist ab und ging seiner Wege. Schon immer hatte Jürgen das Gefühl, dass der Onkel der eigentliche Bauer auf dem Hof war.

Nach fünfzehn Minuten Fahrt über die kurvige Strecke fuhr der Bus am Ortsschild Muri, Gemeinde Bergwiesen, vorbei und hielt an der ersten Haltestelle. Sofort drängte Jürgen zum Ausgang, benützte heute sogar seine Ellbogen, was er sonst von den anderen überhaupt nicht leiden konnte. Am liebsten hätte er mitgedrückt, damit die Tür schneller aufging. Auf die anderen warten, das war heute unmöglich, ging gar nicht. Er rannte den kürzeren Weg hinter den Häusern herum auf den elterlichen Hof. Ihr Gehöft lag ziemlich in der Dorfmitte, von den zwei Bushaltestellen war eine am Anfang und eine ziemlich am Ende des kleinen Weilers. Das sollte den Kindern ein sicheres Nachhausekommen ermöglichen.

Onkel Arthur kommt gerade um die Ecke, hat eben wohl Holz mit der Schubkarre zum Wohnhaus gebracht, als Jürgen auf den Hof einbiegt. „Was rennst du denn so?“, fragt der Onkel verwundert. „Wir haben noch nicht gegessen. Deine Mutter ist noch auf dem Acker, aber der Ludwig ist bereits da. Der hockt bei der Oma in der Küche und spielt. Die Oma wird schon rufen, wenn‘s so weit ist.“ Von Jürgen kommt kein Wort zurück. „Stimmt was nicht? War was in der Schule?“, hakt Arthur genauer nach. „Hast du zu viele Hausaufgaben? Ich schau mir nachher an, was ihr machen müsst.“

Gute Noten, das ist für Arthur das Wichtigste, damit aus den Kindern was wird. „Ihr müsst Abitur machen“, das hämmert er ihnen immer wieder ein, „sonst werdet ihr nix.“ Solche Sätze kennen die Kinder zur Genüge. Auch heute gebraucht er wieder gebetsmühlenartig den Abi-Satz. Normalerweise kommt dann ein wenig überzeugtes „Ja, ja!“ zurück. Heute nicht. Gar nichts kommt heute.

Jetzt erst merkt Arthur, dass sein Neffe noch kein Wort gesagt hat. Er dreht sich zu ihm um, mustert ihn von oben bis unten. Sagt auch nichts mehr. Hantiert mit seinem Schubkarren, lehnt ihn an die Wand vom Holzschuppen, geht ruhig auf Jürgen zu, legt den Arm um die Schultern des Jungen und führt ihn mit sanftem Druck zu seinem Anbau neben dem Wohnhaus, dem Zuhause des Onkels. Hier hat Jürgen stets das Gefühl von Sicherheit und Heimkommen. Sobald dort die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, müssen seine Sorgen und unerledigten Missgeschicke draußen bleiben. Vor allen Dingen sind sie, von hier aus betrachtet, nur noch halb so schlimm. Es sind meist glückliche Stunden für die Kinder vom Hof, wenn der Onkel Zeit für sie hat. Wenn sie mit ihm in der Scheune im Heu verschwinden können und Onkel Arthur erzählt oder Geschichten vorliest. Der ist nämlich gescheit, hat auch Abitur, weiß deshalb, wovon er redet, wenn er von Bildung spricht.

„Setz dich, Bub! Also was ist los?“ Sprechen kann der Bub nicht, bringt kein Wort heraus, es schüttelt ihn ein Weinkrampf. Er heult laut, wie kleine Kinder heulen, wenn ihre Furcht besonders groß ist, wenn sie Aufmerksamkeit und Trost brauchen.

