Читать книгу Lieblingsnachbarinnen - Ghyslyn Pomsel - Страница 5
Maschine
ОглавлениеWenn es ein Geheimnis auf unserer Erde gibt, dann ist es die Zeit.
Hemmungslos bauen Physiker und Mathematiker sie ein in die Formeln,womit sie dann rechnen und schließlich sogar Ingenieure armselige Blechraketen in den Weltraum schießen lassen, darinnen ein armes Menschlein, verkabelt, geklemmt in Metall, eine gewaltige Explosion unter den Füßen und ein Garnichts über dem Kopf, in der aberwitzigen Hoffnung, auch wirklich ungefähr dort anzulangen, wo es hin soll...
Ich verstehe nicht das Geringste von Zeit.
Ich habe einfach kein Talent dazu.
Manchmal stelle ich mir Zeit als eine Art Sülze vor: Ist man, wie süßsaures Gemüse, darin eingelegt? Schwimmt man in der – Sülzen-Zeit?
Wo überhaupt ist die Zeit? Wo befindet sie sich? In mir, oder bin ich in der Zeit? Bin gar – ich die Zeit?
In der Tat, ich merke schon, ich habe keinerlei Talent zur Zeit.
Ich kann sie einfach nicht, die Zeit, also so etwas wie Tage, Jahrzehnte, Jahrtausende, Devon, wie einen Moment oder Demnächst. Mir gelingt sowas nicht.
Unüberwindlichkeiten versülzen mir umgehend das Denken, sobald ich auch nur versuche, Zeit zu denken. März oder ein Jahr oder übermorgen oder eine halbe Stunde – was soll das denn sein? Man erzähle mir nur nicht, dass Zeit eine Linie sei. (Der Strich mit der Pfeilspitze vorne dran.) Oder ein Strom, der da fließt (worin ich dann fischen soll oder nicht).
Nein, nein, Zeit ist – Sülze!
Beweis: Fast jeder, dem ich von Zeiten als Sülze spreche – jeder von denen versteht mich.
Sie doch auch, na?
Oder gehören Sie tatsächlich zu denjenigen, (soll es geben) die freudig unterschreiben, dass so etwas wie Gestern, Manchmal oder die Ära der Ammoniten – jeweils feste Punkte auf der akkuraten Linie der Zeit sind.
Nie im Leben glauben Sie das!
Denn was sind schon Eben, Danach, Später, die Jugendzeit? Was soll das, mal ganz ehrlich, das denn wohl sein: das Alter?
Zu solchen Dingen wie Lebenslinien und Linien überhaupt habe ich einfach kein Talent. Mir fehlt das Händchen für etwas, das bombenfest von Hier nach Sofort, von Jetzt zu Gleich geht; für derartige Unmehrdeutigkeiten, dafür habe ich keinerlei Begabung.
Stunden, Tage, Tertiäre, vorgestern, Nachdem, Bevor, Momente! Sind dies doch alles Gürkchen und Blumenkohlstückchen und Silberzwiebeln in Sülze!
Ein Maiskölbchen – wie begeistert es mich, das eine Maiskölbchen im Glas Sülze zu fischen!
Ob das nun ein Übermorgen ist oder das Eben noch, wen interessiert's?
Nein, nein, Talent zu Zeit habe ich nicht.
Dass schon wieder eine Woche (Woche?) um ist, merke ich lediglich an der neuen Umsonst-Fernsehzeitschrift in der Tageszeitung: Statt des hübschen Viktorianischen Weihnachtsbaums habe ich dann stets plötzlich die sonnengelbe Küste Dalmatiens vor Augen oder eine Bikinifastnackte mit Osterhasenpompon auf dem Hintern.
Jedoch kenne ich eine, die es wissen muss. Es ist – eine von meinen Lieblingsnachbarinnen. Wie könnte es anders sein.
Wenn eine es weiß, was Zeit ist, dann sie.
Sie ist nämlich Fachmann. Kein Gebiet, worin sie nicht schwämme wie ein Fisch im Strom! Ein Späher ist sie, ein wahrer Indianer! Alles findet sie heraus! Egal, worum es geht, sie weiß es oder, noch besser, sie wird des gewahr.
Sie ist - ein wahrer Indianer!
Meine Lieblingsnachbarin ist sie, denn ich liebe Indianer.
Indianer lauschen an Bahngleisen und wissen genau, wann der Zug kommt.
Nichts gibt es, das dem Späher-Auge entgeht.
Sie lesen Zeichen, verstehen sich auf alle Spuren (und da sind wir auch gleich der Zeit auf der Spur!), enträtseln Indizien.
