Читать книгу Mami Bestseller Staffel 6 – Familienroman - Gisela Heimburg - Страница 6

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Seit drei Jahrzehnten arbeitete Erna Abromeit nun schon als Hebamme, aber so schwer wie heute war es ihr dabei noch nie ums Herz gewesen. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer des Hausanschlusses.

»Herr Oberarzt, bitte kommen Sie!« Ihre Stimme klang brüchig.

Sie wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu. Zwei Mütter lagen im Kreißsaal, nur durch einen Wandschirm voneinander getrennt.

Antje Sanders, die junge Witwe eines Seemannes, hatte gesunde Zwillinge zur Welt gebracht. Sie lag noch in leichter Narkose, würde aber bald ohne Komplikationen erwachen und sicher ziemlich entgeistert darüber sein, daß ihre vierköpfige Kinderschar nun gleich um doppelten Zuwachs bereichert worden war.

Die zweite junge Frau aber…

Erna Abromeit mußte sich Mühe geben, ein Aufstöhnen zu unterdrücken. Sie hatte mit der Patientin, einer Frau Astrid Lauenstein, die als Feriengast auf der Insel weilte, gesprochen und war erschüttert von der verzweifelten Hoffnung dieser zarten, schönen Frau, nun endlich, nach einigen Fehlgeburten, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen.

Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hatte.

Noch wußte Frau Lauenstein es nicht.

Die Hebamme trat hinter den Wandschirm. Es gelang ihr, das berufsmäßige optimistische Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern.

Astrid Lauenstein blickte ihr aus großen schwarzen Augen entgegen, und noch nie zuvor hatte Erna Abromeit so viel Flehen, so viel angstvolle Erwartung im Blick eines Menschen gesehen.

Die Hebamme spürte, wie sich ihr Herz vor Mitleid verkrampfte. Wie ungerecht das Schicksal war! Diese Frau, die sich so sehnlichst ein Kind wünschte – ein einziges nur! – würde wohl alle Hoffnung begraben müssen.

»Frau Abromeit…« Es war nur ein Flüstern, das über die blutleeren Lippen der Patientin kam. »Bitte, sagen Sie mir…, es ist doch… mein Kind… Es ist…, bitte!«

In diesem Moment begann eines der neugeborenen Zwillingsmädchen zu schreien.

Und wie ein Echo ertönte ein zweites, recht kraftvolles Krähen, die Schreie des anderen kleinen Zwillings.

Da ging ein unbeschreibliches Leuchten über das Gesicht der jungen Mutter, die vor der Hebamme lag. Astrid Lauenstein streckte sehnsüchtig beide Arme aus und stieß in unfaßbarem Glück hervor: »Es lebt! Mein Kind, es lebt! Bitte, bitte, zeigen Sie es mir! Bringen Sie mir mein Kindchen!«

Erna Abromeit mußte sich abwenden, denn was sie sich sonst nie gestattete, jetzt geschah es: Tränen stürzten ihr in die Augen.

Sie trat vor den Wandschirm und sah mit einem Blick, daß die junge Seemannswitwe die ersten Anzeichen des Erwachens von sich gab.

In dieser Sekunde durchzuckte es die Hebamme wie ein Blitzstrahl der Erkenntnis.

Sie wußte, daß sie ein einziges Mal in ihrem Leben Schicksal spielen mußte, ein einziges Mal nur!

Erna Abromeit blickte zur Tür. Noch war der Doktor nicht eingetreten.

Sie hastete zu den beiden Zwillingsmädchen.

Sie handelte wie in Trance.

Ihre Hand zitterte nicht, als sie mit einer Schere das Bändchen zerschnitt, das sie am winzigen Ärmchen des Neugeborenen befestigt hatte. Ein paar sichere Griffe, und schon war ein neues Bändchen befestigt!

Weiter! Dasselbe noch einmal. Wenige Augenblicke später hatte Erna Abromeit auch am Handgelenk des totgeborenen Kindes, das in einem Nebenraum lag, ein anderes Bändchen befestigt.

Die beiden zerschnittenen Kennzeichen steckte die Hebamme in ihre Schürzentasche. Dann kehrte sie in den Kreißsaal zurück. Sie nahm das falsch gekennzeichnete Zwillingsmädchen und trug es hinter den Wandschirm.

Die Augen der jungen Frau glichen zwei großen schwarzen Edelsteinen.

»Gott hat meine Gebete erhört«, sagte sie mit seltsam schwingender Stimme. »Wenn ich wieder ein totes Kind zur Welt gebracht hätte, ich… ich hätte nicht mehr leben wollen.«

Die Hebamme legte das Kind in die Arme der schwarzhaarigen jungen Mutter.

»Es ist ein kleines Mädchen«, sagte sie mit trockener Kehle.

»Meine kleine Sylvia!« flüsterte Astrid Lauenstein.

In diesem Moment hörte die Hebamme, daß die Tür ging. »Der Doktor«, sagte sie und huschte hinter dem Wandschirm hervor.

Dr. Hornburg, ein junger, gutaussehender Arzt, blickte die Hebamme fragend an.

Sie bedeutete ihm, ihr in den Nebenraum zu folgen, schloß die Tür und deutete auf das leblose Kind. »Es ging so schnell, Herr Doktor. Ich kam nicht mehr dazu, Sie rechtzeitig zu rufen.«

Der Arzt untersuchte den leblosen kleinen Körper. »Kein Zweifel, tot. Es war ja vorauszusehen. Die arme Frau.«

»Nun ja, sie wird es verschmerzen«, erwiderte Erna Abromeit, und sie wunderte sich, wie ruhig und normal ihre Stimme klang.

»Hoffen wir es! Sie hat ja kein Geheimnis daraus gemacht, daß ein Kind das Ziel und der Sinn ihres Lebens ist.«

»Aber sie hat ja schon vier und nun ein fünftes!« lächelte die Hebamme.

Dr. Hornburg sah sie verblüfft an. »Wollen Sie damit sagen, daß es nicht Frau Lauensteins Kind ist?«

»Aber nein, Herr Doktor! Frau Sanders hat Zwillinge geboren, und eines der Kinder war tot.«

»Ach so!« Der Oberarzt eilte mit elastischen Schritten in den Kreißsaal hinüber, beglückwünschte strahlend Frau Lauenstein, griff nach dem Puls der gerade erwachenden Frau Sanders, veranlaßte, daß Frau Lauenstein in ihr Zimmer gebracht wurde, und als er bemerkte, daß die zweite Mutter die Augen aufschlug, warf er der Hebamme einen bedeutungsvollen Blick zu und eilte hinaus.

Erna Abromeit seufzte leise. Das war typisch für den Oberarzt! Vor schlechten Nachrichten drückte er sich gern.

Erna Abromeit näherte sich der Patientin, die ihr aus braunen Augen lächelnd entgegenblickte. Schwarzbraunes Haar wellte sich weich um ihr rührend jung wirkendes Gesicht.

»Nun, Frau Abromeit, was ist es diesmal denn geworden?« erkundigte sich Antje Sanders leichthin.

»Nach vier Jungen nun endlich ein kleines Mädchen«, erwiderte die Hebamme.

»Ein Mädchen! Klaus hatte sich so sehr ein Mädchen gewünscht. Daß er es nicht mehr erleben konnte…« Antja Sanders schloß die Augen. Ihre langen dunklen Wimpern zitterten.

Erna Abromeit musterte die junge Frau. Obwohl Antje nun schon fünfmal geboren hatte, war sie erst vierundzwanzig Jahre alt. Vor etwa einem halben Jahr war ihr Mann von See nicht zurückgekehrt. Ein Schiffszusammenstoß hatte ihn und mehrere seiner Kameraden das Leben gekostet. Es war erstaunlich, wie Antje Sanders nach dem Tod ihres Mannes mit allem fertiggeworden war. Da sie von nun an mit viel bescheideneren finanziellen Mitteln auskommen mußte, hatte sie kurz entschlossen die große teure Neubauwohnung aufgegeben und hatte für sich und ihre Kinder ein abseits gelegenes Haus in den Dünen gemietet. Dort konnten die lebenssprühenden Jungen nach Herzenslust toben, niemand beschwerte sich. Wenn es Antje hin und wieder zuviel wurde, lief sie an den Strand, blickte hinaus auf die weite See, und ihr langes dunkles Haar flatterte im Wind. Dann schien Melancholie ihre schlanke Gestalt einzuhüllen, Melancholie und die Sehnsucht nach dem verlorenen geliebten Mann. Doch nach solchen Augenblicken war sie bald wieder die tatkräftige, unbekümmerte junge Frau, die für ihre Kinder durch dick und dünn ging.

Das wußte die Hebamme. Deshalb fürchtete sie sich auch nicht vor dem, was sie Antje Sanders nun sagen mußte.

»Antje«, begann sie vorsichtig, denn sie kannte ihre Patientin von Kindheit an, »beinahe hätte sich dein Kindergarten auf sechs erweitert.«

Antje Sanders schlug die Augen auf. »Wie meinen Sie das, Frau Abromeit?«

»Du hast Zwillinge geboren. Das eine war tot.«

Antje senkte die Lider, und um ihre Mundwinkel zuckte es. Doch dann ging das unterdrückte Schluchzen in ein schmerzliches Lächeln über, und sie sagte: »Fünf sind auch genug.«

»Du bist eine tapfere Frau, Antje.« Die Hebamme drückte die schmale, kräftige Hand der Jüngeren. »Ich hole dir jetzt dein kleines Mädchen. Das andere, das schaust du dir lieber gar nicht erst an.«

Antje Sanders nickte. Als die Hebamme der jungen Mutter das Kind in den Arm legte, erkundigte sie sich: »Wie willst du es denn nennen?«

»Friderike!« antwortete Antje spontan.

»Friderike? Ist das nicht ein bißchen zu altmodisch?«

»Meine Großmutter hieß so. Ich habe sie sehr, sehr gern gehabt. Und ich habe ihr schon als Kind versprochen, daß ich mein erstes Mädchen Friderike nennen werde. Ein Versprechen muß man doch halten, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Frau Abromeit.

Als sie wenig später durch die Korridore des kleinen Krankenhauses ging, trat ihr ein großer, gutaussehender Mann in den Weg. »Sie sind Frau Abromeit, die Hebamme, nicht wahr?«

Sie nickte und sah ihn fragend an.

»Mein Name ist Lauenstein«, stellte er sich vor.

Er ergriff die Hand der Hebamme. »Frau Abromeit, ich möchte Ihnen danken. Dafür, daß Sie meiner Frau in ihrer schweren Stunde so geholfen haben. Eigentlich hatte ich ja für meine Frau einen Platz in einer berühmten Privatklinik vorbestellt. Sie verstehen, weil sie bisher immer dieses entsetzliche Pech hatte. Wir sind hier auf der Insel ja nur auf Urlaub, aber die Wehen setzten überraschend viel zu früh ein. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, daß alles so gutgegangen ist!«

»Es war eine leichte Geburt, Herr Lauenstein. Und Ihrer kleinen Tochter geht es prächtig, wenn sie auch ein bißchen zu früh geboren und besonders klein und zierlich ist.«

»Sie glauben also, daß das Kind am Leben bleibt?«

»Aber selbstverständlich!« erwiderte Erna Abromeit und dachte an die lebensstarke Antje und ihre prächtigen Kinder.

Später kamen der Hebamme die ersten Zweifel, ob sie richtig gehandelt hatte. Sie hatte in ihrem Leben erfahren müssen, daß es meistens schiefging, wenn die Menschen versuchten, ins Rad des Schicksals zu greifen. Auch die Furcht vor Entdeckung stellte sich ein. Doch niemand schöpfte auch nur den geringsten Verdacht.

*

Fünf Jahre vergingen.

Erna Abromeit dachte kaum noch daran, daß sie einmal zwei Kinder, ein totgeborenes und ein quicklebendiges vertauscht hatte.

Eines Tages aber wurde sie schmerzhaft deutlich daran erinnert. Sie ging arglos durch die Straßen der kleinen Inselstadt, als sie Herrn Lauenstein erblickte. An der Hand führte er ein kleines, etwa fünfjähriges, ganz entzückend anzuschauendes Mädchen. Es konnte nur das Kind von damals sein!

Erna Abromeit erschrak bis ins Mark. Wenn Herr Lauenstein nun zufällig das andere Zwillingsmädchen traf?

Doch dann sagte die Hebamme sich, daß Antje Sanders mit ihren Kinder ja weit draußen wohnte. Es müßte schon ein großer Zufall sein, wenn sie einander über den Weg liefen! Und dann würde die Familie Lauenstein ja nach Beendigung ihres Urlaubs bald wieder abreisen!

Doch schon am nächsten Tag erfuhr Erna Abromeit, daß Thomas Lauenstein, dessen Frau kürzlich verstorben war, hier auf der Nordseeinsel ein Haus gekauft hatte.

Die Angst legte sich wie ein Felsblock auf die Brust der Hebamme. Lauenstein und das kleine Mädchen blieben also hier, für immer!

*

Ein strahlendblauer Sommerhimmel spannte sich von Horizont zu Horizont über die glitzernde Nordsee. Eine erfrischende Brise strich über das Dünengras und kräuselte die Meeresoberfläche. Plätschernd leckten die kleinen Wellen über den Strand.

Die braunlockige Sylvia Lauenstein saß allein in einer flachen Sandkuhle und spielte lustlos mit gesammelten Muscheln.

Sehnsüchtig wanderten die Blicke des fünfjährigen Mädchens immer wieder zu einer Gruppe von Kindern, die mit lebhaftem Kreischen und Jauchzen ganz nackt im flachen Wasser planschten.

Endlich stand Sylvia auf und näherte sich den anderen Kindern unschlüssig. Es mußte herrlich sein, so nackt herumzutoben!

Sylvia warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter zurück. Ihr Papi war in seine Zeitung vertieft.

Kurz entschlossen streifte Sylvia ihren Badeanzug ab und ging scheu auf die Kinder zu.

Sie sah ein anderes kleines Mädchen im Wasser und hatte das Gefühl, in den Spiegel zu blicken.

Da wurde das andere Mädchen von einigen Jungen gepackt und unter die Wasseroberfläche gedrückt. Doch es konnte sich befreien und unter lautem Protestgeschrei entfliehen.

»He, Fritz, du bist feige!« schrie einer der Jungen.

Weshalb nannte er das Mädchen ›Fritz‹?

Obwohl die Jungen wild herumtobten, näherte sich Sylvia der Bande fasziniert Schritt für Schritt, und plötzlich war sie in das unbekümmerte Spiel mit einbezogen. Sie fand es herrlich!

Das kleine Mädchen, das der wilden Horde entwischt war, näherte sich unterdessen dem rotleuchtenden Badeanzug mit den hübschen Rüschen, der wie eine exotische Blume auf dem gelben Sand lag.

Die kleine Friderike, die von ihren vier älteren Brüdern ›Fritz‹ genannt wurde, bückte sich danach und betrachtete begeistert die verspielten Rüschen, die sich um Bein- und Halsausschnitte ringelten.

Es müßte hübsch sein, solch einen Badeanzug zu besitzen! In so einem herrlichen Kleidungsstück wäre sie bestimmt nicht mehr der ›Fritz‹, sondern nur noch Rikchen, wie ihre Mutter sie zärtlich rief.

Sie war so ins Schauen und Staunen vertieft, daß sie den Mann, der mit langen Schritten auf sie zukam, gar nicht bemerkte. Sie erschrak heftig, als er unvermittelt vor ihr auftauchte, und wollte davonlaufen. Doch der Mann hielt sie am Arm fest.

»Ich wollte ihn nur mal begucken!« erklärte Rikchen.

»Dazu brauchst du ihn doch nicht auszuziehen!« lächelte Thomas Lauenstein. »Oder wolltest du auch mal ohne ins Wasser? Dafür bist du eigentlich schon zu groß, Sylvia.«

»Aber ich…«

Aber ich bin doch gar nicht Sylvia, wollte sie entgegnen, doch dazu kam sie nicht.

»Wir müssen jetzt nach Hause!« fiel ihr der Mann ins Wort. »Papi hat noch etwas zu erledigen. Bitte, komm!«

Rikchen klappte den Mund zu. Sie begriff. Das mußte der Vater des kleinen Mädchens sein, das ihr, Rikchen, irgendwie ähnlich sah. Sie hatte es vorhin, als die andere Kleine sich zögernd näherte, schon bemerkt.

Der Mann hatte sie verwechselt.

Rikchen hatte ihren Vater nie kennengelernt. Es mußte aufregend sein, so einen Papi zu haben!

Bewundernd blickte sie zu ihm empor. Doch der Mann bemerkte es gar nicht. Er entfaltete einen Bademantel und hängte ihn seiner vermeintlichen kleinen Tochter um.

Rikchen kicherte. Wie lange würde es wohl dauern, bis er merkte, daß er eine Falsche vor sich hatte?

Das Bademäntelchen war genauso schick wie der Badeanzug.

Der Mann nahm Rikchen bei der Hand und ging mit ihr zu einem riesengroßen Wagen, der hinter der Düne am Straßenrand parkte.

»Du kannst dich während der Fahrt anziehen – oder auch erst zu Hause«, meinte er. »Ich hab’ es nämlich eilig.« Er schob sie auf einen der hinteren Sitze.

»Nein, das geht nicht!« kicherte Rik­chen.

»O ja, das geht sehr gut! Bitte, keine Widerrede!«

»Du bist doch gar nicht mein Papi!« erklärte Rikchen forsch.

»Sei nicht so frech! – Oder findest du mich plötzlich so garstig?«

Nein, das konnte Rikchen nun beim besten Willen nicht behaupten. Sie schüttelte energisch den Kopf.

Thomas Lauenstein knallte die Türen zu und setzte sich hinter das Lenkrad. Fast lautlos glitt der Wagen die Straße entlang.

Jetzt wurde es der kleinen Friderike Sanders doch etwas komisch zumute.

Doch dann entdeckte sie die Sachen ihrer Doppelgängerin auf dem Sitz, und ihre braunen Augen wurden groß und rund. Ein weißes Kleid mit roten Rüschen! Rikchen strahlte. Sie mußte meistens mit den mehr oder weniger abgetragenen Jeans und Hemden ihrer Brüder vorliebnehmen. In diesem Kleid aber würde sie wie Dornröschen aussehen!

Plötzlich hatte Rikchen es eilig, das Prachtstück anzuziehen, nur mal so zum Spaß! Wohlgefällig sah sie an sich hinunter. Wunderbar!

Sie schlüpfte in die zierlichen roten Lackschuhe und spann sich in ihr Märchen ein, das sie schon immer so gern geträumt hatte – in das Märchen von Dornröschen, das in seinem Schloß auf den schönen Prinzen wartete.

Rikchen schreckte auf, als der Wagen plötzlich hielt.

Sie blickte aus dem Fenster, und wieder wurden ihre Augen groß und rund, denn sie sah eines der Häuser, die sie manchmal schon von weitem bestaunt hatte. Es war groß, schneeweiß und hatte ein dickes Reetdach.

Als der Mann den Wagenschlag öffnete, fragte das kleine Mädchen tief beeindruckt: »Ist das dein Haus? Wohnst du hier?«

»Ja, und du auch, kleiner Witzbold! Ich habe dir doch erzählt, daß es jetzt unser neues Zuhause ist.«

»Oh!« machte Rikchen und trippelte an der Hand Thomas Lauensteins auf die weiße Luxusvilla zu. Wie viele Fenster es hatte! Und ein rosaberankter Bogengang führte um das Haus! Ein Springbrunnen plätscherte in einem Marmorbecken. Überall wucherten Rosen, Rosen in allen Farben. Das alles erinnerte Rikchen sehr an die Bilder in ihrem dicken Märchenbuch.

Als sie die mit weichem Bodenbelag ausgestattete Diele betraten, zuckte Rikchen unwillkürlich zurück und streifte die Schuhe von den Füßen.

»Was ist denn mit dir los?« fragte Thomas Lauenstein belustigt.

»Man kann doch auf so schönem Stoff nicht herumtrampeln!« meinte das kleine Mädchen empört und ging auf Zehenspitzen über den weichen himmelblauen Teppichboden.

»Wer hat dir denn das beigebracht? – Geh jetzt bitte ins Badezimmer.«

»Was soll ich denn da?« erkundigte sich Rikchen.

»Händewaschen natürlich«, erwiderte Thomas Lauenstein mit leichter Ungeduld. »Wir essen gleich.«

Rikchen drehte ihre Händchen hin und her und betrachtete sie eingehend von allen Seiten. Dann entschied sie: »Händewaschen ist nicht nötig. Die sind doch ganz sauber vom Baden.«

»Wie bitte? Du glaubst wohl, weil dein Kindermädchen Urlaub hat, kannst du auch Ferien von der Hygiene machen? Marsch, marsch ins Bad!« Thomas schob sie durch die Tür.

Das Badezimmer war ein Traum in Nachtblau und Gold.

»Wohnt in diesem Zimmer die Hygiene?« fragte Rikchen ehrfurchtsvoll.

»Das will ich hoffen!« lachte Thomas.

Der Wasserhahn begann zu sprudeln, ohne daß ihn jemand aufgedreht hatte.

Rikchen erschrak, dann wandte sie sich langsam um und fragte mit gedämpfter Stimme und verschwörerischer Miene: »Ist das ein Zauberschloß?«

»Ja, hier werden Kinder, die beim Waschen immer so herumtrödeln, in Schnecken verwandelt! Also beeile dich lieber!«

Die Tür klappte fast lautlos hinter dem Mann zu, und Rikchen war allein.

Noch immer lief der Wasserhahn, und so entschloß sie sich, die Hände wenigstens naß zu machen. Unschlüssig blickte sie sich nach einem Handtuch um. Diese herrlichen goldgelben Tücher mit den blauen Blumen konnte man doch unmöglich zum Händetrocknen benutzen.

Rikchen entschloß sich, die Hände in der Luft hin und her zu wedeln.

Der Wasserhahn spie noch immer seinen dicken Strahl in das riesige blaue Becken. Da Rikchen keinen Hahn zum Abstellen entdeckte, sagte sie laut: »Genug! Ich brauch’ kein Wasser mehr!«

Nichts geschah.

»Na, dann nicht!« Rikchen wandte sich zur Tür, und das Rauschen hinter ihr hörte auf.

Sie drehte sich um. »Lange Leitung, was?«

»Mit wem redest du da?« hörte sie die Stimme des Mannes. »Komm jetzt zu Tisch, Sylvia!«

Sylvia! Das war eigentlich viel schöner als Friderike oder gar »Fritz«! Überhaupt fand sie den Mann sehr nett. Ihn würde sie gern einmal eine Zeitlang zum Papi haben wollen!

Rikchen verließ das Bad und entdeckte den Mann in einem Zimmer, dessen Tür ein Stück offen stand. Sie steckte den Kopf durch den Spalt und bestaunte die Farben Elfenbein und Dunkellila, die in diesem Raum vorherrschten.

»Ich habe dir schon ein paar Schnitten fertig gemacht«, erklärte Thomas Lauenstein, der am Kopfende des weißgedeckten Tisches stand.

Rikchen verspürte plötzlich einen nagenden Hunger und stürzte sich förmlich auf die leckeren Schnitten.

»Ist heute Sonntag?« erkundigte sie sich mit vollen Backen.

Thomas runzelte die Stirn. »Nein, warum fragst du?«

»Weil es so gute Wurstbrote gibt! Verdienst du sehr viel Geld?«

»Für uns beide reicht es«, meinte Thomas trocken.

»Für uns beide?« wiederholte Rik­chen.

»Na ja, du weißt doch, seit Mami dort oben ist…«

Thomas zeigte zur Zimmerdecke, »brauche ich nur noch für dich zu sorgen.«

»Ist sie im Himmel?« fragte Rikchen hellhörig.

»Das habe ich dir doch schon oft genug erzählt. Du stellst heute merkwürdige Fragen, Kind.«

Sie schob das letzte Stückchen Brot in den Mund.

»Du hast deinen Teller heute aber schnell leergeputzt«, staunte der Mann. »Mir scheint, die gute Seeluft beginnt schon zu wirken. Bist du überhaupt satt?«

Rikchen dachte einen Moment nach und entschloß sich, zunächst einmal Schluß zu machen.

»Also, dann marsch ins Bettchen!« befahl Thomas.

»Jetzt schon? Ist doch noch so hell!« protestierte Rikchen.

»Im Sommer gehen Kinder immer im Hellen schlafen, weil der Tag sehr lang ist. Außerdem kommt nachher noch Tante Britta zu Besuch, und dann sollst du im Bett sein«, erklärte Thomas ungeduldig.

»Liest du mir denn auch eine Geschichte vor?« erkundigte sich das kleine Mädchen.

»Eine Geschichte? Und wieso – auch? Ach so, das hat dir sicher Inga angewöhnt.« Thomas wurde nervös. Die Zeit drängte.

»Nein, Mark«, antwortete Rikchen spontan. Mark war ihr ältester Bruder, der sich oft abends an ihr Bettchen setzte und ihr aus dem dicken Märchenbuch vorlas.

Thomas wollte sich gerade erkundigen, wer dieser Mark sei, als sich die Tür mit Schwung öffnete und Britta Ohlsen hereinwirbelte. Eine blonde Schönheit in Weiß und Gold! Atemlos begrüßte sie den Mann:

»Guten Abend, Thomas, Liebster! – Ach, das Kind ist noch nicht im Bett?« Ihre strahlende Miene verfinsterte sich einen Augenblick lang.

Beim ersten Anblick hatte Rikchen diese Frau sehr schön gefunden, aber nach dieser Bemerkung und diesem kühlen Blick erwachten in dem kleinen Mädchen Zweifel, ob sie nicht nur eine verkleidete Hexe wäre.

Thomas zog die schmale Hand mit den langen gelackten Nägeln an seine Lippen. »Entschuldige, Britta, wir haben uns am Strand etwas verspätet. Du weißt ja, Kinder trödeln gern, besonders dann, wenn sie zu Bett sollen.«

Auf Britta Ohlsens glatter Stirn erschien eine tiefe Unmutsfalte. »Ich habe es dir ja gleich gesagt, Thomas, es war eine Schnapsidee, dem Kindermädchen jetzt Urlaub zu geben!« Dann wandte sie sich dem kleinen Mädchen zu und streckte ihm nachlässig die Hand entgegen. »Guten Abend, Sylvia.«

Rikchen verbarg ihre Hände auf dem Rücken und verkniff die Lippen.