Jürgen fängt an, Worte zu stammeln. Unzusammenhängende Wortfetzen, die zwischen den Stößen von Schluchzern hervorbrechen. „Der kommt wieder – vom Kurtle – Messer – und – sterben – ich der Nächste – bald sind alle tot.“ Verzweifelt legt er den Kopf auf den Tisch. Nur noch leises Weinen, das sich wie ein unaufhörliches, leierndes Summen anhört, kommt aus dem Kind. „Was erzählst du da? Von was und von wem redest du? Hat der Kurtle ein Messer und wer stirbt?“ Erschrocken blickt Arthur auf seinen Neffen hinunter. Sieht auf den empfindsamen, schlanken Kinderhals und spürt ein tiefes Mitleid mit dem Jungen. Ihm ist sofort klar, mit was das gestammelte Wörtergemisch zusammenhängen muss. Ihm wird abwechselnd heiß und kalt. Jetzt nur keinen Fehler machen und nix Falsches sagen! Ratlosigkeit überflutet ihn wie eine Riesenwelle und lässt ihn hilflos und schwach werden. „Ich muss was sagen. Etwas das überzeugt, was die Furcht von dem Kind nimmt!“ Er spürt, wie ihn eine große Wut zu überwältigen droht, was er aber nicht zulassen kann. Arthur hat plötzlich einen dicken Brocken im Hals, an dem er einige Male heftig schlucken muss, bis er seine Sprache wiederfindet. Wut und Hass sollen sein Leben nicht bestimmen, auch nicht das Leben der Kinder. Dann hätten sie schon verloren. Allesamt!

„Komm, red! Beruhig dich, was ist denn los?“ Arthur zieht einen Stuhl vom Tisch her und setzt sich Jürgen gegenüber. Der Junge wird stiller. Nur noch einzelne Schluchzer sind zu hören. Er hebt den Kopf, blickt den Onkel an und fängt an zu reden. Stockend erst, dann fließt es aus ihm heraus, das Entsetzen und die Todesfurcht. Von seinem nahen Sterben und dass sie alle dran sind. Warum das bei ihnen so ist. Wenn einer mal den Anfang gemacht hat, gehe es der Reihe nach ganz schnell. Vor allen Dingen, dass der Kurtle alles ganz genau weiß.

„Du lieber Himmel, was tut man dem Buben noch alles an?“ Das mühsame Verdrängen der Geschehnisse in den letzten Wochen, sein „Alles wird wieder gut!“ zu den Kindern, alles vergeblich und umsonst? „Ich muss ihm helfen!“ Nichts anderes denkt Arthur in diesem Moment. „Nicht der Kurtle ist wichtig. Heut der Kurtle, der so schwätzt, morgen ein anderer. Dem Bub das Richtige sagen ist wichtig, ihn muss ich stark machen! Es wird noch mehr kommen, bis der Täter gefasst ist. Selbst dann ist noch nicht Schluss. Dann werden Fragen nach dem Warum kommen. Ich muss ihm helfen, stark zu werden, das ist es. Verdammt, was sag ich nur?“ Krampfhaft sucht Arthur nach den richtigen Worten.

Automatisch geht er zum Schrank, bedächtig. Viel langsamer als sonst bewegt er sich, holt ein Glas heraus und lässt es voll Sprudel laufen. Zitrone, den mag der Junge am liebsten. Den hatte der Onkel stets parat. Das wussten die Kinder und nutzten es gründlich aus. Da hieß es dann schon mal: „Trink nicht im Unverstand, sonst kriegst du jetzt Hahnenwasser.“ Heute hätte der Bub von ihm aus eine ganze Kiste Zitronensprudel trinken können, wenn er gewollt hätte. Am liebsten hätte Arthur gesagt: „Weißt, ich versteh dich, ich habe doch selber Angst. Dieses freilaufende Ungeheuer belastet mein Leben genauso wie deines.“ Das hätte er in Wirklichkeit gerne zu Jürgen gesagt, aber das ging gar nicht. Beruhigung und Trost mussten her.

