Читать книгу Waco 5 – Western - G.F. Waco - Страница 3

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Der Mann ist groß, schwer, hat ein eckiges Gesicht und seltsam flimmernde Augen. Seit Stunden schon hat sie ihn gesehen. Er ist ihr nachgeschlichen, wohin sie auch immer ging in dieser Stadt voller Mormonen.

»Warte«, sagt er heiser und rauh. »Warte!«

Rachel Mendan kann sich sekundenlang vor Schreck nicht rühren. Aus den Augenwinkeln sieht sie Gwendolin Templars Gesicht. Das sechzehnjährige Mädchen an ihrer Seite wird kreidebleich und starrt den Mann wie einen Teufel an.

»Wie heißt du?« fragt der Mann mit seiner tiefen, heiseren Stimme. »Antworte, wie heißt du?«

Plötzlich schwindet die Furcht in Rachel. Dafür meldet sich der Zorn. Es ist keine Art, von irgendeinem wildfremden Mann angesprochen zu werden. Aber der Mann ist Mormone. Hier leben fast nur Mormonen.

Ruhig wendet sich Rachel um, will auf den Wagen steigen und spürt plötzlich den Griff am Arm. Es ist ein so harter Griff, daß sie leise aufstöhnt und sich auf die Lippen beißt.

»Antworte«, sagt der Mann finster, »wenn ich etwas frage. Dein Name, wo wohnst du? Antworte, sonst…«

»Lassen Sie los, Mister«, gibt Rachel zornig zurück. »Loslassen, oder ich rufe um Hilfe!«

Der Druck wird stärker, der Mann, lacht, als sie aufstöhnt.

»Antworte, ich will es!«

Er ist verrückt, denkt Rachel, mein Gott, er muß verrückt sein. Der Kerl bricht mir den Arm. Wie kann ein Mann, der so gut angezogen ist, so brutal sein?

Die Furcht ist wieder in ihr, und sie sagt leise und gepreßt:

»Mendan – Rachel Mendan. Ich wohne mit meinen Leuten draußen an den Hanselbergen an einem Bach. Mein Gott, lassen Sie mich los, Mister! Ich rufe um Hilfe.«

»Dann ruf doch«, sagt er spöttisch und starrt sie von oben bis unten Zoll für Zoll an. In diesem Augenblick hat Rachel das Gefühl, von den Blicken dieses Mannes ausgezogen zu werden.

»Niemand wird dir helfen, denn ich bin ein Graines… Zach Graines. Was du hier siehst, gehört alles uns – das Land und diese Stadt.«

Es ist unheimlich, daß sich gleich darauf seine Worte bestätigen. Eine Gruppe Männer und Frauen kommt vorbei. Jeder sieht, daß Graines das Mädchen am Arm gepackt hält, aber kein Mensch sagt etwas. Sie grüßen nur mit seltsamer Scheu, diese Leute. Dann gehen sie weiter, als wenn nichts ist.

»Also merk dir meinen Namen«, sagt Graines leise lachend. Er lacht wie ein Teufel und starrt Rachel wieder so an, als nähme er Besitz von ihr. »Merke ihn dir gut, Rachel. Wir sehen uns noch.«

Plötzlich läßt er sie los und geht ohne ein weiteres Wort davon. Mit zitternden Knien steigt Rachel Mendan auf den Wagen und bemerkt kaum, daß Gwendolin Templar sich neben sie setzt.

»Fahr doch, Rachel«, stöhnt Gwendolin. »Mein Gott, fahr aus der Stadt. Der Mann ist wahnsinnig – hast du seine Augen gesehen? Fahr doch endlich. Ich will den Kerl nie wiedersehen!«

*

Schritte sind hinter Rachel Mendan zu hören. Dann taucht die hagere, große Gestalt von Matt Mendan auf. Der alte Mann hat seit dem Tod von Frau und Sohn weißes Haar. Er geht gebeugt.

»Nun, ich wollte einmal nach dir sehen, Tochter«, sagt er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. »Gegen Abend wird es soweit sein, daß Logans Haus das Dach bekommt. Dann ist er mit seinen sechs Kindern endlich wieder im eigenen Haus. Nat Templar und ich haben ihm geholfen.«

Er sieht auf seine blonde Tochter und stützt sich auf den Stiel einer Axt.

»Gwen hat da etwas erzählt«, sagt er plötzlich wie nebensächlich. »Euch hat ein Mann belästigt?«

»Ich sagte ihr doch, sie solle nichts sagen«, erwidert Rachel und legt die Seife beiseite. »Dad, er hat uns nicht belästigt. Er war nur etwas seltsam.«

»Er soll dich angefaßt und sich nach deinem Zuhause erkundigt haben«, murmelt der Alte. »Mormone – ich mag keine Mormonen, Tochter.«

»Dad, ich doch auch nicht. Machst du dir etwa Sorgen wegen dieses Graines?«

»Ja«, erwidert der Alte und sieht über den Bach und die Büsche hinweg. »Du bist alles, was ich noch habe. Und ein Mormone…«

»Aber, Dad, ich denke doch nicht an einen Mormonen«, antwortet Rachel lachend. »Ich denke nie an einen Mann – und wenn, dann nur an dich. Geh, Dad, wir haben ganz andere Sorgen.«

»Sicher«, sagt er und sieht sich suchend um, um dann mit zwei Hieben einen armstarken, geraden Ast zu kappen. »Unser Haus wird auch bald fertig sein. Nächste Woche sind wir bis zum Dach.«

Er bleibt, als wolle er noch etwas sagen, unschlüssig stehen. Dann schultert er den Ast und entfernt sich, um über die Schulter zu sagen:

»Komm bald, das Essen ist in einer halben Stunde fertig.«

»Ja, Dad.«

Was er nur denkt, grübelt Rachel Mendan, wäscht das nächste Hemd und nimmt sich dann eine Hose vor. Ich und einen Mann? Es gibt hier keinen Mann für mich, ich bin auch noch viel zu jung.

Etwas stört sie plötzlich. Sie hebt den Kopf, weil sie sich beobachtet fühlt. Ihr Vater ist fort.

Es ist ihr, als sähe sie einen Geist. Sie hat während der letzten beiden Tage kaum noch an die Begegnung in der Stadt gedacht – an jenen seltsamen Mann mit den hellblauen Augen und dem herrischen Wesen.

In diesem Augenblick sieht sie ihn. Und es ist wieder so wie vorgestern, daß er da ist und sie ihn nicht gehört hat. Vielleicht hat das Plätschern des Wassers beim Waschen die Huftritte übertönt. Vielleicht ist sie auch zu sehr in Gedanken gewesen.

Sie sieht das Pferd und den Mann auf dem Braunen, einem hochbeinigen, schweren Scottlander mit hellgelber Mähne. Das Pferd steht unmittelbar neben den Büschen am anderen Ufer. Und der Mann sitzt auf ihm wie ein grober Klotz. Es ist sein Blick, der Rachel jäh aufstehen und den hochgerafften Rock, der nicht ins Wasser geraten sollte, herabzerren läßt.

