Читать книгу Einführung in den Buddhismus - Geshe Kelsang Gyatso - Страница 12
Den Geist verstehen
ОглавлениеBuddha lehrte, dass alles vom Geist abhängt. Wenn wir Buddhas Unterweisungen verstehen wollen, müssen wir daher zuerst die Natur und die Funktionen des Geistes verstehen. Dies ist auf den ersten Blick eine scheinbar einfache Aufgabe, da wir alle einen Geist besitzen und wissen, in welchem Zustand er sich befindet, ob er glücklich oder traurig, klar oder verwirrt ist. Wenn uns jedoch jemand fragen würde, was die Natur unseres Geistes sei und wie er funktioniere, könnten wir wahrscheinlich keine präzise Antwort geben. Dies weist darauf hin, dass wir kein klares Verständnis des Geistes besitzen.
Manche Menschen denken, der Geist sei das Gehirn oder ein anderer Teil des Körpers oder eine Funktion des Körpers. Das ist jedoch nicht richtig. Das Gehirn ist körperlich, etwas, das man mit den Augen sehen kann. Es kann fotografiert werden und es kann operiert werden. Der Geist hingegen ist nicht körperlich. Er kann weder mit den Augen gesehen werden, noch kann man ihn fotografieren oder durch eine Operation wiederherstellen. Das Gehirn ist deshalb nicht der Geist, sondern einfach nur ein Teil des Körpers.
Innerhalb unseres Körpers gibt es nichts, das wir als unseren Geist identifizieren können, weil Körper und Geist verschiedene Wesenheiten sind. Unser Geist kann zum Beispiel sehr beschäftigt sein, von einem Objekt zum andern springen, während unser Körper entspannt und regungslos ist. Dies weist darauf hin, dass Körper und Geist nicht von gleicher Natur sind. In den buddhistischen Schriften wird unser Körper mit einem Gasthaus verglichen und unser Geist mit einem Gast, der darin verweilt. Sterben wir, verlässt unser Geist unseren Körper und geht ins nächste Leben über, so wie ein Gast eine Herberge verlässt und zu einem anderen Ort reist.
Wenn der Geist nicht das Gehirn oder irgendein anderer Teil unseres Körpers ist, was ist er dann? Er ist ein formloses Kontinuum mit der Funktion, Objekte wahrzunehmen und zu verstehen. Weil der Geist von Natur aus formlos oder immateriell ist, kann er auch nicht durch materielle Objekte behindert werden. Für unseren Körper ist es unmöglich, ohne Raumschiff zum Mond zu fliegen, unser Geist aber kann den Mond augenblicklich erreichen, indem er ganz einfach an ihn denkt. Objekte zu erkennen und wahrzunehmen ist die außergewöhnliche Funktion des Geistes. Obwohl wir sagen: «Ich weiß dieses und jenes», ist es in Wirklichkeit unser Geist, der es weiß. Wir wissen Dinge nur, indem wir unseren Geist benutzen.
Es gibt drei Ebenen des Geistes: eine grobe, eine subtile und eine sehr subtile. Grobe Geisteszustände schließen verschiedene Arten von Sinnesgewahrsein ein, wie das Augengewahrsein, das Ohrengewahrsein, sowie alle starken Verblendungen wie Wut, Neid, Anhaftung und starke Unwissenheit des Festhaltens am Selbst. Diese groben Geisteszustände sind mit groben inneren Winden verbunden und relativ leicht zu erkennen. Wenn wir einschlafen oder sterben, lösen sich unsere groben Winde nach innen auf und unser subtiler Geist wird manifest. Subtile Geisteszustände sind mit subtilen inneren Winden verbunden und schwieriger zu erkennen als grobe Geisteszustände. Während des tiefen Schlafes und am Ende des Sterbevorganges lösen sich die inneren Winde im Zentrum des Herzkanalrades im Zentralkanal auf und danach manifestiert sich der sehr subtile Geist, der Geist des klaren Lichtes. Der sehr subtile Geist ist mit dem sehr subtilen inneren Wind verbunden und außerordentlich schwierig zu erkennen. Das Kontinuum des sehr subtilen Geistes hat keinen Anfang und kein Ende. Es ist dieser Geist, der schließlich nach völliger Reinigung durch die Schulung in der Meditation in den allwissenden Geist eines Buddhas umgewandelt wird.