Mit etwas wackliger Stimme fängt Arthur an zu reden: „Was der Kurtle gesagt hat, stimmt doch überhaupt nicht. Der hat ein großes Maul und hat sich nur wichtig gemacht. Weißt, gerade auf dich und deine ganze Familie passt jetzt die Polizei besonders gut auf. Du siehst die bloß nicht, weil sie das im Geheimen machen. Sogar nachts sind sie in Verstecken auf dem Hof, im Wald und im ganzen Dorf. Alle Leute passen jetzt aufeinander auf. Die wollen den doch alle fangen, der die Sonja tot gemacht hat. Du wirst sehen, bald haben sie ihn! Und wenn der bis nach Amerika abgehauen ist, kriegen sie den!“

Beim Hinweis ‚Amerika‘ ruckt der Kopf von Jürgen hoch. Die Aussicht, dass das Böse nach Amerika verschwunden sein könnte, ist überzeugend gut. „Nach Amerika“, flüstert er zum Onkel hoch, „das ist ganz weit weg.“ Arthur sieht die Hoffnung in den Augen des Buben. „Ja was glaubst denn du? Der wartet doch nicht hier in einer dunklen Ecke, bis man ihn findet. Der weiß genau: Wenn sie mich erwischen, muss ich mein Leben lang ins Gefängnis. Also nichts wie weg!“ Jürgen trinkt seinen Sprudel mit wenigen Schlucken leer. „Noch eins?“, fragt der Onkel. Das leere Glas wird energisch über den Tisch geschoben. „Ja, voll!“ Nie im Leben vorher, wie Arthur später erzählte, war er mehr als erleichtert gewesen, dass er an diesem Tag die richtigen Worte gefunden hatte.

„He, was ist? Muss man euch eine Extra-Einladung schicken? Die Oma hat schon ein paar Mal zum Essen gerufen. Auf jetzt!“, ruft die Mutter von der Haustür her. „Los, Jürgen, wasch dein Gesicht!“, schickt ihn der Onkel an den Schüttstein. „Dann machen wir, dass wir an den Tisch kommen. Nimm einfach das Geschirrtuch zum Abtrocknen“, weist er den Jungen noch mit einem Blick über die Schulter an, während er schon zur Tür hinausgeht.

Es herrscht, wie jetzt an jedem Tag, eine sonderbar gedrückte Stimmung am Mittagstisch. Seitdem der eine Stuhl leer bleibt, ist es so. Oma Mechthild stellt gerade den großen Topf mit der Gemüsesuppe in die Mitte, als Arthur und Jürgen in die Küche kommen. Dicke Scheiben Brot stapeln sich im geflochtenen Brotkorb. Das Stoffdeckchen darin gibt es schon so lange, wie es den Korb gibt. Keinem wäre jemals eingefallen, ein anderes hineinzulegen. Ab und zu ausschütteln genügte. Brot macht nicht dreckig. Etwas Mehlstaub bleibt drauf, mehr nicht.

Mechthild bemüht sich redlich, jeden Tag aufs Neue, Alltag zuzulassen. Mit kleinen Bemerkungen wie „Esst nur, es ist genug da!“ oder „Ist die Suppe salzig genug?“ versucht sie, das schmerzliche Thema ‚Sonja‘ auszuklammern. Es weiß auch so jeder, an was der andere denkt. Wie viel einfacher wäre es für alle gewesen, offen darüber zu reden! Das hartnäckige Schweigen, das Nicht-Nachfragen-Dürfen, konserviert den Schmerz, macht alle noch verletzlicher. Die aufgenommene Angstsaat wird in der Seele festgedrückt, nein, festgestampft, geht auf für die folgenden Jahre.