Zack Graines, der Mormone, hat die Arme gesenkt und die Fäuste auf das Sattelhorn gestemmt. Das Zaumzeug seines Pferdes ist mit Silbernägeln verziert, genauso der Sattel. Er sagt nichts, starrt sie nur auf seine seltsame, unverschämte Weise über den Bach hinweg an.

Im nächsten Augenblick teilen sich rechts und links von Graines die Büsche. Zwei Männer, ähnlich gekleidet wie Graines, erscheinen auf ihren Pferden und halten. Auch sie starren Rachel Mendan an. Dann sagt der Mann links, dessen strohgelbes Haar unter dem flachkronigen Hut hervorsieht:

»Das ist sie also. Nun gut, Zach, du hast keinen schlechten Geschmack.«

Der andere Mann, ein breitschultriger, finster blickender Bursche, stülpt die Lippen auf und pfeift einmal durch die Zähne.

»Nicht schlecht«, sagt er halblaut. »Wirklich, nicht schlecht.«

Rachel Mendan blickt mit dem Ausdruck von Abscheu zu den drei Männern. Damn rafft sie hastig die Wäsche zusammen, wirft sie in den Bottich und dreht sich resolut um. Das unheimliche Gefühl aber bleibt, obwohl sich hinter ihr in den ersten Sekunden nichts rührt. Sie hat den Eindruck, als drücke sich ihr ein brennendes Schüreisen in den Nacken. Dann hört sie jenen strohblonden Mister sagen:

»Groß gewachsen, auch ganz geschickt, glaube ich. Sie wird zupacken können, Zach.«

»Ja, sie hat starke Gelenke«, erwidert der andere Bursche, als hätte er ein Kalb besichtigt oder ein Pferd vorgeführt bekommen. »Ihre Hände sind fest.«

Im nächsten Augenblick gehen hinter Rachel die Hufe an. Das Planschen des Wassers sagt Rachel Mendan, daß die drei Männer ihr folgen. Dennoch blickt sie sich nicht um, nur ihr Zorn meldet sich jetzt, auf diese infame, unverschämte Art angestarrt und betrachtet worden zu sein wie eine Ware.

Sekunden darauf ist das braune Pferd neben ihr. Silbernägel blinken in der Sonne, und Zach Graines beugt sich aus dem Sattel.

»Geben Sie den Bottich her, ich nehme ihn mit!« sagt er mit seiner knarrenden, unangenehmen Stimme. »Geben Sie schon her – Sie brauchen ihn nicht zu tragen.«

Er streckt die Hand aus, als Rachel einen Schritt zur Seite macht, stehenbleibt und den klobigen Mann eiskalt ansieht.

»Finger weg!« sagt sie scharf. »Mr. Graines, lassen Sie mich in Ruhe und gehen Sie fort, so lange Sie noch Zeit dazu haben. Das ist ein Rat, Mister.«

Kaum hat sie es gesagt, als Graines wieder zu lachen beginnt. Es ist dieses meckernde, unangenehme Lachen, das sie noch aus der Stadt in Erinnerung hat. Von rechts kommt nun der strohblonde Mann und drängt sein Pferd vor. Einen Augenblick hat Rachel das bedrohliche Gefühl, in eine Zange genommen zu werden. Da aber stellt Graines sein Gelächter ein und sagt finster:

»Jeremy, laß das! Entschuldigen Sie, Miss Mendan – mein Vetter Jeremy ist manchmal etwas wild. Das hier ist mein Vetter Cohr.«

»Es interessiert mich nicht, was und wer diese beiden Männer sind«, antwortet Rachel erregt. »Sie sollen verschwinden, Mr. Graines. Belästigen Sie mich nicht, sonst rufe ich um Hilfe, verstanden?«

Einen Moment starrt Graines sie überrascht an, aber ihm scheint nicht in den Sinn zu kommen, daß sie ihn wirklich wegschicken will. Er lacht Sekunden später wieder, wendet sich nach links zu seinem Vetter Cohr und sagt:

»Na, hat sie nicht Feuer im Blut? Was habe ich dir erzählt?«

»Sie scheint dich nicht zu mögen«, gibt der Vetter zurück. »Zach, wenn du dir da nur nicht zuviel vorgenommen hast.«

»Was?« fragt Graines erstaunt. »Mich mag jede – und ich habe auch jede bekommen, die ich wollte. Nun gut, sie lernen es mit der Zeit. Frauen haben gehorsam zu sein. Wenn sie mir den Kübel nicht geben will, soll sie ihn allein tragen. Ich werde mit ihrem Vater reden – und damit ist es erledigt.«

Nun ist es an Rachel, erstaunt zu sein. Verwirrt und zugleich erschrocken blickt sie zu dem selbstgefällig lächelnden Graines hoch.

»Moment mal, Mister – was wollen Sie?« erkundigt sie sich. »Sie wollen mit meinem Vater reden?«

»Ja, warum nicht?« fragt Graines grinsend. »Das ist bei uns so üblich. Ich hätte sonst meinen Vater geschickt, aber er ist krank – und mir ist die Sache eilig. War er das vorhin?«

»Sicher, aber…«

»Gut«, unterbricht Graines sie zufrieden. »Er macht einen vernünftigen Eindruck, der Mann. Los, ihr Burschen, sie will sich nicht helfen lassen, soll sie tragen.«

lm nächsten Augenblick treibt er seinen Braunen an. Verstört blickt Rachel den drei Männern nach, die direkt auf die halbfertigen Häuser zureiten.

»Mein Gott«, sagt sie entsetzt, und plötzlich ahnt sie, was dieser Mann mit den seltsam glitzernden Augen tun will, »er muß verrückt sein, das ist die einzige Erklärung.«

*

Matt Mendan dreht sich um, als er den Hufschlag hört. Wie gewohnt greift er zu seinem Gewehr, stützt sich auf die Mündung und sieht ihnen entgegen.

Zu seinem Erstaunen halten die drei Männer auf ihn zu. Verwunderte Blicke der Nachbarn treffen den Alten. Aber dann hört er Gwen Templar erschrocken und hell sagen:

»Dad, das ist der Mann aus der Stadt, dieser Mr. Graines.«

Im nächsten Augenblick sind die drei Reiter vor dem Wagen angekommen. Graines’ erster Blick trifft das Gewehr, auf das sich der Alte stützt. Dann schweift sein Blick kurz über die Männer und Frauen hinweg.

»Hallo, Mr. Mendan!« sagt Graines halblaut. »Kein gutes Tal, das ihr euch ausgesucht habt, es gibt bessere.«

»Mag sein«, erwidert der Alte und sieht weit hinten Rachel angelaufen kommen. »Wir wollten ein Tal haben, auf das niemand Anspruch hat, darum sind wir hergekommen. Sie sind Graines?«

»Ja, mein Name ist Zach Graines«, antwortet der Mormone knarrend. »Sieht aus, als hätten Sie schon von mir gehört, Mr. Mendan.«

»Das habe ich«, bestätigt Matt Mendan kühl. »Und was wollen Sie, Mr. Graines?«

Graines lächelt.

