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Vorwort

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Mit dem Buch «L’anno della valanga» hat nicht nur Giovanni Orellis Schriftstellerkarriere begonnen, sondern auch ein neuer Abschnitt in der Tessiner Literatur. In diesem kurzen Roman ist es ihm gelungen, ein Thema der Heimatliteratur aus genauer Beobachtung ohne Pathos oder Sentiment in mythische Erfahrung zu verwandeln. Ein Bergdorf wird eingeschneit und nach fast zwei Monaten wegen drohender Lawinengefahr evakuiert. Der Stoff ist autobiografisch: Orelli hat den schlimmen Lawinenwinter 1951, der in der Schweiz 98 Todesopfer forderte, als 23-jähriger Lehrer in seinem Heimatdorf Bedretto erlebt. Zehn Jahre wartete er, bis er sich daranmachte, das traumatische Erlebnis zu exorzieren, zehn Jahre, während denen er in Zürich und Mailand Italianistik studierte, promovierte und sich als Lehrer ans Gymnasium in Lugano wählen ließ, wo er heute noch lebt.

Die literarische Qualität des Buches fand in der Schweiz und in Italien Beachtung: 1964 wurde es als Manuskript mit dem Charles-Veillon-Preis ausgezeichnet, 1965 erschien es bei Mondadori in Mailand und ein paar Monate später – im Frühjahr 1966 – kam die deutsche Übersetzung beim Rascher Verlag in Zürich heraus. Seltsamerweise blieb die erste Orelli-Anerkennung in der deutschen Schweiz ohne Folgen. Die beiden weiteren Titel, die auf Deutsch erschienen, waren unsorgfältig übersetzt oder nachlässig betreut, so dass sein Name bis heute nur für hartnäckige Liebhaber der Tessiner Literatur ein wichtiger Bezugspunkt geblieben ist. Trotzdem hat Giovanni Orelli vor zehn Jahren als einziger Tessiner Schriftsteller seinen Nachlass dem Literaturarchiv in Bern geschenkt. Aus kulturpolitischen Motiven und aus der Lust, Sprachgrenzen in der Literatur zu überwinden. Und vielleicht war auch die Erinnerung an den frühen Erfolg seines ersten Buches mit im Spiel.

Heute kann man festellen, dass der Erstling auch nach 48 Jahren von seiner ursprünglichen Faszination und Frische nichts verloren hat. Die Chronik der beiden Monate im Schneegefängnis wird vom Ich-Erzähler polyphon erzählt; er kennt seine Dorfgenossen, vor allem die jungen Mädchen und Burschen, so gut, dass er sie in Gesprächen und Begegnungen auf der Straße, in der Kirche, in Stall, Küche und Wirtsstube auftreten lässt, ihnen zuhört, ihre lebendige Gegenwart in einem Netz von Beziehungen, Begegnungen und Empfindungen festhält. Konkret und präzis wird die Bedrohung durch den unaufhörlichen Schneefall geschildert: Die Wahrnehmung bleibt durchwegs auf den alltäglichen Erfahrungsbereich bezogen. Kein Wort fällt über die Landschaft: Nur der hohe Berg wird erwähnt, von dem die Lawine droht, und der Wald, der das Dorf vor der Lawine schützen soll. Den Schnee beobachtet man auf der Straße, auf den Fensterbrettern und auf dem Rücken der Kühe, die von der Tränke kommen. Giovanni Orelli kennt die Magie des Genaunehmens: Der lautlose Schneefall, der alle Konturen verändert und das Dorf langsam unter einer weißen Decke verschwinden lässt, erzeugt untergründige Spannung. Fast unmerklich wächst aus dem Vertrauten das Unheimliche. Die Familien rücken in den Häusern des Dorfkerns zusammen, die immer tiefer hinter Schneemauern versinken. Die Firstbalken biegen sich unter der Last, und der Gedanke an den Tod lässt manche Dorfbewohner nachts keinen Schlaf mehr finden. Gleichzeitig wächst aber auch die Lust am Leben, der Hunger nach Liebe, man bleibt länger auf, in der Osteria wird mehr Wein getrunken und die jungen Leute nutzen, trotz strenger Mütter und Priester, ihre Zeit für Liebesbegegnungen. Die tödliche Umklammerung durch den Schnee weckt Zweifel, Auflehnung und die Sehnsucht nach einem größeren Horizont.

Orellis Bericht vom langen Winter endet mit dem Regierungsentscheid, das Gebirgsdorf zu räumen, bis die Lawinengefahr vorbei ist. Menschen und Tiere finden unten im Tal provisorisch Unterkunft. Die Dorfgemeinschaft löst sich auf; die Jungen suchen sich eine Arbeit und die Alten kehren allein ins Dorf zurück. Das wird auf ein paar Seiten so sachlich und nüchtern berichtet, wie es der neuen Alltagssituation entspricht. Nur ganz am Schluss lässt Orelli für einen Augenblick Pathos aufkommen, wo der Ich-Erzähler mit einem sizilianischen Arbeiter einen Schluck Wein trinkt und seine Erfahrung in dem stolzen Satz zusammenfasst: «Ich grüße den Winter und den Berg und die Lawine, die mich endlich zum Menschen gemacht haben.»

Alice Vollenweider

Der lange Winter

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