Der Kampf um ihr Überleben hatte erst begonnen. Es war der Anfang eines langen schmerzvollen Weges, den sie noch zu gehen hatten. Gut, dass Onkel Arthur da war! Gut, dass jeder neue Tag einen neuen Anfang versprach. Auf dieses Versprechen gingen sie alle gerne ein, auch wenn sie bis zum Abend feststellten, dass sich nicht viel verändert hatte. Anders heute, als Jürgen erfahren durfte, dass der Schreckliche vielleicht, sogar höchstwahrscheinlich, nach Amerika abgehauen war. Für Jürgen wurde es zu einer gewünschten Gewissheit. „Der ist weg, weit weg“, hatte Onkel Arthur gesagt, „und der hat Recht, der weiß das!“ Ein anderes Weiterleben in seinem gewohnten Umfeld wäre für den Bub auch gar nicht möglich gewesen.

Jürgen war heute schneller mit dem Essen fertig als die anderen. Er wollte raus, hinter die Scheune, sich auf die Holzbeuge setzen und nachdenken. Die Schwüle in der Küche machte ihm zu schaffen. Oma hatte, wie jeden Tag, sommers wie winters, das Feuer im Beistellherd angezündet. Das war schon immer so. Was in der kalten Jahreszeit höchst willkommen war, wurde im Sommer zur Plage. Es standen immer Kochtöpfe und der ewig gleiche Wasserkessel darauf. Ihr leises Zischen und Summen war das gewohnte Geräusch in der Küche. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn von Jürgen. Er merkte, wie seine Anspannung wuchs. Seine aufgeregten Gedanken brauchten dringend ein Ventil. „Ich muss raus!“ Mit diesem Hinweis schob er den Stuhl zurück und verließ eiligst die Küche. „Was hat denn der?“ Oma Mechthild schaute die Runde fragend an. „Lass ihn laufen, er muss nachher noch eine Menge Hausaufgaben machen“, nahm Arthur seinen Neffen in Schutz. „Wahrscheinlich ist es ihm hier drin einfach zu warm.“

„Wir müssen später nochmal aufs Feld, Arthur, ich bin nicht fertig geworden. Mir wär es recht, wenn du mitkommsch.“ Es waren die ersten Worte, die Edelgard heute Mittag sprach. „Der Vinne kommt heut erst spät heim und muss morgen in aller Früh wieder fort. ‚Ihr werdet’s scho schaffen, ihr seid ja zu zweit und könnt’s euch einteilen‘, hat der noch g’meint.“

Edelgard rührte abwesend durch die Suppe in ihrem Teller, schaute nicht auf, sagte einfach nur, was sie sagen musste. Wer genau hinhörte, konnte eine gewisse Bitterkeit bemerken, die im letzten Satz mitschwang. Ein schneller Blick von Arthur zu Edelgard, dann zur Mechthild genügte. Sie waren sich einig, diese drei. „Wir machen das. Wir sind es doch gewohnt, das Schaffen ohne ihn!“ Es waren diese tägliche Arbeit und ihre häuslichen Pflichten, mit denen sie den Schmerz zudecken konnten. „Ich komme mit“, nickte Arthur. „Die Arbeit im Wald läuft mir nicht davon, die kann warten. Das geht morgen auch noch.“ Und als hätte jemand ein heimliches Kommando gegeben, verließ einer nach dem anderen die Küche.

Die beiden Jüngsten machten, dass sie auf den Hof kamen. Den Schulranzen, den Hannes im Hausgang großzügig in eine Ecke geworfen hatte, würdigte er mit keinem Blick. Auf Hausaufgaben hatte er jetzt keine Lust. Raus und spielen wollte er. Niemand aus der Familie nahm sich richtig Zeit für sie. Hannes und Ludwig waren es nicht anders gewohnt. Unbewusst machten sie das Beste daraus.

Wenn der Jürgen sie nicht gerade für eine Arbeit einspannte oder einen Kick-Nachmittag mit ihnen machte, beschäftigten sie sich allein miteinander oder mit ihren diversen Spielsachen. Wie auf Kommando gingen sie heute zu dem Sandhaufen, der seit langem am hinteren Ende von Onkel Arthurs Anbau lag. Seit sie ihre ersten Schritte gemacht hatten, steuerten sie den herrlichen Dreckhaufen an. Auf dem Hof wurde immer wieder irgendwo eine Schaufel Sand gebraucht. Wenn nichts mehr da war, wurde welcher hingeschüttet. Meistens war es eine Restladung von einem Bauvorhaben in der Nachbarschaft.

