Читать книгу KOPFKINO - Gina Hemmers - Страница 4

Oktober

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November war für mich immer der Winteranfang. Nicht früher, nicht später. Immer der achte Novembertag. Dann wurde es glatt und es fing an zu schneien. Dann würden Jake und ich Schlittschuhlaufen gehen. Er würde viel darüber meckern, aber er würde es mir zu liebe tun. Doch morgen werden wir nicht gehen. Morgen werde ich gehen.

Noch einen Monat

„Hey du“, rief er mir zu. Ich spürte, wie mein Herz, einen Sprung machte und ich fühlte mich, als würden meine Beine aus Wackelpudding bestehen. Die Schmetterlingskette auf meiner Brust begann zu glühen. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, fühlte ich freudige Erregung und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Wir trafen uns vor der Schule.

Er lehnte an der Mauer und wie immer fiel mir auf, wie gut er aussah. Sein hellbraunes Haar fiel ihm ins Gesicht und seine grünen Augen forderten meine Braunen heraus. Für seine achtzehn Jahre sah er sehr männlich aus.

Trotz der Kälte, trug er ein dünnes Sweatshirt und spielte mit seinen Muskeln, sobald er mich erblickte. Ich verkniff mir ein Grinsen. Man sah auch so, dass er einen durchtrainierten Körper hatte, aber er musste natürlich den Macho markieren. Ich umarmte ihn sehr lange und gab ihm einen verliebten Kuss. „Wofür war das denn?“, fragte er mich lächelnd. „ In einem Monat.“, flüsterte ich ihm neckisch zu, „Ich freue mich schon so!“ „Wovon sprichst du?“ Er tat ganz unwissend und sah mich mit großen Augen an: „Hab ich etwas vergessen? Was ist denn dann?“ Ich sah ihn gespielt wütend an: „Wie kannst du das bloß vergessen? Da läufst du umher mit einem dünnen Sweatshirt und weißt noch nicht einmal, dass es mittlerweile nur noch fünf Grad sind! In vier Wochen-“ Er unterbrach mich, in dem er mich küsste und raunte: „ Ist unser Jahrestag.“ Ich schmunzelte: „Das habe ich gar nicht gemeint.“ Er lachte.

Der Gong ertönte und Jake zog mich zärtlich mit sich, rein in die Schule. Er war zwar ein Jahr älter als ich, aber wir gingen trotzdem in dieselbe Stufe. Ich bin nämlich schon mit fünf eingeschult worden, da ich super intelligent bin. Ironie. Die erste Stunde hatten wir Religion. Eigentlich ein Fach, in dem nur rum gequatscht wird, was aber nicht so schlimm, wie ein naturwissenschaftliches Fach ist. Doch bei unserem Lehrer Herr Maus, den wir heimlich Spitzel nannten, war aufpassen nahezu unmöglich. Es war schier unmöglich, den Unterricht toll zu finden. Herr Maus machte jedes Thema so sterbenslangweilig, dass man am liebsten aus dem Fenster gesprungen wäre, auch wenn man wahnsinnige Höhenangst hatte. Deshalb verstand ich auch nicht, wie Jake so aufmerksam zuhören konnte. Er bemerkte nicht einmal, wie Timmy ihm das Butterbrot aus seiner Tasche klaute und laut schmatzte. Und dass, obwohl er direkt neben ihm saß.

Wie immer war ich kurz vorm Verzweifeln. Ich hielt diese Stunden nur schwer aus. Mein einziger Lichtblick war Jake, den ich so gerne anschaute. Für mich hatte er das schönste Gesicht auf der ganzen Welt. Manchmal sah ich ihn so lange an, dass es ihn sogar störte. Er stupste mich dann unter dem Tisch und flüsterte: „Lass das, es ist mir unangenehm, wenn du mich so anschaust.“ Meine Antwort lautete immer feixend: „Ich sehe dich eben gerne an.“

Lehrer sind wirklich schlimme Menschen.

Du denkst zu Weilen, sie reden Blödsinn und doch darfst du ihnen nicht widersprechen. Im Falle von Herrn Maus, kannst du nichts tun, weil er mit seinen Adleraugen einfach jede Bewegung sieht. Dein Handy würde direkt beschlagnahmt, würdest du es im Mäppchen oder sogar in der Jackentasche anschalten. Er würde es einfach sofort bemerken. So wie ihm jetzt auch auffiel, das Timmy aß. Er schickte ihn vor die Tür und gab ihm eine Strafarbeit. Er solle einen Aufsatz schreiben über das Thema: Kann ein Embryo fühlen?

Jake blickte Timmy vernichtend an und das trotz jahrelanger, inniger Freundschaft. Ich wusste nicht, ob er so schaute, weil Timmy sein Brot verzehrte oder weil sein bester Freund dafür gesorgt hatte, dass Spitzel seinen Vortrag über das Leben und den Tod unterbrechen musste. Nachdem Timmy den Raum verlassen hatte, nicht ohne vorher ein höchst erfreutes Gesicht zu machen, setzte Spitzel seinen nie endenden Monolog mit derselben langweiligen Stimme fort. Ich stöhnte und legte den Kopf auf den Tisch.

Das konnte ja noch eine Weile dauern.

„Die Wissenschaft“, verkündete er gerade, „kann uns nicht beweisen, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Die meisten Menschen glauben aber daran, dass die Seele in den Himmel aufgenommen wird, während der Körper auf der Erde verwest. Ich möchte Sie bitten, mir aufzuschreiben, was Sie denken, was nach dem Tod geschehen wird. Danach tauschen sie die Blätter mit ihrem Partner und unterhalten sich etwa fünf Minuten über ihre Aufzeichnungen.“

Ich riss ein Blatt aus meinem Block und sah, dass Jake schon wild auf seinem Blatt herumkritzelte.

Für mich war es immer noch unbegreiflich, wieso dies sein Lieblingsfach war. Ich bevorzugte den Englischunterricht. Ich starrte auf mein leeres Blatt und mir fiel absolut nicht ein, was ich schreiben sollte.

Ich überlegte lange und kritzelte dann 8 Worte.

Ich glaube an das Leben nach dem Tod.

War das nicht die Antwort, die mein Lehrer haben wollte? Ich wartete sehr lange, bis Jake sich endlich aufrichtete und mir seine ganze Seite rüber schob. Ich öffnete erstaunt den Mund, denn wie du weißt, habe ich nicht mal eine ganze Zeile geschafft. Mein Blick heftete sich auf sein Blatt, aber nicht, ohne ihn vorher noch einmal verliebt gemustert zu haben.

Ich denke, dass man nicht wirklich sterben wird. Es gibt viele Möglichkeiten, was nach dem Tod mit einem geschieht. Ich glaube nicht daran, dass man für ewig in seinem Grab ist. Möglicherweise wird man wieder geboren, als jemand anderes. Vielleicht als Tier oder als Mensch. Vielleicht als Engel. Zunächst wird die Seele in den Himmel gehen, wo sie Gott begegnen wird. Gott lässt einen selbst entscheiden, ob man wieder geboren werden möchte. Wenn man ja sagt, ist man am nächsten Tag wieder auf der Erde. Als Mensch oder Hund, Fisch oder vielleicht Käfer. Wenn man nicht wiedergeboren werden möchte, bleibt man da oben und hat die Möglichkeit, seine Freunde und die Familie zu beobachten und zu unterstützen. Man sieht, wie sie ohne einen weiterleben. Wie sie trauern und wie sie lachen. Wenn jemand traurig ist, dann kann man sich daneben setzen und denjenigen trösten. Man kann Familie und Freunde schützen, wenn sie in Gefahr sind. Ich denke, ich würde oben bleiben und nicht wieder zurückkehren. Wenn man stirbt, wird sich Gott schon etwas dabei gedacht haben. Alles hat einen Sinn. Ich hätte schon ein glückliches Leben gelebt und würde lieber für alle da sein und auf sie aufpassen. Ich würde meiner Mutter und meiner Freundin helfen. Sie brauchen mich eher so und nicht als ein Hund oder was auch immer. Dort oben könnte ich über sie wachen. Außerdem würde ich meinen Vater, meinen Opa und meine Oma wiedersehen. Dort oben trifft man dann all jene, die schon vor einem die Welt verließen. Man kann verstorbenen Verwandten und Freunden begegnen und sich mit ihnen unterhalten. Ich würde zwar meine Familie und Freunde schrecklich vermissen, aber in einer gewissen Weise wäre ich auch noch bei ihnen.

