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Kapitel 3: Wir ganz normalen Simulanten

Betrachtet man die Kunst des Simulierens im Alltag ein bisschen näher, muss man feststellen:

Die Vorteile toppen die Gefahr.

Auf den Punkt gebracht, will ziemlich jeder Mann, jede Frau und jedes Kind:

Unangenehmes vermeiden, aber mehr vom Kuchen haben.

Und da ein gewiefter Trickser selten auf frischer Tat ertappt wird, sondern erst einmal die Vorteile des Tricksens genießen kann, wird ziemlich häufig simuliert.

Unangenehmes vermeiden

Und was gibt es nicht alles, was man gerne vermeiden möchte? Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:

die Schule (denken wir nur an Hanno Buddenbrook),
Prüfungen im Allgemeinen (Achtung, jetzt sind Sie selbst dran!),
den Wehrdienst (hier ist der charmante Simulant Felix Krull ein gutes Beispiel),
den Kriegsdienst (lesen Sie dazu Hemingways herzzerreißenden Roman „In einem anderen Land“),
täglich zur Arbeit gehen (wer hat noch nie „blaugemacht“?),
unangenehme Arbeitsbesprechungen (Schnupfen oder Magenprobleme vortäuschen),
unangenehme Familientreffen (siehe oben),
Straf- oder Gerichtsverfahren (Krankwerden leicht gemacht, sofern die Ärzte mitspielen),
öffentliche Untersuchungen – die Mediengerichte für Politiker und Promis (mit Zeugen Absprachen treffen…), und so fort…

Wahrscheinlich werden Sie manches streichen und manches hinzufügen wollen. Machen Sie sich einfach Ihre ganz persönliche Liste. Aber Achtung: Wer hier und dort ein bisschen simulieren will, muss sich auskennen (vgl. dazu den zweiten und dritten Teil unseres Buches), und er sollte ein gutes Gedächtnis haben. Denn man muss sehr genau im Kopf behalten, was man wem und wo gesagt hat und welche Leiden man wem und wo vorgespielt hat.

Mehr vom Kuchen bekommen

Und jetzt die Frage: Wie sehen die Kuchen aus, von denen Sie ein etwas größeres Stück bekommen wollen? Hier unsere Liste, Ihre kann wiederum ganz anders sein.

Filme, Lokale, Clubs ab 18 besuchen können (sich älter machen, als man ist),
beim Arbeitgeber eine Auszeit ergattern (eine schwer überprüfbare, aber heilbare Krankheit simulieren),
mehr Steuern zurückbekommen (z.B. das Arbeitszimmer um ein paar Quadratmeter vergrößern),
dem Arbeitgeber mehr Spesen abluchsen (bei der Reisekostenabrechnung etwas höher gehen),
bei Versicherungen absahnen (hier ist der Film „Der Glückspilz“ mit Jack Lemmon als Simulant zu empfehlen),
früher in die Rente eintreten (z.B. chronische Rückenschmerzen simulieren),
ein interessantes Doppelleben führen (im Internet ein attraktives zweites Ich präsentieren, schöner und schlauer als in Wirklichkeit),
mehr Aufmerksamkeit erreichen (z. B. blond werden oder sich mit einer besonderen Biografie schmücken),
wieder einen Partner finden (sich die Haut straffen lassen, sich jünger machen, als man ist),

und so fort…

An den genannten Beispielen kann man leicht ablesen: Beim Ergattern von Vorteilen geht es um Geld, darum, für sich und die Seinen die besten Futterplätze und die besten Reviere (sprich: Wohnungen, Häuser) sowie alle sonstigen Konsumgüter unserer Welt zu beschaffen.

Aber es geht auch um bessere Bedingungen bei der Partnerwahl, um Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung, um selbstbestimmte Arbeit und um das Freisein von Mühen.

„Blaumachen“ als kulturelle Tradition

Europaweit geht eine Milliarde Arbeitsstunden im Jahr durch „Blaumachen“ verloren, wie Verena Schorcht anhand einer groß angelegten Studie feststellt.

Woher kommt das schöne Wort „Blaumachen“ und dieses kulturelle Phänomen? Die Begriffe „Blaumachen“ und „Blauer Montag“, noch heute im deutschen Sprachraum für Nichtstun gebräuchlich, sollen aus der Zeit stammen, als die Indigo-Färber die frisch gefärbten Tücher am Montag zum Trocknen ausbreiteten und danach eine Arbeitspause einlegten.