»Ich hätte meinen Vater geschickt – so ist es Sitte bei uns«, sagt er halblaut. »Er ist jedoch krank und muß im Bett bleiben. Mr. Mendan, ich möchte, daß Ihre Tochter zu uns kommt. Sie wird es nirgendwo besser antreffen können.«

Matt Mendan erstarrt. Er glaubt nicht richtig zu hören, richtet sich jäh auf und mustert Graines wie einen Narren.

»Was ist das?« fragt er heiser. »Sie wollen, daß meine Tochter zu Ihnen kommt – zu Mormonen? Aus welchem Grund, Mister?«

»Nun, sie soll sehen, wie es bei uns zugeht«, gibt Graines zurück. »Und wenn es ihr gefällt, kann sie für immer bleiben. Sie, alter Mann, bekommen bei uns dann alles, was Sie brauchen. Ich meine, das ist ein gutes Angebot.«

Rachel kommt immer näher, der Alte bemerkt ihr gerötetes Gesicht und sieht dann zu Graines hoch.

»Was soll das heißen, Mister?« fragt er Graines scharf. »Mister, meine Tochter arbeitet für niemanden, verstanden?«

»Ich meine auch nicht, daß sie arbeiten soll, ich kann sie heiraten, wenn sie will. Und sie wird wollen, wenn sie sieht, was bei uns zu Hause alles ist.«

»Hören Sie, Mister, wenn das ein Spaß sein soll, dann ist es ein verdammt übler. Machen Sie dieses verrückte Angebot, wem Sie wollen, aber nicht mir. Sie sind nicht ganz bei Verstand, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Graines. Sind Sie nicht schon verheiratet?«

»Na und?« fragt Graines verwundert. »Wir können mehrere Frauen haben – unsere Lehre erlaubt es uns. Alter Mann, ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind, daß Ihre Tochter zu uns kommt, und Sie beschimpfen mich. Das ist nicht in Ordnung, Mr. Mendan. Ich bin ein wohlhabender Mann und angesehen. Ich mache keine Späße, wenn ich einen Vater um seine Tochter frage. Das ist mein Ernst, Mr. Mendan. Fragen wir Ihre Tochter.«

Rachel hält schwer atmend an und blickt von Graines zu ihrem Vater, dessen Gesicht sich zu röten beginnt. Sie hat die letzten Worte gehört, und sie kennt den Zorn des Alten.

»Dad, um Gottes willen, rege dich nicht auf«, sagt sie erschrocken. »Mr. Graines denkt wie ein Mormone und vergißt, daß sein Glaube für uns nicht gilt.

Hören Sie, Graines, es mag sein, daß manches Mormonenmädchen froh wäre, wenn Sie um seine Hand anhielten, aber ich bin es nicht. Ich mag Sie nicht, Mr. Graines, Sie gefallen mir nicht und werden mir nie im Leben gefallen. Ist das deutlich genug?«

»Das sagen viele, aber sie lernen es alle«, antwortet Graines. Man merkt ihm an, daß er beleidigt ist. »Bei uns bestimmt der Vater, und die Töchter haben zu gehorchen und den Mann zu nehmen, den er haben will. Sie gefallen mir, Miss, ich will Sie heiraten, haben Sie begriffen?«

Einen Moment holt Rachel tief Luft. Doch auch ihr Vater hat sich jetzt gefaßt.

»Sie sind wahnsinnig!« keucht der alte Matt Mendan heiser. »Sie mit Ihrer Irrlehre, die ein Verrückter ausgebrütet hat. Sie sind bereits verheiratet und wollen mein einziges Kind. Mensch, weg mit dir, sonst vergesse ich mich!«

Er brüllt nun, von seinem schnellen, wilden Zorn gepackt, los und hebt jäh sein Gewehr.

»Mendan, ich bin in freundlicher Absicht gekommen!« knarrt Graines zornig. »Sie beleidigen mich und meinen Glauben. Ich warne Sie!«

»Und ich warne Sie damit!« brüllt der Alte in wilder Wut und reißt das Gewehr an die Schulter. »Fort mit euch, ihr wahnsinnigen Sektierer, ihr Vielweiberhelden! Euch kann man nicht beleidigen, euch muß man beibringen, daß ihr anständige Menschen nicht…«

»Dad – Dadl« schreit Rachel, die zu genau weiß, wozu der alte Mann in seinem Zorn fähig ist. »Dad – nicht!«

Aber es ist zu spät. Der alte Matt Mendan, ein frommer und gottesfürchtiger Mann, in dessen Haus in South Fork jahrelang die Abendandachten stattfanden, hat nie etwas von Mormonen gehalten und sie immer gehaßt wie viele andere.

Brüllend kracht Matt Mendans Spencer. Die Kugel reißt Graines den Hut vom Kopf und schleudert ihn einige Yards weit. Mit einer Schnelligkeit, die niemand dem Alten zugetraut haben würde, lädt Mendan sofort wieder durch und zielt mitten auf Graines’ Brust.

Graines ist vor Schreck erstarrt. In seinem Gesicht steht sekundenlang ein ungläubiger, verstörter Ausdruck. Dann aber bewegt sich einer seiner Vettern. Der Mann will den Revolver anfassen, als der Alte fauchend sagt:

»Faß ihn an, dann fällt Graines vom Pferd – und er wird tot sein, wenn er den Boden erreicht. Faß ihn nur an, Mister! Fort mit euch, verschwindet, ihr Heiden, sonst mache ich euch Beine! Und laßt euch hier nie wieder blicken.«

Der Mann nimmt augenblicklich die Hand wieder hoch. In seinen Augen ist wie in denen seiner Verwandten plötzlich Haß.

»So ist das!« sagt Zach Graines nach einigen Sekunden heiser. »So also? Nun gut, wir sehen uns wieder, ihr Hungerleider. Und dann werden wir herausfinden, wer hier ein Heide ist. Wir sehen uns wieder.«

Er zieht mit einem Ruck sein Pferd herum, das anspringt und mit den anderen davonjagt. Der zerschossene Hut, auf den Rachel wie gebannt starrt, bleibt unbeachtet liegen.

Erst der heftige, röchelnde Atemzug am Wagen läßt Rachel herumfahren.

Matt Mendan steht noch mit dem Gewehr in der Faust am Wagen. Doch die Mündung der Waffe zeigt nun zu Boden. Das Gesicht des alten Mannes hat sich verfärbt. Er wird kreidebleich, während sich der Alte mit der linken Hand an den Hals faßt und sein seltsames Röcheln zu hören ist. Urplötzlich beginnt Matt Mendan zu schwanken. Er torkelt gegen den Wagen, versucht vergeblich, sich am Rad zu halten, und sinkt um.

Rachels heller, entsetzter Schrei läßt nun von allen Seiten die Männer und Frauen herbeilaufen. Schon liegt Rachel Mendan auf den Knien, um den Kopf ihres Vaters anzuheben.

»Dad – mein Gott, Dad«, stammelt sie erschrocken. »Dad, was ist dir?«

Matt Mendans Glieder zucken. Er verdreht die Augen und versucht etwas zu sagen, aber es werden nur lallende Laute daraus.

Einen Augenblick später ist Nathan Templar neben Rachel.