Sein Vater starb bei einem Arbeitsunfall als Jake fünf Jahre alt war. Seitdem war kein Mann so lange in der Familie Summer geblieben, dass man sich seinen Namen hätte merken müssen. „Du schreibst so schön, mein Schatz“, flüsterte ich und fühlte, wie sich einige Schmetterlinge in meinem Bauch erhoben, um wieder Kreise fliegen zu können. „Du solltest öfter schreiben. Ich lese so gerne etwas von dir.“ Jake lächelte mir zu und sagte ironisch: „ Du hast dir ja auch sehr viel Mühe gegeben.“ Er gab mir meinen Zettel zurück. Ich grinste verschmitzt und unter dem Tisch griff ich nach seiner Hand. Er bemerkte es und aus dem nichts, schloss sich seine um die meine. „Glaubst du wirklich daran, dass etwas nach dem Tod passieren wird?“ „Natürlich. Sonst wäre ja alles umsonst gewesen. Das eigentliche Paradies ist nämlich der Himmel.“ Meine Gedanken kreisten und plötzlich wurde ich blass. „Hoffentlich muss ich niemals erleben, wie du gehst“, wisperte ich ernst. „Das wirst du nicht“, versicherte Jake mir, „Ich bin zwar älter als du, aber ziemlich zäh. Wir werden einfach irgendwann zusammen entscheiden, dass wir gehen“, er lachte, „mit siebzig oder so, bevor es eklig wird. Wir legen uns zusammen ins Bett und schlafen einfach gemeinsam ein.“ Ich grinste schelmisch und fuhr zärtlich mit einer Hand über sein Gesicht, „Das klingt nach einem super Plan. Bleibst du denn auch so lange bei mir?“ „Wenn du nicht so oft sagen würdest, dass es eh nicht hält, würde ich auch nie auf den Gedanken kommen, dass wir uns irgendwann trennen könnten.“ Er zwinkerte mir zu. „Das tut mir Leid. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich so ein Glück habe.“

„Wenn die zwei Turteltauben endlich fertig sind, könnte ich meinen Unterricht dann fortsetzen?“ Der Spitzel stand vor uns und sah uns ein wenig amüsiert, ein wenig genervt an. „Natürlich“, erwiderte ich lächelnd, doch Jake lief purpurrot an und ließ sofort meine Hand los. Der kleine Feigling.

Noch neunundzwanzig Tage

Jake und ich schauten einen Horrorfilm. Die Entscheidung hatte er bei sich zu Hause schon gefällt, noch ehe er mit mir ein Wort darüber sprach. Als er zu mir kam, rief er schon beim Betreten des Hauses, noch bevor er mich zur Begrüßung küsste: „Ich habe mir einen neuen Film gekauft, den müssen wir unbedingt zusammen sehen.“ Natürlich überging er meine schwachen Proteste und mein Werben um einen neuen Liebesfilm, den ich mir vor zwei Tagen kaufte. „Du weißt, ich mag keine Horrorfilme“, quengelte ich, als ich das Cover sah. Darauf befand sich der blutverschmierte Körper einer Frau, der leider ein gewisses Körperteil abhanden gekommen war: Nämlich ihr Kopf. „Ach komm, jetzt stell dich nicht so an“, umgarnte er mich mit einem honigsüßen Lächeln und zwickte mich in meine Seite.

Selbstredend überzeugte er mich, innerhalb der nächsten fünf Minuten, dass der Film BESTIMMT gut für meine Allgemeinbildung sei und wir ihn unbedingt zusammen sehen müssten. Ausschlaggebend dafür, dass ich zusagte, war allerdings auch das Versprechen auf eine Massage.

Um es kurz zu machen, fasse ich dir den Abend zusammen: Ich hielt mir während der Hälfte des Filmes die Augen zu, während Jake immer wieder meine Hände wegzog und sagte: „Du musst auch hinschauen, sonst verpasst du das Beste.“ Insgesamt lachte er vier, fünf Mal und sagte: „Wie unrealistisch“ oder „Das ist doch klar, dass man sich nie trennen darf!“ Das einzige Mal dass ich hinschaute und etwas Gruseliges passierte, schrie ich so laut auf, dass sich Jake die Ohren zu hielt und meine Mutter ins Zimmer eilte und bestürzt fragte, was denn passiert sei. Ein Gutes hatte der Film jedoch: Ich konnte mich die ganze Zeit an Jake festkrallen und mein Gesicht, in den Untiefen seines Pullis verstecken. Außerdem bekam ich nach dem Film eine Massage, die fast alles wieder gut machte. Dennoch saß ich die halbe Nacht kerzengerade im Bett, aus Angst, die Frau mit dem abgehackten Kopf, könne herein kommen. Jake schlief tief und fest und hielt mich die restliche Zeit umklammert, auch in den Momenten, in denen ich zusammenzuckte und die Augen plötzlich aufriss.

Ich kuschelte für mein Leben gern mit ihm, denn es gab einfach nichts Schöneres auf der Welt. Wenn wir beide zusammen waren, war alles Weitere unwichtig. Alltagsstress, Müdigkeit, Genervtheit verflogen und ich war einfach glücklich. Nur er zählte.

Und meine Eltern akzeptierten das.

Sie hatten auch gar keine andere Wahl.

Noch achtundzwanzig Tage

„Das geht nicht mehr“, sagte er zu mir. Tränen liefen mir über das Gesicht. „Warum?“, fragte ich. „Bist du denn überhaupt noch glücklich?“, stellte er mir die Gegenfrage, mit leidendem Blick. „Jetzt schieb das nicht auf mich!“, heulte ich, „Ich will nicht Schluss machen!“ Er dachte lange nach und sagte dann: „Ich denke nicht mehr an dich, wenn du nicht da bist.“ Es fühlte sich an, als hätte er mir einen Schlag in den Magen verpasst. Ich würgte.

Schweißgebadet, saß ich kerzengerade im Bett und meine Hand tastete fahrig, auf der rechten Seite entlang. Sie ergriff etwas, dass Körpertemperatur besaß. Ich atmete erleichtert auf, denn es war nur ein Traum gewesen. Ich fasste Jakes Hand und kuschelte mich nah an seine Schulter.

Noch siebenundzwanzig Tage

Jake lud mich ein, mit ihm und seiner Mutter Abend zu essen. „Sie fragt ständig nach dir. Wahrscheinlich, weil du jetzt schon so lange nicht mehr da warst“, sagte er und verdrehte die Augen. Ich lächelte.

„Das haben Eltern nun mal so an sich. Meine wollen auch immer alle Neuigkeiten von uns beiden erfahren.“

Es war Montag. Ich hasste Anfänge der Woche, aber dass ich mit Jake Essen ging, hellte den Tag um einiges auf. Ich legte meine Hand auf die seine und wir fuhren mit seinem Wagen zu dem Ort, an dem ich mich am liebsten aufhielt. Er befand sich tief im Wald und doch wusste ich genau, wo wir hin mussten. Es war eine riesengroße Wiese, hinter der sich eine Jagdhütte versteckte. Man konnte sie nicht sehen, da die Blätter der Bäume sie verdeckten. Anscheinend wurde es früher bewohnt, denn es gab sogar einen intakten Kühlschrank. Das Häuschen war jetzt jedoch unbewohnt und schon vor einiger Zeit in Vergessenheit geraten. Ich war darauf gestoßen, als ich für ein Schulprojekt nach seltenen Pflanzen suchen sollte.

Die Wände waren vollständig bemoost und so war es für jemanden, der es nicht kannte, nur schwer zu entdecken. Seit letztem Jahr hatten wir allerlei Sachen angeschleppt und dass, obwohl damals noch keiner von uns einen Führerschein besessen hatte. Diese kleine Hütte gehörte nun uns. Als wir eintraten, fiel mir direkt etwas Neues auf. Es war ein großer heller Schrank aus Eschenholz, der direkt neben den Eingang stand. Er war sehr schön, wenn auch etwas altmodisch. „Der ist wunderschön“, jubelte ich und fiel ihm erneut in die Arme, „wann hast du den denn hergebracht?“ „Vorgestern“, entgegnete er strahlend, „meine Mutter wollte ihn nicht mehr haben. Da dachte ich, hier würde er sich ganz gut machen, findest du nicht?“ Ich nickte begeistert.