In der mittelalterlichen Gesellschaft gehörte der „Blaue Montag“ zur Festkultur. Ausgiebiges Essen, Trinken, Tanzen und Feiern verschönerten den Tag. Erst die kapitalistische Organisation von Arbeit mit ihrer unflexiblen Zeittaktung erzwang die moralische Ächtung des „Blaumachens“ sowie die des „Blauen Montags“. Auch andere Sprachkreise haben übrigens sehr schöne Wörter für dieses Phänomen: „to take a sicky on Monday“, sagen die Briten, „bumelóvac“ unsere polnischen Nachbarn.

Blaumachen ist heute noch eine beliebte und verbreitete Art, sich entweder eine Ruhepause oder zusätzliche Freizeit zu verschaffen, häufig aber auch, um heimlich an einer weiteren Arbeitsstelle Geld zu verdienen. Internetforen bieten Hilfen an, wie man beim Arbeitgeber eine Kranken-Auszeit erreichen kann, ohne in den Verdacht des Simulierens zu kommen. Gewarnt wird davor, als Ruhetag den Freitag zu wählen; der Dienstag oder der Donnerstag werden empfohlen. Desgleichen wird über verschiedene Typen von Simulanten informiert, beispielsweise:

Simulierende Täuscher, die Krankheitssymptome produzieren, ohne irgendwelche Beschwerden zu haben.
Übertreiber (oder Aggravierer), die leichte körperliche Beschwerden übergroß darstellen.

Üblicherweise arbeiten Simulanten mit unbestreitbarer Fantasie. Häufig machen sie jedoch den Fehler, bei der Darstellung ihrer Beschwerden zu dick aufzutragen; auch schildern sie unterschiedliche Symptome, die aus medizinischer Sicht gar nicht gemeinsam auftreten können (Näheres dazu im zweiten und dritten Teil).

Hermann Bueren nennt in seinem Buch „Drückeberger, Simulanten, Scheinkranke“ das Blaumachen eine Alltagserscheinung. Er spricht von einer Absenzkultur, also einer Abwesenheitskultur, und plädiert dafür, über das beinahe alltägliche, gelegentliche Bummeln offen zu sprechen. Das scheint auch deswegen nötig zu sein, weil die zunehmende Zahl von Tele- und Heimarbeitsplätzen jedwede Kontrolle erschwert.

Problematisch wird es allerdings dann, wenn Arbeitnehmer blaumachen, um schwarz auf dem Bau zu arbeiten oder bei Umzugsfirmen zu helfen etc. In diesem Fall sichert die ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit den Simulanten ein weiteres Einkommen auf Kosten des Arbeitgebers. Hier handelt es sich also um zweifachen Betrug. Seien Sie also vorsichtig!

Es gibt inzwischen Detekteien, die auf diese Betrügereien spezialisiert sind. Eine recht bekannte Detektei erreicht mit einschlägigen Aufträgen 75 Prozent ihres Jahresumsatzes. Diese Firma wirbt damit, dass sie rund 90 Prozent der Fälle betrügerischen „Krankfeierns“ aufklärt. Und wenn handfeste Beweise auf den Tisch gelegt werden, etwa Fotos, wie Sie Möbel schleppen, hilft auch der Gang zum Arbeitsgericht nichts mehr. Dann hilft nur Einlenken. Aber was dann? Kündigung? Arbeitslosigkeit? Manchmal toppen die Gefahren eben doch die Vorteile, zumindest langfristig.

Und übrigens, neben den professionellen Detektiven gibt es auch noch den berühmten Kommissar Zufall. Oder haben Sie nicht von dem krankgeschriebenen Briten gehört, der in Australien seinen Zusatz-Urlaub genoss und dort mehrere Kinder vor einer Hai-Attacke rettete. Er packte das Tier beherzt am Schwanz und zerrte es in tieferes Wasser. Diese Heldentat filmte ein zufällig anwesendes Team des britischen Fernsehens, und schwupps, war unser Held seinen Job los. Seine Arbeitgeberin war – Ironie des Schicksals – eine Londoner Wohltätigkeitsorganisation für Kinder.

Versicherungsbetrug als „Kavaliersdelikt“?