»Na, so etwas!« empörte sich Britta und warf dem Mann einen flammenden Blick zu.

»Aber, Sylvia!« sagte Thomas hilflos. Solchen Trotz hatte er bei seiner kleinen Tochter noch nie erlebt.

»Ich glaube, das Kind braucht dringend eine feste Hand!« fauchte Britta. »Damit es richtig erzogen wird! Es kann gar nicht schaden, wenn dabei auch hin und wieder einmal die Rute im Spiel ist!«

Die wasserblauen Augen der blonden Frau blickten eisig auf Rikchen.

Der Widerspruchsgeist des kleinen Mädchens verstärkte sich und drückte sich deutlich im Gesichtchen aus.

»Also, bitte, Sylvia, geh jetzt in dein Zimmer!« beschloß Thomas, die Situation zu retten.

Rikchen sah ihn unschlüssig an. Sie wollte ja gern gehorchen, aber wo war ihr Zimmer?

»Na, geh schon, ich komme dann noch, um dir gute Nacht zu sagen«, lenkte Thomas Lauenstein ein.

Rikchen verließ das Zimmer, in dem sie gegessen hatten, mit gesenktem Kopf, entschlossen, das Zimmer, in dem ein Bett stand, auf eigene Faust zu suchen. Sie öffnete die nächste Tür und sah nur Wände voller Bücher. Sie hätte nie geglaubt, daß es so viele Bücher auf der Welt gab. Doch ein Bett stand hier nicht. Rikchen zog sich zurück.

Der nebenanliegende Raum war ganz wunderhübsch. Da standen zierliche Möbel mit geschwungenen Beinen und glitzernden Bezügen. Ganz besonders gefiel Rickchen ein Sofa, das so klein war, als wäre es extra für Kinder gemacht. Aber auch hier war kein Bett zu entdecken. Also weiter!

Als sie wieder in die Diele trat, stand Thomas Lauenstein im Eingang des Eßzimmers.

»Warum klappst du denn mit allen Türen, Sylvia?« fragte er tadelnd.

Das kleine Mädchen zuckte erschrocken zusammen.

Da erschien die blonde Frau hinter dem Mann und legte schmeichelnd die Arme um seinen Hals. »Laß sie doch, Thomas«, gurrte sie wie eine Taube. »Kümmere dich jetzt endlich um mich.«

Rickchen nutzte den Augenblick, um hinter der nächsten Tür zu verschwinden.

Hier stand ein Bett! Rikchen atmete erleichtert auf. Das Bett war allerdings riesengroß. Es war bestimmt für mehrere Leute gedacht, für die ganze Familie. Rickchen hatte es inzwischen aufgegeben, sich in diesem Haus über etwas zu wundern. Hastig zog sie sich aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Leicht wie eine Wolke war diese Decke und der Bezug glatt wie Seide! So schlief man also, wenn man reich war und in einem Zauberschloß wohnte.

Mit großen Augen sah Rikchen sich um. An den Fenstern hingen schwere goldbraune Vorhänge. An den Wänden hingen Bilder mit Pferden. Auf dem Tisch neben dem Bett lag im Aschenbecher eine Pfeife und ein lederner Beutel. Es roch überhaupt gut in dem Zimmer – nach Rauch und nach etwas, das Rikchen noch nie gerochen hatte.

Allmählich hatte sie sich sattgesehen und begann, müde mit den Augenlidern zu klappern. Da hörte sie Stimmen und wurde sofort wieder hellwach.

»Komm, Thomas, ich habe dich so lange entbehrt!« Das war die gurrende Stimme der Frau – wie die Tauben auf dem Marktplatz.

»Zuerst muß ich dem Kind ›Gute Nacht‹ sagen, Britta. Ich habe es ihm versprochen.«

»Unsinn – die schläft schon!« erwiderte Britta scharf. Und dann, wieder leise: »Ich habe große Sehnsucht, komm, Liebster.«

Die Tür ging auf, und die blonde Frau erschien im Rahmen. Sie trat ins Zimmer und zog Thomas an beiden Händen hinter sich her.

Rikchen fuhr ruckartig hoch.

»Also, das ist doch die Höhe!« fauchte Britta. »Dieses Gör ist eifersüchtig – begreifst du, Thomas?«

»Sylvia, was machst du denn in meinem Bett?« lächelte Thomas.

»Dies ist doch groß genug für uns beide, nicht?« Rikchen sah ihn treuherzig an.

Thomas strich über ihre braunen Locken.

»Daß du dem Kind alles durchgehen läßt!« zischte Britta. »Ich begreife dich nicht!«

»Warum regst du dich denn so auf, Britta? Es ist doch nicht ungewöhnlich, daß Kinder zu ihren Eltern ins Bett wollen.«

»So – du nimmst sie natürlich wieder in Schutz! Mir ist die Lust aufs Bett jedenfalls erst einmal vergangen. Wenn du den Abend noch retten willst, dann führe mich erst einmal groß aus!«

Thomas hob das kleine Mädchen aus dem Bett und sagte zärtlich: »Komm, Kleine, ich bringe dich jetzt in dein Bettchen, und du schläfst schön brav. Papi geht noch ein bißchen weg.«

Rikchens Augen wurden groß und angstvoll. »Muß ich ganz allein in diesem großen Haus bleiben?«

»Natürlich – aber du bist doch auch schon ein großes Mädchen.« Thomas streichelte sie beruhigend, und Rik­chen wollte schon zustimmen, als Britta spöttisch einwarf:

»Vielleicht bittest du das Fräulein Tochter noch gnädigst um Erlaubnis, ob du aus dem Haus gehen darfst! – Sprich ein Machtwort, oder hau ihr den Po voll, aber höre endlich auf, so törichtes Zeug zu säuseln!«

»Ich will nicht allein bleiben!« schrie Rikchen mit der Lautstärke, die sie als »Fritz« ihren Brüdern gegenüber oft genug anwenden mußte, wenn sie etwas erreichen wollte. »Und ich kann dich überhaupt nicht leiden! Du bist…, du bist – eine Hexe!«

»Also, das ist doch…, das ist doch…« Britta Ohlsen fehlten die Worte. Sie schnappte nach Luft.

Thomas starrte seine vermeintliche kleine Sylvia erschrocken an. So einen Zornesausbruch hatte er noch nie erlebt. Streng sagte er:

»Sylvia, sofort entschuldigst du dich bei Tante Britta! Was ist heute nur in dich gefahren?«

Rikchen drehte den Kopf zur Seite und verkniff die Lippen.

Thomas trug sie rasch aus dem Zimmer, durchquerte die Diele und trat ins Kinderzimmer. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und sie allein waren, sah er das kleine Mädchen ernst und traurig an. »Du magst Tante Britta nicht?«

Rikchen schüttelte so heftig den Kopf, daß ihr die braunen Locken ins Gesicht flogen.

»Das habe ich ja gar nicht gewußt, mein Kleines. Warum hast du denn nie ein Wort gesagt?« Er strich ihr das Haar zurück. »Warum hast du denn Tante Britta nicht gern?«

Rikchen überlegte einen Moment lang. »Sie kann mich ja auch nicht leiden!«

»Hm«, machte Thomas nachdenklich. »Das Gefühl hatte ich heute auch.«

»Bist du jetzt traurig?« erkundigte sich Rikchen.

»Ach, laß nur. Es kommt schon alles so, wie es richtig ist.« Er versuchte zu lächeln, aber seine Augen waren nicht fröhlich. Da schlang Rikchen die Ärm­chen um seinen Hals und flüsterte:

»Aber dich mag ich leiden, sehr! So einen Papi habe ich mir immer gewünscht!«

»Na, dann ist ja alles in bester Ordnung.«

Rikchen freute sich, daß der Mann wieder lächelte. Er war dann viel hübscher – fand sie.

»Tust du mir einen Gefallen, mein Kleines, und bleibst heute für ein paar Stunden allein?« Seine dunklen Augen waren bittend auf sie gerichtet, und Rik­chen konnte gar nicht anders als nicken.

Thomas atmete auf und legte das kleine Mädchen in das Kinderbett, in dem bereits ein großer Plüschbär wartete.

»Schau mal, Peter wundert sich, wo du heute so lange geblieben bist.« Thomas drückte dem kleinen Mädchen das Spielzeug in den Arm. Dann hauchte er einen Kuß auf Rikchens Stirn und verließ das Zimmer.

*

Als die kleine Sylvia sich den wild herumtobenden Jungen am Strand genähert hatte, war ihr ein großer Ball mitten vor die Brust geflogen.

»Fang doch! Du mußt aufpassen, Fritz!« hatte ein großer Junge mit braunen welligen Haaren gerufen.

»Schlafmütze! Schlafmütze!« Das war die helle Stimme eines kleineren Buben. Er hatte rotblondes Haar und so viele Sommersprossen wie Sterne am Himmel.

»Sie hat wohl noch Wasser in den Augen!« Ein Kleiner mit rotem Schopf und einer frechen Stupsnase grinste schadenfroh.

»Wie war es denn auf dem Meeresgrund, Fritz? Hast du den Wassermann gesehen?« erkundigte sich der Hübscheste der Meute, ein Junge mit braunem Haar und dunkelblauen Augen.

Sylvia begriff, daß man sie im allgemeinen Durcheinander für das andere kleine Mädchen hielt, das ihr so ähnlich sah.

Doch sie fand gar keine Zeit, den Irrtum aufzuklären. Schon ging das Spiel weiter. Es war wundervoll, so unbekümmert zu toben!

Schon nach kurzer Zeit hatte Sylvia die Namen der vier Jungen begriffen. Die beiden braunhaarigen hießen Mark und Rolf, die beiden rothaarigen Sven und Tim. Sylvia fand es komisch, daß sie als Mädchen von allen »Fritz« gerufen wurde, aber es störte sie nicht.

Mark, der Älteste, war ungefähr zehn Jahre alt. Er fühlte sich ein bißchen als Beschützer seiner vermeintlichen kleinen Schwester »Fritz«. Er befreite Sylvia, wenn seine Brüder es allzu toll mit ihr trieben.

Sylvia hatte noch nie eine so herrlich wilde Kinderschar kennengelernt. Manchmal war ein stilles Mädchen aus der Nachbarschaft zu ihr gekommen, aber sie hatte mit dem zurückhaltenden Kind nie viel anfangen können. Sie hatten versucht, miteinander zu spielen, aber es war immer ausgesprochen langweilig gewesen.

Nun ließ Sylvia sich von der Ausgelassenheit der Jungen mitreißen, bis es ihr plötzlich durch den Sinn ging: Warum hat Papi eigentlich noch nicht gerufen?

Sie ließ die Blicke über den weiten Strand schweifen, aber die Stelle, an der ihr Papi vorhin Zeitung gelesen hatte, war leer.

Auch ihre Sachen waren verschwunden. Sie konnte weder den roten Badeanzug, noch das Bademäntelchen entdecken.

Ratlos lief sie ein paar Schritte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Der Strand war inzwischen viel leerer geworden und leicht zu überschauen, doch ihren Papi sah Sylvia nirgends.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die über die Wangen rollten und sich im Nu in einen Sturzbach verwandelten.

»Fritz!« hörte sie einen der Jungen rufen. »Fritz, komm doch her! Steh da nicht rum wie eine Katze, die’s donnern hört!«

Als sie sich nicht rührte, wurden die vier Brüder aufmerksam und kamen näher.

»Sie heult!« stellte Sven fest, und um seine Stupsnase malte sich maßloses Erstaunen.

»Was ist denn? Dir hat doch keiner was getan, Fritz.« Mark legte seinen Arm um ihre nackten Schultern.

»Ich heiße gar nicht Fritz!« erwiderte Sylvia jämmerlich, und ihre Tränen flossen weiter.

»Aber wir sagen doch immer so! Friderike – wie das klingt! Und Rikchen – das ist doch noch alberner!« Er tätschelte ihr Gesichtchen. »Nun weine deshalb doch nicht mehr.«

»Ich weine doch, weil mein Papi verschwunden ist!« jammerte Sylvia. Sie kam sich völlig verlassen vor.

Plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, stand eine dunkelhaarige junge Frau inmitten der Kinderschar. »Was habt ihr mit Rikchen gemacht?«

»Gar nichts, Mami!« krähte Sven. »Sie heult, weil sie keinen Papi hat!«

»Aber Rikchen!«

Erschrocken beugte sich Antje Sanders nieder, hob das kleine Mädchen auf den Arm und küßte das tränennasse Gesichtchen.

Durch den Schleier ihrer Tränen sah Sylvia die junge Frau. Sie hat­te Samtaugen wie Mark und war so hübsch wie Rolf.

»Sei doch nicht mehr traurig, Rik­chen!«

Sylvia schüttelte den Kopf so heftig, daß die Tränen in die Gegend spritzten, aber sprechen konnte sie vor Schluchzen nicht.

Antje Sanders drückte das Kind zärtlich an sich. »Mein Kleines, woher kommt denn plötzlich dein Weltschmerz?« Sie wiegte das Mädchen im Arm hin und her und murmelte: »Am Ende bist du mir doch ähnlicher, als ich dachte. – Reich mir mal Rikchens Sachen«, wandte sie sich an ihren Ältesten.

Mark hob die kleinen Jeans und den Pullover auf, die im Sand lagen, und Antje zog dem Mädchen die Kleider an.

Unter der zärtlichen Behandlung versiegte Sylvias Tränenstrom allmählich.

»Sicher bist du müde, mein Kleines«, sagte Antje Sanders mitfühlend. »Komm, wir gehen rasch nach Hause. Hunger hast du sicher auch.« Und zu den Jungen gewandt: »Heimwärts, ab durch die Mitte! Alles hopp!«

Die vier Buben stimmten ein Protestgeheul an, aber sie gehorchten.

Mark faßte Sylvia bei der Hand. »Weinst du immer noch? Wenn du willst, darfst du heute eins von den kleinen Kaninchen streicheln.«

»Ein richtiges Kaninchen?« erkundigte Sylvia sich mißtrauisch.

»Du meinst wohl – richtig streicheln? Klar! Heute haben sie nämlich noch die Augen offen. Sie sind jetzt richtig niedlich – du wirst sehen.«

Sylvia war beeindruckt. Ergeben trippelte sie an der Hand der Frau und des Jungen über den Sand. Es dauerte nicht lange, und sie erreichten ein kleines braunes Holzhaus, das völlig allein lag, nicht weit hinter den Dünen.

Mark zog das kleine Mädchen stürmisch mit sich. Hinter dem Haus befand sich ein kleiner Schuppen mit Reet­dach. Unter dem tief herabgezogenen Dach stand ein großer Kasten, dessen Tür mit Maschendraht bespannt war.

Mark öffnete die Tür, langte in eine Ecke und reichte Sylvia ein winzig kleines weißes Kaninchen.

»Richtige, lebendige Kaninchen!« staunte Sylvia atemlos. Ihr Blick ging zwischen dem winzigen Tierchen und der Hasenmutter, die an einer Rübe knabberte, hin und her.

»Dachtest du, ich gebe dir ein totes?« empörte sich Mark. »Na los, nimm es!«

Sylvia faßte ganz vorsichtig nach dem Tierchen. Ihre Fingerspitzen glitten über das flaumweiche Etwas, das sie aus schwarzen Augen ansah und so niedlich mit dem Näschen schnupperte.

»Darf ich es behalten?« fragte Sylvia gespannt.

»Vorläufig muß es noch bei der Alten bleiben. Später kannst du es vielleicht kriegen. Aber dann mußt du es auch allein füttern.«

Sylvia nickte begeistert. Sie zuckte zusammen, als es laut ertönte: »Abendbrot!«

Mark setzte das Tierchen wieder ins Nest, schloß die Tür und sagte: »Komm, Fritz, ich glaube, es gibt Eierkuchen.«

Als sie ins Haus traten, bemerkte Sylvia erstaunt, daß man gleich in die Küche gelangte. Auf dem gelben Holztisch stand ein Teller, vollgehäuft mit goldbraunen Eierkuchen. Ringsum stand an jedem Platz ein Becher Fruchtsaft.

Die Jungen stürmten auf ihre Plätze. Mark zog das kleine Mädchen einfach mit. Alle faßten einander bei den Händen, und sie sangen ein kurzes Lied, das Sylvia noch nie gehört hatte. Dann riefen alle im Chor: »Guten Appetit!« und setzten sich.

Die junge Frau mit dem schwarzbraunen Haar schob dem kleinen Mädchen den Pfannkuchenberg zu.

Hilflos blickte Sylvia zu ihr auf.

»Na los, lang zu«, ermunterte Antje Sanders das Kind.

»Aber ich habe doch gar keinen Teller und keine Gabel!« erwiderte Sylvia kläglich.

»Gabel? Der oberste Pfannkuchen ist bestimmt nicht mehr so heiß.« Antje Sanders nahm einen der Kuchen, rollte ihn resolut zusammen und drückte ihn Sylvia in die Hand.

Staunend sah das kleine Mädchen, wie die Jungen sich über die Pfannkuchen hermachten, als der Teller reihum ging.

Lustlos begann sie zu kauen. Sie hatte nie großen Hunger.

Die vier Brüder hatten schon jeder den dritten Pfannkuchen am Wickel, während Sylvia noch immer am ersten mümmelte.

Antje Sanders blickte besorgt zu ihrer Tochter hinüber. »Rikchen, was ist denn? Bist du vielleicht krank? So still und appetitlos kenne ich dich ja gar nicht.« Sie legte die Hand auf Sylvias Stirn.

»Du hast Zucker an der Nase, Fritz!« krähte Tim. Er konnte nicht viel älter als sechs Jahre sein, aber er war der Frechste.

»Ich hab’ doch keine Serviette«, sagte Sylvia kläglich.

»Serviette!« grölte die ganze Schar im Chor.

»In welchem Kinderfilm hast du denn das gesehen?« erkundigte sich Rolf amüsiert.

»Hört auf!« mischte Antje sich energisch ein. »Eigentlich hat Rikchen recht. Bei Tisch benutzt man eine Serviette. Aber wenn ich auch noch Servietten waschen sollte! Mir reichen die vielen Taschentücher für eure Rotznasen!«

»Was haben wir für eine vornehme Schwester!« ließ sich Sven vernehmen.

»Seid ihr alle satt?« fragte Antje rasch, um die Debatte zu beenden. »Dann dürft ihr aufstehen.«

Das Quartett wollte sofort wieder nach draußen stürmen.

»Halt!« stoppte Antje ihre wilde Schar. »Wenn es auch keine Servietten gibt, ums Händewaschen kommt ihr nicht herum!«

Murrend schlenderten sie in den Nebenraum, und Sylvia folgte ihnen. In dem kleinen Badezimmer gab es nur ein Waschbecken, um das sich die vier Buben gleichzeitig drängten. Sylvia hielt sich im Hintergrund und spreizte die fettigen Fingerchen. Sie fühlte sich äußerst unbehaglich. Auch an die verwaschenen Jeans hatte sie sich noch nicht gewöhnt.

»Wie stehst du denn da, Fritz?« Tim versetzte ihr einen Schubs, so daß Syl­via in das flache Becken unter der Dusche stolperte.

Sofort drehte Sven den Hahn auf. Eiskalt prasselten die feinen Wasserstrahlen auf Sylvia nieder. Ihr blieb vor Schreck die Luft weg. Dann stürzte sie zur Tür. Ihr braunes Haar und der Pullover waren pudelnaß. Wieder traten ihr Tränen in die Augen.

»Du weinst schon wieder?« fragte Antje befremdet.

»Die Jungens haben mich unter die Brause geschubst«, schnüffelte Sylvia.

»Und weshalb weinst du? Du kannst dich doch sonst so gut wehren, Rik­chen! Na komm, ich glaube, irgend etwas stimmt mit dir heute nicht. Ich bringe dich ausnahmsweise ins Bett.«

Sylvia atmete auf. Unter den geschickten Händen der hübschen Frau fühlte sie sich ausgesprochen wohl. Die dunklen Augen blickten so tröstend.

Nachdem Antje das kleine Mädchen gewaschen hatte, trug sie es in ein Zimmer, in dem die Betten übereinander standen. Verdutzt starrte Sylvia auf die kleinen Leitern, die zu den oberen Schlafgelegenheiten führten. Nur ein Bettchen stand einzeln – hinter einem mit Veilchen bedruckten Wandschirm. Dahinein legte Antje das kleine Mädchen. Jetzt erst merkte Sylvia, wie müde sie war. Das ungewohnte Herumtoben bewirkte, daß sie bereits fest und tief schlief, während ihre Brüder noch ums Haus wirbelten.

Als Antje eine Stunde später ihre gesamte Rasselbande in die Betten geschickt hatte, atmete sie befreit auf. Müde strich sie sich über die Augen und ließ einen Moment die schmalen Schultern hängen, als sei die Last ein bißchen zu schwer, die ihr das Schicksal zu tragen gab.

Die Jungen wurden größer. Immer schwerer wurde es, sie zu bändigen. Immer schmerzlicher wurde es Antje bewußt, daß ihnen der Vater fehlte.

Sie stellte sich vor den Spiegel und betrachtete kritisch ihre Gesichtszüge. Noch fehlten die Fältchen. Nur ein Zug von Einsamkeit lag um den vollen Mund, und die braunen Augen blickten etwas resigniert und melancholisch – wie so oft am Ende eines turbulenten Tages.

Antje streifte ihr Waschkleid ab und begann ihr Haar zu bürsten. Es fiel in sanften Wellen über die Schultern und hatte einen seidigen Schimmer. Dann schlüpfte sie in einen weiten bunten Rock und wählte einen engen, ärmellosen Sommerpulli. Die Haarflut bändigte sie mit einem schwarzen Band.

So schlenderte sie an den Strand, um sich auf eines der Boote zu setzen, die dort lagen, und in die untergehende Sonne zu träumen. Viel zu früh hatte der rotblonde unbekümmerte Riese sie allein gelassen. Er hatte ihr die Welt erobern und zu Füßen legen wollen – und war in den ewigen Fluten des Meeres versunken.

»Klaus!« Sie flüsterte seinen Namen in den Abendwind.

Antje machte sich keine Illusionen. Als Frau mit fünf Kindern fand sie so leicht keinen Mann. Keinen, der auch ihren fünf Kindern ein guter Vater sein würde.

Sie dachte an die einsamen, tränenvollen Nächte, verscheuchte die dunklen Gedanken aber und flüchtete sich in ihre Träume.

Träumen – keines ihrer Kinder hatte diesen Hang geerbt, und sie war im stillen sehr froh darüber gewesen. Doch Rikchen hatte sich heute so seltsam, so ganz anders als sonst verhalten. Sie nahm sich vor, auf ihre kleine Tochter in Zukunft ganz besonders achtzugeben. Denn sie wußte, daß Träumer in dieser erbarmungslosen Welt leicht den Anschluß an die Wirklichkeit verlieren.

*

Britta Ohlsen und Thomas Lauenstein betraten die schummrige Bar an der Strandpromenade.

Gedämpftes Licht, gedämpftes Stimmengemurmel und Paare, die sich mit unbewegten Gesichtern über die Tanzfläche schoben, als machten sie die Welt für ihre grenzenlose Langeweile verantwortlich.

Britta wollte lässig auf einen der hohen Barhocker steigen.

»Bitte, wir wollen uns dort an den freien Tisch in der Ecke setzen.« Thomas umfaßte den Ellenbogen der jungen blonden Frau.

Britta sah ihn enttäuscht an. »Ich nehme es als Kompliment, Thomas, daß du mich ganz für dich allein haben willst.«

Der Mann antwortete nicht.

»Herrlich!« meinte Britta, als sie sich setzte. »Die Bars sind in aller Welt gleich. Deshalb fühle ich mich in der ganzen Welt zu Hause. Ist das nicht wundervoll?«

Sie lehnte sich entspannt zurück und senkte die getuschten Lider.

»Es ist zumindest praktisch«, erwiderte Thomas spöttisch.

»Du bist doch kein Spießbürger, Thomas!« Britta legte ihre Finger mit den rotlackierten Nägeln auf seinen Handrücken.

Der Mann dachte an Schlangen mit roten Köpfen und zuckte zusammen, als sich die Nägel in seine Haut gruben.

»Thomas, du sagst ja gar nichts! Träumst du?«

Der Kellner erschien und enthob Thomas Lauenstein einer Antwort. Er bestellte Sekt mit Campari, und als sie wieder allein waren, begann er vorsichtig: »Britta, ist dir eigentlich noch nie aufgefallen, wie verschieden wir beide im Grunde sind?«

»Natürlich sind wir verschieden!« fiel sie ihm ins Wort. »Das macht ja gerade den Reiz aus!« Ihre Augen glitzerten.

»Ja, weißt du, es ist auch wegen Syl­via!« fuhr er unbeholfen fort. »Mir ist erst heute klargeworden…«

»Ach, reden wir doch nicht mehr von dem lächerlichen Vorfall!« Eine kleine Unmutsfalte erschien auf Brittas Stirn, verschwand aber gleich wieder. »Kleine Unannehmlichkeiten mit dem Kind will ich gern in Kauf nehmen.«

»Weißt du, Britta, ich mag dich sehr – aber vielleicht sollten wir doch nicht heiraten!« Thomas atmete auf. Jetzt war heraus, was ihm auf der Zunge brannte.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde verfinsterte sich ihr Gesicht. Ihre Eis­augen wurden schmal. Dann beschloß Britta, den Satz einfach mißzuverstehen.

»Warten wir doch in Ruhe ab, Thomas, Liebster. Es sei denn…« Sie legte eine effektvolle Pause ein.

Thomas blickte sie fragend an.

»Es sei denn«, fuhr Britta Ohlsen fort, »es ist dir eine andere Frau über den Weg gelaufen – eine, die dich mehr fasziniert als ich.«

Sie beugte sich zu ihm, und ihr verschleierter Blick flirrte geheimnisvoll lockend und vielversprechend.