Nun war unsere kleine Hütte perfekt. Der Boden bestand aus Holz und auf ihm lag ein roter Teppich. In der Ecke stand ein rotes Sofa, dass mein Vater uns letztes Jahr hertransportierte. An den Wänden hingen zwei Poster und ein Bild eines seltsamen Wesens, dass Jake vor einiger Zeit herbrachte. Wir nannten es liebevoll Mathilde. Es war ein Insider von uns und jedes Mal, wenn wir uns in der Schule über Mathilde unterhielten, verstand niemand, wovon wir redeten und wir mussten grinsen. Es gab zwei Regale, auf denen sich Bücher stapelten. Einige handelten von Mord und andere von Sex und manche von beidem. Wir hatten auch einen Schreibtisch und einen Stuhl. Einen Fernseher gab es hier nicht, denn wenn wir hier waren, taten wir, nun ja, lieber andere Dinge. So auch an diesem Abend. Wir schlossen die Tür hinter uns ab. Er küsste mich. Im meinem Bauch wütete ein heftiger Sturm, der mich vollkommen in Jakes Bann trieb. Er hob mich hoch und meine Beine umschlossen seine Hüfte. Dann legte er mich sanft auf das Sofa. Er küsste mich noch drängender, denn er wollte mehr.

Später lagen wir nebeneinander, kuschelten und lauschten dem Rauschen des Windes und der raschelnden Blätter.

Es ist schön, etwas ganz für sich zu haben. Diese Hütte gehörte nur uns beiden und niemand konnte uns stören. Es gab keine nervigen Eltern, sondern nur uns zwei. Immer wenn wir uns hier aufhielten, fühlten wir uns wie im Urlaub. Jake gehörte nur mir. Die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzten.

Am Abend fuhren wir zu seiner Mutter. Dort parkten wir den Wagen in der Garage und betraten das Haus. Ich war etwa drei Monate nicht mehr hier gewesen, wie mir plötzlich bewusst wurde. Jake wollte mich immer lieber besuchen. Nichts hatte sich verändert. Fast nichts. „Hey Mum! Wir sind da“, rief Jake und ließ meine Hand los. „Ah… schön… schön… kommt…doch rein.“ Irgendetwas stimmte nicht. Sie hörte sich so schwach an. Wir hängten die Jacken in den Flur und ich betrat voller Unbehagen das Wohnzimmer, nicht sicher, ob ich sie wirklich sehen wollte. Jake stand dicht hinter mir. Frau Summer saß in einem Sessel. Ihr Erscheinungsbild ließ mich erschrecken. Ihre dünnen Arme lagen starr auf der Lehne. Sie waren blass und man sah die Adern pulsieren und die Knochen hervor treten. Ich blickte in ihr Gesicht und versuchte dem meinen einen freundlichen Ausdruck und nicht etwa Schock zu verleihen. Ihres war eingefallen und ihre kurzen, schwarzen Haare waren nun nicht mehr glänzend, sondern spröde und kaputt. Ihre Augen strahlten nicht mehr. Sie erinnerte mich in keiner Weise an die Frau Summer, die ich vor zwei Jahren kennen gelernt hatte. Damals war sie rundlich und voller Lebensfreude gewesen, hatte viel gelacht und allen möglichen Menschen immer einen Rat gegeben. „Hallo…“, sagte sie schwach. „Hallo “, riefen Jake und ich. Meine Stimme war ein wenig höher als sonst. Das Essen verlief die meiste Zeit schweigend. Er hatte zuvor etwas beim Chinesen gekauft. Frau Summer erkundigte sich nach der Schule und danach, wie es meiner Familie gehe. Von sich selbst erzählte sie wenig. Früher war es für mich immer schwierig gewesen, mit ihr zu sprechen, da wir weder gemeinsame Interessen, noch ein anderes Gesprächsthema hatten. Sie bemutterte Jake so sehr, dass es für mich zunächst mühsam war, ihn von ihr, zumindest ein bisschen loszueisen. Als sie nach dem Essen aufstand, bemerkte ich, dass sie schwankte. Auch der Rest ihres Körpers war eingefallen und dürr. Sie war viel dünner als ich und das, obwohl sie mich um Einiges überragte. Frau Summer murmelte: „Entschuldigt bitte. Ich bin so müde. Es war schön, dass du hier warst.“ Sie sah mich an und ich lächelte ihr zu. Jake stand rasch auf und stütze sie. Ich stand da, wie ein vergessener Regenschirm. „Ich fand es auch sehr schön. Danke, dass sie mich eingeladen haben. Und gute Besserung.“ Jake blickte mich irritiert an und verschwand mit ihr. Ich ließ mich wieder auf den Stuhl plumpsen. Mir schwante Böses. Hatte Frau Summer eine schlimme Krankheit? Sollte ich Jake danach fragen? Besser nicht. Ich redete auch nicht gerne über Dinge, die mir unangenehm waren. Vielleicht war es ja nur eine normale Grippe. Morgen ging es ihr bestimmt wieder besser. Aber was, wenn nicht? Vielleicht sollte ich doch besser einmal nachfragen.

Wir fuhren schweigend. Ich versuchte eine interessante Unterhaltung aufzubauen, doch das Ergebnis war kläglich und so beschloss ich, es sein zu lassen.

Vor meiner Haustür bedankte ich mich für den Abend und küsste ihn. Er lächelte schwach, drehte sich um und wollte schnell davon gehen, doch ich hielt ihn zurück. „Jake?“, rief ich und spürte wie mein Bauch rumorte, „Komm, wir setzten uns hier kurz hin.“ Er näherte sich mir langsam und setzte sich zu mir, auf die Treppen. Ich legte meine Hand in seinen Nacken und strich ihm durch die Haare. „Schatz, was hat deine Mutter?“, fragte ich ihn geradeheraus. Ich spürte, wie er sich unter meiner Hand verkrampfte und dass sich sein ganzer Körper anspannte. „Weißt du, Maus“, erwiderte er sehr langsam und nachdenklich, „ich möchte darüber jetzt nicht reden, ja? Wir sprechen wann anders darüber, okay? Es ist nichts Schlimmes.“ Es wirkte so, als würde er sich das selbst versichern wollen und nicht mir. „Du weißt, du kannst mit mir über alles reden. Also komm auf mich zu, wenn es ein Problem gibt und du nicht weiter weißt, okay?“ Er richtete sich auf, küsste mich auf die Wange und murmelte: „ Geht klar. Ich schlafe heute daheim, wenn es dir nichts ausmacht.“ „Kein Problem, wir haben ja auch gar nichts ausgemacht.“ „Bis morgen“, flüsterte er und küsste mich zärtlich. Wieder drehte er sich um und ging diesmal langsam davon. „Ich liebe dich“, krähte ich ihm wie ein Trottel hinterher und er wand sich vor seinem Auto um und strahlte mich verliebt an. „Vielleicht tue ich das auch“, feixte er. „Wie, dich lieben?“ „Genau“, sagte er grinsend und stieg ins Auto.

Später bekam ich eine Sms.

Ich liebe dich auch, mein Hasepupsi.

Die Sms brachte mich zum Lachen. Wir gaben uns immer bescheuerte Kosenamen aus Spaß.

Ich hatte nicht gewusst, wie schlecht es ihr ging. Ich hatte gedacht, es würde wieder vorbei gehen. Abends brütete ich noch kurz darüber. Doch so langsam, begann diese Erinnerung zu verblassen. Ich hatte Jake gesagt, er solle mir Bescheid sagen, wenn er Hilfe brauchte und erwartete, dass er dies tun würde.

Noch fünfundzwanzig Tage

Alpträume über Alpträume, warum? Es ist doch alles so schön, zwischen mir und meinem Schatz..