Es ist sehr wichtig, unfriedliche Geisteszustände von friedvollen Geisteszuständen unterscheiden zu können. Geisteszustände, die unseren inneren Frieden stören, wie Wut, Neid und begehrende Anhaftung, werden Verblendungen genannt. Sie sind die Hauptursachen für alle unsere Leiden. Wir denken vielleicht, unsere Leiden seien durch andere Menschen, durch schlechte materielle Umstände oder durch die Gesellschaft verursacht. In Wirklichkeit entstehen Leiden jedoch durch unsere verblendeten Geisteszustände. Die Essenz der Dharma-Praxis ist es, unsere Verblendungen zu vermindern und schließlich ganz auszulöschen, und sie durch friedvolle, tugendhafte Geisteszustände zu ersetzen. Dies ist der Hauptzweck der Schulung in Meditation.
Wir sind es gewohnt, unser Glück außerhalb von uns selbst zu suchen. Wir versuchen, bessere materielle Umstände, wie eine bessere Arbeit oder einen höheren gesellschaftlichen Status, zu erreichen. Selbst wenn wir unsere äußeren Umstände mit großem Erfolg verbessern, werden wir trotzdem weiterhin vielen Schwierigkeiten begegnen und unzufrieden sein. Wir erleben niemals reines, andauerndes Glück. In seinen Dharma-Unterweisungen rät uns Buddha, das Glück nicht außerhalb von uns zu suchen, sondern es innerhalb unseres Geistes zu erzeugen. Wie können wir das tun? Indem wir unseren Geist durch aufrichtige Praxis des Buddhadharmas reinigen und kontrollieren. Wenn wir uns auf diese Art schulen, können wir sicherstellen, dass unser Geist jederzeit ruhig und glücklich bleibt. Wir werden dann immer glücklich und friedvoll sein, selbst wenn unsere äußeren Verhältnisse noch so schwierig sind.
Obwohl wir sehr hart arbeiten, um Glück zu erlangen, ist dieses nur schwer zu erreichen, während Leiden und Probleme ganz natürlich und ohne jede Anstrengung aufzutauchen scheinen. Warum? Weil die Ursache für Glück in unserem Geist - Tugend - sehr schwach ist und nur durch große Anstrengung ihre Wirkung entfalten kann, während die inneren Ursachen für Leiden und Probleme - die Verblendungen - sehr stark sind und ihre Auswirkungen entfalten können, ohne dass wir uns bemühen. Dies ist der wahre Grund, weshalb Probleme wie von selbst entstehen, während Glück so schwer zu finden ist.
Daraus können wir erkennen, dass sich die Hauptursachen sowohl für unser Glück als auch für unsere Probleme in unserem Geist befinden und nicht in der äußeren Welt. Wären wir in der Lage, den ganzen Tag lang einen ruhigen und friedvollen Geist zu bewahren, würden wir nie irgendwelche Probleme oder geistigen Leiden erleben. Wenn unser Geist ständig friedvoll ist, dann werden wir nicht unglücklich, selbst wenn wir beleidigt, kritisiert oder beschuldigt werden, oder wenn wir unsere Arbeit oder unsere Freunde verlieren. Wie schwierig unsere äußeren Verhältnisse auch werden mögen, die Situation wird nicht zum Problem für uns, solange wir einen ruhigen und friedlichen Geist behalten können. Wenn wir also den Wunsch haben, frei von Problemen zu werden, gibt es nur eines zu tun: zu lernen, einen friedvollen Geisteszustand zu bewahren, indem wir Dharma aufrichtig und rein praktizieren.