Der große, sehnige Templar wirft nur einen Blick auf den zusammengesunkenen Alten, auf dessen Rat sie alle immer viel gegeben haben. Dann sagt er stockend:

»Helft mir – wir bringen ihn in den Gemeinschaftsbau hinüber. Allmächtiger, er hat einen Schlaganfall bekommen vor Aufregung.«

»Nat, er wird doch nicht sterben?« fragt Rachel zitternd. »Um Gottes willen, Nat, sage mir, ob es ernst um ihn steht?«

»Das kann niemand sagen«, antwortet Templar gepreßt. »Rachel, so hart es sein mag, du hast uns alle, und wir lassen dich nie im Stich, das sind wir Matt schuldig. Geh zur Seite, wir müssen versuchen ihm zu helfen, so gut wir können.«

Aber die Worte dringen wie aus weiter Ferne an Rachels Ohr. Plötzlich kommen ihr die Tränen, als man ihren Vater aufhebt und auf einem Wagenkastenbrett zum Gemeinschaftshaus trägt. Und nur der eine Gedanke ist in ihr:

Er stirbt und läßt mich ganz allein.

An die Drohung von Graines denkt in diesem Augenblick niemand. Aber sie sollen an sie erinnert werden, ehe sie richtig zur Besinnung gekommen sind.

Um diese Zeit sind die Beziehungen der Mormonen in diesem Gebiet zur Regierung in Washington bis zum Zerreißen gespannt. Truppen sind unterwegs, um die Pläne der Mormonen, einen unabhängigen Staat auszurufen, niederzuschlagen.

Das alles wissen die Ausgestoßenen dieses Tales nicht. Doch es soll keine drei Tage dauern, dann werden sie es erfahren.

*

Der Regen prasselt auf das Dach von Logans Haus. Wind weht böig um die wenigen Gebäude, deren Dächer noch fehlen. Nur hier und da ragen Dachsparren wie Gerippe in den wolkenverhangenen Himmel.

Mrs. Martinsons sieben Monate altes Baby bekommt zwei Zähne und weint im Gemeinschaftsbau. Das Heulen des Windes läßt manchen Mann kaum schlafen.

In der linken, von einer Decke abgeteilten Ecke, liegt Matt Mendan, immer noch ohne Bewußtsein und mit Fieber, auf einem einfachen Lager. Neben ihm kauert Rachel und lauscht seinem schweren Atem. Die Finsternis in dieser Ecke und das Geröchel stürzen Rachel seit drei Tagen in eine immer düsterere Stimmung.

Irgendwo drüben steht Jackson brummelnd auf. Der untersetzte, stämmige Mann tritt an das offene Herdfeuer und greift nach der Kanne, um einen Schluck Kaffee zu trinken, als es geschieht.

Es kommt wie das Krachen eines Blitzes durch die Nacht und wird auch von einigen für den Schlag eines Gewitters gehalten. Andere aber sehen entsetzt, wie Jacksons Hand herumgeschleudert wird. Im großen Raum des Gemeinschaftsbaues, der einmal als Vorratsscheune dienen soll, ist jäh ein Peitschen.

In derselben Sekunde fliegt Jackson die Kanne aus der Hand und poltert scheppernd zu Boden.

Herumgerissen und zu Tode erschrocken starrt Jackson auf das Ausschußloch in der Kanne. Das Blech steht gebogen nach außen. Drüben und rechts von ihm klirren unter Hieben die Scheiben in Stücke. Gewehrläufe richten sich auf die zum Teil am Boden liegenden Frauen, Kinder und Männer. Ehe jemand aufspringen oder zu einer Waffe greifen kann, fliegt die Tür mit einem Ruck auf.

Jackson steht noch immer so, wie ihn die Kugel hingestoßen hat. Er blickt aus großen, entsetzten Augen auf die Tür und sieht ein halbes Dutzend Gestalten mit Umhängen, von denen das Wasser tropft, hereinstürmen.

»Liegenbleiben – nicht aufstehen!« brüllt jemand in der Tür scharf. »Wer zur Waffe greift, wird erschossen! Niemand rührt sich!«

Es kommt Jackson wie ein höllischer Spuk vor. Die Gestalten an der Tür wirken durch ihre Umhänge und die tief in die Gesichter gezogenen Hüte wie Banditen.

Nun drängen noch mehr herein, und zu Jacksons Schreck bringen sie den gebundenen Logan mit. Logan hat nur Hose und Hemd an. Er trägt keine Stiefel, seine Kleidung ist klatschnaß, und das Wasser rinnt ihm aus den Haaren. Man hält ihn mit zwei Mann und stößt ihn einige Schritt vorwärts.

»Damit ihr seht, daß wir seine Frau und die Kinder haben!« knarrt die Stimme von der Tür her. »Keine Narrheiten, ihr Hungerleider, sonst passiert den anderen etwas!«

Logan steht, eine Gewehrmündung im Rücken, zusammengekrümmt und leichenblaß einige Schritte von der Tür entfernt.

»Um Gottes willen, tut nichts!« sagt er hohl und fröstelnd. »Sie haben meine Familie. Sie klopften an die Tür – und ich ging hin, weil ich dachte, es wäre einer von euch. Das erste, was ich sah, war eine Gewehrmündung. Sie haben meine Familie, Freunde, es sind fünfzig Mann oder mehr draußen – versucht nur nichts.«

Seine Stimme kippt über, als ihn der harte Stoß in den Rücken trifft. Logan fliegt nach vorn und landet auf allen vieren.

Drüben ist Nat Templar hochgefahren und steht still. Plötzlich überfällt ihn die Vorahnung kommenden Unheils, als er Zach Graines mit schweren Tritten in den Raum kommen sieht. Auf den ersten Blick muß Templar erkennen, daß die Mormonen bis an die Zähne bewaffnet sind. Nicht nur, daß die meisten Mormonen zwei Revolver und ein Gewehr haben – einige tragen sogar Säbel umgeschnallt. Sie wirken auf Templar wie eine militärisch organisierte Einheit. Jenseits von Templars Standort peitscht der Regen durch eine zerschlagene Scheibe auf Mrs. Martinson und ihr weinendes Baby. Aus Angst vor den drohenden Gewehr- und Revolverläufen wagt sie es aber nicht, aus dem Bereich des hereinprasselnden Regens zu flüchten.

Zach Graines, der einen breitrandigen Hut trägt, bleibt kurz hinter dem am Boden liegenden Logan stehen und sieht sich suchend um. Da er nicht hinter den Vorhang aus Decken in der Ecke blicken kann, sucht er Matt Mendan vergebens und poltert scharf los:

»Wo ist dieser alte Mann Mendan – ich will ihn sehen! Wo habt ihr den Kerl versteckt?«

Unwillkürlich blicken einige der Ausgestoßenen zur Ecke. Graines bemerkt die Blicke, wirft einem seiner Leute ein paar leise Worte zu und geht dann, gefolgt von seinen Vettern, los. Mit wenigen Schritten ist er am Vorhang. Er reißt ihn mit einer Verwünschung zur Seite und steht dann böse glotzend vor dem Lager des alten Mendan.