Jährlich melden Schadens- und Unfallversicherungen allein in der Bundesrepublik Deutschland Schäden in Höhe von 42 Milliarden Euro. Die Branche schätzt, dass zehn Prozent dieser Summe, also 4,2 Milliarden Euro, auf fingierten Schäden beruhen. Auch ist bekannt, dass die Betrüger immer ausgefuchster werden, was nicht zuletzt dem Internet zu verdanken ist. Am meisten betroffen sind die privaten Haftpflicht- und Hausratversicherungen. Da wird mal schnell ein kaputtes Handy gemeldet. Es sei heruntergefallen, wird angegeben. In Wahrheit wurde es jedoch durch Fußtritte zerstört. Oder es ist der Flachbildschirm des Freundes, den man aus Gefälligkeit umgestoßen hat, so dass er nun zersplittert ist. Diese Meldungen häufen sich immer dann, wenn neue Modelle auf den Markt gekommen sind.

Im Internet werden in zahlreichen Foren Tipps angeboten, wie man den Betrug am besten anlegt, so dass bei der Versicherung kein Verdacht aufkommt. Übrigens betrachten 20 Prozent aller Deutschen Versicherungsbetrug als Kavaliersdelikt. Bei einer Umfrage des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft gaben 12 Prozent der Teilnehmer an, dass sie schon einmal einen Bekannten oder Verwandten zu Hilfe geholt hätten, damit er der Versicherung einen fingierten Schaden melden kann. 4 Prozent gaben offen einen Versicherungsbetrug zu.

Immer häufiger wird auch zu gezielten Selbstverletzungen gegriffen. Einige Beispiele seien genannt, aber bitte: Ahmen Sie das nicht nach!

Ein Schlosser sägt sich einen Daumen ab, nachdem er vier Monate zuvor eine Unfallversicherung abgeschlossen hatte.
Ein Mann lässt sich auf Druck seiner Freundin von einem Auto überfahren, um eine hohe Versicherungssumme zu kassieren.
In Russland mehren sich Fälle eines anderen, ganz neuartigen Versicherungsbetrugs. In halsbrecherischen Aktionen werfen Menschen sich gegen fahrende Autos und Busse. Sie fingieren so einen Unfall und erhoffen, dadurch Zahlungen aus den Versicherungen der Autobesitzer zu erreichen. „Kamikaze-Betrüger“ nennt die Presse diese Hasardeure. Inzwischen montieren viele Autofahrer eine Kamera hinter der Frontscheibe, um ihre Unschuld beweisen zu können, so bei Focus Online.

Und das ist noch lange nicht alles an ganz alltäglicher Trickserei, ja Kriminalität. Wie hoch würden Sie den Gegenwert der jährlichen Ladendiebstähle in Deutschland einschätzen? 400.000 Euro? 4 Millionen? Oh nein. Es sind jährlich mehr als 4 Milliarden Euro! Die Diebe kommen aus allen Bevölkerungsschichten, und die Tricks zur Umgehung der elektronischen Sicherung werden immer raffinierter.

Jongleure und Trickser mit sehr weißem Kragen

Fallen Ihnen zu diesem Thema auch zuallererst die Banker ein? Oder die Anlagebetrüger, die einfachen Leuten faule Papiere verkaufen, bis das Häuschen überschuldet ist und unter den Hammer kommt? Oder die betrügerischen Könige des Schneeballsystems, die selbst Reichen ihr Geld abluchsen, weil sie überhöhte Zinsen versprechen?

Der Filmemacher Dieter Wedel hat über einen dieser Betrüger den spannenden Zweiteiler „Gier“ gedreht. 150 Millionen Euro hat Jürgen H. ergattert und davon ungefähr 100 Millionen mit seinem luxuriösen Lebensstil verprasst. Und wir Normalos schwanken zwischen Bewunderung und Entsetzen. Vielleicht beschleicht uns auch das Gefühl, noch einmal davon gekommen zu sein, der Gier nicht nachgegeben zu haben? Denn ohne die Gier der Anleger würde kein Betrüger erfolgreich jonglieren können.

Diese Millionenbetrüger stehen immer wieder in allen Zeitungen. So berichtete z.B. die Süddeutsche Zeitung von Don Ligestri, einem Sizilianer, der mit seiner Familie längst in einem teuren Bezirk Mailands residiert. 12.000 Kleinanleger hat er um 300 Millionen Euro geprellt und einiges davon in der Schweiz gebunkert. Nicht gerade kleinlich. Was meinen Sie?