Jake stand wieder bei mir im Zimmer und warf mir vor, ich wolle ihn die ganze Zeit verändern. „Das stimmt doch überhaupt nicht!“, rief ich mit Tränen in den Augen. „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich, mein Schatz, weil ich dich liebe! Ich würde alles für dich tun und das weißt du.“ Er raufte sich die Haare und meckerte dann: „Vielleicht ist es zuviel. Vielleicht tust du zuviel für mich. Du bist nicht meine Mutter!“ „Ich meine das doch nur gut! Ich liebe dich. Wenn du es nicht willst, dann versuche ich es zu lassen. Lass es uns doch noch mal versuchen, bitte.“ „Lass es einfach. Es nervt. Du nervst mich“, sagte er, mit versteinerten Gesichtszügen. Ich wurde wütend. „Du kriegst dein Leben ja nicht mal selbst auf die Reihe! Deine Mama muss dir alles in den Arsch schieben! Wie alt bist du, du Baby?! Du bist alt genug, um dein Leben selbst zu regeln. Ich hab dir nur geholfen, weil ich dachte, du brauchst es. Und du hast jedes Mal, meine Hilfe gebraucht, weil du selbst immer nur rum sitzt und darauf wartest, dass das Leben zu dir kommt. Krieg endlich mal deinen Arsch hoch und tue was und sitz nicht dauernd rum und blase Trübsal, dass dein Leben so schlecht ist.“ Wütend blickte er mich an. Das wollte er gar nicht hören. „Weißt du was? Ich habe keinen Bock mehr auf dich. Auf deine nervige Art, dich dauernd an mich zu klammern. Ich brauche dich nicht. Ich brauche niemanden, der sich Sorgen um mich macht, der mich immer kontrolliert und alles von mir wissen will. Ich will jetzt endlich wieder frei sein.“ Er schubste mich weg und ging zur Zimmertür. Ich stand da, wie betäubt. Ich konnte es nicht fassen, was gerade geschehen war. Was zum Teufel? Ich drehte mich weg und sah unsere Schmetterlingskette auf dem Schreibtisch liegen.

Ich öffnete die Augen und spürte mein Herz wie verrückt rasen. Ich blickte hastig zur Seite, um mich zu versichern, dass er noch da war. Sein Gesicht war bedeckt und ganz ruhig lag er da. Fast wie tot. Ich kuschelte mich an ihn, hob die Decke hoch und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ich liebe dich, mein Schatz.

Noch einundzwanzig Tage

Ich hatte Frau Summer schon fast aus meinen Gedanken verdrängt und Jake gab mir auch keinen Grund, an sie zu denken. Er verhielt sich wie immer, verschlossen, doch nicht anders als sonst. Er passte immer noch höllisch in Religion bei dem Spitzel auf und auch in den anderen Fächern benahm er sich wie immer: In Chemie baute er nur Mist, mit Timmy zusammen, in Mathe verzweifelte er regelrecht und versuchte, bei mir abzuschreiben und in den Pausen unterhielten wir uns, mit unseren Freunden. Er besuchte mit mir, immer noch regelmäßig die Hütte und wir kuschelten immer noch mindestens zweimal die Woche, bei mir in meinem Bett.

Aber heute war er irgendwie aufgeregt. Ich fragte, was denn los sei, aber er sagte nur, heute sei ein wichtiger Tag, ich solle die Daumen drücken. Mehr wollte er dazu aber nicht sagen. Also ließ ich es auf sich beruhen. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann hielt er daran fest. Mein kleiner Prinz, war ein richtiger Dickkopf. Beleidigt zog ich eine Schnute, denn normaler Weise sagten wir uns immer alles. Doch als er mich nach der Schule in die Arme schloss, vergaß ich es schnell und schon düste er mit seinem Wagen davon.

Noch zwanzig Tage

Als ich aufwachte legte ich mir wie immer zuerst die Kette mit dem blauen Schmetterling um den Hals. Ich begutachtete sie im Spiegel und sah wie die Flügel in der aufgehenden Sonne schimmerten. Ich erreichte die Schule um zwanzig vor Acht, versuchte mich so cool an die gewohnte Mauer zu lehnen, wie er es immer tat und wartete. Mein Herz hüpfte auf und ab und war schon freudig erregt. Gleich würde er kommen. Jedes Mal, wenn sich jemand großes, mit dunkelblonden Haaren näherte, richtete ich mich gespannt auf und fuhr mir durch die Haare und versuchte lässig drein zu schauen. Ich blickte auf mein Handy. Noch fünf Minuten und es würde schellen. So langsam wurde ich ungeduldig. Ich hasste es, wenn man mich warten ließ, das wusste er. Ich wartete. Und wartete. Aber Jake erschien nicht. So langsam wurde ich sauer. Ich kam mindestens zehn Minuten zu spät zum Unterricht. Der Spitzel, den ich schon wieder hatte, sah mich misstrauisch an. „Wo warst du?“ Ich überlegte mir rasch einen triftigen und unangenehmen Grund, damit er mich schnell in Ruhe ließ. Dann murmelte ich etwas von einem Notfall, ich hätte meine Tage bekommen, aber keine Binde oder Tampon gehabt und so weiter. Als ich gerade ins Detail ging, räusperte er sich mit hochrotem Kopf und sagte rasch: „Schon gut. Schon gut setzen sie sich.“ Die Klasse kicherte und Timmy zwinkerte mir zu. Dann flüsterte er: „Wo ist Jake?“ Das war wirklich das erste Mal, dass ich diese Frage nicht beantworten konnte. Ich zuckte die Achseln und sah wohl ein wenig besorgt aus, denn Timmy wisperte: „Mach dir keine Sorgen, Muffin Maus, dein siamesischer Zwilling hat mir gesagt, er habe im Moment echt viel um die Ohren, wahrscheinlich hat er sich deshalb nicht bei dir gemeldet.“ Timmy nannte mich Muffin Maus, seit wir zusammen in die fünfte Klasse gingen. Früher hatte sich in meiner Brotdose, nämlich jeden Tag, ein Schoko Muffin befunden, den er mir gelegentlich stibitzt hatte.

Normalerweise rief Jake an, wenn er krank wurde, um mir das unnötige Warten vor der Schule zu ersparen. Doch ich wusste mit Hundert prozentiger Sicherheit, dass gestern Abend kein einziges Mal das Telefon geklingelt hatte und von meiner Familie hatte auch niemand telefoniert. Es befand sich keine neue Sms auf meinem Handy. In der Pause beschloss ich, ihn anzurufen. Denn er ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Doch es hob niemand das Handy ab. Nervös versuchte ich es auf Festnetz, aber auch dort, antwortete mir nur der Anrufbeantworter. Also verbrachte ich die restliche Pause mit Kathi, meiner besten Freundin seit dem Kindergarten und den anderen Mädchen aus meiner Klasse. Viele von ihnen sahen mich komisch an. Anscheinend schienen sie zu denken: „Klar, jetzt wo ihr toller Freund nicht da ist, kommt sie zu uns!“ Irgendwie hatten sie mit dieser Ansicht auch Recht, aber es war mir egal.

Wieder ging ich zwei Stunden in den Unterricht, doch diesmal konnte ich mich gar nicht mehr konzentrieren. Ich kassierte eine schlechte Note in Physik, weil ich mich währen eines spontanen Testes, überhaupt nicht konzentrieren konnte.

Liebe kann einen sehr verrückt machen.

In der zweiten großen Pause rief ich Jake erneut an. Jetzt hatte ich Glück, denn er hob ab. Seine Stimme zitterte und klang verschnupft.

„Ja?“

„Hey Jake“, sagte ich aufgeregt, „zuerst war ich ja ein wenig wütend auf dich, dass du mir nicht abgesagt hast, aber dann habe ich mir Sorgen gemacht. Hast du geweint? Was ist denn los?“

„Ich hab doch nicht geweint!“ Er lachte schrill und unnatürlich. „Ich habe nur eine Erkältung.“

„Wirklich? Was hältst du davon, wenn ich mich um dich heute dann ein wenig kümmere? Ich könnte nach der Schule ja vorbei kommen und-“

„Nein ist schon okay. Bis morgen.“ „ Warte doch mal-“ Doch da hatte er schon aufgelegt.

Jake kam am nächsten Tag nicht.

Und auch, an dem darauf folgendem Tag fehlte er.