Schlüsse ziehen sie. Und haben die Welt damit fest im Griff. Keine Notlage, die sie nicht zu knacken wüssten.
Denn:
Wenn ich meinen Indianer nun fragen würde, was man, sagen wir einmal, mit Roter Beete anfängt oder mit Postelein oder mit Ringelblumen, Mangold, einem faulen Ei, einem Mordfall, Kakerlaken, einer Lebensversicherung oder einem Sexualverbrecher: Sie wüsste es. Sie brächte es glatt raus. Sie kriegte es, ja!, in den Würgegriff.
Sie ist es schließlich, die stets weiß, wer wen heiratet, beerbt oder hasst, wer einen Preis im Lateinischen gewann oder verstarb und woran, oder was die Sonderangebote beim Discounter wert sind.
Ich sage bei der Pistole am Kinn nur (ich gestehe) eilig und Hände-hoch-mit-erhobenen-Händen: Nichts wert sind die Dinger (Koffer, Kissenbezüge, Kloreiniger-Pastillen oder Kakaopulver), nichts. Nothing, Nicht die Bohne wert. Nichts!
Sie dagegen weiß, warum nicht. Das zählt!
Fachmann ist sie und Alleskönner. Sie ist Tausendsasa und Pfiffikus.
Sie ist meine Rettung. Brennt es mal wieder in der chemischen Fabrik, legt sich mal wieder eine schwarze Wolke über uns alle, wird unsere Märchensiedlung mal wieder bepudert von Gelbem und Gift, erfüllt von Gestank oder zugedröhnt von unheimlichem Getöse, dann näht sie aus edelsteinfarbenen Stoffen eine Decke, die ihresgleichen sucht.
Indianer halten nämlich die Welt in der Hand, und sie halten sie an.
Ihnen eignet der Goldene Griff.
Kein Schrittchen weicht mein Indianer, wenn es nur, kleinlich, um Wirklichkeit geht.
Erschauert wer ratlos im Angesicht der Katastrophe, so hat sie den Trick raus.
Klimaschock, Umweltzerstörung, Weltuntergang –
gibt es nicht.
Wen also könnte ich Besseren finden, um zu fragen:
Indianer, sage mir an: Was ist das – die Zeit!
Vergeht sie tatsächlich? Verstreicht sie, zerläuft sie wie Eier und Uhren in Salvatores Gemälden? Geht sie verloren, die Zeit? Gibt es sie neu, immer wieder?
Bleibt sie, verhaftet, erhalten, gebannt?
Ist sie verborgen, geheim, nur Eingeweihten bekannt?
Zeigt sie sich, will sie entlockt, enträtselt, an Spuren erschlüsselt, herausgekitzelt nur werden?
Ist sie ein Witz? Einer von Gottes allmächtigen Scherzen?
Oder echt meine – Sülze?
Und wir liegen drin?
–
Zuerst erzählte man mir nur davon. Dann sah ich es selbst, als ich das Federbett aufs Fensterbrett warf. Und nunmehr weiß ich es definitiv: Auch Indianer – gehen gebückt.
Auch sie unterliegen dem unausweichlichen Zugriff der Zeit, dem Alter. Sie bekommen kaputte Hüften, Schultern und Knie.
Selbst Säuglinge unterliegen dem Altern.
Und auch für Indianer nützt Gibt’s Nicht! kein Bisschen.
Und Dennoch:
Mir hätt's so gepasst, dass mein Indianer drumrumkommt ums Altern!
Eigentlich dachte ich: Für Indianer gibt es kein Altern.
Der Goldene Griff, Mensch, der Goldene Griff! Zieh! Los doch! Den Goldenen Griff! Zieh! Zieh!
–
Zuerst erzählte man mir nur davon. Dann sah ich es selbst, als ich beim Super Tomaten und Dosenmilch kaufte.
Sie hat ihn gezogen – den Goldenen Griff!
Indianer sind nämlich findig und wissen genau, wann der Zug kommt.
Indianer verstehen Zeichen, enträtseln die Welt.
Spuren lesen Indianer, so wie ich die Zeitung.
Zuerst erzählte man mir nur davon. Dann sah ich es selbst:
Sie baute sich, so sprach sie, baute sich eine Maschine.
Gegen das Altern.
Indianer sind findig.
Indianer halten nämlich die Welt in der Hand, und sie halten sie an.
Ich glaube daran.
Ihr wird es gelingen.
Ich will es!
Und danach möchte ich wissen, bitte, ist sie nun Sülze, die Zeit?
Sülze, he, Sülze?