Als er auf die neben dem Alten kniende Rachel hinabsieht, verfinstert sich sein Blick noch mehr. Es liegt nun etwas wie brennender Haß in seinen Augen.

»Licht her!« sagt er barsch nach hinten. »Los, bringt eine Laterne! Und dann schafft den Kerl herbei, der diese Hungerleider führt. Wer ist das?«

Sie sehen alle zu Nat Templar, der sich nicht rührt. Irgendeiner der Mormonen nimmt die erste beste Laterne, zündet sie an und sieht zu Templar.

»Führst du die Leute, Mann?«

»Ja, Mister!« bringt Templar gepreßt heraus. »Was soll das – was haben wir euch getan? Warum dringt ihr hier mit Waffengewalt ein und bedroht Frauen und Kinder?«

»Halt’s Maul!« knurrt einer der Mormonen scharf. »Fragen stellen wir. Komm her, Mister, los!«

Templar beißt die Zähne zusammen und setzt sich langsam in Bewegung. Unsicher geht er zwischen den Freunden durch, bis ihn der Mormone am Arm packt und mitzerrt. Gleichzeitig erscheint der Mann mit der brennenden Laterne in der Ecke und leuchtet auf das Lager hinab. Ein Blick genügt Graines, um zu erkennen, daß der alte Mendan krank ist.

»Was fehlt dem schießwütigen Verleumder?« fragt er Templar finster. »Hat er Fieber?«

»Er hat einen Schlaganfall bekommen«, antwortet Templar heiser. »Er hat sich wohl zu sehr aufgeregt.«

»So?« fragt Graines, während ein böses Grinsen um seine Mundwinkel spielt. »Zu sehr aufgeregt hat er sich? Schlaganfall bekommen? Das ist die Strafe Mormons für seine lästerlichen Reden – das ist die Strafe. Kann er nicht aufstehen?«

»Nein«, erwidert Templar heiser. »Er ist ohne Bewußtsein.«

»Das will ich erst sehen!« knurrt der Mormone grimmig. Er bückt sich, faßt den Alten an der Schulter und rüttelt ihn heftig.

Augenblicklich greift Rachel mit einem zornigen Ausruf nach Graines’ Arm, hält ihn fest und faucht:

»Lassen Sie ihn los, Sie Unmensch – er liegt auf den Tod – und Sie vergreifen sich an ihm! Steht das auch in den Gesetzen Mormons, daß man Kranke mißhandeln soll?«

Graines zuckt zusammen. Er läßt los, aber in seiner Wut gibt er Rachel einen Stoß vor die Brust, daß sie hintenüberkippt und nach einem Aufschrei liegenbleibt.

»Weibergezeter!« keucht Graines wütend. »Euch zeige ich noch, was hier geschehen wird. Wie heißt du, Mister?«

Er wendet sich nach Templar um. Der holt tief Luft.

»Nathan Templar«, gibt er zurück. »Graines, was Sie hier tun, ist nicht gesetzmäßig. Mann, ich werde mich beschweren.«

»Das könnt ihr immerhin versuchen«, antwortet Graines mit beißendem Hohn. »Du bist der Anführer, gut, dann mach die Ohren auf, Templar: Ich befehle euch, alle Sachen zusammenzupacken und eure Wagen zu nehmen. Ich lasse euch die Wagen und euer Eigentum, aber alles, was ihr hier aufgebaut habt, werde ich zerstören, verstanden?«

»Was soll das heißen?« fragt Templar keuchend. »Graines, was bedeutet das?«

»Das bedeutet, daß ihr in Utah nichts mehr verloren habt!« entgegnet Graines giftig. »Dieses Land ist für euch verboten. Es gehört uns, und wer es widerrechtlich betritt, den jagen wir mit Gewalt fort, wenn es sein muß.«

»Das kann doch nicht sein«, stammelt Templar entsetzt. »Ihr macht euch einen Spaß. Graines, als wir herkamen, haben wir uns genau nach den Besitzverhältnissen hier erkundigt. Das Tal gehört niemandem.«

»Das ist euer Irrtum, seit gestern gehört es uns!« höhnt Graines finster. »Wir dulden keine anderen Leute auf unserem Land. Ich will euch hier nicht mehr länger sehen.«

»Mein Gott!« stößt eine der Frauen klagend heraus. »Unsere Häuser sind fast fertig, wir haben angefangen, die Steine zusammenzutragen und das Land urbar zu machen. Das kann doch kein Mensch verlangen. Das ist ja unmenschlich. Wir tun doch niemandem etwas, wir wollen doch nur ein Stück Boden, auf dem wir in Frieden leben können. Was soll aus unseren Kindern werden, was aus meinem alten Vater und meiner Mutter?

Mr. Graines, Sie können uns nicht vertreiben. Überall hat man uns davongejagt, niemand hat uns geduldet. Mr. Graines – Barmherzigkeit! Wir besitzen nichts mehr, wir müßten verhungern, wenn wir nicht bleiben dürfen. Unsere Ersparnisse sind zu Ende.«

Graines wirft ihr einen düsteren Blick zu. Um seinen Mund spielt ein rachsüchtiges Lächeln.

»Das sind nicht unsere Sorgen!« antwortet er hämisch. »Hier ist kein Platz für Gesindel, das es wagt, auf uns zu schießen. Frauen und Kinder hinaus. Geht zu den Wagen und nehmt eure Sachen mit. Aber wehe euch, einer nimmt eine Waffe mit ins Freie. Die Männer bleiben einstweilen hier.«

Frauen beginnen vor Kummer und Schreck zu weinen. Kinder fallen in das herzzerreißende Schluchzen ein, aber unerbittlich und mit starren, kalten Blicken helfen die Mormonen den Leuten auf die Beine. Schon treibt man die ersten Frauen und Kinder hinaus in den peitschenden Regen. Männer ballen in ohnmächtigem Zorn die Fäuste, aber angesichts der drohenden Waffen wagt niemand Widerstand zu leisten. Templars Gesicht ist bleich wie der Tod. Der große Mann zittert vor Zorn am ganzen Leib, als man Matt Mendan packen will.

Neben ihrem Vater hat sich Rachel Mendan aufgerafft. Das blonde Mädchen sieht den drei Männern entgegen, die auf ein Kommando von Graines herankommen. Sie haben eine provisorische Trage dabei und schieben Rachel unter Verwünschungen zur Seite, als sie sich ihnen in den Weg stellen will.

»Das könnt ihr nicht tun!« sagt Rachel entsetzt. »Er ist sterbenskrank, ihr könnt ihn doch nicht bei dem Wetter auf einen Wagen schaffen. Das wäre Mord!«

»Es ist mir gleich, ob er krank ist – er hat auf mich geschossen!« sagt Graines wütend. »Hinaus mit ihr und ihm. Schafft ihn zu seinem Wagen!«

Verzweifelt wehrt sich Rachel gegen den bärenstarken Cohr. Der Mann lacht nur kurz, hebt sie hoch und trägt sie dann an Nat Templar vorbei ins Freie. Templar muß mit ohnmächtigem Grimm zusehen, wie man den alten, besinnungslosen Matt Mendan auf die Trage legt. Dann hebt man den Alten hoch und bringt auch ihn vor die Tür.