Bunte Plastikteile lagen lose oder halb eingegraben auf der Spielhalde herum. Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke waren das. Lastwagen, große und kleine. Ein Schlepper und mehrere Eimer. Das große, rote Feuerwehrauto war ihr ständiges Zankobjekt. Es gehörte beiden. Der Streit hatte schon beim Auspacken der großen Schachtel zu Weihnachten begonnen. Er endete damit, dass der Heilige Abend nur gerettet wurde, weil der Vater das ganze Paket kurzerhand in das elterliche Schlafzimmer verbannte. In den Wochen danach wurde die Spielzeit genau eingeteilt, ein Tag Hannes, ein Tag Ludwig. Aber sie merkten bald, dass auch das nicht in ihrem Sinne lief. An manchen zugeteilten Tagen passte ein Brand einfach nicht zu dem Bauprojekt, das sie gerade in Arbeit hatten. Viel wichtiger war es dann, mit zwei Lastwagen Sand an eine bestimmte Baustelle zu fahren.

Sie spielten gerne zusammen, die beiden Buben. Kameraden waren sie, vereint in einer schwierigen Situation. Sich selbst überlassen. Eine Situation, die sie aber nicht ändern konnten, die von beiden gelebt werden musste.

Sie fühlten, wie angenehm es war, die nackten Füße in den warmen Hügel einzubuddeln, wenn die Sonne den Sand aufgeheizt hatte. Sie gruben und tätschelten die feinen Körner, schmissen sie sich in Gesicht und Haare. Ganz spannend war für beide der Tag, an dem Hannes dem Ludwig wichtigtuerisch erklärte: „Du, den Sand kann man auch essen, der schmeckt wie Brei. Trocken halt, aber mit Wasser wie Brei!“ Er wies seinen kleinen Bruder an: „Mach du zuerst!“ „Nein, du!“ „Also komm, miteinander!“ „Also, jetzt!“ Die Zungen wurden in den Sand gesteckt und alles, was daran hängen blieb, mit Todesverachtung hinuntergeschluckt. Das war nicht wenig. Aber abgemacht war abgemacht. Eine Wiederholung des Spiels ‚Sandschlecken‘ fand allerdings unausgesprochen zu keiner Zeit mehr statt.

In der Küche ist es still geworden. Dieser Moment ist für Mechthild der schwerste des ganzen Tages. Jetzt muss sie Gedanken zulassen, die an die Oberfläche drängen. Wie Gespenster wabern die unausgesprochenen Fragen durch die Küche. Sie macht dann jedes Mal die Fenster auf, als könne dadurch im Austausch wieder ein Gleichgewicht geschaffen werden. Die normale Welt gegen eine Welt von etwas, das nicht hätte geschehen dürfen.

Sie räumt den Tisch ab und merkt, wie kraftlos ihre Hände geworden sind. Abwaschen, aufräumen, ausfegen, alles geschieht mechanisch. Nichts lenkt ab. Sie ist alleine, die erdrückenden Gedanken sind da, unbezwingbar, sie denken, was sie wollen. Der Spruch ‚Die Gedanken sind frei…‘ stimmt für sie. Ihre Gedanken sind von ihr nicht zu steuern. Die gehen ihre eigenen Wege. Sie sind von ihr nicht beherrschbar.