»Aber nein, Britta! Wo denkst du hin.« Thomas hob ihre Fingerspitzen an seine Lippen. »Du weißt genau, daß es seit dem Tod meiner Frau keine andere in meinem Leben gegeben hat – nur dich.«

Britta entblößte ihre ebenmäßigen Zähne. »Mich hätte es auch nicht gegeben, wenn ich dir nicht so hartnäckig auf den Pelz gerückt wäre, du Einsiedler.« Ein lauernder Blick schoß unter den Wimpern hervor. Mit großer Befriedigung stellte Britta fest, daß Thomas völlig unbefangen war. Immerhin – sein Warnschuß vor den Bug hatte ihr deutlich gemacht, daß sie ihre Taktik ändern mußte, wenn sie diesen faszinierenden Mann einfangen wollte. Sie mußte nun endlich zum Frontalangriff übergehen! Das kleine Biest, diese Syl­via, sollte ihre Pläne nicht durchkreuzen – das wäre ja noch schöner!

Eine einschmeichelnde Melodie erklang.

»Bitte, Thomas, ich möchte tanzen.« Ihre Stimme hatte ein dunkles Timbre, und ihre Augen mit den großen schwarzen Pupillen schimmerten wie nächtliche Bergseen.

Thomas erhob sich sofort. Während sie zu der kleinen Tanzfläche schritten, registrierte er aus den Augenwinkeln, daß viele Männerblicke dieser Frau bewundernd folgten.

Weich und willig schmiegte sich Britta beim Tanzen in seine Arme. Ein betörender Duft stieg aus ihren im Kerzenlicht goldschimmernden Haaren, und ihre nackte Haut weckte Wünsche in dem einsamen Mann – wie Britta es beabsichtigt hatte.

Thomas vergaß alle Bedenken und Vorsätze und gab sich ganz dem Reiz des Augenblicks hin.

Britta war ein kostbares Juwel, ganz dazu angetan, das Selbstgefühl eines Mannes erheblich zu stärken.

*

Rikchen erwachte mitten in der Nacht. Sie lauschte in die Dunkelheit. Alles war so beängstigend still.

Plötzlich berührte ihre Hand etwas Zotteliges.

Sie erschrak heftig, aber dann erinnerte sie sich an den Teddybären, und mit einem Schlag saß das kleine Mädchen hellwach im Bett.

Sie war ja gar nicht zu Hause!

Ein beklemmendes Gefühl kroch durch die Finsternis auf Rikchen zu, und die große Einsamkeit griff nach dem kleinen Mädchen.

Es stieg aus dem Bett und huschte zur Tür. Der Boden war so weich wie Flaumfedern.

Unvermittelt blendete sie ein starkes Licht. Autoscheinwerfer! Rikchen hob den Unterarm vor die Augen. Sie hörte, daß der Wagen stoppte. Plötzlich erinnerte sie sich an Männer, die kleine Kinder entführten. Ihre Mami hatte ihr strikt verboten, in fremde Autos zu steigen. Schnell setzte sie sich in Bewegung und floh. Doch schon wenige Sekunden später wurde sie gepackt und eisern festgehalten.

Rikchen schrie gellend auf.

»Na hör mal, Sylvia«, vernahm sie eine vertraute Stimme. »Das sind ja ganz neue Geschichten, die du da anstellst!«

Zaghaft hob Rikchen den Kopf und blickte in das erschrockene Gesicht des Mannes.

»Ach, du bist es«, sagte sie gedehnt, und gleichzeitig fiel mit Gepolter ein Felsbrocken von ihrem kleinen Herzen.

»Das hattest du wohl nicht erwartet! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Wohin wolltest du denn?« fragte Thomas Lauenstein fassungslos. »Im Nachthemd und auf bloßen Füßen!«

»Ich will nach Hause!« jammerte das kleine Mädchen.

Thomas stutzte. »Ach so, du meinst sicher unser früheres Zuhause! Aber Kind, ich habe dir doch erklärt, daß wir jetzt hier wohnen. Gefällt dir denn unser neues Zuhause nicht?«

»Ich schlage vor, ihr konferiert hier im Wagen weiter!« ertönte in diesem Moment eine spöttische Frauenstimme.

»Ja, natürlich.« Thomas hob das Kind auf und trug es zum Auto. »Komm, sei ein braver Schatz, Sylvia. Wahrscheinlich hast du schlecht geträumt.«

»Mir scheint eher«, mischte sich Britta spöttisch lächelnd ein, »deine Tochter gestattet sich in zunehmendem Maße Extravaganzen!«

»Ich bringe dich erst einmal zu deinem Hotel, Britta«, erwiderte Thomas knapp.

»Hatten wir nicht vor, noch eine Tasse Kaffee bei dir zu trinken?« Sie hob herausfordernd den Kopf. Ihre Augen sprühten.

»Nein, ich möchte Sylvia heute nicht noch einmal allein lassen. Und das müßte ich zwangsläufig, wenn ich dich später ins Hotel bringen wollte.« Er sprach sehr bestimmt. Britta biß sich auf die Lippen. Sie wußte, daß es im Moment vernünftiger und taktisch klüger war, keine bissige Bemerkung zu machen.

Es war immer wieder dieses Kind, das ihre Pläne durchkreuzte!

*

Sylvia wurde von all den vielen aufregenden Ereignissen des folgenden Tages einfach mitgerissen und überrollt. Das turbulente Leben in der kinderreichen Familie war für sie so neu, und sie fand es so herrlich, daß ihr zum Nachdenken überhaupt keine Zeit blieb.

Sie hatten gerade in den Dünen eine Räuberburg mit hohem Sandwall geschaufelt, als Tim wutschnaubend auftauchte. Er hielt ein Schreibheft in der Hand.

»Fritz, du bist ein gemeines Aas!« schrie er krebsrot und steckte ihr das mit Tinte völlig verschmierte Schreibheft entgegen. Er hatte gerade das erste Schuljahr hinter sich gebracht und war stolz auf seine Glanzleistung. Für die Sauberkeit seiner Hefte hatte ihn die Lehrerin extra gelobt – und nun das!

»Oh!« machte Sylvia erschrocken und hielt ihre Hand vor den Mund.

»Tu nicht so scheinheilig! Diese Schweinerei hast du gemacht!« schrie Tim und schlug ihr das Heft um die Ohren.

Sylvia war völlig verdattert. Entsetzt starrte sie den Jungen an, der jetzt vom Sandwall aus auf sie sprang und sie zu Boden warf. Sie wußte sich nicht anders zu wehren, als lauthals um Hilfe zu rufen.

Schon nach wenigen Sekunden war Antje Sanders zur Stelle. Sie packte ihren Sprößling am Kragen. »Schämst du dich nicht?«

»Nein!« schrie Tim. »Guck dir mal das Heft an!«

Antje ließ den Jungen los und griff nach dem Schulheft, das im Sand lag. Kein Zweifel – das war Rikchens Werk. Spontan verpaßte Antje dem kleinen Mädchen eine Ohrfeige.

»Aber ich hab doch gar nicht…« Syl­via preßte ihre Hand an die brennende Wange und kämpfte mit den Tränen.

»… nicht gewollt, natürlich nicht!« vollendete Antje Sanders den Satz. »Aber ich habe dir verboten, überhaupt an die Schulhefte der Jungens zu gehen! Tinte hat auf dich ja eine magische Anziehungskraft, aber wenn du noch einmal damit herumschmierst, passiert etwas, darauf kannst du dich gefaßt machen!« schnaubte die junge Frau, drehte sich abrupt um und eilte zum Haus zurück.

Niemand hatte auf die blonde Badenixe geachtet, die etwa hundert Schritt entfernt im Sand lag und das Geschehen interessiert verfolgte. –

Sylvia verzog sich mit hängendem Kopf zu den Kaninchenställen und suchte bei den sanften Tieren Trost für die ungerechte Behandlung. Ihr war klar, daß sie eine Ohrfeige eingesteckt hatte, die eigentlich »Fritz« zugedacht war. Zum erstenmal ging ihr ein Licht auf, daß die vertauschten Rollen auch ihre Schattenseiten hatten, und so etwas wie Heimweh beschlich sie.

Sylvia beschloß, etwas zu unternehmen.

Sie setzte sich auf die Haustürschwelle, in der Hoffnung, daß der Zorn ihrer ausgeliehenen Mami inzwischen verraucht war. Als Antje wenig später die Haustür öffnete, stutzte sie. »Nanu, du siehst ja immer noch völlig verstört aus, Kind. Früher hast du dir solch ein Donnerwetter doch immer abgeschüttelt wie ein Hund einen Gewitterschauer.«

Zu ihrem Entsetzen sah die junge Frau, daß die braunen Augen des kleinen Mädchens sich mit Tränen füllten. »Aber Rikchen!« Antje hockte sich nieder und legte den Arm um das Kind. »Kannst du denn nicht einsehen, daß Mami böse werden muß, wenn…«

»Du bist ja gar nicht meine Mami!« Sylvia unterdrückte krampfhaft ein Schluchzen.

»Kind, so etwas mußt du nicht sagen! Wärst du ein bißchen vernünftiger, brauchte ich dich nicht zu schelten. Kannst du das nicht verstehen, Rik­chen?« Sie schüttelte das kleine Mädchen, das sie so sonderbar anschaute. »Du träumst ja – wach doch auf!«

»Ich bin gar nicht Rikchen. Ich heiße Sylvia, und mein Papi wohnt in einem großen weißen Haus«, erklärte das kleine Mädchen ernst und nachdrücklich.

»Ach, du liebe Güte – da haben wir den Salat! Du spinnst ja noch lebhafter als deine Mutter.« Antje strich über das lockige Haar des Kindes. »Weißt du, mein Kleines, Märchen sind sehr schön, aber man darf sie auf keinen Fall mit der Wirklichkeit verwechseln.«

»Aber es ist wahr, was ich gesagt habe, wirklich wahr!«

»Komm, hilf mir ein bißchen in der Küche, dann kommst du auf andere Gedanken«, seufzte Antje. »Wir singen zusammen ein paar hübsche Lieder, dann hast du keine Langeweile.«

Sie begann zu trällern: »Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh… – Warum singst du denn nicht mit, Rikchen?«

»Ich kann das nicht!« erwiderte Syl­via kläglich.

»Ach so, du bist ja nicht mein Rik­chen! Welche Lieder kann denn Sylvia?« ging Antje auf die vermeintlichen Phantasien des kleinen Mädchens ein.

Jetzt verstand Sylvia überhaupt nichts mehr.

»Kannst du mich denn auch leiden, wenn ich nicht Rikchen bin?« erkundigte sie sich zaghaft.

Antje hob das Kind ungestüm zu sich empor und küßte es herzhaft. »Und ob ich dich leiden kann, du kleine Schafsnase! Und wenn du die Pechmarie wärst – ich würde dich immer mögen! – So, und nun nimm dir ein Handtuch und trockne das Geschirr ab. Vielleicht fällt dir dabei ein Liedchen ein, das du singen kannst. Denk mal nach.«

Sylvia wurde es ganz warm ums Herz. So eine Mami war doch was Feines!

Sie griff nach dem Tisch, und ihr fiel ein Lied ein, das ihr das Kindermädchen beigebracht hatte. »Alle meine Entchen…«

Antje fiel lautstark mit ein, und sie lachten sich an, als habe es nie eine Verstimmung gegeben.

*

Wieder war ein Tag zu Ende, und in der »Villa Sandfloh«, wie Antje das Häuschen scherzhaft nannte – herrschte endlich Ruhe.

Antje machte sich frisch und zog ihre Feierabendkleider an, einen weiten roten Rock und eine weiße Bluse mit weitem Ausschnitt, ihr »Gänseliesl-Kostüm«, wie sie es in Gedanken bezeichnete. Sie wirkte darin unwahrscheinlich jung. Um diesen Eindruck noch zu unterstreichen, teilte sie ihr langes dunkles Haar und band zwei rote Schleifen hinter die Ohren. Sie schnitt sich im Spiegel eine Grimasse und verdrängte die Gewissensbisse, die sich bemerkbar machten, denn eigentlich müßte sie dringend die Sachen der Rasselbande ausbessern.

Später! Erst einmal ein bißchen Ruhe tanken.

Antje ging hinaus, setzte sich auf den Kamm der großen Düne, schlang die Arme um die angewinkelten Knie, schloß die Augen und ließ ihr Gesicht vom Seewind streicheln.

Herrlich, diese Stille! Man hörte nicht nur das Meer, sondern auch das eigene Blut in den Ohren rauschen. Die Haut prickelte, wie sich Antje ein Sektbad vorstellte.

Dieses prickelnde Gefühl verstärkte sich plötzlich, und als die junge Frau die Augen öffnete, entdeckte sie am Strand den Mann, der auf sie zueilte.

Jochen! – Sie kannte ihn seit frühester Jugend, und schon als Kind hatte er ihre Phantasie beschäftigt. Wie seine blauen Augen blitzten! Mit welch selbstsicheren, ausholenden Schritten er sich bewegte! Er reckte das Kinn, unternehmungslustig, und die schmale Hakennase verlieh seinem Profil etwas Kühnes. Ein starkes blondes Raubtier der Meere! Antjes Herz begann zu klopfen, als sei sie eine Siebzehnjährige beim ersten Rendezvous.

»Sieh da! Die Wellen haben Jochen Sturm wieder einmal angeschwemmt! Welch ein Glanz für unser kleines Eiland!« begrüßte sie ihn.

»Antje, ich traue meinen Augen nicht! Du wirst immer jünger!«

Er faßte sie bei den Händen, zog sie empor und küßte sie auf den Mund, als wäre es die selbstverständlichste Begrüßungsgeste der Welt.

Antje erfaßte ein Schwindel. Unwillkürlich klammerte sie sich an den Mann und spürte seine harten Muskeln. Doch eine Sekunde nur, dann hatte sie ihre Fassung wiedergefunden. »Na, hör mal! Du tust ja, als wären wir beide verwandt! Oder haben Vagabunden Sonderrechte?«

Jochen Sturm lachte, und seine weißen kräftigen Zähne blitzten. »Vagabunden nehmen sich ihre Rechte einfach, Antje!«

»Und das geht immer so gut?«

»Meistens! Du hast ja auch stillgehalten! Schließlich konntest du einem alten Verehrer nach vier Jahren der Trennung nicht den Willkommensgruß verweigern!«

Jochen Sturm ließ sich in den Sand sinken und zog Antje neben sich.

»Vier Jahre lang hast du dich also wieder in der weiten Welt herumgetrieben, Jochen. Und wie lange wirst du diesmal bleiben?« Antje fühlte verwirrt, daß er keinen Blick von ihr ließ.

»Wenn du willst, Antje, dann für immer! Ich wäre letztes Mal schon vor Anker gegangen, wenn du nur gewollt hättest – das weißt du.«

»Ach, Jochen, fang doch nicht schon wieder damit an.« Vergeblich bemühte sich Antje, ihrer Stimme einen energischen Klang zu geben.

»Damals konnte ich dich übrigens verstehen, Antje. Es war noch nicht lange her, seit du deinen Klaus verloren hattest. Die Wunde war wohl noch zu frisch. Aber heute? Antje, bist du noch frei? Sag um Himmels willen nicht nein, ich wüßte nicht…«

Ein kleines, bitteres Lächeln zuckte um ihre Lippen. »Keine Angst, eine Frau mit fünf Kindern ist auf dem Heiratsmarkt keine begehrte Ware. Ich habe mir nämlich immer gesagt, daß der betreffende Mann vor allem ein guter Vater für meine Kinder sein müßte – weißt du?«

»Na klar, Antje! Hast du da bei mir etwa Bedenken?« Empört blickte Jochen sie an.

»Allerdings«, erwiderte sie trocken. »Du und meine Jungs – da hätte ich ja das Gefühl, den Bock zum Gärtner zu machen!«

Jochen ergriff ihre Hände und drückte sie zärtlich. »Du tust mir unrecht, Antje – Mädchen! Hättest du schon vor elf Jahren den Mut gehabt, mich zu heiraten – damals, als du dich für Klaus entschieden hast…«

Antje senkte hastig die Lider, um ihre Erregung zu verbergen. »Und dann, Jochen? Alle Jubeljahre hättest du dich vielleicht daran erinnert, daß da irgendwo auf der Insel eine Frau sitzt, die sich in Sehnsucht nach dir verzehrt. Alle paar Jahre hätte ich gemerkt, daß ich verheiratet bin.«

»Dein Klaus war doch auch Seemann, Antje.«

»Er war Seemann, ja. Aber er fuhr auf einem Küstenmotorschiff und war oft bei mir. Du aber bist ein Vagabund. Ich hätte damit rechnen müssen, daß du mich eines Tages einfach vergißt. Nein, Jochen! So viel Kraft hat keine Frau. Man muß wenigstens das Gefühl haben, daß der Mann weiß, wo er hingehört.«

»Warum hast du mir das nicht schon damals gesagt, Antje? Dir zuliebe hätte ich auch auf einem Küstenmotorschiff angeheuert – oder ich wäre sogar an Land geblieben! Das kannst du mir glauben!«

Antje schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Jochen. Du wärst dir vorgekommen wie ein Vogel, dem man die Flügel beschnitten hat. Dein stummer Vorwurf hätte mich rasend gemacht.«

»Dann hätte ich dich eben mitgenommen! Mein Gott, mit dir durch die Welt zu ziehen und ihre Wunder erleben!«

Antje fühlte einen kleinen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Seine Worte rissen eine Wunde in ihre Seele.

Fernweh… Oft hatte sie sich gewünscht, hinauszuziehen in die weite Welt.

»Aber wie lange wäre das gutgegangen«, sagte sie mit einem schmerzlichen Lächeln. »Schließlich wäre doch ein Kind dagewesen. Wer baut dann das Nest? Die Frau! Man müßte an die Zukunft des kleinen Wesens denken, man könnte nicht in den Tag hineinleben. Reichtümer hast du sicher nicht gesammelt, Jochen Sturm.«

Sie malte gedankenverloren Herzen in den Sand.

»Nein, ich habe keine Reichtümer gesammelt!

Aber mit dir zusammen würde ich ein anderes Leben anfangen – das ist doch klar. Wir beide zusammen, wir würden es schaffen! – Antje, warum willst du allein leben?« fragte Jochen sehr eindringlich.

Die junge Frau sah ihn ruhig aus. »Aus der Einsamkeit heraus macht man die größten Fehler, Jochen. Aber einen Fehler kann ich mir heute nicht mehr leisten – wegen der Kinder, weißt du?«

Sie wischte die Herzen mit einer ener­gischen Bewegung aus. »Ich bin nämlich davon überzeugt, daß meine Kinder an ihrem neuen Vater nur sehr kurze Zeit ihre Freude haben würden!«

»Aber, Antje!« fiel er ihr ins Wort. Seine Stimme klang vorwurfsvoll.

»Laß nur, Jochen. Die Unrast steckt dir im Blut – das kann keiner so gut verstehen wie ich. Eines Tages würdest du wieder auf und davon gehen. Aus dieser Erkenntnis habe ich meine Konsequenzen gezogen.«

»Du hast viel zu früh geheiratet«, sagte er unvermittelt. »Wie alt warst du? Siebzehn?«

»Achtzehn. Es ist jetzt fast elf Jahre her. Nein, Jochen, ich tauge nicht mehr für ein Abenteuer. Und ein Abenteuer wäre es mit dir auf jeden Fall!«

»Wenn man dich so ansieht, könnte man glauben, die Zeit wäre stehengeblieben.«

Jochens Blicke jagten Antje eine heiße Röte in die Wangen.

»Schließlich ist jede Ehe ein Abenteuer«, philosophierte der Mann. »Die ganze Welt ist ein Abenteuer, denn wir gehen jeden Augenblick ins Ungewisse.«

»Du hast recht, Jochen. Aber gerade deshalb muß man versuchen, Ruhe in sein Leben zu bringen. Man kann es nicht dem Zufall überlassen. Wenn man Kinder hat, schon gar nicht! Kinder brauchen Nestwärme.«

»Ich glaube, ich habe dich viel zu jäh überfallen. Als ich dich so sitzen sah, meinte ich: Jetzt darfst du keinen Augenblick mehr zögern, Jochen Sturm! Ich hatte Angst, jemand könnte mir zuvorgekommen sein oder noch zuvorkommen. Aber ich kann auch warten, Antje. Ich habe Zeit. Vielleicht ist es besser, wenn ich dich für heute allein lasse. Du sollst nicht das Gefühl haben, daß ich dich überrumpeln will.«

Er erhob sich. Groß und hinreißend in seiner Selbstsicherheit stand er vor ihr. »Bis bald, Antje. Ich komme wieder, bis du mich für immer fortschickst. Es liegt an dir, ob ich vor Anker gehe – denk daran.« Er beugte sich nieder, drückte ihre Hand zärtlich und ging davon, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Ja, so war er! Antje zweifelte nicht daran, daß er seine Worte im Augenblick ehrlich meinte. Aber wenn sie darauf hereinfiel, würde der Tage nicht lange auf sich warten lassen, an dem Jochen Sturm, genauso wie jetzt, davoneilte, ohne sich umzudrehen, aber endgültig auf die Planken eines Schiffes, das ihn hinaustrug, vielleicht für viele Jahre.

Antjes Herzschlag hatte sich wieder normalisiert.

Plötzlich drangen Stimmen in ihr Bewußtsein. Sie entdeckte einen Mann und eine blonde Frau, die am Wasser entlangschlenderten.

Deutlich vernahm Antje die Worte einer hellen weiblichen Stimme:

»Ach, sieh mal, Thomas, dort oben auf der Düne sitzt dieses Mädchen, das deine Tochter heute geohrfeigt hat.«

Der Mann dämpfte seine Stimme, als er antwortete, trotzdem konnte Antje ihn verstehen:

»Aus welchem Grund sollte sie es denn getan haben? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen!«

»Aber ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen! Ich lag nicht weit entfernt im Sand. Deine Tochter spielte in einer Burg. Plötzlich stürzte sich ein rothaariger Bengel schreiend auf die Kleine. Wenig später tauchte sie auf…« Britta reckte ihr Kinn in die Richtung, in der Antje Sanders saß. »Aber anstatt den Lausebengel zur Räson zu bringen, versetzte sie deiner Tochter eine saftige Ohrfeige. Du solltest sie zur Rede stellen, Thomas.«

In Antje, die zunächst gar nicht begriffen hatte, daß sie gemeint war, stieg allmählich der Zorn auf. Was erlaubte sich diese angeschmierte Ziege, die aussah, als wäre sie dem Schaufenster eines Modehauses entsprungen?

Antje erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und näherte sich dem Paar zielsicher. Sie stemmte die rechte Hand in die Hüfte und nahm mit herausfordernder, ein wenig spöttischer Miene ihre Kampfstellung ein.

Das ging ein bißchen zu weit – fand Thomas.

»Hören Sie, mein Fräulein«, begann er, »ich muß mir doch energisch verbitten, daß Sie meine kleine Tochter schlagen. Sollte sie etwas Unrechtes getan haben, hätten Sie sich mit mir in Verbindung setzen können. Die Strafung meines Kindes möchte ich mir nämlich selbst vorbehalten. Merken Sie sich das bitte ein für allemal!«

Der Gesichtsausdruck der Dunkelhaarigen reizte Thomas Lauenstein. Deshalb war er schärfer geworden als eigentlich beabsichtigt.

Antje hob die Nase noch ein Stück höher und erwiderte: »Ich bin kein Fräulein – und das Ihre schon gar nicht! Ich kenne Ihre Tochter nicht und bin auch nicht interessiert, dieses Prachtexemplar kennenzulernen, das sicher ein Ausbund an Tugend ist und gewiß nie die Schuld hat, wenn ein Streit aufkommt!«

»Dann lassen Sie das Kind gefälligst in Ruhe, wenn es hier am Strand spielt!« fuhr der Mann sie an.

»Das Versprechen gebe ich Ihnen gern«, erwiderte Antje spöttisch. »Ich habe an meinen eigenen fünf Kindern gerade genug und bin nicht scharf darauf, anderer Leute Kinder zu erziehen. Im übrigen kann ich Ihnen versichern, daß mir kein fremdes Kind unter die Finger gekommen ist.«

Thomas musterte seine blonde Begleitung irritiert.

»Aber, Thomas!« girrte Britta. »Es ist doch klar, daß sie alles abstreitet! Du mußt mir glauben – ich habe die empörende Szene genau beobachtet!«

»Schenken Sie Ihrer Liebsten einen Operngucker, wenn sie aus Eitelkeit keine Brille tragen mag! Die kleine Ausgabe würde Ihnen peinliche Situationen wie diese ersparen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen amüsanten Abend!« Antje drehte sich auf dem Absatz um und strebte mit schnellen Schritten dem Haus hinter den Dünen zu.

Die Stimmung war ihr völlig vermiest worden. Diese eingebildete Ziege!

*

Thomas Lauenstein hatte der dunkelhaarigen jungen Frau mit dem wippenden roten Rock so lange nachgestarrt, bis sie verschwunden war.

Sein Augenausdruck hatte sich so deutlich von Zorn in Bewunderung verwandelt, daß in Britta eine Alarmglocke anschlug.

»Sieht aus wie eine Gänsemagd – aber frech wie die Zigeuner!« meinte sie verächtlich.

Thomas wandte ihr das Gesicht zu. Sein Blick schien von weither zu kommen, und um seine Nase lag, wie Britta fand, ein Zug von Mondsüchtigkeit.

»Wahrscheinlich hast du dich geirrt, Britta«, sagte er gedankenverloren. »Sicher war es gar nicht Sylvia. Die ganze Angelegenheit ist mir wirklich äußerst peinlich.«

»Du liebe Güte, was ist denn daran peinlich! Du wirst diese Frau wahrscheinlich nie wieder zu Gesicht bekommen! Und wenn – solche Geschöpfe zählen doch gar nicht!«

Die letzten Worte spie sie förmlich aus. Eifersucht zuckte in ihr wie eine hell lodernde Flamme.

»Ich bitte dich, Britta! Außerdem kennst du doch die Verhältnisse der Frau gar nicht!« entgegnete Thomas ärgerlich.

»Ich bin auch nicht neugierig, sie kennenzulernen«, meinte Britta hart und gehässig.