Erst nachdem kein Mensch mehr im Gemeinschaftsbau ist, erlaubt Graines, daß einige Frauen hineingehen und die Sachen zu den Wagen bringen. Man hat die Waffen der Siedler zusammengebunden und in eine Kiste geworfen. Graines steht mit finsterem Gesicht neben der Tür des Gemeinschaftshauses und treibt mit wütenden, harten Worten die Frauen an, sich zu beeilen.

»Hinaus mit euch – und bringt eure Wagen von dem Schuppen hier fort!« sagt er barsch. »Aus der Nähe eurer halbfertigen Hütten, rate ich euch. Packt zusammen, schnell, schnell!«

Der Regen klatscht auf die Wagen, die Männer, die ihre Pferde anschirren und Frauen, die durch den aufgeweichten Boden, Ballen und Kleiderbündel auf den Armen, hasten.

»Ihr verfluchten Marodeure!« knirscht Jackson, und in seiner Wut stürmt er blindlings auf einen gemein lachenden Mormonen zu. »Dafür sollst du bezahlen, Schurke!«

»Jackson, Jackson!«

Templars Warnschrei kommt zu spät. Jackson stürzt sich auf den Mormonen und schlägt ihn innerhalb von zwei Sekunden nieder. Dann greift er nach dem Gewehr des Mannes, will hoch und sieht zu spät, daß ein anderer Mormone vom äußeren Ring, der die Wagen umgibt, zu Pferde heranjagt.

Der Mormone schwingt sein langläufiges Gewehr um den Kopf wie einen Dreschflegel. Ehe Jackson herumfahren kann, trifft ihn ein wilder Hieb an der Schulter. Mit einem heiseren Schrei sinkt Jackson zu Boden.

In Sekunden haben die Mormonen ihre Waffen auf die Siedler angeschlagen.

Graines starrt, in jeder Faust einen Revolver, zu Templar hinüber. Einen Moment scheint es, als wolle er den Befehl zum Feuern geben, dann senkt er die Waffen und brüllt zornig:

»Fahrt ab – abfahren! Den Kerl da auf einen Wagen – und dann fort mit euch, sonst bleibt ihr alle hier – aber tot!«

Templar steigt ab. Er nähert sich Jackson, hebt den Mann hoch und schafft ihn zu seinem Wagen, auf dem Jacksons Mutter den kleinen Edzel Jackson, Jacksons sechsjährigen Sohn, festhält.

»Fahrt los«, sagt Templar dumpf. »Ich kümmere mich nachher um ihn. Rachels Pferde müssen vorgespannt werden, das ist wichtiger. Je schneller wir hier fortkommen, desto besser ist es.«

Nach fünf Minuten, umringt von finster blickenden Mormonen, setzt sich die Wagenkolonne in Bewegung. Knarrend rollen die alten, zum größten Teil dringend reparaturbedürftigen Wagen durch den feuchten Grund nach Norden davon. Templar blickt sich einige Male um. Dann verschluckt der Dunst die lichterloh brennenden Häuser. Der Regen nimmt zu – Wind streicht von Süden über die Wagen hinweg. Nebel kommt in Schwaden gezogen und hüllt die Wagen ein. Nur die Laternen werfen ihren rotgelben düsteren Schein wenige Yards weit durch den Dunst.

Auf einem der Wagen liegt ein Mann mit zerschmettertem Schlüsselbein – und nicht weit entfernt ein Sterbender unter Decken, den seine Tochter erneut in die Ungewißheit fährt.

Ausgestoßene ziehen weiter. Aber niemand weiß wohin.

*

Sie sitzt still und sieht sich nicht mehr um. Vor ihr die gerade noch auszumachende Plane des Covered von den Martinsons im Nebel. Seit Tagen fahren sie durch die unauflösbar scheinenden, feuchten Schleier. Es ist nicht mehr möglich, eine Himmelsrichtung festzustellen. Der Dunst hängt zwischen Bergen, in denen sie nie vorher gewesen sind. Decken und Kleidung sind klamm und durchfeuchtet. Die Sicht reicht manchmal hundert Yards weit, dann wieder schrumpft sie auf wenige Yards zusammen. Dicht hintereinander rumpeln die Wagen in den Tag hinein, von dem keiner weiß, wie er enden wird.

Nat Templar reitet zwar voraus, um den Weg zu erkunden, aber er kann sich nie weiter entfernen als bis auf Hörweite. Sonst wird er die Wagen verlieren.

Irgendwo dort hinten in steiniger Erde liegt Matt Mendan und schläft für eine Ewigkeit. Es kommt Rachel vor, als sei er schon vor Tagen gestorben. Dabei haben sie ihn erst gestern begraben.

Allein, denkt sie bitter, allein in dieser Wildnis. Jetzt habe ich niemanden mehr. Ich ziehe mit den anderen und weiß nicht mal wohin. Vater ist tot, und vielleicht ist sein Tod eine Erlösung für ihn gewesen, vielleicht…

Rufe vor ihr, dann Hufschlag. Templar taucht aus dem Nebel auf.

»Achtung, fahrt ganz rechts an die Felsen«, ruft Nat Templar heiser. »Vorsicht da vorn, der Weg wird schmal und steigt an. Zügelt die Pferde, Leute.«

Neben ihrem Bock hält er, dreht und lauscht den Rufen Logans zum nächsten Wagen.

»Geht es?« fragt er kurz. »Kommst du allein zurecht?«

»Ja, Nat, ich schaffe es schon, keine Sorge. Wo mögen wir sein?«

»Ich weiß nicht genau, aber ich schätze, wir fahren nach Nordwesten«, erwidert Templar achselzuckend. »Wenn sich dieser verteufelte Nebel nur auflösen würde – wir sehen nicht genug. Alles, was ich weiß, ist, daß wir in den Bergen stecken und vor uns irgendein Paßweg liegen muß. Wird schmal dort vorn. Dabei hoffte ich, die Snake River Route zu erreichen. Wir brauchen Mehl und Fleisch, der Vorrat geht zur Neige.«

Er wendet, reitet an und verschwindet neben der Plane von Martinsons Wagen. Das Knarren der Räder wird zu einem knirschenden Mahlen. Felsen recken sich nun rechter Hand empor, aber ihre Höhe ist nicht zu erkennen.

»Rechts halten – rechts fahren!« kommt Templars Stimme durch die grauen, düsteren Schwaden. »Gut so, Bethune, fahr so weiter, der Weg wird breiter. Aber paß auf, es liegen überall Felsbrocken. Führ die Pferde am Zaumzeug.«

Rachel blickt nach links über die Felsbrocken, um die die Nebel aus der Tiefe hochzusteigen scheinen. Schwadenhafter Dunst zieht empor, hüllt den Wagen der Martinsons ein.