Er reagierte nicht auf meine Anrufe und rief mich nicht zurück. Auch auf meine Sms, bekam ich keine Antwort. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich war so verletzt und konnte nicht verstehen, warum er sich mir gegenüber so verhielt. Ich hatte doch nichts getan! Womit hatte ich das verdient? Wenn er mich nicht mehr wollte, konnte er das doch sagen. Das würde weniger weh tun, als das, was er jetzt mit mir tat. Unwissenheit ist das, womit man einen Menschen, am meisten bestrafen kann. Sich den ganzen Tag fragen, macht er jetzt Schluss mit mir, ist das Schlimmste. Und die Fragen, was habe ich falsch gemacht? Wieso liebte er mich nicht mehr? Ich hätte nur noch weinen können. Ich konnte mich nicht einmal mehr, auf meine Hausaufgaben konzentrieren. Abends schloss ich mich ein, warf mich auf mein Bett und weinte herzzerreißend. Mein Vater war noch auf der Arbeit und meine Mutter bei einer Freundin, so konnte ich all meinen Kummer lautstark rauslassen. Ich traute mich nicht einmal mehr Ich liebe dich zu schreiben, weil ich Angst hatte, es würde nicht mehr zurück kommen.

Noch neunzehn Tage

„Weißt du, lass uns noch mal treffen!“, schrieb er mir im Internet. „Was möchtest du denn?“, schrieb ich gleich zurück. Mein Herz hatte, gleich nachdem ich seine Nachricht im Postfach entdeckte, wie verrückt zu Rasen begonnen. In mir tat sich ein mulmiges und schlechtes Gefühl auf. Was wollte er? „Ich will einfach Spaß haben, mein Leben leben und mir keinen Brainfuck schieben.“ Ich lachte, obwohl es eigentlich nicht witzig war. Brainfuck. Das war typisch von ihm, sich der Verantwortung zu entziehen und einfach aufzugeben. Ich hätte es wissen müssen. Flieh nur vor deinem Leben, dachte ich. Flüchte vor allem, was Schwierigkeiten bereitet. „Und was willst du dann vor mir?“, schrieb ich zurück. „Einfach quatschen?“ „Ja genau“, waren seine Zeilen. „Okay, dann komm heute vorbei.“ „Ich kann aber erst nach zehn.“ „Kein Problem“, schrieb ich, „dann ruf mich an, dann komme ich raus.“ Im Endeffekt zog ich mich nicht an, denn ich glaubte nicht daran, dass er kommen würde. Ich schminkte mich jedoch hastig, aber meinen blauen Bademantel tauschte ich nicht aus. Vor Aufregung konnte ich mich nicht auf den Spielfilm konzentrieren, denn ich überlegte die ganze Zeit, worüber um Gottes Willen wir reden würden. Was konnte man reden, wenn man sich gerade frisch getrennt hatte? Was wollte er von mir? Ich zermarterte mir das Hirn. Schlussendlich vollkommen sinnlos, denn um halb elf schrieb er mir: „Ich kann doch nicht.“ Kein „Entschuldigung, dass du die ganze Zeit auf mich gewartet hast“. Kein „Es tut mir Leid, dass ich dich wieder versetzt habe“. Was willst du von mir? Warum machst du mich verrückt, wenn es dir anscheinend doch nicht so wichtig ist? Ist es dir peinlich, sollten wir uns begegnen? Lass mich einfach in Ruhe, denn du tust mir weh. All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf. Und meine Laune war wieder vollkommen im Eimer. Meine Lebensfreude verschwand und ich fiel wieder in ein Loch hinein.

Als ich die Augen in meinem Bett aufschlug, schmerzte mein Herz wie Hölle. Ich war verwundert darüber, dass die Bettdecke nicht blutrot war.

Würde der Traum Wirklichkeit werden? Er redete nicht mehr mit mir. Mit feuchten, blinzelnden Augen schaute ich auf mein Handy und hoffte, das Nachrichtenfeld blinken zu sehen, aber es war nichts da. Kein „Gute Nacht“. Kein „Schlaf schön, meine Hübsche“ und kein „Ich liebe und vermisse dich, Süße.“. Ich fasste mir an meine Brust. Die Schmetterlingskette lag wohl verwahrt in einem Kästchen auf meinem Schreibtisch. Ich spürte, wie mein Herz gegen meinen Körper rebellierte, denn es wollte heraus springen und sich zu dem Kästchen gesellen, damit es nicht mehr fühlen musste. Wo ist die Person hin, mit der ich so viel Zeit meines Lebens teilte? War ich ihm den gar nichts mehr wert? Mir fehlte Jake schrecklich. Keine Telefonate mehr, keine Sicherheit, nur noch Einsamkeit. Wie soll ich damit abschließen, wie soll ich damit leben, wenn ich keine klare Antwort von dir bekomme, wenn du dich einfach nicht mehr meldest? Du machst mich krank. Du zerstörst mich mit deinem Verhalten.

Noch sechzehn Tage

Ich beschloss, ihn zu besuchen. Ob er es wollte, oder nicht. So konnte das doch nicht weitergehen. Ich wollte endlich die Wahrheit, egal wie sehr sie weh tun würde. Außerdem wollte ich ihn sehen. Es tut weh, die Person die man liebt, nicht mehr so oft zu treffen, wie man es eigentlich gewohnt ist. Es tut weh, dass es ihm anscheinend nicht mehr wichtig ist, wie es mir geht. Ich war unglaublich enttäuscht, aber auch sehr wütend. Kein Mensch hatte es verdient, so behandelt zu werden, wie er mit mir gerade umging. Ich hatte einen Brief vorgefertigt, falls er nicht die Tür öffnen sollte. Meine Eltern fuhren mich zu ihm. Ich klingelte mehrmals, aber niemand öffnete. Ich steckte den Brief in den Briefkasten und drehte mich rasch weg, um die Tränen zu verbergen.

Hey Jake.

Es tut mir weh, dass du nicht mehr mit mir redest und ich hätte dir gerne erzählt, wie ich mich fühle, jetzt schreibe ich es auf. Ich hoffe, dass ich irgendwann wieder denken kann, dass es schön war, was wir hatten/ haben, aber im Moment, bin ich einfach nur enttäuscht. Es tut mir weh, wie du mich behandelst. Ich verstehe nicht, wie sich etwas so schnell verändern kann. Ist dir auch die Schule nicht mehr wichtig? Vor einer Woche hast du noch vor deinen Freunden mit mir angegeben und jetzt meldest du dich einfach nicht mehr? Ich bin dir noch nicht mal mehr eine Antwort wert. Es tut mir weh, dass ich mich auf dich verlassen habe und du dich jetzt einfach überhaupt nicht mehr meldest. Ich fühle mich, als wäre ich nichts in deinem Leben gewesen. Ich bin einfach so enttäuscht von dir. Ich fühle mich behandelt, wie Dreck und das, habe ich nicht verdient. Ich weiß nicht, was passiert ist. Was habe ich denn falsch gemacht? Ich vermisse dich. Bitte rufe mich an, ich möchte mit dir darüber sprechen. Immer wenn ich anrufe, gehst du nicht ran.

Im Auto fragte mein Vater, ob wir Streit hätten. Ich antwortete: „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, und warum er so zu mir ist.“ Ich fasste mir an die Kehle und wollte wie gewohnt meine Kette mit dem blauen Falter berühren, doch sie war nicht mehr da. Ich traute mich nicht mehr, sie zu tragen.

Noch fünfzehn Tage

Jake fehlte nun schon eine Woche in der Schule. Es war unerträglich und sogar Herr Maus war noch weniger zu ertragen als sonst. Und das, obwohl ich geglaubt hatte, der Spitzel könne nicht mehr schrecklicher werden. Zuhause legte ich mich auf mein Bett und starrte vor mich hin. Das war nun meine Hauptbeschäftigung. Auf dem Bett liegen und beten, obwohl ich nie sonderlich katholisch war, dass Jake anrief.

Und an diesem Tag, wurde mein Gebet erhört. Es klingelte und wie jedes Mal in den letzten Tagen, stand ich auf und raste zum Telefon. „Hallo?“, keuchte ich außer Atem. „Ich bin’s.“, sagte er. Seine Stimme klang abweisend und verschlossen, als ob er etwas vor mir versteckt halten wollte. Gleich nachdem ich seine Stimme gehört hatte, begann mein Herz wie verrückt zu rasen und gegen meine Brust zu springen, als ob es meinen Körper verlassen und ins Telefon springen wollte. „Ich hole dich morgen um sechs ab. Wir müssen reden.“ Ich schluckte und nickte und als ich merkte, das er mich ja nicht sehen konnte, sagte ich schnell: „Okay.“ Er legte ohne ein weiteres Wort auf. Zu meinem Brief hatte er nicht einen Satz verloren. Mir wurde schlecht.