»Britta, bitte! Ich mag es nicht, wenn man so über einen Menschen redet, den man noch dazu überhaupt nicht kennt!« fuhr Thomas seine Begleiterin an. »Ich werde Sylvia fragen, was geschehen ist, und falls du dich geirrt hast, werde ich mich in aller Form bei dieser Frau entschuldigen.«

Da haben wir den Salat! dachte Britta. Sie schluckte ein paarmal und zwang sich zur Ruhe, um die Taktik zu wechseln.

»Lieber Thomas, ich verfüge über eine genügende Portion Menschenkenntnis, und ich weiß auch über solche Weibchen Bescheid. Offensichtlich bist du auf ihr niedliches Lärvchen hereingefallen!«

Thomas sah sie böse an. »Du irrst dich heute, wie mir scheint, am laufenden Band, liebe Britta.«

»Na, hoffentlich!« erwiderte sie hastig.

»Und nun wollen wir das Thema beenden.« Thomas beschleunigte seine Schritte. Er verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, auch den Spaziergang zu beenden.

*

Am nächsten Morgen nahm Thomas sich seine Tochter vor.

»Sag mal, Sylvia, warst du gestern am Strand?«

»Nein. Ist das weit? Kann man da zu Fuß hingehen?« erkundigte sich Rik­chen hellhörig.

»Sicher kann man das, aber ich würde es dir nicht raten. Du warst also tatsächlich nicht am Strand? Tante Britta sagte nämlich, sie habe gesehen, daß du mit einem rothaarigen Bengel Streit hattest. Daraufhin sei eine Frau gekommen und habe dir eine Ohrfeige gegeben.«

»Hatte der Junge eine Stupsnase und Sommersprossen?« fragte Rik­chen plötzlich sehr interessiert.

»Das weiß ich nicht. Kennst du den Jungen etwa?«

»Nööö – aber ich habe ihn, glaube ich, gesehen, als wir beide zusammen am Strand waren«, erwiderte sie gedehnt.

Es erschien ihr nicht ratsam, gerade in diesem Moment ihre Herkunft preiszugeben, denn sie erinnerte sich sofort an ihre herrlichen Tintenklecksereien im Schreibheft ihres Bruders.

»Du hast dich also nicht mit dem rot­haarigen Lümmel gebalgt?« vergewisserte sich Thomas noch einmal. »Und du hast keine Ohrfeige bekommen? Bitte, sag mir die Wahrheit, es ist sehr wichtig!«

»Bestimmt nicht, Papi! Ich war nicht am Strand gestern!« beteuerte das kleine Mädchen wahrheitsgemäß. Die Anrede »Papi« war ihm inzwischen schon geläufig.

Thomas nickte sehr befriedigt.

»Ich konnte es mir auch gar nicht vorstellen«, murmelte er geistesabwesend. »Ich werde mich also heute abend bei der Frau entschuldigen müssen.«

»Hast du denn mit der Frau geschimpft?« Rikchen sah ihn aus großen braunen Augen vorwurfsvoll an.

»Ja, denn Tante Britta behauptete steif und fest, die Frau habe dir eine Ohrfeige gegeben.«

»Hatte die Frau lange dunkelbraune Haare und braune Augen?«

»Ja. Und einen roten Rock und eine weiße Bluse. Kennst du die Frau?«

Rikchen überhörte die Frage.

»Findest du sie hübsch?« erkundigte sie sich interessiert.

Thomas geriet fast in Verlegenheit. »Frauen mit roten Röcken sind meistens hübsch, du Naseweis. – So, und jetzt geh’ spielen.«

Die Stunden dieses Tages dehnten sich für Thomas wie Gummibänder. Immer wieder blickte er ungeduldig auf seine Uhr.

Endlich konnte er mit seiner kleinen Tochter zu Abend essen und das Kind ins Bett bringen – eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Doch Rikchen trödelte heute besonders herum. Sie überlegte, ob sie versuchen sollte, sich ins Auto zu schmuggeln. Ihr war klar, daß der »Papi« zu ihrer Mami fahren wollte, um sich zu entschuldigen. Aber da der »Papi« ihr versichert hatte, sie könne zu Fuß zum Strand gehen, hatte sie es plötzlich gar nicht mehr eilig, nach Hause zu kommen. Sie konnte ja jederzeit abhauen!

Als sie endlich im Bett lag und Thomas ihr »Gute Nacht« wünschte, fragte sie: »Gehst du jetzt zu der Frau mit dem roten Rock?«

»Ja. Man muß sich doch entschuldigen, wenn man etwas Unrechtes getan hat, oder?«

Rikchen nickte zögernd, denn sie entschuldigte sich gar nicht gern.

Als Rikchen die Haustür klappern hörte, schwang sie sich munter aus dem Bett. Sie war noch kein bißchen müde! Auf nackten Sohlen tappte sie in das Zimmer, in dem der Papi immer arbeitete. Der riesige Schreibtisch mit den vielen Zetteln, das Telefon und ganz besonders das Schreibzeug interessierten sie ungemein.

Sie kniete sich auf den gewichtigen Schreibtischsessel und griff nach dem schweren silbernen Kugelschreiber. Mit Hingebung und Sorgfalt begann sie, Männchen und Figuren auf wichtige Geschäftsunterlagen zu malen.

Plötzlich klingelte das Telefon. Rik­chen zuckte erschreckt zusammen. Unangenehm, wie das in den Ohren schrillte, und es hörte und hörte nicht auf. Schließlich nahm sie den Hörer ab und preßte ihn ans Ohr.

»Ach, Thomas, endlich!« hörte sie eine quäkende Stimme. »Mir ist etwas Unerhörtes passiert! Ich muß für eine Weile zu dir kommen. In diesem skandalösen Hotel kann ich nicht mehr bleiben, nicht eine Nacht. Ich werde dir alles erklären! Bis gleich, ja?«

Knack!

Rikchen hatte inzwischen begriffen, daß es Tante Britta gewesen war, die so gequäkt hatte. Papi würde sich freuen, daß er gerade nicht zu Hause war! Rik­chen hatte das deutliche Gefühl, daß auch er Tante Britta nicht besonders leiden konnte.

Unverdrossen malte das kleine Mädchen weiter, aber lange dauerte die Freude nicht. Rikchen hatte gerade das herrlich große Tintenfaß entdeckt, als sie zu ihrem tiefsten Bedauern gestört wurde.

Sie hörte Schritte. Jemand riß schwungvoll die Tür auf. Auf der Schwelle stand mit ausgebreiteten Armen Tante Britta. »Thom…« Sie stockte mitten im Namen. »Nanu, wo ist denn dein Vater?«

»Weg!« war die erschöpfende Auskunft. Rikchen rutschte vom Sessel. Für heute war der Spaß zu Ende. Sie knüllte seelenruhig all die bemalten Zettel zusammen und warf sie in den Papierkorb.

»Wie bitte?« kreischte Britta empört. Rikchen zuckte ordentlich zusammen. »Ich habe doch angerufen und ihm gesagt, daß ich komme! Das ist ja die Höhe!«

»Da war Papi schon längst weg«, erklärte Rikchen trocken und beendete ihre Aufräumungsarbeit, denn sie war von ihrer Mami dazu erwogen worden, stets alles wegzupacken, wenn man es nicht mehr brauchte.

»Ja, aber wer war denn am Telefon?« fragte Britta maßlos verblüfft.

»Ich.«

»Na hör mal! Warum hast du das nicht gesagt!« schnaubte die junge Frau wütend.

»Du hast mich ja nicht gefragt«, sagte Rikchen und hob ein vorbeigefallenes Blatt auf, um es in den Papierkorb zu werfen.

»Ich bin platt!« Britta ließ sich in den nächststehenden Sessel fallen. »Sag mal, was machst du da eigentlich?«

»Ach, das sind zur alte Zettel«, meinte Rickchen ganz nebenbei. Vorsichtshalber strebte sie unauffällig der Tür zu, denn mit ihren Schreib- und Malerarbeiten hatte sie schon oft Unwillen erregt.

Britta erhob sich, nahm einige der zerknüllten, bekritzelten Papiere aus dem Abfallkorb, strich sie glatt, überflog sie und blickte das Kind mit einem kalten Lächeln an.

»Da wird sich dein Papi aber freuen! Das sind nämlich wichtige Geschäftspapiere!«

»Oooch, ist nicht so schlimm. Ich gehe jetzt ins Bett.« Rikchen wollte sich verdrücken.

»Hiergeblieben, mein Fräulein! Du suchst alle Papiere, die du in den Korb geworfen hast, wieder heraus und

legst sie deinem Vater auf den Schreibtisch.«

Britta packte das kleine Mädchen am Arm und schleifte es energisch zum Papierkorb.

»Warte nur, dein Vater wird ja gleich wieder hier sein!« drohte die blonde junge Frau.

»Papi bleibt bestimmt ganz lange weg!« trumpfte Rikchen auf.

»Woher willst du das wohl wissen!« höhnte Britta.

»Ich weiß das genau! Er ist zu der Frau mit dem roten Rock gegangen!«

Brittas Augen wurden schmal und erinnerten an die böse funkelnden Lichter eines Raubtieres. »Na, wenn schon! Eine Ewigkeit kann das wohl nicht dauern? Bist du es denn nun gewesen, die am Strand die Ohrfeige bezogen hat?«

»Es dauert bestimmt lange, bis der Papi wiederkommt, denn er hat gesagt, die Frau mit einem roten Rock ist sehr hübsch. Er mag sie viel lieber als dich!« Die letzten Worte waren nur eine Vermutung.

»Du dumme Göre!« fuhr Tante Britta auf. »Was nimmst du dir heraus! So etwas kann dein Vater gar nicht gesagt haben! Und schon gar nicht zu dir!«

»Hat er aber!«, behauptete Rikchen stur.

»Wenn du lügst…!« Britta war außer sich. »Übrigens, möchtest du dich nicht dazu bequemen, meine Frage zu beantworten? Hat die Frau dich am Strand geohrfeigt?«

Rikchen schüttelte den Kopf und grinste.

»Du impertinentes Ding! Ich haue dir eine ’runter, wenn du nicht die Wahrheit sagst!«

»Das darfst du gar nicht! Papi hat gesagt, er schickt dich weg, weil er dich nicht leiden kann!« triumphierte Rik­chen.

Klatsch – hatte sie Tante Brittas gepflegte Hand im Gesicht.

»Das sage ich meinem Papi«, erklärte Rikchen trocken. Keine Träne rollte, obwohl die Abdrücke der fünf Finger wie Feuermale auf ihrem Gesichtchen brannten.

Britta schwieg und starrte das Kind erschrocken an.

»Du wirst schon sehen, was du davon hast!« drohte Rikchen.

Plötzlich war Britta wie ausgewechselt. »Aber Kind, das habe ich doch nicht so gemeint«, schmeichelte sie. »Du wirst doch nicht petzen! Ich schenke dir auch was Schönes!«

Rikchen schüttelte den Kopf.

»Was möchtest du haben? Wünsch’ dir etwas von Tante Britta!«

Kopfschütteln

»Komm, ich bringe dich zu Bett und erzähle dir noch eine schöne Geschichte!« lockte sie. »Dann ist alles wieder in Ordnung!«

Rikchen schüttelte den Kopf und ließ die braunen Locken hin und her fliegen. »Ich gehe allein in mein Bett, und deine Geschichten mag ich nicht.«

Im Laufschritt verließ sie das Arbeitszimmer.

In der Diele wäre sie beinahe über die Koffer gefallen, die zahlreich den Weg versperrten. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer. Die Tür klappte nachdrücklich.

*

Thomas Lauenstein stellte seinen Wagen am Straßenrand ab, stieg aus und stapfte eilig durch den losen Dünensand. Er atmete auf, als er den roten Rock von weitem leuchten sah.

Die junge Frau, die ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen war, saß mit abgewandtem Gesicht in einem Fischerboot, das auf den Sand gezogen war. Wie gestern abend hatte sie ihre schwarzbraune Haarflut mit zwei roten Schleifen gebändigt. Nur eine Strähne hatte sich gelöst, und mit ihr spielte übermütig der Seewind.

Die junge Frau wirkte sehr gelöst, und ihr Blick kam aus einer anderen Welt, als sie langsam den Kopf wandte.

Zu Thomas Lauensteins grenzenloser Erleichterung blühte ein Lächeln auf ihren Zügen auf.

»Guten Abend«, sagte er hastig. »Ich bin sehr froh, Sie hier zu treffen. Ich möchte Sie nämlich um Verzeihung bitten. Noch viel glücklicher bin ich, weil Sie mir nicht mehr böse sind!«

Antjes Lächeln vertiefte sich noch. »Woher wollen Sie das denn so genau wissen?«

»So kann man nicht lächeln, wenn man noch Groll im Herzen hegt.«

»Als ich Sie kommen sah, wußte ich schon, daß sich das Mißverständnis aufgeklärt hat.«

»Ja, es war ein bedauerlicher Irrtum. Sie haben also auch eine Tochter im Alter von etwa fünf Jahren?«

»Sie ist meine Jüngste. Außerdem habe ich noch vier Jungen im Alter von sieben bis zehn. Aber bitte, setzen Sie sich doch.« Mit einer einladenden Handbewegung wies Antje auf die gegenüberliegende Bootsbank. »Ein Gespräch über Kinder und ihre Probleme nimmt meist ein bißchen Zeit in Anspruch.«

Thomas verspürte einen leichten Schwindel. Es war, als habe ihm diese Frau ein ganz besonderes Geschenk gemacht.

»Danke. Darf ich mich zunächst einmal vorstellen: Thomas Lauenstein.«

Sie reichte ihm ihre schmale und doch kräftige Hand. Diese Berührung löste Zärtlichkeit und ein heftiges Prickeln in Thomas aus.

»Ich bin Antje Sanders.« Sie entzog ihm die Hand, die er festgehalten hatte, ein wenig zu hastig.

Thomas stieg ins Boot, nahm auf der schmalen harten Bank Platz und setzte das begonnene Gespräch so unbefangen wie möglich fort:

»Unsere Töchter sehen sich auf einige Entfernung sicher ziemlich ähnlich. Warum hat Ihre Kleine denn Dresche bezogen?«

»Dresche? Das ist wohl übertrieben. Ich bin nicht für die Prügelstrafe, aber eine Ohrfeige zur rechten Zeit wirkt oft Wunder. Wenn man den Kindern auch noch den Vater ersetzen muß, greift man schon hin und wieder zu etwas drastischeren Methoden.«

Thomas horchte auf, und sein Herz klopfte ein paar Sekunden lang einen unregelmäßigen Rhythmus. »Sie – sind allein?«

»Ja. Mein Mann war Seemann und kam vor fünf Jahren bei einer Schiffskatastrophe ums Leben, ein paar Monate, bevor die Jüngste geboren wurde.«

Der Blick des Mannes verdunkelte sich. »Es muß schlimm für Sie gewesen sein. – Aber was mir ganz und gar unwahrscheinlich vorkommt… Sie sagten, Ihr Ältester wäre zehn Jahre alt. Dann ist er also Ihr Stiefsohn?«

»Nein, es sind alle meine eigenen.«

»Aber Kinderehen sind bei uns in Deutschland doch gar nicht erlaubt!«

Antje lachte leise. »Sie lassen sich von meiner albernen Frisur täuschen.«

Mit raschen Griffen löste sie die Schleife aus dem Haar und ließ es weich über die Schultern fallen.

»Das verwandelt Sie verblüffend! Doch älter macht es Sie nicht – höchstens fraulicher, weicher.«

In seinen Augen lag ein zärtlicher Ausdruck, der Antje zutiefst beunruhigte.

Dumme Gans! sagte sie lautlos zu sich selbst. Und um augenblicklich Klarheit zu schaffen, fragte sie: »Ihre Begleiterin von gestern abend war sicher eine Freundin der Familie.«

»Nur eine Bekannte.« Es klang ein wenig zu beiläufig aus seinem Mund. Hastig fuhr er fort: »Zu meiner Familie zählen nur meine kleine Tochter und ich. Meine Frau ist verstorben.«

»Ach, dann haben wir ja in gewisser Weise das gleiche Schicksal«, meinte Antje überrascht.

Thomas griff impulsiv nach ihrer schmalen braunen Hand, die so ergeben auf dem roten Rock lag. »Nur in gewisser Weise, denn Sie haben es bedeutend schwerer.«

Um auf ein anderes Thema überzulenken, erkundigte sich Antje: »Sie und Ihre kleine Tochter machen also Ferien hier auf der Insel?«

»Vor fünf Jahren habe ich mich während der Ferien in die Insel verliebt, und vor kurzem habe ich hier ein Haus gekauft.«

»Sie wollen hier tatsächlich ansässig werden? Nun ja, Sie haben sicher auch irgend etwas mit der Schiffahrt zu tun.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie sehen aus wie ein Kapitän auf Urlaub.« Antje ließ einen Blick über seine weiße Hose und das dunkelblaue Polohemd gleiten.

»Falsch getippt. – Sehe ich vielleicht Ihrem verstorbenen Mann ähnlich?« Interessiert musterte Thomas Antjes Mienenspiel.

»Nein, überhaupt nicht! Klaus sah eher aus wie Störtebeker. Das heißt, wie ich mir Störtebeker eben vorstelle – rötlichblond und verwegen.«

»Ich kann die Seeleute gut verstehen. Auch ich liebe das Meer und die Einsamkeit«, bekannte Thomas ohne Pathos. »Und Sie – stammen Sie von der Insel?«

»Ja – aber gerade als Einzelkind leidet man wohl manchmal besonders unter dem Fernweh. Ich kenne die weite große Welt nur aus Büchern und aus meinen Wachträumen, die ich mir gestatte, wenn ich hier allein am Strand sitze. Auf diese Weise habe ich schon die ganze Welt bereist und Abenteuer erlebt, die mich für mein eintöniges Leben entschädigt haben.« Sie lächelte. In ihren Worten war keine Bitterkeit.

Wieder griff Thomas nach ihrer Hand, und sie schien es kaum zu bemerken.

»Wenn meine Kinder nicht schon in den Betten wären, hätte ich Ihnen meine kleine Tochter gern einmal vorgeführt – wegen der witzigen Verwechslung, meine ich.« Antje sagte es nur, um das beredte Schweigen zu zerstören.«

»Durch diese Verwechslung haben wir uns überhaupt erst kennengelernt, und darüber bin ich sehr froh.«

Antje konnte nicht verhindern, daß ihr Herz wie blödsinnig zu galoppieren begann.

Thomas beeilte sich, der jungen Frau die Hand zu reichen, als sie aus dem Boot stieg. »Ich begleite Sie.«

Antje lachte leise. »Ja, bitte. Aber einen Anlauf brauchen wir nicht zu nehmen.«

Thomas blickte sie fragend an.

Sie stiegen die Düne hinauf, und Antje wies auf das kleine braune Holzhaus, das sich hinter die Sandhügel zu ducken schien.

»Da ist unsere Villa, Herr Lauenstein.«

»Das Häuschen liegt ja sehr idyllisch, und für die Kinder ist es sicher ein Paradies, aber ist es nicht ein bißchen klein? Man hat das Gefühl, es kneift unter den Armen«, lächelte Thomas.

»Es ist eine Zauberschachtel! Anders kann ich mir gar nicht erklären, daß wir damit auskommen. Ich bin nur froh, daß sich das Leben der Kinder hauptsächlich im Freien abspielt. Sie sind sehr wetterfest.«

Langsam schlendernd näherten sie sich dem winzigen Haus. Hinter dem grünen Lattenzaun des Vorgärtchens behaupteten sich ein paar Ginsterbüsche gegen den Sand.

»Sie sind eine bewunderungswürdige Frau«, sagte Thomas und zog ihre Hand an seine Lippen.

Ein heißer Strom schoß Antje zum Herzen. Sie rettete sich in einen burschikosen Tonfall: »Ach was! Unproduktiver Ehrgeiz! Danke für die Begleitung, und einen guten Abend noch, Herr Lauenstein.« Mit raschen Schritten strebte sie der Haustür zu, hob noch einmal die Hand zum Gruß und verschwand im Innern der »Zauberschachtel«.

*

Als Thomas sein Haus betrat, blickte er verblüfft auf die Koffer. Er blieb vor dem Gepäckberg stehen und runzelte die Stirn. Im nächsten Augenblick erschien Britta auf der Bildfläche.

»Gut, daß du endlich da bist, Thomas! Ich habe mich fürchterlich geärgert! Diese Leute im Hotel wissen ja wohl nicht, wen sie vor sich haben! Da war so ein Kerl…« Sie unterbrach sich abrupt. »Ach, warum soll ich dich mit solchen Banalitäten langweilten? Jedenfalls habe ich meine Koffer gepackt, und nun bin ich da!«

Thomas starrte sie verständnislos an. »Ich will mich natürlich nicht aufdrängen, aber wäre es vielleicht nicht ganz praktisch für uns alle?« Sie bedachte den Mann mit einem koketten Augenaufschlag. »Vor allem könnte ich mich endlich einmal intensiver mit der Kleinen befassen.«

»Ja, weißt du…«, sagte Thomas gedehnt.

»Hast du etwa moralische Bedenken? – Aber nein! So kleinkariert denkt ein Thomas Lauenstein sicher nicht!« Britta lachte nervös.

Thomas schob sie ins Wohnzimmer. »Möchtest du einen Drink?«

»Ein Wermut würde gut zu meiner Stimmung passen.« Brittas Spannung schlug um in Ärger. Sie ließ sich in einen der niedrigen Sessel fallen. Ihr ohnehin schon kurzer Rock glitt noch ein erhebliches Stück in die Höhe. Mit einer lässigen Bewegung schlug sie die langen wohlgeformten Beine übereinander und schoß aus dem Schatten ihrer dichten Wimpern einen lockenden Schmollblick ab.

Doch Thomas schien heute einen mittelalterlichen Eisenpanzer unter der saloppen Kleidung zu tragen.

»Was ist denn mit dir, Thomas? Wenn du mich los sein willst, sage es nur rund heraus! Ich werde nach diesem Drink das Haus verlassen und mir irgendwo ein Lager suchen. Alles andere ertrage ich eher als diese Behandlung!«

Thomas gab sich einen Ruck. »Es ist nur… Ich habe überhaupt kein Personal im Haus. Ich glaube kaum, daß eine verwöhnte Lady wie du ohne dienstbare Geister überhaupt auskommt!« Thomas war froh darüber, daß ihm diese Begründung noch rechtzeitig eingefallen war.

Britta holte tief Luft. »Ach, das ist es… Du willst mir doch nicht einreden, daß du hier alles allein machst?«

»Vormittags kommt eine Aufwartefrau. Ich muß dir sagen, daß mir diese Lösung sehr gut gefällt. Ich stolpere nicht gern dauernd über Personal. Es ist mir lieber, wenn ich mich ungeniert bewegen kann und auf niemanden Rücksicht nehmen muß.«

»Rücksicht nehmen?« Britta musterte ihn verständnislos. »Rücksicht kann man doch allenfalls vom Personal verlangen, dafür wird es schließlich bezahlt!« Als sie sah, daß sich Thomas’ Gesicht verfinsterte, fügte sie rasch hinzu: »Aber das ist deine Angelegenheit! Solange ich dein Gast bin, werde ich mich selbstverständlich einschränken.«

»Ja, dann – mein Haus ist dein Haus«, sagte Thomas höflich, aber es klang sehr resigniert.

Britta nippte an ihrem Glas. – Geschafft! dachte sie. Aber war die Zustimmung des Mannes wirklich als Sieg zu buchen?

Thomas stürzte seinen Drink hinunter. Er wirkte völlig geistesabwesend.«

»Bist du in der Wüste gewesen, Liebster?«

Thomas blickte verständnislos auf.

»Es sieht aus, als hättest du eine erhebliche Durststrecke hinter dir.« Britta deutete auf sein leeres Glas.

»Ach so.«

»Du warst doch bei einem taufrischen Früchtchen, oder?«

»Was meinst du damit?« fragte Thomas ungewohnt scharf.

»Nun…« Britta drehte ihr Glas zwischen den Fingern hin und her und betrachtete eingehend die Olive, die im Wermut schwamm. »Deine Tochter hat mir erzählt, daß du zu der Frau im roten Rock gegangen bist. Weibchen dieser Art fühlen sich doch meist sehr geschmeichelt, wenn ein Mann aus unseren Kreisen ihnen so viel Aufmerksamkeit schenkt. Sie sind dann entsprechend großzügig und lassen einen Mann wohl kaum – verdursten.«

Britta las von der Miene des Mannes ab, daß sie den falschen Ton angeschlagen hatte. Doch sie fühlte sich zu erregt, um die zweckmäßigste Taktik zu wählen.

»Deine Einstellung zu den Menschen außerhalb unserer Kreise – wie du zu formulieren beliebst – gefällt mir ganz und gar nicht, liebe Britta. Ich glaube, ich sagte es dir schon.«

»Ist das dein ganzer Kommentar.«

»Ja, denn ich halte es für zwecklos, mit dir darüber zu diskutieren, wie grenzenlos dumm es ist, einen Menschen nach der Zugehörigkeit zu bestimmten ›Kreisen‹ oder nach seiner Stellung und seinem Geldbeutel zu beurteilen. Möchtest du noch einen Wermut?«

»Mir ist zumute, als hätte ich schon eine ganze Flasche intus, denn ich werde allmählich bitter. Du darfst mir trotzdem noch einen einschenken – es kommt schon nicht mehr darauf an. – Wonach also soll man einen Menschen beurteilen?«

»Beispielsweise nach seinem Charakter! Was hältst du davon?«

»Du willst doch nicht etwa andeuten, daß die ›Frau im roten Rock‹ so etwas wie Charakter hat?«

»Genug«, erwiderte Thomas gefährlich leise.

Britta wippte nervös mit der Fußspitze, dann sprang sie aus dem Sessel. »Es ist wohl angebrachter, dich heute abend allein zu lassen. Du wirst schon wieder zur Besinnung kommen!«In diesem Moment öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, und ein Stimmchen ertönte:

»Papi, Tante Britta hat…«

Das Kind, das sich ins Zimmer schob, verstummte, als es die junge Frau bemerkte.

»Nun, was hat Tante Britta?« fragte Thomas. Beim Anblick des kleinen Mädchens im langen Nachthemdchen glitt ein Lächeln über seine angespannten Züge.