»Rechts fahren, scharf rechts, Dick!«

Templars Stimme klingt nun lauter. Im Rädermahlen die Antwort Dick Martinsons dazwischen:

»Ist das eine verteufelte Brühe. Sind wir oben?«

»Ja, es geht gleich hinunter, Dick. Achte auf die Steine und schließe dicht auf.«

»In Ordnung, Nat.«

Das Hinterende von Martinsons Wagen ist nun kaum noch zu erkennen. Rumpelnd, polternd donnern die Räder irgendwo hinein. Dann ist Nat Templar da und springt zu Rachel auf den Bock.

»Komm her, gib mir die Leinen, Rachel.«

Sie drückt ihm die Leinen in die Hand.

*

Neben Dick Martinson sitzt der kleine Elmer, sein Sohn, der in drei Tagen seinen siebten Geburtstag feiern wird. Der Wagen rumpelt die Steigung durch den Nebel hoch, und der Junge blickt nach rechts auf die vorbeiziehenden Felsen. Sie verschwinden nach kaum vier Schritten im Nebel. Undeutlich glaubt Dick Martinson zu erkennen, daß die Steigung hier endet und der schmale Bergpfad eine Windung nach rechts macht.

Unter Martinson rumpeln und poltern die Räder in ausgeleierten, ausgeschlagenen Buchsen. Die Räder schlagen und stoßen hin und her, und der Wagen ist in einem Zustand, den ein Frachtwagenfahrer als schrottreif bezeichnen würde.

Martinson hätte längst neue Radbuchsen einziehen müssen, hat aber das Geld für die Verpflegung seiner Familie gebraucht. Er ist arm wie die anderen und kann nur hoffen, daß der Wagen noch einige hundert Meilen aushält. Genauso verschlissen wie Lagerstellen und Gelenke sind auch die Sielen der Pferde.

Als Dick Martinson über die Steigung ist und der Wagen sich auf der nun abschüssigen Strecke befindet, zieht er an den Leinen. Die Pferde stemmen sich gegen den Druck des wie von selbst bergab rollenden Wagens. Irgendwo an den Sielen ist ein Knarren zu hören, das aber vom Poltern der Räder geschluckt wird. Der Wagen wird durch eine Querrinne in dem felsigen Boden gerissen. Die zwei schweren Schläge beim Durchkrachen der Räder ertönen, und Dick Martinson starrt erschrocken nach vorn. Vor ihm tauchen zackige Felsen aus dem Nebel auf. Aber er sieht kaum die Köpfe der Pferde, geschweige denn die Fortsetzung des Kammweges weiter als sieben Schritt ein.

Durch den grauen Dunst der Nebelschwaden kommt Bethunes laute Stimme:

»Rechts halten – zwischen den Felsen durchfahren! Rechts halten!«

Sofort zieht Martinson die Leinen rechts an, hat es aber kaum getan, als er das rechte Gespannpferd herumkommen sieht. Erst in diesem Augenblick erkennt Martinson, daß die zwei Zugsielen des rechten Gespanngauls nicht mehr an den Kettenhaken hängen.

»Großer Gott!« sagt Martinson erschrocken, als sich das Pferd immer mehr von der Deichsel entfernt. »Die Sielen sind gerissen! Himmel, Donnerwetter, der Gaul geht mir quer!«

Es ist nur ein winziger Moment, der Martinson noch zum Erkennen der Situation bleibt. Zu seinem Schreck kommt die Deichsel herum. Direkt vor den Pferden taucht der Felsbrocken auf.

Ehe Martinson, der verzweifelt an den Leinen reißt, abspringen kann, um die Pferde am Zaumzeug zu packen, kracht die Deichsel mit einem berstenden Schlag gegen den Felsbrocken.

»Runter, Junge!« brüllt Martinson geistesgegenwärtig. »Frau – spring ab, schnell!«

Die Deichsel schiebt sich links am Felsblock vorbei.

Mit einem heiseren Fluch springt Martinson ab. Im Sprung packt er seinen Jungen.

Irgendwo hinten hört Martinson Nat Templar schreien, aber er hat jetzt keine Zeit mehr, sich um Templars Rufe zu kümmern. Mit drei, vier Sätzen ist Martinson an den herabhängenden Sielen vorbei und erreicht die Flanke des Pferdes. Im nächsten Moment ist der Gaul auch schon am Felsblock. Mit der Faust schlägt Martinson dem Pferd in die Weichen. Bockend springt das Gespannpferd etwas zur Seite, und es gelingt Dick Martinson, an seinem Hals vorbeizukommen.

Die Deichselspitze, schießt es Martinson durch den Kopf, ich muß die Deichsel herumbringen. Links ist ein Abgrund, die Deichsel deutet dahin. Ich muß nach rechts ziehen.

Und dann denkt er gar nichts mehr.

Ehe Martinson die Deichselspitze packen kann, blickt er an ihr vorbei und wirft sich zurück. Vor der Deichsel sieht Martinson den klaffenden Abgrund.

»Mary – Mary, runter mit Janette!«

In diesen Sekunden weiß er nicht, ob seine Frau versteht, daß sie abspringen und das Baby mitnehmen soll. Martinson zwängt sich am Pferd vorbei und sieht nun voller Entsetzen, wie der Wagen kommt.

Das Vorderende des Wagens kracht mit einem berstenden Schlag gegen den Felsblock, an dem sich die Deichsel vor Sekunden vorbeigeschoben hat. Das Gewicht drückt den Wagen weiter. Brüllend und nach seiner Frau schreiend, wirft sich Martinson gegen das zersplitterte Bockteil des Wagens. Er versucht mit seiner Körperkraft das Weiterrollen des Fahrzeuges zu verhindern.

Gleich darauf schleudert ihn das Gewicht nach hinten. Er fällt, liegt plötzlich am Boden. Ein Rad knallt gegen den Felsen und zerbricht. Jäh neigt sich der Planwagen nach rechts, dreht sich und fällt auf den Achsstumpf des rechten Wagenrades.

Halb unter dem Wagen liegend, wird Martinson von der Achse getroffen und eingeklemmt. Seine Schreie gehen in einen einzigen, kurzen und heiseren Laut über, der jäh abbricht. Auf Martinsons Brust scheinen plötzlich tausend Zentner zu liegen.

»Mary…«

Es kommt Martinson vor, als senke sich eine rote Feuerwolke auf ihn nieder. Der gräßliche, ungeheure Druck läßt den Mann besinnungslos werden.

»Dick – Dick!«

Auf dem schiefliegenden und nun nach links herumrutschenden Fahrzeug wird Mrs. Martinson nach rechts geworfen. Sie prallt, das Baby in den Armen, irgendwo an die Kastenseite. Eine Sekunde später sieht sie schemenhaft, daß ein großer Felsbrocken am Vorderteil des Wagens vorbeihuscht. Vergeblich stemmt sich die Frau hoch, will hinten vom Wagen und spürt den Ruck, der durch das Gefährt geht.

Im folgenden Augenblick hat sie das Gefühl, hochgehoben zu werden. Urplötzlich ist das Planendach über ihr. Sie prallt gegen das Segeltuch, fliegt, das schreiende Kind auf den Armen, zurück und stürzt in den Hausrat.