Sobald Mechthild fertig ist, setzt sie sich in ihren alten abgewetzten, aber bequemen Sessel im Wohnzimmer und starrt aus dem Fenster. Lässt alles zu, was aus ihrem Kopf zu ihr kommt. Von Zeit zu Zeit drängt ein tiefes Seufzen aus ihr. Sie merkt es nicht einmal. Holt einen Korb mit Flickzeug. Kann zwischendurch die Nadel nicht einfädeln, weil Tränen die Augen trüben. Das kann sie beim Flicken überhaupt nicht gebrauchen. „So komm ich mit dem Stopfen nie voran! Nicht mal das klappt wie früher.“ Der Zorn über das zerstörte Leben, das wie eine böse Heimsuchung über sie hereingebrochen ist, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Ohne darüber nachzudenken, saust plötzlich ihre Faust mit donnernder Kraft auf den Tisch. Die Schere, die vor ihr bei der Wolle liegt, macht einen kleinen Satz und antwortet mit einem metallischen Klicken. Erschrocken über sich selbst blickt Mechthild um sich. Gut, dass keiner ihren Ausbruch gesehen hat. Der Schmerz in der Schulter bringt sie wieder zu sich. „So nicht! Das hilft mir nicht und keinem. Davon wird nichts besser. Zorn und Verbitterung, das kann jetzt keiner von uns gebrauchen. Es wäre das Ende der Familie, wenn das die Oberhand gewinnen würde.“ Energisch geht Mechthild in die Küche, nimmt die Blechkanne mit dem Restkaffee vom Morgen vom Herd und schenkt sich eine große Tasse voll. Nimmt viel Milch und Zucker dazu und trinkt mit langsamen Zügen das ganze Gefäß leer.

Hinter der Scheune sitzt Jürgen auf dem warmen Holz, das der Onkel am Vormittag aufgeschichtet hat. Er hört mit halbem Ohr, wie die Mutter und Onkel Arthur mit dem Traktor vom Hof fahren. Er bleibt heute draußen. Demonstrativ! Er will sich heute beweisen, dass er keine Angst mehr hat. Er, Jürgen, hat einen Plan. Er wird den Kampf aufnehmen, zusammen mit einem mächtigen Verbündeten. Mit dem wird er heute Abend in seiner Kammer sprechen. So wie es ihm seine Mutter immer gesagt hat, früher, als jeder noch mit seinen Sorgen zu ihr kommen durfte. „Wenn man was ganz fest will“, hat sie gesagt, „muss man nur inständig darum bitten, dann geht es auch in Erfüllung.“

Jetzt sagt sie das nicht mehr. „Aber ich werde es trotzdem tun. Schaden kann es ja nicht! Überhaupt werde ich heute Abend dem Herrn Gott klarmachen, dass wir ja schon eine hergegeben haben. Das langt doch!“ Das würde der bestimmt einsehen. Er sei doch gerecht. Das hat der Pfarrer in der Kinderkirche schon oft gesagt. Der weiß es sicher genau, sonst wäre er doch nicht Pfarrer geworden. Wenn der solche Sachen weitererzählt, muss ja was dran sein. „Ich werde es sogar schriftlich machen und meine zwei Mark von Onkel Arthur darin einwickeln. Dann stecke ich den Zettel in den Opferstock. Ich muss sowieso wieder am Sonntag mit allen in die Kirche. Nachher kann der Pfarrer alles miteinander beim Herrn Gott abgeben. Es darf halt keiner sehen – das Opfergeld und meine Nachricht.“

Ein tiefes Aufatmen war von Jürgen zu hören. „Warum bin ich nicht schon lange darauf gekommen? So werde ich es machen! Ist doch ganz einfach. Man muss nur reden miteinander“, dachte er noch, während ihn eine neue Lebensfreude fast überwältigte. Er schwang sich vom Holz. Einige der sauber aufgeschichteten Scheite fielen hinter ihm herunter. Er merkte es nicht. Er rannte und hüpfte auf die Dorfstraße, an den Häusern des kleinen Weilers vorbei, lief die vertrauten Wege zwischen den Wiesen und Feldern, bis er am Ende schwer atmend wieder vor seinem Zuhause stand.

Mai-Schnee

Подняться наверх