Britta stellte unwillig fest, wie rasch sich seine Stimmung in der Gegenwart des Kindes aufhellte. Sie wappnete sich innerlich, denn sie war davon überzeugt, daß die Kleine sich nun über Tante Brittas ›Schlagfertigkeit‹ beschweren würde.

Doch Rikchen hatte etwas ganz anderes auf dem Herzen.

»Tante Britta hat ihre vielen Koffer mitgebracht – will sie abreisen?« fragte das kleine Mädchen interessiert.

»Nein, Tante Britta wird eine Zeitlang bei uns wohnen. – Aber warum schläfst du noch nicht, Sylvi?« Thomas hob das Kind auf die Arme und gab ihm einen Kuß.

Brittas Augen wurden schmal. Mit bösem Blick beobachtete sie die Szene.

Über die Schulter des Mannes hinweg traf sie der Blick des Kindes, und dann schob es die Unterlippe vor und schnitt ihr eine Grimasse.

Na warte, du kleines Biest! schoß es Britta durch den Sinn. Ich bin ja noch eine Weile hier, und wenn ich erst einmal deine Mutter bin, kannst du dich auf einiges gefaßt machen!

Thomas setzte das Kind nieder. »So, jetzt gehst du wieder schön in dein Bettchen. Ich muß Tante Britta noch zeigen, wo sie wohnen wird.«

Rikchen eilte hinaus.

»Willst du Tante Britta nicht gute Nacht sagen?« rief Thomas tadelnd.

Rikchen steckte den Kopf durch den Türspalt und schüttelte mit verkniffenen Lippen den Kopf. Dann klappte die Tür nachdrücklich zu.

»Sie scheint sich neuerdings in einer Trotzphase zu befinden«, meinte Thomas befremdet.

»Diese Trotzphase werde ich ihr schon austreiben!« sagte Britta mit erhobenem Kopf.

Thomas sah sie schweigend an. Nach der Begegnung mit Antje Sanders wurde ihm deutlicher als je zuvor bewußt, wie eiskalt Britta war.

»Aber Thomas«, schmollte sie. »Schau mich doch nicht so vernichtend an! Eine Trotzphase machen alle Kinder einmal durch, da hilft nur eine feste Hand. Du bist einfach zu nachsichtig. – Komm, zeige mir jetzt das Zimmer.«

Thomas belud sich mit einem Teil der Koffer und trug sie in da komfortable Gästezimmer. Hellgrüne Schleiflackmöbel und orangefarbene Gardinen beherrschten den Raum. Das nebenanliegende Bad war in Burgunderrot und Schwarz gehalten.

Mit raschen Blicken musterte Britta die Umgebung. »Gar nicht so übel, Thomas. Dieses Zimmer erinnert mich an meine Teenagerzeit, und ich komme mir unwahrscheinlich jung vor. Danke.« Sie warf die Arme um seinen Hals und küßte ihn hingebungsvoll. Doch sie fühlte, daß der Mann unbeteiligt blieb – völlig kühl und starr.

»Ich hole noch dein übriges Gepäck.« Das war seine einzige Reaktion auf ihre stürmische Liebesbezeugung.

*

Am nächsten Morgen, als Thomas sein Arbeitszimmer betrat, fiel ihm sofort die leere Platte seines Schreibtisches auf. Unmittelbar darauf entdeckte er die Geschäftspapiere zerknüllt im überquellenden Papierkorb. Stirnrunzelnd fischte er einige Dokumente heraus und strich sie glatt. Er sah die Männchen und Kritzeleien und stellte kopfschüttelnd fest, daß seine kleine Tochter offenbar ein neues Talent entdeckt hatte. Zum Glück war der Schaden nicht allzugroß, da es sich größtenteils um Papiere handelte, die für ihn bestimmt waren. Er war sofort bereit, seiner kleinen Tochter zu verzeihen. Schließlich mußte sie sich die meiste Zeit allein beschäftigen.

Mit einem unbewußten Lächeln auf den Lippen machte er sich daran, die Papiere zu glätten und zu ordnen. Bald darauf war er in seine Arbeit vertieft.

Er zuckte zusammen, als jemand energisch an seine Tür klopfte.

»Ja, bitte!«

Seine Aufwartefrau trat zögernd ins Zimmer. »Entschuldigen Sie, Herr Lauenstein.«

»Was gibt’s denn, Frau Kuhnke?« Es kam selten vor, daß die Aufwartefrau ihn behelligte. Sie arbeitete gewöhnlich völlig selbständig.

»Ich wollte man bloß sagen, daß es heute erst um zwei Mittag gibt.«

Thomas runzelte die Brauen.

»Na ja, das Fräulein hat das so verlangt. Aber ich werde wohl auch gar nicht früher fertig. Sie hat so viele Sonderwünsche, daß ich es gar nicht schaffen kann.«

»Sonderwünsche in bezug auf das Mittagessen?« fragte Thomas ungeduldig.

»Das auch. Aber auch sonst. Sie hält mich ja wohl für ihre Zofe.« Das sonst so gutmütige runde Gesicht der Frau zeigte Sorgenfalten. Die blauen Augen blickten ziemlich ratlos. »Soll das denn nun immer so weitergehen – jeden Tag, meine ich?«

»Ich werde mit Fräulein Ohlsen sprechen«, erwiderte Thomas ruhig. »Machen Sie das Mittagessen bitte, wie Sie es geplant hatten, Frau Kuhnke.«

»Es sollte Schinken und Spargel geben und als Nachttisch frisches Obst.«

»Na, das ist doch wunderbar!«

»Aber das Fräulein möchte zum Spargel Kalbsschnitzel und als Nachtisch Weincreme. Da müßte ich erst einmal einkaufen.«

»Kommt gar nicht in Frage. Warum haben Sie sich Fräulein Ohlsens Wünsche nicht energisch widersetzt, Frau Kuhnke? Sie sind doch sonst nicht so schüchtern.«

Die rundliche Frau wurde sichtlich verlegen und spielte mit ihrem Schürzenzipfel. »Na ja, weil sie doch so tat, als ob sie jetzt hier das Sagen hätte. Ich dachte, sie ist vielleicht die…«

»Unsinn!« unterbrach Thomas sie barsch.

»Machen Sie nur alles wie sonst, Frau Kuhnke, und kümmern Sie sich um nichts anderes. Ich war mit allem immer sehr zufrieden.«

»Ist gut, Herr Lauenstein. Mir soll es recht sein. Sehr recht sogar.«

Als Thomas allein war, wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, doch er konnte sich nicht mehr darauf konzentrieren. Immer wieder dachte er daran, was die Aufwartefrau ihm berichtet hatte. Etwas Ähnliches hatte er befürchtet.

Wenig später erschien seine vermeintliche Tochter und meldete, daß das Essen aufgetragen wäre.

»Sagst du auch Tante Britta Bescheid, Sylvia? Bitte, sei so nett.«

»Tante Britta ist noch nicht mit dem Anziehen fertig!« verkündete das Kind.

»Dann fangen wir eben allein an«, entschied Thomas kurz angebunden.

Sie saßen schon zehn Minuten bei Tisch, als Britta endlich hereinflatterte. »Entschuldige, Thomas! Ich hatte extra angeordnet, es sollte erst um zwei Uhr gegessen werden. Diese Frau scheint begriffsstutzig zu sein.«

Ihre Blicke huschten über den gedeckten Tisch.

»Außerdem sollte sie Kalbsschnitzel und…«

»… Weincreme machen«, vollendete Thomas den Satz. »Aber ich habe angeordnet, daß alles beim alten bleibt.«

Britta biß sich auf die Lippen. Das war eine deutliche Zurechtweisung. Sie nahm Platz. Lustlos stocherte sie im Essen herum. Es herrschte ein angespanntes Schweigen.

Nach dem Essen fragte Britta mit gut gespielter Zerknirschung: »Bist du böse, Thomas, weil ich in deinem Haus eigenmächtige Anordnungen getroffen habe? Ich glaubte, du würdest eine Abwechslung begrüßen.«

»Liebe Britta, es gibt nur wenige arbeitende Männer, die sich ohne Protest aus ihrem Arbeitsrhythmus bringen lassen. Im übrigen möchte ich dich bitten, dich nicht in die Angelegenheiten meines Hausgeistes zu mischen und Frau Kuhnke auch nicht als deine Zofe zu betrachten. – Du entschuldigst mich jetzt. Ich habe noch einiges zu erledigen.«

»Gibt es denn keinen Mokka?«

»Wenn Frau Kuhnke die Küche geräumt hat, kannst du darin nach Belieben schalten und walten. Bis dahin gedulde dich bitte noch.«

»Also, ich finde, das geht ein bißchen zu weit!« murmelte Britta ärgerlich.

Rikchen begleitete ihren »Papi« zum Auto und fragte mit Verschwörermiene: »Hat sie sich auch geärgert, Papi?«

»Wieso – auch, mein Schatz?«

»Ich bin auch böse mit Tante Britta. Sie wird schon sehen, was sie davon hat, wenn sie so zu mir ist!« erklärte das kleine Mädchen nachdrücklich.

»Das hört sich ja an wie eine finstere Drohung.« Thomas lächelte amüsiert. »Nun, ich denke, Tante Britta wird es überleben.«

Er schwang sich hinter das Lenkrad und startete. Höchst bemerkenswert, wie aggressiv und selbstsicher seine sonst so sanfte Tochter in den letzten Tagen geworden war!

*

Rikchen vertrödelte einige Zeit lustlos im Garten. Sie bemalte mit einem Stock die schöngeharkten Wege, legte Muster aus Steinen und ließ zwei Schnecken, die sie im Gras fand, ein Wettrennen austragen. Immer wieder mußte sie die Richtung korrigieren, und dann verzogen sich die dämlichen Schnecken für eine Weile in ihre Häuser. Schließlich wurde es Rikchen zu dumm.

Sie bummelte ins Haus und fand Tante Britta im Wohnzimmer in eine Zeitschrift vertieft.

Rikchen strich um sie herum wie eine Katze.

»Nun?« fragte die blonde junge Frau endlich. »Wollen wir beiden uns wieder vertragen?«

Rikchen zog es vor, darauf nicht zu antworten.

»Bleibst du heute den ganzen Tag zu Hause?« erkundigte sie sich interessiert.

»Möchtest du vielleicht ein Eis mit mir essen gehen?« schlug Britta ohne Begeisterung vor.

»Eis mag ich gerne. Aber ich möchte es lieber hier zu Hause essen«, versuchte Rikchen es auf die diplomatische Art. »So? Dann werde ich dir ein Eis mitbringen – wenn du schön brav bist. Ich wollte sowieso gerade ein bißchen spazierengehen. – Aber kann ich dich überhaupt allein im Haus lassen?«

»Ich bin doch immer allein im Haus, wenn Papi nachmittags fort muß.«

»Eigentlich hast du recht. Du bist also schon eine selbständige junge Dame!«

Rikchen nickte heftig.

»Dann gehe ich jetzt ein bißchen bummeln, denn hier bekommt man ja Hörner!« Britta erhob sich, reckte sich wohlig und verließ mit trägen Schritten das Zimmer.

»Du brauchst dich nicht zu beeilen, Tante Britta!« rief Rikchen ihr nach.

Wenig später hörte das kleine Mädchen die Haustür klappen. So, das war geschafft! Rikchen hatte vor, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Schon die ganze Zeit hatte sie an die große Tintenflasche gedacht, die in Papis Schreibtischschublade stand. Tinte war für sie ein Zaubermittel. Man konnte so ungeheuer wirkungsvoll damit malen.

Sie huschte also ins Arbeitszimmer, schnappte sich die ansehnliche Flasche und verschwand damit in Tante Brittas Zimmer.

In herrlich dunklem Blau schwappte die Flüssigkeit in der Flasche auf und ab. Rikchen stellte sie in den Kleiderschrank, nachdem sie beide Türen weit geöffnet hatte, und schraubte den Verschluß ab.

Dann stand sie staunend vor den vielen Kleidern, die farbenprächtig anzuschauen waren, vom leuchtenden Rot bis zum tiefdunklen Grün. Aber für ihre Zwecke erschien Rikchen ein langes weißes Kleid mit Goldborte besonders geeignet. Sie stieg in den Schrank und nahm es vom Bügel. Dabei kippte die Tintenflasche um, und in die Lache fiel die helle Pelzstola.

»Oh!« machte Rikchen und beeilte sich, die Flasche aufzustellen, um noch genügend Flüssigkeit für ihr Vorhaben zu retten.

Die Haare der Nerzstola hatten sich an einer Stelle herrlich blau gefärbt. Rikchen fand, daß es so viel besser aussah als die langweilige helle Farbe. Sie beschloß, das Werk zu vollenden. Ein Schwamm, den sie entdeckte, erschien ihr als das geeignete Werkzeug.

Fasziniert beobachtete Rikchen, wie er sich vollsog. Liebevoll begann sie über die Haare des Pelzes zu streichen, bis er wie eine nasse Katze aussah, die in Tinte gebadet hatte.

Das Ganze war ein Werk weniger Minuten. Was jetzt?

Rikchens Blick fiel wieder auf das weiße Kleid. Sorgfältig breitete sie es auf dem Fußboden neben der Stola aus. Plötzlich kam ihr die Idee, das Kleid mit der Stola zu färben.

Ohne zu zögern legte sie die beiden Stücke übereinander und strich darüber. Als sie die Stola wieder in die Höhe hob, entdeckte sie ein wundervolles Muster. Das Kleid erschien ihr jetzt viel interessanter.

Ganz weiß ist langweilig, dachte sie.

Neben dem Bett standen weiße Schuhe. Langweilige Schuhe! Rikchen machte sich darüber her und rieb mit der verbliebenen Tinte ein. Dann stellte sie die Schuhe an den Saum des so herrlich verwandelten Kleides und drapierte die Stola oberhalb des gesamten Kunstwerkes.

Eine tiefe Zufriedenheit erfüllte

Rikchen.

Zu gern hätte sie ein bißchen weitergemacht, aber die Tinte war alle.

Rikchen schlenderte ins Badezimmer, säuberte ihre Händchen sorgfältig mit Seife und heißem Wasser und verließ das Haus.

Langeweile kroch an sie heran wie eine eklige Spinne.

Zu Hause bei ihren Brüdern hatte sie Langeweile nie gekannt!

Während Rikchen kleine Steine in die Luft warf und sie wieder zu fangen versuchte, kam ihr der Gedanke, daß sie jetzt eigentlich wieder zu ihren Lieben ins Strandhaus zurückkehren könnte.

Kurz entschlossen trippelte sie los. Die Richtung kannte sie inzwischen. Wenn sie erst einmal am Wasser war, würde sie sicher leicht nach Hause finden.

Es war ein bewölkter Tag, und Rik­chen entdeckte das Meer erst, als sie auf dem Dünengürtel stand, denn es war blaugrau und stumpf wie der Himmel darüber.

Das kleine Mädchen überlegte. Was mochte sich zu Hause inzwischen abgespielt haben? Da war doch das andere kleine Mädchen, das ihr so ähnlich sah. Es wäre sicher besser, dieses andere Mädchen erst einmal allein zu treffen. Ob ihre Mami sie vermißte? Ob es einen Heidenspektakel gegeben hatte? Es wäre besser, wenn man das alles vorher erfahren könnte!

Vorsichtig, wie Rikchen es beim Indianerspiel von ihren Brüdern gelernt hatte, schlich sie das braune Holzhaus an.

Sie umrandete es in einiger Entfernung und entdeckte ihre kleine Doppelgängerin bei den Kaninchenställen. Die andere war allein! Doch Rikchen blieb weiterhin vorsichtig! Sie wußte, daß jeden Augenblick einer ihrer Brüder auftauchen konnte.

Sie duckte sich hinter einen großen Ginsterbusch und machte vorsichtig: »Pst!«

Das andere Mädchen blickte sich um, ohne Rikchen zu entdecken.

»Pst, hier bin ich!«

»Wo denn?«

Rikchen winkte vorsichtig mit der Hand.

Neugierig kam das andere kleine Mädchen näher.

»Oh!« machte es überrascht und steckte einen Finger in den Mund.

Rikchen ließ die andere gar nicht erst zur Besinnung kommen. Sie faßte die Kleine bei der Hand und zog sie hastig mit sich fort.

Als sie die tiefe Mulde hinter der Düne erreichten, fragte Rikchen atemlos: »Hat einer was gemerkt?«

»Was meinst du?« erkundigte sich Sylvia unsicher.

»Na, daß du nicht ich bist!« fuhr Rik­chen ungeduldig auf.

»Ich glaube nicht. Ich hab’ einmal versucht, es zu erzählen, aber deine Mutter hat es nicht geglaubt.«

»Dann ist ja alles gut! Dein Vater hat auch nichts begriffen. Dabei tun die Erwachsenen immer so schlau!« meinte Rikchen verächtlich.

»Willst du jetzt wieder nach Hause? Ich meine, willst du jetzt hierbleiben?« erkundigte sich Sylvia mit gemischten Gefühlen. Einerseits sehnte sie sich nach ihrem Papi, andererseits war es hier viel interessanter und kurzweiliger.

»Na klar!« erwiderte Rikchen. »Einmal müssen wir doch wieder nach Hause! – Hat es dir denn bei uns gefallen?«

Sylvia nickte mit leuchtenden Augen.

»Waren meine Brüder denn gar nicht frech zu dir?« fragte Rikchen erstaunt.

»Dooooch, aber nur manchmal. Weißt du, es ist besser, als immer allein zu spielen. Hast du dich denn nicht gelangweilt bei uns?«

»Dein Papi ist prima!« erklärte Rik­chen anerkennend.

»Ja, aber deine Mami auch«, gab Syl­via das Kompliment zurück.

Rikchen befürchtete plötzlich, daß das andere kleine Mädchen Schwierigkeiten machen könnte.

»Wenn du gern bei meiner Mami warst«, meinte sie, »dann können wir ja später vielleicht wieder mal tauschen. Die Erwachsenen sind doch doof, die merken es gar nicht!«

Sylvia sah ihre Doppelgängerin unsicher an. »Meinst du, das geht?

»Klar, es ist ja auch diesmal gegangen! Wir müssen natürlich immer unsere Kleider tauschen, sonst fällt es auf!« erklärte Rikchen eifrig. »Am besten, wir machen es gleich!«

Sylvia sah ein, daß es notwendig war, und die beiden kleinen Mädchen fingen an, sich auszuziehen. Rikchen schlüpfte wieder in die verwaschenen Jeans und den zu weiten Pulli ihres Bruders Tim.

»Deine Kleider sind viel schöner!« gab sie ihrer neuen Freundin zu verstehen.

Sylvia nickte ohne Begeisterung.

»Beeile dich, sonst erwischt uns noch einer!« trieb Rikchen das andere kleine Mädchen an. »Freust du dich auf deine vielen Spielsachen, die dir ganz allein gehören?«

»Allein damit spielen ist blöd«, maulte Sylvia.

»Aber keiner nimmt dir was weg!« stellte Rikchen nachdrücklich fest. »Und das große Haus! Und das Zimmer ganz für dich allein – ich fand das Super-Klasse!«

»Vielleicht willst du doch lieber bei meinem Papi bleiben?« schlug Sylvia vor, aber unmittelbar darauf bekam sie Herzklopfen.

Sie befand sich in einem heftigen Zwiespalt der Gefühle.

»Jetzt nicht«, erwiderte Rikchen. »Vielleicht später wieder. Wir können uns ja öfter mal heimlich treffen. Es ist gar nicht weit. Ich zeige dir den Weg.«

»Aber im Winter können wir uns draußen nicht nackend ausziehen«, gab Sylvia zu bedenken. »Dann erkälten wir uns.«

»Och, vorläufig ist noch lange kein Winter!« antwortete Rikchen sorglos.

Sie begleitete ihre Doppelgängerin auf den Weg, der zur weißen Villa führte.

»Übrigens, meine Tante Britta ist zu Besuch gekommen. Magst du sie leiden?«

»So ein Mist«, antwortete Sylvia. Sie war stolz, daß sie von Rikchens Brüdern gelernt hatte, sich treffend auszudrücken.

Rikchen nickte befriedigt. »Sie ist ein richtiges Biest! Du mußt sie immer ordentlich ärgern.«

»Aber das darf man doch nicht!« Sylvias gute Erziehung machte sich bemerkbar.

»Wenn sie uns ärgert, dürfen wir sie auch ärgern!« behauptete Rikchen.

»Dann wird sie böse und tobt«, erinnerte sich Sylvia und machte ein bedenkliches Gesicht.

»Soll sie ja auch! Aber dann hat sie bald die Schnauze voll und reist ab.« Rikchen blieb stehen. »So, von hier aus findest du allein. Immer geradeaus, und dann siehst du schon euer Haus. Tschüs.«

Sie gab Sylvia einen leichten Schlag auf die Schulter und hatte es plötzlich sehr eilig, denn ihr Magen machte sich bemerkbar.

Als Rikchen dem Kücheneingang des kleinen Hauses hinter den Dünen zustrebte, flog ihr ein Fußball an den Kopf. Die getroffene Wange wurde feuerrot. Unwillkürlich traten dem kleinen Mädchen Tränen in die Augen.

»He, Fritz, was ist denn?« Svens roter Schopf leutete über einem der Ginsterbüsche.

Rikchen stürzte sich wutentbrannt auf ihren Bruder, der auf eine derartige Reaktion gar nicht mehr gefaßt war. Sie balgten sich im Sand wie junge Hunde. Nur mit Mühe konnte der Junge den Angriff seiner kleinen Schwester abwehren.

Mark erschien auf der Bildfläche und hob Rikchen am Kragen in die Höhe. Das machte sie noch wütender, und heftig schlug sie nun auch nach ihm.

»He, was ist denn mit dir los, bist du wieder gesund?« fragte Mark verblüfft.

»Laß mich los, sonst spuck ich dir ins Gesicht!« fauchte Rikchen.

»Na, so was! Du mußt in den letzten Tagen noch krank gewesen sein! Und wir dachten, du machst plötzlich auf vornehm!«

»Ich war nicht krank, und wenn du mich nicht gleich losläßt, bespuck ich dich, daß du bis zu den Knien im Wasser stehst!« Sie zappelte heftig und spitzte bereits den Mund.

Mark sprang vorsichtshalber ein paar Schritte zurück.

Sven gab Fersengeld.

Als er um die Hausecke verschwand, bellte Rikchen: »Du Feigling, jetzt hast du Schiß, nicht?«

Mark zog es vor, seinem jüngeren Bruder zu folgen. Fritz war tatsächlich wie verwandelt.

Er wandte noch einmal den Kopf: »Kannst ruhig so bleiben, Fritz, das andere war ja schon langweilig. Jetzt macht es wenigstens wieder Spaß, dich zu ärgern.«

Rikchen griff sich eine Handvoll Sand und warf nach ihm. Aber da war Mark schon in Deckung. Außerdem stand der Wind ungünstig, und sie bekam das meiste selbst ins Gesicht.

»Schiet!« Sie spuckte und hustete.

Jetzt erschien ihre Mutter in der Haustür. Rikchens Gesicht hellte sich auf, soweit es unter der Staubschicht möglich war, und stürzte sich auf ihre Mami. »Gut, daß ich wieder da bin!« Sie umschlang Antjes Beine und preßte ihr Gesichtchen an den Rock.

»Warst du denn weg?« fragte Antje verständnislos. »Wie siehst du denn aus! Das kenne ich ja gar nicht mehr von dir, daß du dich so schmutzig machst!« Sie holte das große Taschentuch hervor, das sie für derartige Notfälle stets bei sich trug.

»Ich hab’ Hunger! Gibt es bald was zu essen, Mami?« fragte Rikchen und machte hungrige Augen.

»Na, jetzt bist du wieder die alte«, meinte Antje und betrachtete ihre kleine Tochter eingehend. »Irgend etwas hat mit dir doch in letzter Zeit nicht gestimmt.«

Rikchen fühlte sich unter den forschenden Blicken der Mutter unbehaglich.

»Krieg ich eine Schnitte?« fragte sie ablenkend. »Oder gibt es bald Abendbrot?«

»Natürlich gibt es bald Abendbrot, aber du bekommst deine Schnitte trotzdem sofort.« Antje reichte dem Kind ein Brot von dem Berg, den sie bereits gestrichen hatte, und sah mit Befriedigung, mit welchem Heißhunger Rikchen hineinbiß.

»Na also, nun hat alles wieder seine Richtigkeit«, lächelte sie.

Rikchen schloß aus diesen Worten, daß Sylvia wohl doch irgendwie aufgefallen war.

*

Sylvia setzte sehr langsam Fuß vor Fuß, nachdem Rikchen in den Dünen verschwunden war. Sie fühlte sich seltsam beklommen. Die Sonne stand bereits tief, als sie das weiße Haus von weitem entdeckte.

»Hallo, Sylvia!«

Das kleine Mädchen zuckte heftig zusammen, denn diese Stimme kannte es. Tante Britta! Die blonde junge Frau schlenderte näher. »Nett, daß du mir entgegenkommst, Sylvia.« Sie griff in ihre Handtasche. »Hier ist dein Eis.«

»Eis?« wiederholte Sylvia verwirrt.

»Du hast es dir doch gewünscht! Und damit wollen wir dann wieder Frieden schließen, ja?«

Sylvia griff nach der kalten Köstlichkeit. »Danke.«

»Na, siehst du! Wir verstehen uns doch eigentlich recht gut. Ich weiß gar nicht, was du neuerdings gegen mich hast. So warst du doch früher nicht.«

Britta neigte sich zu dem kleinen Mädchen nieder, das verstört an seinem Eis leckte.

»Ich habe das Gefühl, Sylvia, wir werden uns in Zukunft wieder gut verstehen – was meinst du?«

»Ja, Tante Britta.«

»Na also! Stell dir nur nicht vor, daß ich die böse Stiefmutter aus dem Märchen werde, wenn ich deinen Vater heirate. Es liegt an dir – wenn du vernünftig bist, werde ich auch nett zu dir sein.«

»Heiraten?« echote Sylvia entgeistert.

»Freust du dich, wieder eine Mutter zu bekommen?« bohrte Britta katzenfreundlich.

Sylvia nahm all ihren Mut zusammen und schüttelte heftig den Kopf.

Brittas Augen wurden raubtierschmal und glitzerten böse.