Und dann hat sie den Eindruck, als fiele sie. In ihren Ohren ist das Rauschen der Luft, dem das Krachen von Holz folgt. Danach dreht sich alles um sie. Verzweifelt umklammert sie das Baby.

Mein Gott, denkt Mary Martinson entsetzt, wir fallen. Dick, wo bist du?

Mary Martinson fliegt irgendwohin. Ein Schlag trifft ihren Rücken. Schmerz rast durch ihren Körper, dem ein dumpfes Brennen folgt, das sich zur sengenden Hitze steigert.

Irgendwann ist es ihr, als schlüge sie auf.

Janette, denkt sie noch und hält das Kind krampfhaft fest.

Die Welt geht in einem ohrenbetäubenden Bersten und Krachen unter.

*

»Legt ihn hin«, sagt jemand. Lichtschein trifft seine Augen, die er blinzelnd schließt. »Vorsichtig, langsam, seine Rippen sind gequetscht.«

Er liegt nun, der Schmerz brennt in seiner Brust und läßt ihn keuchend nach Luft schnappen. Nur mühsam erkennt er, daß sich Templar über ihn beugt. Hinter Templar taucht das Gesicht von Rachel Mendan neben einigen anderen auf. Rachel hat den kleinen Elmer im Arm und sieht fort, als Martinsons Blick sie trifft.

»Ganz ruhig, Dick«, hört Martinson Templar reden. »Nur still, mein Freund.«

»Mary«, flüstert Martinson und hat Blutgeschmack im Mund. »Mary, Janette.«

»Sie sind in Ordnung, Dick, hörst du?«

»Ja«, sagt er leise. Dann weiten sich seine Augen jäh. Die Erinnerung kehrt zurück. »Die Schlucht – der Wagen, wo ist Mary?«

»Ihr fehlt nichts, die Schlucht ist nur ein paar Schritte tief. Sie ruft von unten, wir holen sie herauf, Dick.«

»Sie ruft?«

»Ja, Mann, sie ruft nach dir. Wir haben ja Seile genug, es dauert nicht lange, dann haben wir sie heraufgezogen. Keine Sorge, Dick, es ist alles in Ordnung.«

»In Ordnung«, murmelt Martinson zufrieden und erleichtert. »Alles – in – Ordnung.«

Er hat wieder das Gefühl, jenen unendlich schweren Druck zu spüren. Das Brausen meldet sich erneut. Es wird so laut, daß er die Augen schließt und sich angehoben fühlt. Das Brausen trägt ihn fort. Mit diesem Gefühl fällt er in die nächste Ohnmacht.

»Nat, komm schnell, da ist was!«

Sie sehen sich an, als Templar vom Wagen springt und in Riesensätzen auf die Stelle zuhastet, an der Logan kauert und Bethune ein paar Stricke zusammenbindet. Templar läßt sich auf die Knie hinunter und streckt den Kopf über die Kante. Kühl weht ihm der Dunst entgegen.

»Ruhig doch – seid leise, Leute!«

Er hört es nun, es ist ein Wimmern, das von unten heraufdringt. Das Baby wimmert irgendwo in diesem Dunst.

»Die Laterne her«, sagt Templar rauh und bindet sie sich an den Gurt. »Legt mir das Seil um, ich muß runter und nachsehen. Janette weint dort unten.«

»Mann, du weißt nicht, wie tief es ist.«

Er sieht seine Frau an und schüttelt den Kopf.

»Ich muß hinunter«, sagt er einfach.

Der Blick seiner Frau, voller Furcht und Unsicherheit, trifft ihn, aber er sieht schnell weg und läßt sich über die Kante rutschen. Viel sieht er nicht, obwohl die Laterne wenigstens etwas Licht verbreitet und den Nebel teilt. Felszacken überall, Risse, Scharten – tiefe Löcher. Je weiter er nach unten sinkt, desto lauter wird das Weinen von Janette Martinson. Irgendwann spürt er Boden unter den Füßen. Es ist ein Felsblock, auf dem seine Stiefel aufsetzen.

»Langsam – nicht locker lassen!« ruft er heiser nach oben. »Hier sind Felsen, ich muß hinabsteigen. Haltet das Seil straff, gebt aber vorsichtig nach.«

Sekunden später steht Nat Templar vor den Trümmern des Wagens. Er geht auf das Wimmern zu, das einige Schritte weiter zu hören ist.

Dann sieht er die Frau in einem Busch liegen.

Mein Gott, denkt Nat Templar beklommen, sie ist tot, aber das Kind hält sie fest in den Armen.

Er bückt sich und faßt nach ihrem Hals. Jäh zuckt Templar zusammen, denn der Pulsschlag Mary Martinsons ist noch zu spüren.

»Nat, was ist?«

»Sie leben beide!« schreit er zurück. »Wenn man doch mehr sehen konnte! Dieses verdammte Dreckzeug von Nebel. He, ich brauche mehr Seile, ich muß eine Trage machen und sie festbinden. Anders bekommen wir sie nicht hoch. Werft noch ein paar Seile herunter, damit ich neben der Trage zur gleichen Zeit hochgezogen werde und Mary von den Felsrissen forthalten kann.«

Es gelingt ihm kaum, das Kind aus Mary Martinsons Armen zu befreien. Obwohl die Frau besinnungslos ist, muß sie doch im Unterbewußtsein spüren, daß er ihr das Kind nimmt, denn sie stöhnt und wird unruhig.

»Ganz still, Mary«, sagt er heiser neben ihr. »Es wird gut, Mary, keine Sorge.«

Zwischen den Trümmern findet er den Flechtkorb der Martinsons, eine Decke und ein paar Enden Tauwerk. Er legt das wimmernde Kind in den Korb, deckt es gut zu und schleppt den Korb dann auf die Felsen. Mit einem Stück Seil hält er den Korb von der Wand fort. An jenem, das ihm zum Herunterlassen diente, ist der Korb angebunden und gleitet auf seine Kommandos hin in die Höhe, bis der Nebel ihn geschluckt hat.

»Vorsichtig ziehen, nicht weiter herauf, wenn er anstößt oder sich verhakt.«

Doch es geht gut. Der Korb kommt glatt hinauf, und von oben gellt der Ruf:

»Achtung, das nächste Seil, Nat!«

Es klatscht gleich darauf neben ihm gegen die Felsen. Er sucht unter den Trümmern nach einem Strohsack und Decken. Mary Martinson stöhnt, als er sie anhebt und auf den Strohsack legt. Dann bindet er sie fest und schleift den Strohsack in die richtige Position.

Das Hochhieven geht leichter, als er es sich vorgestellt hat. Oben angekommen, deutet Rachel Mendan schweigend auf ihren Wagen.

»Ja«, sagt Templar. »Das ist gut, Rachel, du versorgst sie schon, ich weiß. Untersucht sie, ich glaube, ihr Bein ist gebrochen. Und am Rücken ist ihr Mantel zerfetzt. Da ist auch Blut. Halten wir, machen wir ein Feuer, ich habe noch etwas Minztee. Und dann wollen wir warten. Ich fahre keinen Schritt mehr weiter, ehe ich weiß, was vor uns ist.«

Waco 5 – Western

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