Noch vierzehn Tage

Dieser Tag, war bei Weitem der Schlimmste von allen. In der Schule fehlte Jake wieder. Würde er trotzdem heute Abend kommen?

Ich wusste nicht, was er mir sagen wollte. Das es aus war? Das wir nicht zusammen passten? Das er keine Zeit für eine Freundin habe? Das er mich nicht mehr wollte? Bei diesen Gedanken, durchfuhr mich ein scharfer Schmerz. Ich konnte den ganzen Tag nichts essen, vor Nervosität. Mir war ganz übel. Außerdem hatte ich immer wieder kurz geweint. In der Schule, auf der Toilette und zuhause im Bad, oder in meinem Zimmer.

Zuhause sah ich mich im Spiegel an. Meine Haare waren braun, ebenso meine Augen. Ich war ein absoluter Durchschnittstyp. Ich war nicht dick, ich war nicht dünn. Ich war normal. Ich hätte verstehen können, wenn er mich nicht mehr wollte. Es gab so viele, die besser aussahen als ich. Er war so außergewöhnlich und wahnsinnig hübsch. Er konnte Jede haben. Und doch entschied er sich für mich. Doch vielleicht, suchte er jetzt ja doch etwas anderes. Vielleicht stand er jetzt doch eher auf blonde, hübsche Mädchen, mit großer Oberweite und einer hübschen Hüfte. Er hätte Jede haben können, wirklich Jede. Aber wenn er das jetzt wollte, brauchte er mich doch nicht wie Dreck behandeln, sondern musste es einfach sagen.

Wir hatten halb sechs. Schnell stieg ich unter die Dusche. Dann föhnte ich mir die Haare und suchte mir das schönste Outfit aus, das ich besaß. Falls er mit mir Schluss machen sollte, wollte ich so hübsch aussehen, wie es ging. Und einen super Abgang hinlegen. Leider hatte ich durch mein Weinen den ganzen Tag sehr verquollene Augen, die ich auch nicht mehr retten konnte, egal wie viel Make Up ich drauf schmierte. Fünf nach sechs. Weit und Breit noch nichts von ihm zu sehen. In der Regel war er doch immer so pünktlich. Das zeigt ja schon, dass er sich nicht mehr um mich schert, dachte ich, während ich verkrampft meine Tasche packte. Ich steckte auch den Fotoapparat ein, keine Ahnung wieso. Mir war so schlecht. Ich zog mir Schuhe an und meine schönste Winterjacke, die ich auch getragen hatte, als wir zusammen kamen. Dann setzte ich mich auf die Treppenstufen und wartete. Mein Magen zog sich grauenhaft zusammen und ich hatte schreckliche Angst. Ich würde doch nie wieder jemanden finden, wie Jake. Ich wollte nur noch weglaufen. Meine Mutter ging einige Male durch den Flur und ihr Blick verriet, dass sie nicht verstand, warum ich so besorgt und verängstigt aussah. Wir hatten mittlerweile viertel nach sechs. Ich nahm mir vor, auf was auch immer er sagte, gefasst zu sein und nicht zu weinen. Ich musste noch weitere fünf Minuten Todesqualen durchstehen, bis mein Handy klingelte und ich eine Sms von Jake erhielt. Ich stehe vor dem Wagen.

Ich brüllte durch den Flur: „Ich bin jetzt weg“, bevor ich die Haustür hinter mir zuschlug. Er lehnte an der Fahrertür und sah verändert aus. Seine Haare fielen ihm nicht wie sonst ins Gesicht, sondern waren nach hinten gekämmt und er hatte tiefe Schatten unter den Augen.

„Hi“, sagte ich verunsichert. Plötzlich fiel ich ihm auch schon in die Arme und weinte herzergreifend. So viel zu meinem guten Vorhaben. Er küsste mich auf die Stirn.

„Hey du. Lass uns reden.“ Er wirkte erschöpft und sah gequält aus. Diese zwei Sätze, verbesserten nicht unbedingt meinen Zustand und ich begann richtig zu heulen. Mein Herz fühlte sich so an, als wäre es explodiert. „Jetzt beruhige dich doch erstmal.“, flüsterte er, „es tut mir leid. Ich verspreche, dass ich das nicht mehr mit dir machen werde. Ich wusste nicht, dass ich dir damit wehtue. Ich habe nicht nachgedacht.“ „Versprich mir nichts, was du nicht halten kannst“, schluchzte ich. „Das kann ich aber halten, meine Süße. Ich wusste nicht, wie sehr ich dir damit weh tue. Ich hatte soviel im Kopf und ich habe einfach nicht die Zeit gefunden, dir zu antworten.“ „Du weißt, dass das eine Lüge ist“, schniefte ich, „ich bin doch nicht blöd.“ Er zögerte. „Ich habe dir nicht geantwortet, weil ich nicht gewusst habe, was ich schreiben sollte. Ehrlich gesagt, hatte ich andere Dinge im Kopf. Aber meine Gefühle für dich haben sich nicht verändert. Ich liebe dich immer noch so sehr, wie am ersten Tag, vielleicht sogar noch mehr. Kannst du mir verzeihen?“ Er sah mich traurig mit seinen Hundeaugen an und zog seine Stirn besorgt hoch. „Es tut mir wirklich sehr leid.“ „Wieso verheimlichst du etwas vor mir? Ich verstehe dich nicht. Du kannst mir doch alles anvertrauen.“ „Ich möchte nicht darüber sprechen. Mit niemandem. Bitte akzeptiere das. Es wird der Tag kommen, an dem ich dir sagen werde, was los war, aber lass uns das bitte jetzt einfach vergessen. Bitte.“ Ich blickte ihm traurig in die Augen und spürte, wie sich mein Herz langsam wieder zusammensetzte. „Ich bin einfach froh, dass du jetzt wieder hier bist. Aber bitte mach das nie wieder mit mir. Das stehe ich nicht noch mal durch. Ich liebe dich und du kannst mich nicht einfach immer wegstoßen. Ich bin wirklich jemand, dem du vertrauen solltest.“ Er nickte nachdenklich und umarmte mich dann. Ich lehnte meinen Kopf erleichtert an seine Brust. „Ich bin so schrecklich müde und ich würde unglaublich gerne eine rauchen. Ich habe keine Lust mehr, Auto zu fahren“, murmelte er.

„Soll ich fahren? Ich kann das ganz gut.“

Er drückte mir den Autoschlüssel in die Hand und ging auf die andere Seite des Autos. Dass er ihn mir gab, ließ mich das Schlimmste befürchten. Jake hätte so etwas normalerweise nicht getan. Er hätte mir niemals sein heiß geliebtes Auto überlassen, wo ich doch keinen Führerschein hatte. Es ging ihm anscheinend wirklich sehr schlecht.

Als ich den Platz hinter dem Lenkrad einnahm, saß er schon auf dem Beifahrersitz und lehnte den Kopf gegen die Scheibe.

„Wohin?“, fragte ich.

„Wie immer.“

Ich vermutete, dass er damit unsere Hütte meinte und fuhr, obwohl ich es bisher erst ein paar Mal in der Fahrschule getan hatte, los. Mein Herz raste, als ich aus unserer Straße bog. Hoffentlich würde mich niemand anhalten und meinen unsicheren Fahrstil bemängeln. Hoffentlich ertappte mich niemand.