»Dummes Ding!« zischte sie. »Deinetwegen werde ich meine Pläne nicht ändern! Dann kommst du eben ins Heim!«

»In ein Waisenheim?« fragte Sylvia, und blankes Entsetzen stand in ihrem Gesichtchen.

»Allerdings!« antwortete die junge Frau ungerührt. »Es liegt nur an dir. Wenn du dich gut mit mir stellst, brauchst du natürlich nicht ins Waisenhaus. Willst du also immer brav sein?«

Sylvia stotterte hastig: »Na, bestimmt! Wenn ich dann bleiben darf…«

»Na also! Ich wußte ja, daß wir beide uns gut verstehen werden!« Britta lächelte triumphierend.

Sylvia atmete auf. Sie mußte wohl in den sauren Apfel beißen. So einfach, wie Rikchen es sich vorgestellt hatte, war es nicht, Tante Britta wegzuärgern.

Artig tippelte sie an der Hand der Frau ins Haus und setzte sich still in eine Ecke ihres Zimmers.

Waisenhaus! Das Wort hämmerte unterbrochen in ihrem Köpfchen.

Das Herz des kleinen einsamen Mädchens wurde immer schwerer. Wenn nur Papi erst zu Hause wäre!

Sylvia erschrak heftig, als ein fürchterlicher Schrei die Stille zerriß. Unmittelbar darauf ging die Haustür. Das kleine Mädchen rannte in die Diele. Ihr Vater stand im Eingang. Aufatmend flog Sylvia ihm entgegen.

»Papi, hast du so geschrien?« erkundigte sie sich mit überkippender Stimme.

»Nein – bestimmt nicht.«

Da – ein erneuter Wutschrei. Dann folgten die wild hervorgestoßenen Worte. »Diese niederträchtige Kanaille! Dieses heimtückische Biest!«

Hochrot und völlig außer sich stürzte Britta in die Diele. In der einen Hand hielt sie ihre ehemals helle Nerzstola, in der anderen das tintengemusterte weiße Kleid.

Sylvia kroch förmlich in sich zusammen, denn sie ahnte Fürchterliches.

Thomas sah die blonde Frau entgeistert an. Er begriff überhaupt nichts.

»Dieses scheinheilige Aas!« schrillte Britta.

»Meinst du damit meine Tochter?« fragte Thomas Lauenstein betont ruhig und gelassen.

»Oh, dieses hinterlistige Miststück!« explodierte die Frau erneut, stürzte sich auf Sylvia und schlug dem kleinen Mädchen die Nerzstola um die Ohren.

Das tat nicht weh, aber da die Tinte stellenweise noch nicht eingetrocknet war, blieben Spuren auf dem Gesicht des Kindes zurück.

Aus großen entsetzten Augen blickte Sylvia hilfeflehend zu ihrem Vater empor.

»Stop, Britta! Das verbitte ich mir ganz energisch!« Beruhigend legte Thomas seine Hand auf den Kopf des Kindes. »Geh bitte, Sylvia, wasch dich.«

Er wollte mit Britta allein sein. Er spürte deutlich, daß es sich um mehr als um einen schlimmen Streich des Kindes handelte.

Sylvia beeilte sich, im Badezimmer zu verschwinden. Sie hatte vor, sich dort so lange aufzuhalten, bis das Gewitter vorüber war.

»Wenn sich hier jemand etwas verbittet, dann bin ich es, lieber Thomas!« Das vorletzte Wort gebrauchte Britta völlig sinnentstellt. Es klang wie ein Peitschenhieb. Sie warf den Kopf in den Nacken. Ihre Augen glitzerten wie kleine Gletscherstücke.

»Zum Beispiel was?« fragte Thomas lakonisch.

Die Ruhe des Mannes brachte Britta vollkommen aus dem Konzept. Sie holte tief Luft und schwenkte Kleid und Stola wie zwei in der Schlacht beschädigte Fahnen.

»Schau dir das genau an! Das waren einmal eine Nerzstola und ein Modellkleid aus Paris! Was du hier siehst, ist das Werk deiner Tochter!«

Sie breitete die beiden Kleidungsstücke vor ihm aus, als handelte es sich um Kunstwerke.

Ziemlich ungerührt stieg Thomas darüber hinweg.

»Und das soll Sylvia vollbracht haben? – Komm, wir unterhalten uns im Wohnzimmer weiter über die Angelegenheit.«

Britta knüllte die Sachen wütend zusammen und schleuderte sie in eine Ecke. Daraufhin rauschte sie ins Wohnzimmer und warf sich in einen Sessel.

»Falls du Indizien benötigst, mein Lieber, dir dürfte eine Flasche Tinte fehlen!« fauchte sie.

»Ich werde dir das Kleid und die Stola natürlich ersetzen. Was mich viel mehr beunruhigt, ist der plötzliche Charakterwandel meiner kleinen Tochter. Bisher hatte ich das Gefühl, sie wäre ein sanftes, verträumtes Kind. Nicht einmal im Traum wäre mir eingefallen, daß Sylvia derartig in Aktion treten könnte.« Thomas langte nach der auf dem Tisch stehenden Zigarettendose und reichte sie der Frau, Britta sog den Rauch hastig in die Lungen, nachdem der Mann ihr Feuer gegeben hatte.

»Ich muß also davon ausgehen«, fuhr Thomas besonnen fort, »daß Sylvia ganz besondere und wichtige Gründe für ihr Tun hatte.«

»Es ist reine Niedertracht von ihr! Du brauchst keine psychologischen Spitzfindigkeiten zu ersinnen!«

Thomas rauchte gemächlich. Er stieß den Rauch nachdenklich aus. »Nun, man müßte die ganze Angelegenheit einmal aus der Sicht des Kindes beleuchten. Irgend etwas Bedeutungsvolles muß doch zuvor zwischen dir und Sylvia vorgefallen sein.« Er warf Britta einen forschenden, eindringlichen Blick zu.

»Blödsinn! Es muß reine Freude an der Zerstörung gewesen sein! Ich finde überhaupt, daß deine Tochter reichlich aufsässig geworden ist! Wenn du nicht endlich die Zügel straff ziehst, kann dich das Kind teuer zu stehen kommen!«

Thomas schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Nein, es kann unmöglich Freude an der Zerstörung gewesen sein. Dieser Gedanke ist absurd. Ich kenne meine Tochter. Irgend etwas Besonderes muß sie dazu getrieben haben.«

»Vielleicht ich!« Die Frau lachte hart auf. Es klang fast hysterisch. »Das habe ich gern, daß du mich zur bösen Stiefmutter abstempelst, bevor wir überhaupt geheiratet haben!«

Zwischen Thomas’ Brauen bildete sich eine steile Falte.

»Jedenfalls«, begann er vorsichtig, »ist so ein Probewohnen recht aufschlußreich.«

»Das finde ich auch!« zischte Britta. »Es ist erstaunlich, wie bedenkenlos du dich auf die Seite deiner Tochter stellst!«

Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich mehr und mehr.

Britta erhob sich, beugte sich über Thomas und legte ihre Stirn an die seine. »Was ist nur los mit uns, Liebster? Warum müssen wir dauernd streiten?«

»Streite ich? Das ist mir gar nicht bewußt!«

»Ich kann verstehen, daß du zu deiner Tochter hältst. Aber du mußt doch auch verstehen, daß ich ein bißchen aus der Fassung geraten bin.« Sie stupste ihn zärtlich mit der Nase an. »Bist du mir etwa obendrein noch böse?«

»Aber nein!«

»Dann gib mir zur Entschädigung wenigstens einen Kuß!« Lockend näherte sie ihre Lippen seinem Mund.

Thomas küßte sie mechanisch und völlig unbeteiligt.

Britta seufzte tief auf. »Mir scheint, das enge Zusammenleben hat deine Gefühle schon merklich abgekühlt. Du küßt mich, als wären wir zehn Jahre verheiratet!«

Als sie ihn leidenschaftlich umarmen wollte, schob er sie nachdenklich beiseite. »Entschuldige, ich muß nach Sylvia sehen.«

»Du mußt das kleine Biest über ihre Untat auch noch hinwegtrösten, wie?« fauchte Britta. Das spielende Kätzchen verwandelte sich von einem Augenblick zum anderen wieder in ein gereiztes Raubtier.

Thomas verließ das Zimmer, ohne zu antworten.

Zu seinem Erstaunen hatte sich seine Tochter bereits in ihrem Bettchen eingeigelt. Nur das braunlockige Haar und die dunklen Augen schauten unter der Bettdecke hervor.

»Aber Sylvi, du hast doch noch gar nichts gegessen«, sagte er verwirrt.

»Ich hab’ überhaupt keinen Hunger, Papi. Bist du sehr böse auf mich?«

»Warum hast du das nur gemacht, Schätzchen? Tut es dir jetzt leid?« Es schnitt Thomas ins Herz, als er sah, wie todunglücklich seine Tochter war.

»Ich… ich habe doch gar nicht…«, stammelte Sylvia, doch dann schwieg sie bedrückt. Sie erinnerte sich an das Versprechen, das sie Rikchen gegeben hatte. Außerdem hatte sie bei Rikchens Brüdern gelernt, daß man auf keinen Fall petzt.

»Ist die Tinte vielleicht aus Versehen umgekippt?« kam Thomas seiner kleinen Tochter zu Hilfe.

Sylvia nickte heftig. »Mußt du das jetzt alles bezahlen, Papi? Kostet das sehr viel Geld?«

»Eine ganze Menge.« Thomas legte seine Stirn in Falten. »Und Tante Britta ist sehr böse.«

»Reist sie jetzt ab?« erkundigte sich das kleine Mädchen hoffnungsvoll.

»Ich glaube nicht. – Möchtest du es denn gern?«

»Ich möchte dann auch nichts zum Geburtstag und nichts zu Weihnachten! Wenn du ihr das Geld gibst, reist sie vielleicht ab!«

Der Opfersinn und die Selbstbestrafung seines Töchterchens rührten Thomas. Doch plötzlich kam ihm ein Verdacht. »Sylvia, schau mich mal an! Hast du diese Dummheit vielleicht nur deshalb angestellt, weil Tante Sylvia abreisen soll?«

»Nein, Papi, ganz bestimmt nicht!« Ihre sanften braunen Augen flehten. »Glaubst du mir?« fragte sie, und ihre Lippen zitterten verdächtig.

Thomas strich beruhigend über die braunen Locken des Kindes. »Natürlich glaube ich dir. Und jetzt schlaf schön. – Hast du wirklich keinen Hunger? In letzter Zeit hast du eigentlich recht tüchtig gefuttert!«

»Nur einen Apfel, bitte.«

»Plötzlich wieder einen Apfel? In den letzten Tagen war dir ein Bonbon entschieden lieber«, lächelte Thomas und reichte ihr einen rotbackigen Apfel aus der Schale.

Sehr nachdenklich verließ er das Kinderzimmer. Mechanisch strebte er der Haustür zu.

Brittas helle Stimme hielt ihn zurück: »Aber Thomas! Du willst einfach fortgehen?«

Mit einem Schmollmündchen und sich kokett in den Hüften wiegend kam sie näher. Ihr Blick war eine einzige Verlockung – aber nicht für Thomas.

»Ich brauche frische Luft«, erklärte er knapp. »Ich bin bald wieder zurück.«

»So – glaubst du tatsächlich, daß du mich dauernd ungestraft allein lassen kannst?« Brittas Augen sprühten Blitze.

»Ich bitte dich, mach doch nicht aus jeder Kleinigkeit ein Drama!«

Thomas verließ das Haus und stürmte mit langen Schritten durch den milden Sommerabend. Er hatte wenig Sinn für die Reize der Landschaft und für die Romantik der blauen Stunde. Ununterbrochen zerbrach er sich den Kopf über das rätselhafte Verhalten seiner Tochter. Wie kam die früher so sanfte und harmlose Sylvia nur dazu, ein Zerstörungswerk dieses Ausmaßes in Szene zu setzen? Daß sie die Tinte zufällig ausgegossen hatte, glaubte er nicht.

Wußte er so wenig von der Seele seines Kindes? Er fühlte sich ziemlich ratlos. Eine Mutter hatte es da sicher leichter und wußte bestimmt eher, wie man sich in solch einem Fall zu verhalten hatte. Britta aber würde dem Kind nie eine Mutter sein. Britta war eine Luxuskatze, kostbar und launisch, ein kapriziöses und teures Spielzeug.

Als Thomas aus seinen Grübeleien aufschreckte, stellte er fest, daß er an den Strand gelaufen war. Antje Sanders fiel ihm ein. Er lächelte bei der Erinnerung an seine letzte Begegnung mit der tapferen jungen Frau. Sie war so zierlich, sie wirkte so schutzbedürftig – und doch gab es keinen Zweifel, daß sie mit ihren fünf Rangen prächtig fertig wurde. Vielleicht konnte sie ihm einiges erklären, was ihm am Verhalten seines Kindes so rätselhaft erschien!

Als er vor sich das kleine braune Haus erblickte, blieb er unwillkürlich stehen. Mißtrauen verfinsterte seine Züge.

Was er sah, versetzte sein Herz in einen harten, unruhigen Rhythmus.

Ein blonder, breitschultriger Mann mit kühnem Profil stand breitbeinig vor der Eingangstür. Dann flog die Tür auf und mit einem Knall wieder ins Schloß.

Antje stand auf den Stufen. Sie trug ein weißgrundiges, geblümtes Sommerkleid mit schwingendem Rock. Sie wirkte wie ein Teenager – unwahrscheinlich jung.

Thomas spürte, wie sich bei dem Anblick der jungen Frau sein Herz vor Sehnsucht verkrampfte.

Antje Sanders aber warf sich übermütig in die ausgebreiteten Arme des blonden Fremden, der sie zweimal im Kreis herumschwenkte und sie nachdrücklich auf den Mund küßte, bevor er sie auf die Erde stellte.

Thomas ließ die Schultern nach vorn fallen, als wäre er plötzlich unendlich müde.

So war das also…

Er starrte den beiden Menschen nach, die engumschlungen den Trampelpfad einschlugen, der sich zwischen den Dünen in Richtung des nächsten Dorfes entlangschlängelte.

Endlich gab sich Thomas einen Ruck. Was hatte er denn gedacht? Er lachte hart auf. Wie hatte er sich nur einbilden können, eine Frau wie Antje Sanders sei frei!

Niedergeschlagen machte er sich auf den Heimweg.

*

Antje und Jochen Sturm erreichten die Straße. Im gleichen Moment löste sich die junge Frau aus dem Arm des blonden Seefahrers.

Jochen Sturm zeigte ein enttäuschtes Gesicht.

»Nachher beim Tanzen darfst du wieder.« Antje lächelte ihn versöhnlich an.

»Warum bist du nur so streng mit mir, Antje? Einmal müssen die Leute ja doch erfahren, daß wir zusammengehören!«

»So – meinst du? Aber nicht, bevor wir uns selber darüber im klaren sind!«

Jochen faßte in ihr schwarzbraunes Haar, das ihr lose in den Nacken fiel.

»Antje, warum sträubst du dich immer noch?« fragte er dicht an ihrem Ohr.

»Bitte, Jochen, du hast mir doch versprochen, zu warten!« Ein angstvolles Flehen lag in Antjes Stimme.

»Wovor fürchtest du dich eigentlich, Mädchen?«

»Vor mir selber – nur vor mir selber. Das Schlimme ist…, ich mag dich nämlich!« gestand sie.

Jochen drehte sie mit einem Ruck zu sich, und seine blauen Augen leuchteten auf. »Aber dann ist doch alles in Ordnung!«

Antje wandte sich energisch wieder zur Seite und setzte den Weg fort. »Nichts ist in Ordnung! Man kann auch einen Hallodri mögen – aber heiraten kann man ihn nicht! Jedenfalls dann nicht, wenn man fünf Kinder hat, für die man verantwortlich ist.«

Jochen Sturm biß sich auf die Lippen. »Du hast kein Vertrauen zu mir, Antje. Schade. Aber ich werde dir beweisen, was in mir steckt!«

»Du machst mich direkt neugierig!« Sie flüchtete in den Spott.

Der Mann schwieg. Er war ungewohnt ernst.

Antje legte ihre schmale, kräftige Hand auf seinen Arm. »Sei nicht böse, Jochen. Das Leben hat mich bisher nicht gerade mit Samthandschuhen angefaßt. Darum bin ich abschätzend und vernünftig geworden, vielleicht zu vernünftig. Ich will dir einen Vorschlag machen: Heute abend tragen wir keine seelischen Ringkämpfe mehr aus! Heute wollen wir den schönen Augenblick festhalten. Es ist Jahre her, seit ich zum Tanzen war. – Wohin gehen wir eigentlich?«

»Einverstanden, Antje. Laß dich überraschen.«

Jochen zog ihre Hand durch seinen Arm, und sie bummelten dahin wie ein sorgloses Paar, eines unter vielen, die die Kurpromenade des kleinen Kurortes bevölkerten.

Unvermittelt stoppte der Mann vor einem weißen Haus, über dessen Eingang die roten Neonbuchstaben SÜDSEEBAR leuchteten. Gedämpft einschmeichelnde Musik vermischte sich mit dem Rauschen der Brandung.

Antje wußte, daß die Südseebar eines der teuersten Lokale des Ortes war. Sie kannte dieses Etablissement nur von außen.

Selbstsicher führte Jochen sie ins halbdunkle Innere und steuerte zielsicher einen kleinen freien Tisch an, der hinter Kübelpalmen verborgen in einer Nische stand. Ketten aus getrockneten Blumen hingen von der Decke herab. Gedämpftes rotes Licht schuf eine behagliche Atmosphäre.

Mit einer unnachahmlich lässigen Geste bestellte Jochen Sekt.

»Sei nicht so leichtsinnig!« bemerkte Antje tadelnd. »Außerdem trinkst du doch viel lieber Bier.«

»Aber du trinkst am liebsten Sekt, wenn mich meine Erinnerung nicht im Stich läßt.«

»Meine Güte, wann habe ich zum letztenmal Champagner geschlürft!« lächelte Antje.

Der Morgen schickte bereits sein bleiches Licht über den Horizont, als sie die Bar endlich verließen und den Heimweg antraten.

Als sie die Dünen erreicht hatten, fragte Jochen leise: »Glücklich?«

Antje nickte benommen. Noch immer spukten die Sektgeister durch ihren Kopf.

»Ich wünschte, es würde noch nicht Morgen«, sagte sie, und es klang wehmütig.

»Der Morgen ändert nichts!« Jochen küßte sie auf den Mund.

»Immer wenn ich einmal sorglos glücklich war«, erwiderte Antje leise, »bekam ich anschließend eine kalte Dusche.«

»Kalte Duschen muß man abschütteln wie ein Hund! Kalte Duschen können sogar sehr erfrischend sein, es kommt nur auf die innere Einstellung an!« Jochen lachte sorglos und unbekümmert.

Sie bogen vom Weg ab, stapften durch den losen Sand, und Antje streckte ihr Gesicht der morgenfrischen Brise entgegen. Doch plötzlich entdeckte sie etwas Dunkles im Sand. Sie bückte sich danach. Es war eine Brieftasche.

»Hoffentlich ist eine Menge Geld drin!« lachte Jochen. »Dann würde ich sagen, der Tag fängt hoffnungsvoll an!«

Thomas Lauenstein, las sie.

Es durchzuckte Antje wie ein heller Blitz. Völlig grundlos – wie sie meinte – bekam sie heftiges Herzklopfen. Wie gebannt starrte sie in den Paß.

»Kennst du diesen Thomas Lauenstein?« fragte Jochen, der ihr über die Schulter blickte, befremdet. Er schmiegte seine rauhe Wange an ihr Gesicht.

Antje zuckte unwillkürlich zur Seite und klappte den Ausweis zu. »Ja, ich kenne ihn flüchtig.«

»Warum bist du plötzlich so anders?« Der Mann musterte sie aufmerksam aus schmalgewordenen Augen.

»Anders? Ach – nur müde. Ich habe Sehnsucht nach meinem Bett.«

»Ich auch!« erwiderte Jochen spontan und grinste wie ein Lausbub.

»Na dann, tschüs, Jochen. Es war sehr schön. Und vielen Dank.«

Er lächelte noch immer vielsagend und machte keine Anstalten, die ausgestreckte Hand zu ergreifen. »Du hast mich völlig mißverstanden, Antje.«

»Wieso?«

Antja sah seine Augen beutegierig glitzern und begriff.

Lachend schlug sie ihm auf die Schulter. »Mein und dein zu verwechseln, ist eigentlich nicht die Art des feinen Mannes! Also, schlaf gut – aber in deinem eigenen Bett!«

»Ich hatte ja noch keine Lust zu schlafen!« Jochen griff nach ihrer Hand.

Antje riß sich los und stürmte auf ihr Haus zu. Als sie die Eingangstür schwer atmend hinter sich verschlossen hatte, ging sie sehr nachdenklich in ihr Schlafzimmer. In ihrem Bett hatte es sich Rikchen bequem gemacht. Mit rosigen Schlafbäckchen lag das kleine Mädchen mitten auf der Decke.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte Antje fest, daß es eigentlich gar nicht mehr lohnte, sich noch auszuziehen. Sie ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, aber sie konnte nicht einschlafen. Immer wieder dachte sie an den gefundenen Ausweis. Thomas Lauenstein war also in der Nähe ihres Hauses gewesen. Zufall? Oder war er gekommen, um sie zu besuchen? Und sie war ausgerechnet nicht zu Hause gewesen! Na und? Antje drehte sich energisch auf die Seite. Sie gab sich ganz besonders Mühe, einzuschlafen, aber sie wurde hellwach.

Schließlich erhob sie sich und begann mit mechanischen Bewegungen ihre gewohnten Arbeiten zu verrichten. Gegen acht Uhr begann das Haus zu neuem Leben zu erwachen. Im Zimmer der Kinder rumorte es. Stimmen wurden laut. Mark rief den kleinen Sven zur Ordnung.

Und Antje war froh, daß ihr jetzt kaum noch Zeit zum Grübeln blieb. Sie hatte ihre Kinder, was wollte sie mehr?

*

Ein heißer Tag kündigte sich an.

Nach dem Frühstück, als ihre Rangen ins Freie verschwunden waren, nahm Antje eine kalte Dusche und kleidete sich sorgfältig an. Sie überraschte sich dabei, daß sie mit dem hellen Lippenstift akkurater und kräftiger als gewöhnlich über ihren hübsch geschwungenen Mund fuhr, daß sie ihr dunkles Haar länger als sonst bürstete.

Mit einer unwilligen Bewegung warf sie die Bürste beiseite.

Dann machte sie sich auf den Weg, um die Brieftasche ihrem Eigentümer zurückzugeben. Es war erst kurz vor neun, aber sie wollte nicht länger zögern. Wahrscheinlich hatte Thomas Lauenstein den Verlust schon bemerkt und war entsprechend unruhig.

Und dann stand sie vor der weißen Traumvilla, hingerissen und ein wenig ehrfürchtig. Sicherheitshalber überprüfte sie noch einmal die Hausnummer, die im Ausweis angegeben war. Ja, es stimmte, hier wohnte Thomas Lauenstein.

Antje klopfte, doch im Haus rührte sich nichts. Mechanisch griff sie nach der Messingklinke. Die Tür schwang leicht auf. Unentschlossen trat Antje in die Diele und sah sich um.

Plötzlich hörte sie Schritte, und sie erblickte die blonde junge Frau, die sie bereits von ihrer ersten Begegnung mit Thomas Lauenstein her kannte.

Die andere trug ein hauchzartes Negligé, und der meergrüne Überwurf wehte wie ein Nixenschleier.

Britta Ohlsen betrachtete die Besucherin abschätzend und befremdet.

Antje kam sich wie ein ertappte Eindringling vor.

»Ich nehme an, Sie haben sich in der Tür geirrt«, ergriff Britta das Wort. Ihre Stimme klirrte.

»Durchaus nicht!« Antje warf den Kopf in den Nacken. »Ich wollte zu Herrn Lauenstein.«

»Wie bitte? Mitten in der Nacht? Nun ja, in Ihren Kreisen weiß man wohl nicht, zu welcher Stunde eine Visite angebracht ist.«

Die hellblauen Augen glitzerten spöttisch kühl.

»In meinen Kreisen weiß man, daß der Verlust einer Brieftasche äußerst unangenehm ist. Deshalb wollte ich meinen Fund dem rechtmäßigen Besitzer so rasch wie möglich zurückbringen.«

Antje hielt die Brieftasche unentschlossen in der Hand.

Neugierig faßte Britta danach. »Tatsächlich, sie gehört Thomas! Wo haben Sie das gute Stück denn gefunden?«

»In der Nähe meines Hauses. Ich nehme an, daß mich Herr Lauenstein besuchen wollte, aber ich war nicht daheim.«

»Wie kommen Sie denn auf diese komische Idee! Herr Lauenstein ist um diese Zeit noch nicht zu sprechen. Ich werde ihm die Brieftasche aushändigen. Danke.«

»Das »Danke« klang wie eine herab­lassende Beleidigung.

Antje holte tief Luft.

»Was ist denn nun noch!« Auf Brittas glatter Stirn bildeten sich tiefe Unmutsfalten. »Ach so, natürlich – Sie warten auf den Finderlohn!«

Die blonde junge Frau öffnete die Brieftasche, blätterte die Geldscheine geübt durch die Finger und zog schließlich einen Zehneuroschein heraus, den sie Antje hinhielt. »Genügt das?«

Antje warf ihr einen vernichtenden Blick zu und wandte sich zum Gehen.

»Ich kenne mich mit den Sätzen für den Finderlohn nicht so aus«, hörte sie die klirrende helle Stimme hinter sich. »Aber haben Sie keine Angst, mein Verlobter ist sehr großzügig. Er wird Ihnen die entsprechende Summe zuschicken.«

Antje wandte sich nicht mehr um. Die Worte trafen sie wie ein heimtückischer Dolchstoß in den Rücken.

*

Britta starrte der dunkelhaarigen Frau aus zusammengekniffenen Augen nach. Kein Zweifel – die verlorene Brieftasche war ein Indiz. Thomas war gestern abend also tatsächlich zum Haus dieser Frau gegangen!

Ein Glück, daß er sie wenigstens nicht angetroffen hatte!