Weniger Aufmerksamkeit widmen wir dem betrügerischen Jonglieren mit Wissen. Nein, hier ist nicht der ehemalige Verteidigungsminister gemeint, oh nein. Wir meinen das lukrative Geschäftsmodell „Tausche Geld gegen Titel“. Beratung und Coaching, so liest man es in den Kleinanzeigen großer Zeitungen. Hier werben die Fabriken, in denen Examens- und Doktorarbeiten produziert werden. Und wie sonst auf dem Markt gibt es Ich-AGs, Kleinbetriebe und größere Produktionsstätten. Bekannt will hier keiner werden. Die Betriebe funktionieren fabelhaft, aber ganz im Stillen.

Ein weiterer Typ trügerischen Jonglierens mit Informationen soll nicht unerwähnt bleiben: Das Fälschen von Forschungsergebnissen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Mehr als zwei Dutzend Mal hat Dr. S. die Daten seiner Forschungsarbeiten erfunden oder dreist manipuliert, ein bemerkenswert intelligenter und geschickter Fälscher. Denn schließlich haben hochrangige Fachzeitschriften die Arbeiten gedruckt. Und noch kurz vor seiner Entlarvung sollte er von Deutschlands renommiertester Forschungseinrichtung, der Max-Planck-Gesellschaft, zum Direktor berufen werden. Bei dieser Fallhöhe ist der Absturz sehr tief.

Also seien Sie vorsichtig! Manchmal toppen die Gefahren eben doch den Vorteil. Manchmal ruiniert falscher Ehrgeiz die glänzend begonnene Karriere.

Ein ganz besonderes Kapitel: Selbstverletzungen und Simulation von Krankheiten zur Vermeidung des Kriegseinsatzes

Im Zweiten Weltkrieg wurden annähernd 10.000 Soldaten allein wegen Simulation von Krankheiten oder von Selbstverletzungen zum Tode verurteilt. Um der Front zu entkommen und ihr Leben zu retten, hatten sich einige eine schwerwiegende Verletzung zugefügt, die nur in Deutschland behandelt werden konnte. Wurde entdeckt, dass die Verletzung selbst verursacht war, folgte eine Anklage wegen „Zersetzung der Wehrkraft des Volkes“. Vor allem gegen Ende des Krieges reichte dies, um die armen Teufel zum Tode zu verurteilen. Selbstverstümmelung war im Übrigen ein Delikt der einfachen Soldaten. Das überrrascht nicht gerade, waren der Leidensdruck und die Gefahr, im Kampfeinsatz getötet zu werden, bei ihnen doch weit größer als bei den höheren Rängen oder gar in der Etappe.

Von den Selbstverletzern und Simulanten sorgfältig zu trennen sind die jungen Soldaten, die durch den Kriegseinsatz traumatisiert wurden. Im Ersten Weltkrieg sprach man durchaus abwertend von „Kriegszitterern“, heute spricht man von einer „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (Näheres im dritten Teil unseres Buches).

Wenn der Körper schreit, weil die Seele leidet

Der Simulation ähnlich, aber unbedingt gegen sie abzugrenzen, sind die „somatoformen Störungen“ (aus dem Griechischen von sõma, gleich Körper); als Beispiel sei die sog. Konversionsstörung genannt. Ihre Kennzeichen sind sensorische und/oder motorische Ausfälle, wie etwa plötzlicher Verlust des Sehvermögens oder plötzlicher Verlust der Muskelkontrolle (Lähmungserscheinungen). Diese somatoformen Störungen haben keine nachweisbaren anatomisch-physiologischen Grundlagen und sind willentlich nicht kontrollierbar. Die Konversionsstörung hat mit den simulierten Krankheiten lediglich die Zielsetzung gemeinsam: Sie dient dem Zweck, besonderen Belastungssituationen auszuweichen oder einer bestimmten Verantwortung zu entgehen, allerdings ohne Beteiligung des Bewusstseins. Achtung: Solche Konversionsstörungen bedürfen einer zeitaufwendigen tiefenpsychologisch orientierten Therapie, um die Problematik bewusst zu machen. Des Weiteren ist eine Verhaltenstherapie notwendig, um die Kompetenzen der Alltagsbewältigung zu verbessern. Für Simulanten reicht es, ihnen kurz auf die Pfoten zu hauen – so man will.

Anleitung für Simulanten

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