Erschöpft schloss er die Augen und verließ sich ganz und gar auf mich. An unserer Hütte hielt ich an und würgte versehentlich den Wagen ab, aber ich hatte das Gefühl, als habe Jake es nicht bemerkt. Er stieg aus und öffnete meine Tür ebenfalls. Er nahm mich fest an der Hand und jetzt wurde mir klar, was er wollte. Was er brauchte. Er brauchte Liebe. Er war erschöpft und ich sollte ihm wieder Kraft geben. Und ich war viel zu erleichtert, dass wir uns vertragen hatten, als das ich wütend war, dass er mich jetzt nur benutzte. Jake zog mich mit sich. Diesmal ging er weniger sanft vor. Ich stolperte über Steine und Äste. Er riss die Tür unsere Hütte auf und warf mich aufs Sofa. Ich schlug mir mein Knie an der Wand an, was ziemlich weh tat und mir entschlüpfte ein „Au!“. Daraufhin schrie er schmerzerfüllt und schlug mit der Faust auf den neuen Schrank ein. Er schlug so fest zu, dass sich auf dem Schrank tiefe Faust abdrücke bildeten. Es tat mir weh, ihn so qualvoll und schmerzerfüllt zu sehen, doch ich brachte keinen Ton hervor. Und dann, es dauerte kaum zehn Sekunden, lag er schon neben mir und begann zu weinen. Ich nahm ihn in den Arm. Er schluchzte laut. Was hatte er bloß? „Hey. Hey. Psst.“ Ich machte die Geräusche, die meine Mutter früher immer gemacht hatte, wenn ich weinte. Nach einer Weile hörte er auf. Sein Körper zitterte nur noch. Und dann sagte er: „ Ich liebe dich.“ „Ich dich doch auch.“, sagte ich. Er sah mich mit verquollenen Augen an und flüsterte: „ Nein. Nein. Ich liebe dich wirklich. Ich werde dich auch immer lieben. Egal was passiert.“

Seine Hand blutete und ich stand auf. Glücklicherweise hatte ich einen Kühlakku im Kühlschrank verstaut, da ich mich vor wenigen Monaten mal übel am Kopf gestoßen hatteütHp.

Ich besah mir seine Hand, in der überall winzig kleine Splitter des Holzes stecken. Bei diesem Anblick bekam ich eine Gänsehaut. Das musste doch höllisch wehtun, aber Jake verzog keine Miene. In meiner Tasche hatte ich noch meine Pinzette. Wenn der Unterricht zu langweilig wurde, zupfte ich mir damit die Augenbrauen. Ich machte mich daran, die Splitter vorsichtig zu entfernen. Es war eine mühselige Arbeit, doch nach einer Weile hatte ich es geschafft und wickelte ein Handtuch um den Kühlakku und legte ihn auf seine Hand. Dankbar sah er mich an.

Ich küsste ihn, auf die verletzte Hand. Es war gut, dass wir endlich gesprochen hatten und das Gefühl das wir gemeinsam traurig waren, verband uns. Geteilt, ist das Leid nur noch halb so groß. Es tat mir weh, ihn so traurig zu sehen. Doch warum er so traurig war, wollte mir nicht in den Sinn kommen. Nachdem wir eine Weile gekuschelt hatten, liebten wir uns.

Heute Nacht schliefen wir nicht in unserer Hütte, denn wir beide hatten weder Schlaf- noch Schulsachen für den nächsten Tag dabei. Ich fuhr uns in seinem Wagen zurück. Als ich auf der Landstraße in eine Kurve fuhr, bemerkte ich, dass der Wagen ein wenig schlingerte. Hier lag offenbar Glatteis. Sehr gefährlich, dachte ich. Wenn jemand zu schnell hier hineinfahren würde, könnte er da vorne frontal gegen einen Baum schleudern. Jake öffnete die Augen, die er gleich nach dem Einsteigen geschlossen hatte. Offenbar bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Er sagte jedoch nichts außer: „Ich müsste wirklich bald mal die Winterreifen drauf ziehen lassen.“

Noch dreizehn Tage

Nach der Schule lernte ich für die Führerscheinprüfung. Danach half ich meiner Mutter im Waschraum. Irgendwie machte ich das sehr gerne, denn ich liebte den Geruch. Der Weichspüler verzauberte mich. Immer, wenn ich ein neues Teil, aus der Wäsche aufhängte, roch es nach frischen Blumen. Sie bügelte und ich hing die nasse Wäsche auf, wie immer.

„Sag mal, ist mit dir und Jake alles in Ordnung?“, fragte plötzlich meine Mutter.

„Klar wieso fragst du?“

„Er kommt mir so komisch vor in letzter Zeit. Er ruft so selten an und ich sehe ihn gar nicht mehr so oft bei dir.“

„Ach das stimmt doch gar nicht. Ihm geht es im Moment nur einfach nicht so gut.“, murmelte ich. „Ist er krank, der Arme?“ „Nein Mum, ich weiß nur einfach nicht, was er hat. Das wird schon alles wieder gut.“ Besorgt sah sie mich an. Dann senkte sie den Blick. „Ja bestimmt. Ich steigere mich da wieder in etwas hinein. Aber pass auf, das er dir nicht wehtut.“ Ich drückte ihre Hand. „Das wird er schon nicht“, entgegnete ich und dachte mir im Stillen: Das hat er schon.

Noch zwölf Tage

Jake kam endlich wieder in die Schule. Zwar blass, aber zumindest kam er. Ich drückte fest seine Hand. Zwischen uns war es noch immer ein wenig komisch, aber ich war glücklich, dass wir noch zusammen waren und dass er mich noch liebte. Gerade zwang er sich zu einem Lächeln und hauchte: „ Ich liebe dich.“

Dann sagte er nichts mehr, er sah mich nur an.

Mittags traf ich mich mit meiner besten Freundin. Eigentlich wollte ich mit ihr ins Kino gehen und ihr nichts von Jake erzählen, aber ich musste einfach. Ich konnte nicht die ganze Last tragen. Ich erzählte ihr, wie komisch er in der letzten Zeit war.

„Das ist mir nicht aufgefallen, ich habe nur bemerkt, dass ihr nachmittags jetzt nicht mehr so viel Zeit miteinander verbringt, weswegen du endlich mal Zeit für mich hast.“

Kathi wollte nicht eingeschnappt klingen aber es klang trotzdem wie ein Vorwurf. Ich zwinkerte ihr zu und wollte mich aber von meinem Thema nicht ablenken lassen. „Du weißt doch, dass das nicht meine Absicht ist. Ich hab dich doch immer noch gerne. Er macht mich halt einfach glücklich und ich möchte am liebsten jede Sekunde mit ihm verbringen. Du weißt doch, wie es ist verliebt zu sein. Aber was hältst du davon, dass er plötzlich so komisch ist?“ Kritisch beäugte sie mich. „Es klingt ein bisschen so als würde er das Interesse an dir verlieren. Sorry. “ Kathi war immer sehr offen und auch oft, leider viel zu ehrlich. Sie sprach genau das aus, was ich die ganze Zeit gedacht hatte. „Aber vor drei Tagen hat er mir gesagt, es würde jetzt wieder alles gut werden. Und er sagte, er würde jetzt bei mir bleiben und das nicht mehr mit mir machen.“

Kathi zuckte die Achseln, „das hätte ich auch gesagt, wenn ich Sex gewollt hätte.“ Ich spürte einen furchtbaren Stich im Herzen. Ja, so waren Jungs. War Jake nur zurückgekommen, um Sex zu kriegen? Mir war komisch zumute. Ich beschloss, ihn zur Rede zu stellen. Heute Abend noch, das war sicher.

Mein Vorhaben wurde wieder vermasselt, denn Jake kam einfach nicht. Nichts mit: Ich kann mich auf dich Verlassen. Er sagte noch nicht einmal ab. Wieder beschlich mich ein komisches Gefühl. Das Gefühl, wertlos zu sein. Wie Dreck behandelt zu werden. Nach einer Stunde warten zückte ich mein Handy und rief in an. Nach dem Zweiten Tuten hob er ab. „Hey, was gibt’s?“ „Wir waren verabredet?“, stresste ich ihn. „Oh verdammt“, fluchte er, „das habe ich vollkommen vergessen.“ „Das habe ich gemerkt“, zischte ich. „Es tut mir leid mein Schatz. Aber ich kann heute nicht mehr kommen.“ „Ich habe jetzt die ganze Zeit auf dich gewartet“, knurrte ich ihn wütend an, „kannst du mir nicht mal absagen?“ „Ich habe doch gesagt, ich habe es vergessen. Tut mir leid. Ich bin halt nun mal im Moment etwas planlos“, brauste er direkt auf. Mh. Jetzt oder nie. „Hast du dich nur mit mir vertragen, weil du Sex wolltest?“ „Spinnst du?“, bellte er. Ich ruderte sofort zurück: „Na ja, Kathi und ich haben uns heute unterhalten und sie meinte-“ „Was das dumme Huhn sagt, da brauchst du nichts drauf geben“, sagte Jake knapp. „Entschuldige Mal, dass ist vielleicht meine beste Freundin. Und sie verhält sich mir gegenüber im Moment nicht komisch so wie du.“ Keine Antwort. „Hallo bist du noch da?“, fragte ich. „Ja“, stöhnte Jake auf, „Ich habe jetzt keine Zeit dafür, okay? Lass uns nicht streiten.“ „Liebst du mich überhaupt noch?“, rutschte es mir raus. Zum Glück zog sich der Moment nicht durch langes Schweigen in die Länge sondern er antwortete gleich, wenn auch genervt: „Ja. Kannst du mir das nicht einmal glauben, wenn ich dir das sage? So ich muss jetzt Schluss machen, ich muss hier noch helfen. Bis Morgen.“ Und er legte auf.