Thomas saß um diese Zeit bereits an seinem Schreibtisch. Einem spontanen Gedanken folgend, legte Britta die Brieftasche unter die Garderobe, an die Thomas seine Jacke zu hängen pflegte. Auf keinen Fall wollte sie ihm sagen, daß diese Dunkelhaarige das Fundstück gebracht hatte. Thomas würde wahrscheinlich zu ihr gehen, um sich zu bedanken! Das durfte nicht sein!

Diese dumme Gans bildete sich sowieso schon viel zuviel ein!

Während Britta mit trägen Bewegungen ins Badezimmer schlenderte, überlegte sie, wie sie sich heute die Zeit vertreiben könnte. Thomas würde allenfalls am Abend Zeit für sie haben. Es gab also nur eines: Den Tag am Wasser zu verbringen!

Sehnsüchtig dachte Britta an ihre kleine Jacht, die im Kieler Hafen lag. Sie hatte den Kapitän nach einem Streit entlassen und noch keinen Ersatz für den Mann auftreiben können.

Es dauerte fast eine Stunde, bis Britta Toilette gemacht hatte und in ihre Strandsachen geschlüpft war. Anschließend schlenderte sie in die Küche.

»Guten Morgen.«

»Morgen.« Frau Kuhnke hob ruckartig den Kopf. »Wollen Sie vielleicht jetzt noch Frühstück?« Ihr Tonfall verriet äußerstes Mißfallen.

»Haben Sie etwas dagegen?« Britta runzelte kaum merklich die Stirn. »Ja, offensichtlich. Trotzdem würde mir das Frühstück schmecken, liebe Frau. Aber Sie haben Glück – ich möchte nur ein Glas Fruchtsaft. Wer kann bei dieser Hitze essen!«

Sie trank den Orangensaft, den Frau Kuhnke ihr schweigend einschenkte, im Stehen und bemerkte: »Zum Mittag­essen werde ich auch nicht hier sein.«

In diesem Moment steckte Sylvia den Kopf durch den Türspalt. Das kleine Mädchen zuckte zurück, als es Britta erblickte.

»Hallo, Fräulein, hiergeblieben!« herrschte die blonde junge Frau das Kind an. »Ist dein Papa noch im Haus?«

»Nein, er kommt erst am Nachmittag wieder«, gab das Kind höflich Bescheid.

»Dann ist es wohl besser, ich nehme dich mit. Damit du nicht wieder solche Untaten vollbringst wie gestern.«

Sylvia zuckte merklich zusammen, aber sie schwieg.

»Das Kind muß aber pünktlich sein Mittagessen haben!« mischte sich Frau Kuhnke ein. Sie hatte längst bemerkt, daß Sylvia das Fräulein nicht sonderlich mochte – und das konnte sie dem Kind nachfühlen.

»Das lassen Sie nur meine Sorgen sein, liebe Frau!« fuhr ihr Britta schnippisch über den Mund. »Komm, wir gehen an den Strand!« wandte sie sich an das kleine Mädchen.

»Wozu koch’ ich dann überhaupt!« brummte Frau Kuhnke und schob mit einem energischen Ruck die Töpfe von den Herdplatten.

Britta packte das zögernde Kind bei der Schulter und schob es energisch zur Tür. »Hol bitte deinen Badeanzug!«

»Brauch ich nicht – ohne ist besser«, sagte Sylvia lustlos.

»So? – Na schön, ich habe nichts dagegen.«

Sie schlenderten zum Strand, sprachen aber während der ganzen Zeit kein Wort miteinander. Britta hatte keine Ahnung, worüber man sich mit einem Kind unterhalten konnte.

Sylvia war froh, daß sie wegen der Katastrophe von gestern nicht mehr getadelt wurde. Wie ein kleiner Hund trottete sie immer einen Schritt hinter der jungen Frau her.

Als sie den Strand erreicht hatten, deutete Britta auf den Landungssteg. »Wir werden uns ein Segelboot mieten!«

Während sie mit dem pensionierten Fischer, der die Boote beaufsichtigte, verhandelte, gingen ihre Blicke suchend über den Strand. Sie verstand wenig vom Segeln und hoffte, daß ihr ein einsamer junger Mann zu Hilfe kommen würde.

Als sie ins Boot stieg, warf sie zunächst einmal ihre lange weiße Jacke ab. Darunter kam das mohnrote Oberteil eines knappgeschnittenen Bikinis zum Vorschein.

Schließlich begann sie mit den Handgriffen, die sie schon oft gesehen, aber noch nie allein durchgeführt hatte. Es erwies sich als recht schwierig, das Segel zu setzen. Sie ließ einen hilfeflehenden Blick über den Strand streifen. Irgendein netter junger Mann mußte ihr doch bald zu Hilfe eilen!

Plötzlich begann Sylvia laut zu rufen:

»Onkel Jochen! Onkel Jochen!«

»Hallo, Fritzchen!« rief der große blonde Mann, der sich mit langen Schritten näherte. Er hob das kleine Mädchen in die Höhe und schwenkte es übermütig. »Mir war, als hätte ich dich eben noch in den Dünen gesehen!«

Seine Augen blitzten, und sein muskulöser nackter Oberkörper erinnerte Britta an einen Olympiakämpfer des alten Griechenlands. Ihre Trägheit und Langeweile waren plötzlich wie fortgeblasen.

»Du hast dich ja so fein gemacht – hast du etwas vor?« fragte der Mann das Kind.

»Bloß mit Tante Britta segeln«, erwiderte Sylvia lustlos.

Britta ließ mit genüßlichen Bewegungen ihre lange weiße Hose über die Hüften gleiten.

»Das ist deine Tante Britta?« hörte sie den Unbekannten fassungslos fragen.

»Nicht meine richtige Tante – ich sag nur so«, erklärte Sylvia wahrheitsgemäß.

Britta machte sich jetzt an den Leinen zu schaffen. Ihr mohnroter Bikini leuchtete in der Sonne wie ein Signal. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, daß sich der Fremde näherte. Sie tat, als bemerkte sie ihn nicht und stieß eine leise Verwünschung aus.

Plötzlich faßten zwei kräftige braune Hände nach der Leine. Sie kamen von rechts und links, und Britta konnte sich keinen Schritt mehr bewegen. Der Mann hatte sie in der Zange.

»Darf ich mal? So etwas ist nichts für schöne zarte Frauenhände«, hörte sie seine tiefe Stimme dicht an ihrem Ohr.

Sie war fast enttäuscht, als der Fremde sich wieder von ihr wandte und behende das Boot zum Auslaufen klar machte. Schließlich löste er die Kette, die das Boot am Landungssteg festhielt.

»Halt, das Kind muß mit!« rief Britta. »Außerdem, woher wissen Sie eigentlich, daß ich Sie mitnehmen will?«

»Sie sehen nicht gerade lebensmüde aus, meine Verehrteste. Also wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, als mich mitzunehmen!« Er blitzte sie herausfordernd an.

»Seien Sie nicht so sicher…« Die Haltung der jungen Frau wurde abweisend, doch den Mann schien das nicht im mindesten zu beeindrucken.

»Ich bin ganz sicher! Wenn Sie zu Ihrem eigenen Schaden auf den Mann verzichten wollen – den Seemann brauchen Sie ganz gewiß, meine Teure!«

Er lehnte sich mit der Sicherheit eines Mannes, der weiß, was er wert ist, an den Mastbaum.

»Na schön, Sie haben recht« gab Britta widerwillig zu. »Ich bin zwar schon oft gesegelt, aber nie allein.«

»Das hätte mich auch sehr gewundert!« Seine Blicke glitten ungeniert über ihren hellbraunen Körper. Dann stieß er sich vom Mastbaum ab und stellte sich mit einer angedeuteten Verbeugung vor: »Ich heiße Jochen Sturm, Allroundman.«

»Tatsächlich – können Sie wirklich alles?« Britta musterte ihn abschätzend aus eisblauen Augen.

»Wenn Sie nicht gerade von mir verlangen, mich in einem runden Zimmer in die Ecke zu stellen!« Sein Lächeln war hinreißend und überzeugend. »Können wir jetzt vor den Wind gehen, Gnädigste?«

Das Boot war bereits ein gutes Stück abgetrieben.

»Ich muß das Kind mitnehmen! – Aber wo ist die Kleine?« Vergeblich spähte Britta zum Strand hinüber.

»Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen. Die Kleine hat sicher etwas Interessantes gefunden. Der Strand ist ungefährlich, und sie ist ja hier zu Hause.«

»Hm – Sie haben recht. Also los!« Britta streckte sich mit den Bewegungen einer müden Raubkatze auf den sonnenheißen Planken aus und überließ dem Mann das Segelmanöver. Unter halbgesenkten Wimpern beobachtete sie ihn. Der berühmte Funke war sofort übergesprungen. Doch Britta wußte nicht recht, wie sie den blonden Hünen einstufen sollte.

Schließlich richtete sie sich halb auf und begann, Sonnenmilch in ihre Haut zu reiben.

»Hören Sie, Herr Sturm, es würde mich interessieren, ob Sie auch fähig sind, eine größere Motorjacht zu führen.«

»Ich bin sogar in der Lage, ein ausgewachsenes Schiff zu führen.«

»Ach, Sie sind Seemann?«

»Steuermann – ja.«

»Meine Hochseejacht liegt in Kiel.« Britta beobachtete ihren Begleiter scharf, aber in seinem braunen Gesicht zuckte kein Muskel.

»Ich habe den Kapitän zum Teufel gejagt. Er war mir zu kleinkariert. Aber jetzt tut es mir schon fast leid. Ich hätte das Schiffchen gern hier«, setzte sie vorsichtig hinzu.

Jochen Sturm blinzelte sie an, lächelte und schwieg.

Britta spürte unsichtbare Ameisen auf der Haut. Die Art des Mannes machte sie unsicher und kribbelig.

»Wie groß ist denn der Kahn?« erkundigte er sich schließlich, und es klang nicht sehr interessiert.

»Nicht sehr groß, aber bei einer Weltumsegelung brauchten wir auf keinen Komfort zu verzichten.«

Jochen lächelte spöttisch. »Wir?«

»Wenn Sie sich entschließen könnten, das Kommando zu übernehmen…«

Jochens Körper spannte sich, ein Panther, der die Beute wittert. Dann näherte er sich Britta mit dem wiegenden Gang des Seemannes, nahm ihr die Sonnenmilchflasche aus der Hand und begann wortlos, ihr den Rücken einzureiben. Sie dehnte sich unter der streichelnden Männerhand wie eine schnurrende Katze.

»Danke, Jochen.«

Er lächelte und schwieg.

»Ich warte auf Ihre Antwort, Jochen«, bohrte Britta. »Oder – sind Sie vielleicht nicht frei?«

»So frei wie Sie, Madame.« Sein undurchdringlicher Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

Britta senkte die langen Wimpern. Was wußte dieser Mann von ihr?

Sie sah ihn an und meinte: »Dann ist ja alles in Ordnung.«

Mit lässiger Bewegung griff sie nach ihrer auf den Planken liegenden Umhängetasche, entnahm ihr einen Zettel und einen goldenen Kugelschreiber und setzte schwungvoll ein paar Zeilen auf das Papier.

»Wenden Sie sich an diese Adresse, Jochen. Wenn Sie den Zettel vorweisen, wird man Ihnen das Schiff aushändigen. Wann werden Sie nach Kiel fahren?«

Jochen Sturm blickte gleichmütig auf das Schreiben. »Und Sie haben gar keine Angst, daß ich mit dem Kahn durchbrenne, Britta?«

Sie zuckte die Achseln. »Nein. Ich bin sicher, daß Sie sich ausrechnen, wieviel mehr Spaß wir zusammen haben werden.«

Jochen Sturm nickte. »Gut, wir werden sehen.« Er steckte den Zettel in die Hosentasche.

*

Sylvia hatte am Strand gestanden und gelangweilt auf das Segelboot geblickt, als sie sich plötzlich am Arm gepackt und in einen Strandkorb gezogen fühlte.

Ihr Protest erstarb, als sie sich ihrem Ebenbild gegenübersah.

»Die brauchen uns nicht zusammen zu sehen«, meinte Rikchen flüsternd und rückte sich auf dem Kissen des Strandkorbes zurecht.

Syliva vergewisserte sich, daß man sie vom Wasser aus nicht sehen konnte, und tat es ihrer kleinen Freundin nach.

»Na, war es schlimm?« erkundigte sich Rikchen und musterte ihre Doppelgängerin interessiert.

Sylvia begriff nicht sofort, was sie meinte.

»Hast du Wichse gekriegt?« fragte Rikchen ungeduldig.

Sylvia schüttelte den Kopf. »Mein Papi haut mich nicht!«

»Ach, der! – Aber Tante Britta!« Rik­chen ruckte auf dem Kissen hin und her.

»Die war ganz schön sauer, aber hauen darf sie mich nicht.«

»Das glaubst du nur! Mir hat sie jedenfalls eine geklebt!« trumpfte Rik­chen auf.

»Hast du es denn nicht Papi gesagt?«

Rikchen winkte fast beleidigt ab. »Ich petze doch nicht. Aber deshalb habe ich ihr ja das Kleid verschmiert und das Pelzding. Ich habe ihr gleich gesagt, sie wird schon sehen, was sie davon hat, wenn sie mich haut.«

»Aber – aber die Sachen kosten doch so viel Geld«, stotterte Sylvia verwirrt.

»Sie hätte mich ja nicht zu hauen brauchen!«

Rikchen warf den Kopf in den Nacken und schob die kleine rote Unterlippe zum Flunsch.

»Aber dann hast du es mit der Angst bekommen und bist abgehauen!« stellte Sylvia sachlich fest.

»Ooooch, nee. – Bloß, ich dachte, die würden vielleicht doch bald merken, daß ich nicht du bin. Ich glaube, du bist immer so brav!«

Sylvia überlegte einen Moment lang. »Ich glaube, mir fallen solche Sachen gar nicht ein.«

»Immer brav sein, ist stinklangweilig.« Rikchen drehte ihr Taschentuch zu einer Wurst. »Was machst du bloß den ganzen Tag alleine?«

Sylvia geriet in Verlegenheit. »Ach, irgendwas.«

»Du hast ja nicht mal eine Mami.«

Sylvia verkniff den Mund. Mit dieser Feststellung hatte Rikchen einen wunden Punkt getroffen.

»Aber mein Papi ist prima!« trumpfte sie auf.

»Ja – aber ich habe auch noch Brüder.« Rikchen dachte daran, daß sie über diese Tatsache nicht immer beglückt war, deshalb setzte sie tröstend hinzu: »Aber die braucht man nicht unbedingt.«

»Man kann aber so schön mit ihnen toben!« Sylvias Augen glänzten begeistert.

»Wenn man einen Papi hätte, dürften sie auch nicht so frech sein«, stellte Rikchen lakonisch fest. »Man müßte eben alles haben, findest du nicht?«

Sie war von dieser Idee plötzlich fasziniert.

»Tante Britta ist aber doch nicht abgereist!« seufzte Sylvia unvermittelt.

»Die müssen wir noch vergraulen.« Rikchen legte ihre Stirn in Denkerfalten.

»Das mit der Tinte war doch schon allerhand! Vielleicht haut sie doch noch ab!«

»Ich glaube nicht. Ich glaube, sie will meinen Papi heiraten. Sie redet immer so komisch.«

Sylvia wirkte niedergeschlagen.

»Aber dein Papi will sie gar nicht!«

»Vielleicht doch«, meinte Sylvia sehr unsicher.

»Mensch, wenn die deine Stiefmutter wird, dann kannst du dich aber auf was gefaßt machen!« rief Rikchen empört.

»Eine Stiefmutter ist immer blöd!« Sylvia bearbeitete den Strandkorb mit den Absätzen.

»Na – aber wenn du meine Mami als Stiefmutter hättest?« fragte Rikchen lauernd.

Sylvias Augen leuchteten auf. »Ja, die!« Das war höchstes Lob.

Rikchen war zufrieden. Sie rutschte vom Sitz.

»Ich muß jetzt gehen.«

Sylvia erschrak, denn ihr fielen Tante Britta und das Segelboot ein.

»Jetzt sind sie weg«, stellte sie nach einem raschen Blick zum Landungssteg fest.

»Wer?«

»Na, Tante Britta und Onkel Jochen. Mit einem Segelboot.«

»Solltest du mit?«

»Hm.« Sylvia nickte.

»Na, dann hast du ja Schwein gehabt!«

»Aber wenn sie meckert?« Sylvia konnte sich schon recht gut in der Tonart der Familie Sanders unterhalten.

»Meckern tut nicht weh. – Aber jetzt mußt du so lange auf die beiden warten.«

»Wollen wir vielleicht wieder die Sachen tauschen?« fragte Sylvia hoffnungsvoll.

»Jetzt nicht. – Aber bald!«

Der Gedanke, daß sie hier am Strand mutterseelenallein auf Tante Britta warten sollte, war Sylvia äußerst unbehaglich. Deshalb fragte sie zaghaft: »Können wir nicht beide zusammen baden – so wie damals?«

»Aber uns soll doch keiner zusammen sehen!«

»Wenn wir nackt sind, kennt uns keiner! Einer kann sich ja immer verstecken!« schlug Sylvia hoffnungsvoll vor.

Rikchen überlegte. »Und wenn wir gerade im Wasser sind und es kommt einer?«

»Dann taucht einer von uns beiden unter!« Sylvia war sichtlich stolz auf ihren Einfall.

»Hm – na schön.« Rikchen begann, sich auszuziehen.

Sie stürmten ins flache Wasser und tobten unbekümmert herum. Rikchen war hell begeistert, denn mit ihrer kleinen Komplizin machte es noch mehr Spaß als mit den zuweilen etwas ungestümen Brüdern. Außerdem fühlte sie sich der zartbesaiteten Sylvia überlegen, und diese Situation kostete sie genüßlich aus.

Sylvia hockte sich nieder und ließ nassen Sand durch die Finger kleckern. Auf diese Weise entstanden kleine Tannen. Das kleine Mädchen hatte vor, einen ganzen Wald zusammenzukleckern.

Rikchen suchte ein Stück entfernt nach Seetang, den sie als Gras zwischen die Sandtannen drapieren wollte.

Sylvia war so in ihre Tätigkeit versunken, daß sie die mahnende Stimme nicht hörte und erst aufschreckte, als Antje Sanders unmittelbar vor ihr stand.

»Warum hörst du denn nicht, wenn ich dich rufe?« fragte die dunkelhaarige junge Frau mit leisem Tadel.

Statt zu antworten, starrte Sylvia ratlos zu ihrer Doppelgängerin hinüber und vollführte beschwörende Gesten.

Doch damit erreichte sie nur, daß Rikchens Mami aufmerksam wurde. Rikchen selbst blickte gar nicht auf, sondern raffte den Seetang zusammen und stürmte herbei.

Als Rikchen ihre Mutter entdeckte, blieb sie wie vom Donner gerührt stehen.

Antje sah die beiden nackten Kinder vor sich und dachte einen Moment lang, sie sei nicht ganz bei Sinnen. Ihr Blick ging ratlos zwischen den beiden kleinen Mädchen hin und her.

»Ich bin doch ganz nüchtern«, murmelte sie. »Wer von euch ist denn nun Rikchen?«

Schließlich erkannte sie ihre Tochter an dem frechen, spitzbübischen Gesichtsausdruck.

»Aber wer bist du?« wandte sie sich verstört an das andere Kind.

»Sylvia Lauenstein«, kam prompt die Antwort.

In Antjes Kopf begann sich ein Kaleidoskop wild zu drehen.

»Mein Gott, diese Ähnlichkeit!« flüsterte sie.

»Wir sind schon mal vertauscht worden und keiner hat was gemerkt!« verkündete Rikchen begeistert.

»Vertauscht?« wiederholte Antje Sanders entgeistert.

»Ja! Sylvias Vater hat geglaubt, ich bin Sylvia, weil wir nackt gebadet hatten! Er nahm mich mit zum Auto, und ich habe gekichert, weil ich dachte, was er wohl für ein Gesicht macht, wenn er es merkt. Aber er hat es gar nicht gemerkt. Und als ich ihm sagte, ich bin gar nicht Sylvia, da hat er mir nicht geglaubt!« posaunte Rikchen mit leuchtenden Augen hinaus.

»Moment mal!« stoppte Antje völlig durcheinander den Redefluß ihrer Tochter. »Und du bist einfach bei Herrn Lauenstein geblieben?«

»Hm! Und Sylvia war bei euch, und ihr habt auch nichts gemerkt«, wandte sich Antje an Sylvia.

»Das war damals, als du um deine Sachen geweint hast?« wandte sich Antje an Sylvia.

Das kleine Mädchen nickte unsicher und erwiderte: »Ich habe aber gesagt, daß meine Sachen und mein Papi weg sind, und nachher auch, daß ich nicht Sylvia bin.«

»Ja – ja, das stimmt! Aber wie konnte ich ahnen… Wie lange warst du denn bei mir? – Wann bist du wieder zurückgekommen, Rikchen?«

Antje konnte einfach nicht begreifen, daß sie ihre Tochter mit einem fremden Kind verwechselt hatte.

»Ein paarmal habe ich in dem schönen weißen Haus geschlafen«, erklärte Rikchen. »Ich mußte mir doch erst alles ansehen. Da laufen die Wasserhähne von allein, und alles ist aus Gold und Samt, und soooo viele Zimmer sind da, und Sylvias Papi ist prima! Und – und dann sind da viele…«

»Ja, das kannst du mir später alles erzählen.« Antje greift sich an die Stirn. Sie suchte verzweifelt nach Unterschieden im Aussehen der beiden Kinder, konnte aber keine entdecken. Der Unterschied lag nur im Wesen. Rik­chen war entschieden lebhafter. Antje erinnerte sich jetzt natürlich genau, daß sie und ihre Jungen sich über das plötzlich so sanft gewordene »Rik­chen« gewundert hatten.

»Wir haben dann nach ein paar Tagen unsere Kleider getauscht, und ihr habt wieder nichts gemerkt«, meldete Rikchen stolz.

Antje hatte sich inzwischen ein wenig gefangen. »Doch – du bist nämlich viel frecher!

»Jetzt kommt das Segelboot zurück – mit Tante Britta und Onkel Jochen!« rief Sylvia unvermittelt.

Antje blickte aufs Meer hinaus und sah die beiden Menschen eng nebeneinander an der niedrigen Bordwand lehnen.

Auch das noch! dachte sie, und ihre hübschen Lippen wurden schmal.

»Zieh dich an, Rikchen, aber ein bißchen dalli!« herrschte sie ihre Tochter an. Dann wandte sie sich an das andere kleine Mädchen: »Hast du eigentlich kein Heimweh gehabt, als du bei uns warst, Sylvia?«

»Nein!« Die Augen des Kindes leuchteten. »Darf ich nun nicht mehr zu dir kommen?« erkundigte es sich unvermittelt. Sein Stimmchen klang schüchtern und flehend.

»Aber natürlich darfst du kommen!« Sie strich über Sylvias braune Locken. »Wenn du darfst«, fügte sie leiser hinzu.

Inzwischen hatte sich das Boot dem Landungssteg genähert. Antje wollte in ihrer Verfassung weder Britta noch Jochen begegnen.

»Bist du fertig, Rikchen? Die Bluse kannst du zu Hause anziehen.« Sie zog ihre verblüffte Tochter hinter sich her und rief über die Schulter: »Besuch uns bald, Sylvia, du weißt ja, wo wir wohnen!«

Rikchen stolperte an der Hand ihrer Mutter durch den losen Sand. Sie begriff nicht, was die plötzliche Eile zu bedeuten hatte. Als sie endlich zu Hause waren, faßte sie sich ein Herz:

»Bist du nun böse, Mami?«

»Aber Kind, warum soll ich denn böse sein?« fragte Antje zerstreut. Sie kaute noch immer an einem Problem, dessen Lösung ihr nur langsam dämmerte.

Sie hatte damals Zwillinge zur Welt gebracht… Das eine kleine Mädchen war angeblich tot gewesen…

Antje stand plötzlich wie erstarrt.

»Mein Gott, das wäre ja…«, murmelte sie.

Rikchen hatte sich bedrückt in eine Ecke gesetzt. Sie fühlte, daß irgend etwas nicht stimmte.

»Mami?«

Antje erwachte aus ihrer Erstarrung. »Ja, mein Kind?«

»Magst du mich nun gar nicht mehr leiden? Hast du jetzt Sylvia lieber als mich?«

Rikchen sah todunglücklich aus. Spontan riß Antje das Kind an sich und drückte das Köpfchen an ihre Brust. »Aber Rikchen, was redest du denn da?«

Das kleine Mädchen schluckte krampfhaft. »Du hast gesagt, ich bin viel frecher als Sylvia.«

»Natürlich bist du frecher. Aber Syl­via hat ja auch keine Brüder, die sie dauernd ärgern! Und überhaupt – jede Mutter mag ihr Kind, wie es ist. Wenn alle gleich wären, wäre es langweilig, nicht wahr?«

Rikchen nickte strahlend. Die Welt war wieder in Ordnung.

»Sylvia hat keine Mami mehr.«

»Ich weiß. Deshalb wollen wir besonders nett zu ihr sein, wenn sie uns besuchen kommt, ja?«

»Klar!« sagte Rikchen großmütig. »Wenn Tante Britta erst ihre Stiefmutter ist, hat sie es ganz schlecht.«

Antjes Augen verschatteten sich.

»Nun lauf noch ein bißchen hinaus!« ermunterte sie ihre Tochter hastig.

»Was sollte ich denn eigentlich? Du hattest mich doch gerufen!«

»Ach, laß nur.«

Rikchen trollte sich zufrieden.

Der Gedanke, der sich in Antjes Kopf festgesetzt hatte, war mit ekligen Widerhaken versehen.

Ich muß Gewißheit haben! dachte sie ununterbrochen, während sie mechanisch ihre Arbeit verrichtete. Da offenbar eine Verwechslung vorliegt, muß ich erst einmal mit der Hebamme sprechen.