Noch elf Tage

Ich lernte für eine wichtige Klausur in Chemie. Für dieses Fach konnte ich mich Stunden hinsetzen und lernen und es kam einfach nichts bei rum. Irgendwann verging mir die Lust. Ich muss zugeben, sie war auch schon am Anfang nicht sonderlich groß gewesen. Ich ließ meine Gedanken schweifen und an wen dachte ich wohl? Jake.

Ich dachte an die Zeit zurück, in der ich erst fünfzehn Jahre alt gewesen war. Wie wir in der Schule einen Tag für den Zusammenhalt der Klasse gemacht hatten. Verschiedene Klassenkameraden wurden sich gegenübergestellt und mussten sich die Augen verbinden. Jake stand vor mir und grinste mich an. Damals war er noch nicht 1,90 groß gewesen! Ich feixte frech zurück. Dann verbanden wir uns die Augen. Wir sollten soweit aufeinander zugehen, bis wir dachten, wir müssten anhalten, weil uns der andere sonst zu nahe war. Also schritt ich schnurstracks los und mir war klar, ich würde erst anhalten, wenn ich direkt vor ihm stand. Ich liebte es, andere Menschen durch meine Freimütigkeit einzuschüchtern. Als der Lehrer sagte: „Jetzt könnt ihr die Augenbinden abnehmen“ sah ich als erstes, dass sich unsere Fußspitzen berührten. Ich blickte hoch und er lächelte. Offenbar war er auch sehr direkt.

Drei Monate später sind wir dann zusammen gekommen.

Ich lächelte in Gedanken an diesen Augenblick. Daran zu denken machte mich verdammt glücklich. Es war so ein starkes Gefühl, dass es mich ganz ausfüllte. Ich strahlte über beide Backen. Egal wie die Situation im Moment zwischen uns war, alle Mädchen wollten ihn und genau ich, ich hatte ihn.

Noch zehn Tage

Jake lächelte müde, als ich die Mauer erreichte, drückte mir trotz dessen einen stürmischen Kuss auf den Mund, so dass sich meine Schmetterlinge in Bewegung setzten und teilte mir mit: „Noch zehn Tage, mein Schatz. Treffen wir uns dann?“ Ich gab ihm einen kurzen Kuss. „Natürlich, was denkst du denn?! Ich freu mich schon den ganzen Monat darauf. Besuchen wir dann Mathilde?“ Ich dachte an das merkwürdige Wesensbild in unserer Hütte. Er feixte. „Klar besuchen wir Mathilde. Sie vermisst uns sicher schon.“ Uns kam ein Mädchen entgegen. Eifersüchtig musterte sie mich von oben bis unten und ging an uns vorbei. Ich klammerte mich umso fester an meinen Freund und unterdrückte den kindischen Impuls ihr die Zunge rauszustrecken. Klar kann man Menschen nicht besitzen aber: Er war ganz meiner!

Noch neun Tage

Sexi-hexi war mein neues Lieblingswort. Keine Ahnung wieso. Ich liebte es. Es ist mir einfach bei einer Unterhaltung zugeflogen. Heute war ein schöner Tag, denn ich hatte eine gute Note in Chemie, meinem absoluten Hassfach, Na ja, neben Religion.

Jake sah immer noch ein wenig krank aus. Sein Gesicht war immer noch gekennzeichnet von Müdigkeit. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen und schlief bei seinem Lieblingsunterricht beinahe ein. Ich fragte ihn ob wir heute etwas unternehmen würden, aber er erwiderte, er würde mit seiner Mutter an die Küste fahren. Sie wollte noch einmal das Meer sehen. Wir lebten in der Nähe der Küste, deswegen würden die beiden nur zwei Stunden Fahrt auf sich nehmen. „Okay“, sagte ich und versuchte mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Mit seiner Mutter konnte er doch immer etwas machen. Er sah sie doch sowieso jeden Abend und jeden Morgen. Den Rest des Tages konnte er auch ruhig mal wieder mit mir verbringen. „Sei nicht sauer. Wir treffen uns doch bald.“ Er küsste mich zärtlich auf die Stirn.

Inzwischen wurde es immer kälter. Der Boden war glatt und man rutschte leicht aus. Überall auf den Straßen waren vereiste Stellen. Als wir in der Pause auf dem Schulhof gehen wollten, bemerkte ich, dass sich mitten drin eine Riesenpfütze befand. Auf der anderen Seite war der Kiosk. Man konnte nicht außen herum gehen. Man musste drüber springen, um zu ihm zu kommen. Jake und ich gingen in die Pause. Da sah ich sie auch schon. Abrupt blieb ich stehen und rührte mich nicht vom Fleck. Das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Ich habe panische Angst vor allen Arten des Springens. Richtige Panikattacken. Eine richtige Phobie. Ich weiß nicht woher sie rührte, sie war einfach schon immer da gewesen. Vielleicht hängt das mit meiner Höhenangst zusammen. Ich springe nie. Egal worüber. Nicht einmal, als wir im Kindergarten von unseren Stühlen springen mussten. Und so würde ich auch nicht über die verdammte Pfütze springen, dachte ich. „Ach komm schon es ist nur ein kleiner Hops.“ „Nein“, sagte ich, „das mache ich nicht. Du weißt, dass ich davor Angst habe.“ Timmy ging an uns vorbei. „Oh, hat das kleine Mädchen wieder mal Angst zu springen?“ Er machte sich lustig über mich. Ich sah Jake an. „Tut mir Leid, da gehe ich nicht rüber.“ Er blickte mich genervt an. Wir standen genau vor der Tür und die Schüler hinter uns beschwerten sich schon. Plötzlich packte Jake meinen Arm und hob mich hoch. „Was machst du da?! Lass mich sofort wieder runter! Ich gehe jetzt einfach wieder zurück und verbringe die Pause drinnen. Bitte, bitte lass mich runter.“ Ich weinte fast. Wie peinlich. „ So“, sagte er ganz ruhig, „ Mach die Augen zu.“ „Spinnst du? Ich bekomm einen Herzinfarkt! Bitte, bitte lass mich runter. Ich kann das nicht. Lass mich runter!“, jammerte ich. „Vertrau mir.“ Nach einigem Hin und Her überzeugte er mich. Ich presste meine Augen zusammen, krallte die Fingernägel meiner einen Hand in seine Schulter und umarmte mit dem anderen Arm seinen Hals. Dann sagte ich unsicher: „ Okay. Aber nein, ich kann das nicht! Lass mich runter.“ Ich spürte, wie er zum Sprung ansetzte und nicht im Geringsten auf mein Betteln reagierte. Und ich spürte noch etwas anderes. Angst. Furcht. Warum ich so eine Angst hatte? Ich weiß es nicht. Es war nur eine blöde Pfütze. Es war so wichtig, nicht zu springen, denn man ist für kurzem in der Ungewissheit. Man weiß nicht, wie man aufkommen wird. Und ich muss alles kontrollieren. Entsetzt riss ich die Augen auf. Dann sprang er. Der Boden entfernte sich rasend schnell und ich dachte, wir würden fallen. Mein Herz blieb stehen. Oh mein Gott, Oh mein Gott jetzt werde ich sterben. Ich quietschte.

Dann nach einer Ewigkeit setzten seine Füße wieder auf dem Boden auf. Ich begann wieder zu atmen, schnappte nach Luft. Er ließ mich runter: „ Alles okay?“ Ich guckte entsetzt, mein ganzer Körper zitterte. Er lächelte und nahm mich an der Hand. „Ist doch gar nicht so schlimm.“ Wenn du wüsstest, schoss mir durch den Kopf. Von dem Schrecken, würde ich mich den ganzen Tag nicht erholt haben. Wir gingen zum Kiosk.

KOPFKINO

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