Als sie die Kinder an diesem Abend zu zu Bett gebracht hatte, machte sich Antje ohne zu zögern auf den Weg. Je mehr sie sich dem Haus der alten Hebamme näherte, desto größer wurde ihre innere Spannung. Die Ahnung überschattete sie wie eine Gewitterwolke. Aber ob ihr Frau Abromeit etwas Konkretes sagen konnte? Ob die Hebamme sich noch erinnerte? Ob sie zugeben würde, daß eine Kindesverwechslung im Bereich des Möglichen lag?

Als die resolute Frau die Haustür öffnete, malte sich ein deutlicher Schrecken auf ihrem runden Gesicht. Doch dann veränderte sich ihr Ausdruck. Forschend glitten ihre Blicke über die Figur der jungen Frau, die vor ihr stand.

»Antje, ich freue mich, daß du mich mal besuchst!« Erna Abromeit zog die dunkelhaarige Frau in die gemütliche Wohnstube. »Du trinkst doch eine Tasse Kaffee mit?«

Die Hebamme stellte eine geblümte, dickbauchige Kanne auf den Tisch, ohne eine Antwort abzuwarten, und schenkte ein. »Du siehst ein bißchen komisch aus, Antje. Es ist doch nicht etwa…« Sie ließ den Satz in der Luft hängen.

»Aber nein, Frau Abromeit! Woher denn wohl?« Antje lachte nervös.

»Na, dann ist es ja gut. Ich dachte, weil Jochen Sturm schon ein paar Wochen auf der Insel ist. Er war immer ein hartnäckiger Verehrer, habe ich recht?«

»Ach, du liebe Güte!« Antje setzte klirrend die Tasse ab. »Nein, Frau Abromeit, soweit es an mir lag, habe ich immer versucht, dem Unglück aus dem Weg zu gehen. Aber…«

»Hast recht, Antje. So einer wie Jochen Sturm macht höchstens Versprechungen, um eine Frau herumzukriegen, und nachher geht er wieder über alle Berge. Hast reichlich genug an deinen Fünfen.«

»Um ein Haar wären es sechs gewesen – damals«, begann Antje vorsichtig. »War mein zweites Kind damals eigentlich sofort tot, oder starb es etwas später?«

Antje forsche im Gesicht der Hebamme, die den Blick senkte. Es sah aus, als klappe sie ein Visier herunter.

»Warum fragst du mich das, Antje – jetzt, nach so langer Zeit?«

»Frau Abromeit, bitte, denken Sie einmal nach, es hängt so viel davon ab: Könnte es sein, daß das tote Kind damals mit einem meiner Zwillinge verwechselt worden ist?«

Die Hebamme hob langsam den Blick. »Das wäre eine grobe Fahrlässigkeit, die mir in meiner langen Praxis noch nie passiert ist!«

Antje ließ die Schultern sinken. »Ich habe nämlich ein kleines Mädchen gesehen, das meinem Rikchen aufs Haar gleicht. So große Ähnlichkeiten findet man doch nur bei Zwillingen! Dieser Gedanke läßt mir keine Ruhe.«

Erna Abromeit faßte nach den Händen der jungen Frau und drückte sie beschwörend. »Ich habe dieses Kind auch gesehen, Antje. Aber glaube mir, es gibt solche Ähnlichkeiten! Mach die Leute nicht unruhig! Alle könnten tod­unglücklich werden!«

»Sie… Sie halten es also doch für möglich, daß…«

Die Hebamme ließ Antjes Hände mit einem Ruck los. »Es gab kein Versehen, das kann ich beschwören! Laß die Vergangenheit ruhen, Antje! Das Kind ist doch glücklich! Es ist das einzige Kind begüterter Eltern, und du hast fünf! Fällt es dir nicht schwer genug, fünf Mäuler zu stopfen?«

Antje nickte und sah durch die Hebamme hindurch. »Das hört sich alles sehr vernünftig an, was Sie da sagen, Frau Abromeit. Aber das Kind ist inzwischen Halbwaise. Der Vater ist ein beschäftigter Mann. Das Würmchen ist fast immer allein. Aber was noch schlimmer ist – es wird in Kürze eine Stiefmutter bekommen. So eine, für die das Kind nur ein lästiges Anhäng­sel des Mannes ist. Sie kennen doch die Redensart: Wenn ein Kind eine Stiefmutter bekommt, hat es auch bald einen Stiefvater. – Der Mann kann sich nicht viel darum kümmern, und wenn die Frau über das Kind klagt, bekommt sie meistens recht. – Wenn ich mir vorstelle, daß Sylvia meine leibliche Tochter ist, dieses zartbesaitete, anhängliche Wesen…«

»Du tust so, als hättest du das Kind schon gut kennengelernt.«

Antje nickte. »Sylvia war ein paar Tage bei mir. Die Kinder haben am Strand nackt gebadet, sind verwechselt worden und haben im stillen Einverständnis weder mich noch Herrn Lauenstein ernsthaft über den Irrtum aufgeklärt.«

»Mein Gott!« entfuhr es der Hebamme. Sie wurde blaß.

»Das Kind kam mir so bedrückt vor, und es war viel sanfter als Rikchen. Es war so liebebedürftig – wahrscheinlich, weil es die Mutter vermißt. Die andere Frau lehnt Sylvia ab. Sylvia ist nicht so frech wie Rikchen. Sie wird zur stillen Dulderin werden.«

Die Hebamme amtete schwer. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein stummer Kampf wider.

»Ja, aber wenn Sie mir auch nicht helfen können, Frau Abromeit, dann muß ich wohl ein erbbiologisches Gutachten einholen – oder wie das heißt. Ich kann dem Kind ja nicht viel bieten, aber Liebe und Nestwärme sind vielleicht wichtiger als Geld und Komfort.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht, Antje. Daran habe ich nicht gedacht, als ich eines von deinen Zwillingen der Frau in den Arm legte.«

Erna Abromeit wischte sich über die Augen. Sie sah plötzlich sehr müde aus.

Antje glaubte einen Moment, sich verhört zu haben. »Was – was sagen Sie da?«

»Als Frau Lauenstein damals aus der Narkose erwachte, hörte sie zwei Kinder schreien. Daraus schloß sie, daß ihr Kind einmal lebte. Sie hatte ja bereits ein paar Fehlgeburten hinter sich, und ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß es wieder nur eine Totgeburt war. – Da legte ich ihr eines von deinen Zwillingsmädchen in den Arm, und ich habe noch nie so ein Leuchten in den Augen eines Menschen gesehen. – Aber es kommt wohl nichts Gutes dabei heraus, wenn man als Mensch das Schicksal korrigieren will.«

Die Hebamme hatte wie zu sich selbst gesprochen. Je länger sie redete, desto freier wurde sie.

Antje starrte die Frau an, ohne ein Wort zu sagen.

»Ich bin bereit, diese Aussage vor Gericht zu machen«, fuhr Erna Abromeit fort. »Ich werde wohl Berufsverbot bekommen. Ich hänge sehr an meinem Beruf, aber man muß eben für alle Fehler im Leben bezahlen.« Sie seufzte tief. »Im Grunde bin ich froh, daß ich das Geheimnis nun los bin. – Du mußt tun, was du für richtig hältst, Antje.«

»So war das also…« Antje fühlte sich benommen. Jetzt, da ihre Ahnung zur Gewißheit geworden war, überfiel sie eine tiefe Ratlosigkeit.

Zwei Menschen würde sie auf jeden Fall unglücklich machen – den »Vater« des Kindes und die Hebamme.

Aber durfte sie das Glück ihrer kleinen Tochter Sylvia opfern?

»Ich… ich muß noch einmal gründlich über alles nachdenken, Frau Abromeit. Ich bin ganz durcheinander.« Antje erhob sich. Der Kaffee war kalt geworden.

»Tu das, Antje. Man soll immer erst gut überlegen, bevor man handelt. Hier geht es schließlich um das Schicksal von drei Menschen. Aber ich will dich nicht beeinflussen. Ich war immer bereit, für meine Dummheiten einzustehen. Und eine Dummheit war es ja wohl doch.«

Antje eilte aus dem Haus. Sie mußte jetzt allein sein!

Sie ließ den kleinen Ort hinter sich und war bald in der Einsamkeit zwischen Sand, Meer und Sternen, die blaß am Abendhimmel erblühten.

Stets hatte sie aus der Stille die Kraft geschöpft, das Notwendige zu tun.

*

Am nächsten Morgen, als Rikchen mit ihren Brüdern am Strand herumtobte und im seichten Wasser Ball spielte, tauchte die kleine Sylvia freudestrahlend auf.

Rikchen stürzte ihr sofort entgegen. »Hast du es ihm erzählt?«

»Ja, mein Papi weiß, daß ich an den Strand gegangen bin.«

»Ach das!« machte Rikchen verächtlich. »Ich meine doch, ob du ihm gesagt hast, daß sie uns nicht erkannt haben?«

Sylvia schüttelte den Kopf. Das fand sie nicht so interessant. Weitaus wichtiger war, daß sie die Erlaubnis erhalten hatte, allein an den Strand und zu ihrer Ersatzmami zu gehen.

»Ist deine Mami zu Hause?« erkundigte sie sich und wollte gleich losrennen, als Rikchen nickte.

»Halt! Da kannst du immer noch hin. Spiel erst einmal mit. Zieh dich aus!« Rikchen hatte einen Plan.

Sylvia ließ sich überreden. Sie schlüpfte aus den Kleidern, und bald tollte sie mit den Jungen durch die heranschäumenden kleinen Wellen. Sie bemerkte gar nicht, daß Rikchen ihr nur ein kleines Stück gefolgt war und sich dann wieder zurückgezogen hatte.

Rikchen packte die Kleider des anderen kleinen Mädchens und verschwand damit hinter den Dünen. Sie hatte es so eilig, daß sie sich nicht lange mit der hübschen Unterwäsche aufhielt, sondern nur das Kleidchen überstreifte. Im Dauerlauf erreichte sie das weiße ›Zauberschloß‹.

Die Haustür der Villa war nicht verschlossen. Als Rikchen in die Diele trat, hörte sie eine Schreibmaschine klappern. Sie schoß auf die Tür zu, hinter der das Geräusch ertönte, und fiel fast ins Zimmer.

Thomas Lauenstein blickte unwillig auf. »Aber Sylvia! Du weißt doch, daß Papi nicht gestört werden möchte, wenn er arbeitet.«

»Du denkst, daß ich Sylvia bin, was?« fragte Rikchen mit großer Befriedigung.

»Du bist albern, mein Kind.« Thomas wandte sich wieder seiner Schreibmaschine zu.

»Wenn du nicht glauben willst, daß ich gar nicht deine Tochter bin, mußt du mal mit an den Strand kommen! Dann zeige ich dir die richtige Sylvia!«

Thomas musterte das spitzbübische Gesicht des kleinen Mädchens, und irgend etwas machte ihn stutzig. »Ach ja, da ist dieses andere kleine Mädchen, das dir ähnlich sieht. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, daß du mich an der Nase herumführen kannst! Schließlich kenne ich meine Tochter! – Also, geh nun wieder spielen!«

»Ach, bitte, Papi, komm doch mit! Nur dies eine einzige Mal! Ich störe dich auch nie wieder, und es dauert auch nicht lange!« bettelte Rikchen.

Thomas seufzte. So viel Hartnäckigkeit war er von seiner Tochter nicht gewohnt. »Na schön, wenn du meinst, daß du mir das kleine Mädchen unbedingt zeigen mußt.« Er erhob sich widerwillig.

»Nehmen wir das Auto?«

»Natürlich. Es soll doch schnell gehen. Also komm!«

Während der kurzen Fahrt dachte Thomas an seine geschäftlichen Probleme. Als er stoppte und die Autotür öffnete, huschte Rikchen wie ein Wiesel hinaus und verschwand hinter der Düne. Befremdet schüttelte Thomas den Kopf. Seine kleine Tochter schien sich allmählich zu einem richtigen Naturkind zu entwickeln.

Noch immer in Gedanken versunken, stapfte er durch den losen Sand. Er entdeckte seine Tochter und ein anderes Mädchen, das ihm den Rücken kehrte. Die beiden waren von vier Jungen umringt. Thomas vernahm laute Rufe:

»Mensch, Fritz, dich gibt es ja zweimal!«

»Fritz hat sich heute geteilt!«

»Ich glaub, wir sind blau! Wir sehen alles doppelt!« Das stieß der größte der Buben hervor, und Thomas mußte ihm beipflichten, daß er die Gesichter beider Mädchen sah. Er war völlig fassungslos, wie vor den Kopf geschlagen.

»Aber das ist doch…, das gibt es doch nicht!« stammelte er. »Wer ist denn nun Sylvia?«

»Jetzt mußt du raten!« rief eine der Kleinen.

Thomas zögerte.

»Ich habe dir ja gesagt, du kannst mich nicht wiedererkennen!« triumphierte Rikchen. »Da bist du geplättet, was?«

Nein, das war nicht der Jargon seiner Tochter.

»Du bist Sylvia«, wandte er sich an das andere kleine Mädchen und zog seine Tochter an sich.

Sylvia war überglücklich, weil ihr Papi sie nun doch erkannt hatte.

»Nur weil ich frecher bin, hast du es gemerkt!« stellte Rikchen mit schöner Selbsterkenntnis fest.

»Wie heißt du denn?« Thomas wollte Zeit gewinnen.

»Rikchen Sanders. Und das sind meine Brüder.«

»Aha.« Nun wußte Thomas, warum Britta Antje Sanders bezichtigt hatte, seine Tochter geohrfeigt zu haben.

»Na, dann spielt mal weiter«, sagte er und schlug den Weg zu dem kleinen Haus ein, das sich hinter die Dünen duckte.

Schon kam ihm Antje Sanders entgegen. Die dunkelhaarige junge Frau war ungewöhnlich ernst. Sie nötigte ihn in die kleine Wohnstube mit den rotkarierten Gardinen und den Finnlandmöbeln aus hellem Holz. Es war ein ungemein behaglicher Raum, wie Thomas schon beim Eintreten feststellte. Ein Strauß bunter Wiesenblumen und getrocknete Halligheide spiegelten die Jahreszeiten wider.

Thomas spürte die Atmosphäre, die nur eine Frau schaffen konnte und die er in seinem Haus so schmerzhaft vermißte.

»Ich habe unsere beiden Töchter nebeneinander gesehen.« Thomas setzte sich auf die mit rotkarierten Kissen belegte Holzbank.

»Ich dachte es mir.« Antje nahm am Tisch Platz.

»Also, ich muß sagen, ich war völlig verblüfft! Sie sehen sich ja ähnlich wie Zwillinge.« Thomas lächelte amüsiert.

Doch sein Lächeln fand keine Erwiderung.

»Sie sind Zwillinge«, sagte Antje sehr ernst.

»Aber das gibt es ja nicht!« Thomas lehnte sich zurück. In seinen Augen funkelte Spott.

»Ich habe zum gleichen Zeitpunkt wie Ihre Frau entbunden. Ihre Frau hatte auch ein Mädchen geboren, aber es war tot.«

Antje ließ dem Mann Zeit, seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

»Sie meinen, die Kinder sind aus Versehen verwechselt worden?« fragte Thomas fassungslos.

»Nicht aus Versehen. – Ich habe bereits mit der Hebamme gesprochen. Sie hat es bewußt und aus Mitleid getan.« Antje berichtete ihm den Hergang.

Der Mann starrte die junge Frau an wie eine Geistererscheinung.

»Mein Gott!« murmelte er. »Das ist ja furchtbar!« Er holte tief Luft und fuhr sich über die Stirn. »Aber es ist wohl die einzige Erklärung, denn eine so große Ähnlichkeit gibt es nur bei eineiigen Zwillingen.«

Antje nickte und sah auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte.

»Und nun?« fragte Thomas ratlos.

»Es ist sehr schwer für Sie, nicht wahr? Sie hängen an der Kleinen.«

Thomas begriff, was Antje Sanders damit sagen wollte. Doch er begriff es so langsam, als habe sie die Worte buchstabiert.

»Ich hänge nicht nur an dem Kind«, erwiderte er wie in Trance. »Sylvia ist das einzige, was ich habe. Das einzige, wofür es sich zu arbeiten lohnt – oder vielleicht sogar zu leben.«

Antje dachte sofort an Britta, aber sie verschluckte eine entsprechende Bemerkung.

»Sie sind also entschlossen, mir Syl­via fortzunehmen?« fragte Thomas Lauenstein sachlich.

Antje zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.

»Meine Güte, wie das klingt!« Sie war ganz verstört. »Aber ich sehe gar keine andere Möglichkeit! Sylvia vermißt die Mutter, und sie fühlt sich sehr zu mir hingezogen.«

»Das erste stimmt sicher. Aber wie können Sie das andere behaupten? Sie kennen Sylvia doch kaum! Reden Sie jetzt nicht von der Stimme des Blutes – das ist Unsinn!« Thomas kämpfte mit der Logik des Mannes um seine Tochter – die nicht seine Tochter war.

Antje begann, ihm zu erzählen, daß sie bereits einmal jeweils das andere Kind im Haus gehabt hatten, und Thomas begriff.

Fast gegen seinen Willen mußte er lächeln. »Dann gehen die mir unverständlichen Streiche also auf Kosten Ihrer Tochter – ich meine, von Rik­chen.«

»Was hat sie denn angestellt?« erkundigte sich Antje ahnungsvoll.

»Sie hat mein Tintenfaß verbraucht, und es sind ein paar interessante Schöpfungen entstanden. – Aber lassen wir das.«

»Ja, das hört sich ganz und gar nach Rikchen an. Für Tinte hegt sie eine seltsame Vorliebe«, bestätigte Antje.

»Nun, sie hat jedenfalls Einfälle!« Thomas lachte leise.

Das Gespräch hatte plötzlich seine Schärfe verloren.

Antje bemerkte, wie sich der Mann verwandelte.

Er wirkte mit einemmal so jung und unbeschwert. Doch unvermittelt wurde er wieder ernst, und sein Gesicht verhärtete sich.

Sie schwiegen.

Antje duckte sich unwillkürlich hinter den Blumenstrauß, der zwischen ihnen stand, um den Blicken des Mannes zu entgehen, merkwürdig eindringlichen Blicken.

Und dann fiel in das Schweigen ein Wort, das Antje aufschrecken ließ wie ein Kanonenschuß:

»Es gibt einen Ausweg aus dem Dilemma – heiraten Sie mich!«

Das konnte nur ein Scherz sein. Antje sah in die Augen des Mannes. Da erstarb das Lachen, das sie bereits auf den Lippen hatte.

»Sie… Sie meinen es ernst?« stammelte sie.

»Ja. Sehr ernst.«

»So sehr lieben Sie also die kleine Sylvia. So sehr, daß Sie alles aufgeben und so ein Opfer bringen. – Aber Sie sind sich im Moment nicht über die Konsequenzen für Ihr ganzes Leben klar!« setzte sie hastig hinzu. »Außerdem…, ich…«

»Ja, ich dachte es mir!« sagte Thomas in die kleine Pause hinein. »Für mich wäre es kein Opfer, im Gegenteil. Aber es geht ja schließlich nicht nur um mich und mein Leben. Aber eines muß ich Ihnen noch sagen: Es war nicht nur die Liebe zu Sylvia, die mich zu diesen Worten zwang.«

Thomas erhob sich unvermittelt. Er hatte es plötzlich sehr eilig.

Bevor Antje den Sinn seiner Worte recht erfassen konnte, war er draußen.

»Wir hören wohl noch voneinander – auf alle Fälle!«

Dann war er verschwunden.

*

Antje stand starr wie eine Salzsäule und starrte auf die Dünen hinaus, als sich eine andere hohe Männergestalt über den Sandhügel schob. Jochen Sturm. Mit lebhaftem Winken kam er näher. Die Fröhlichkeit, mit der er Antje begrüßte, wirkte ein wenig zu forsch. Und als er zum Sprechen ansetzte, war er plötzlich verlegen wie ein Schuljunge. »Ich… ich möchte mich von dir verabschieden, Antje. Natürlich nur für kurze Zeit!«

»Ach!« erwiderte Antje nur und lächelte undurchsichtig.

»Ja, weißt du, man hat mir einen feinen Job angeboten. Kapitän auf einer Luxusjacht. Ich mußte da jemandem aus der Verlegenheit helfen, du weißt, ich kann schlecht nein sagen.«

»Ist dieser Jemand vielleicht eine Frau?« Antje musterte den großen blonden Seebären mit leichtem Spott. Er tat ihr fast leid, denn wie er da vor ihr stand, hatte er Ähnlichkeit mit einem begossenen Pudel.

»Wenn ich wiederkomme, Antje, hast du dir endgültig überlegt, ob du mich heiraten willst, nicht wahr?« umging er ihre Frage geschickt.

»Ach, Jochen! Das möchte ich dir lieber nicht zumuten. Diese Ungewißheit, daß möglicherweise Eheketten auf dich warten! Ich möchte dich nicht um die Freuden so einer Luxusfahrt bringen. Oder würdest du mit schlechtem Gewissen alles besonders intensiv genießen?«

»Soll das heißen, daß du…?« Hoffnung glomm in seinen hellen Augen.

»Es soll heißen, daß ich bei meinem Nein bleibe, Jochen Sturm. – Aber wissen möchte ich doch…« Antje kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Ich sah dich mit einer jungen Frau – Britta – in einem Boot… Ist sie es, die…«

»Ja, ja, ihr gehört die Hochseejacht!« beteuerte Jochen schnell.

»Jochen, bitte sag mir eines!« Flehend sah Antje ihn an. »Bist du wirklich nur der Kapitän, oder steckt mehr dahinter? Ich frage nicht etwa aus Eifersucht! Ich frage, weil es aus einem anderen Grund sehr wichtig für mich ist.«

»Nun ja – wir sind uns nicht gerade unsympathisch. Und auf so einer Weltreise, allein zwischen Himmel und Wasser…« Jochen ließ den Satz bedeutungsschwer in der Luft hängen. Er wirkte erleichtert und lief bereits zu einer alten Form auf.

»Weltreise – soso.« Antje atmete tief. »Na, dann sieh nur zu, daß du mit der Luxusjacht einen sicheren Hafen ansteuerst. Ich wünsche dir viel Glück.«

»Danke, Antje! Danke!« Jochen küßte sie stürmisch auf den Mund. »Auf Wiedersehen, Antje! Wir stechen noch heute in See!«

Wie er gekommen war, stürmte er davon.

»Diesmal wird es wohl kein Wiedersehen geben«, murmelte Antje. Ein bißchen Wehmut wollte aufkommen, wurde aber von drängenden Gedanken überdeckt.

Jochen und Britta. Dann war wenigstens eine Gefahr gebannt. In absehbarer Zeit würde diese blonde junge Frau nicht die Stiefmutter ihrer kleinen Syl­via werden. Unter diesen Umständen konnte sie Thomas Lauenstein das Kind auch weiterhin anvertrauen. Sie freute sich plötzlich unbändig darauf, es dem Mann zu sagen.

Der Tag war bereits fortgeschritten und drängte Antje seine Forderungen auf. Mechanisch erledigte sie ihre Pflichten. Endlich war es Abend geworden.

Antje hatte wieder ihr »Gänselieselkostüm« angezogen, als sie das Haus verließ und in den schmalen Weg einbog, der sich zwischen den Dünen entlangschlängelte. Plötzlich setzte ihr Herzschlag einen Moment lang aus. Unten am Wasser auf einem an Land gezogenen Boot, saß Thomas Lauenstein.

Sein Blick ging über das Meer zum Horizont. Melancholie überschattete seine Züge, und in seinem Blick entdeckte Antje eine tiefe Wehmut, als sie sich ihm näherte und er den Kopf wandte.

Eine heiße aufquellende Zärtlichkeit durchflutete die junge Frau, eine Zärtlichkeit, die ihr fast den Atem nahm. Gewaltsam verdrängte Antje das Gefühl.

»Ich konnte es zu Hause einfach nicht aushalten«, erklärte Thomas Lauenstein bei der Begrüßung.

»Es ist die Ungewißheit wegen Sylvia, die Sie quält, nicht wahr? Daraus kann ich Sie befreien. Sylvia darf zunächst bei Ihnen bleiben, wenn Sie ihr erlauben, mich so oft zu besuchen, wie sie gern möchte.«

»Das ist doch gar keine Frage! Diese Zusicherung hätte ich Ihnen sofort geben können!«

»Ja, aber…, wie hätte Ihre zukünftige Frau darüber gedacht?«

Thomas starrte sie an. »Sie meinen?«

»Ja, ich meine Ihre Verlobte. – Oder Ihre ehemalige Verlobte?«

»Ich war nie verlobt!« stellte Thomas verblüfft richtig.

»Aber Fräulein Britta hat sich als Ihre Verlobte ausgegeben, als ich die Brieftasche zurückbrachte!« erklärte Antje trotzig.

»Dann hat Britta gelogen! – Die Brieftasche haben Sie gefunden?«

»Ja. Hat Fräulein Britta es Ihnen nicht gesagt? Aber das ist unwichtig. – Sie sind mit der Lösung, die ich Ihnen vorgeschlagen habe, nicht sehr glücklich?«

»Glücklich?« Da war wieder dieser Blick, der Antje unter die Haut ging und schmerzhaft ihr Herz berührte. »Glücklich wäre ich über die andere Lösung gewesen! – Aber ich kann natürlich nicht erwarten, daß Sie mir Ihr Lebensglück opfern. So ist es wenigstens Sylvia, die ich behalte.«

»Wie kommen Sie denn darauf, daß ich mein Lebensglück opfern müßte?« fragte Antje verständnislos.

»Ist es noch ein Geheimnis? – Ich sah Sie neulich, Sie und den blonden Mann, der Sie begrüßte und mit Ihnen durch die Dünen davonging.«

Thomas mied ihren Blick. Er malte Figuren in den Sand.

Plötzlich war Antje sehr glücklich. Sie unterdrückte ein befreites Lachen, nahm ihm den kleinen Stock aus der Hand und malte zwei Herzen halb übereinander und einen Pfeil mitten hindurch.

Und dann schrieb sie darunter:

ANTJE – THOMAS.

»Antje!« Es war ein wilder Aufschrei.

»Soll das heißen, daß dir jener Mann nichts mehr bedeutet?«

»Nicht in dem Sinne, wie du es dir ausgedacht hast. Jochen und ich kennen uns seit unserer Kindheit.«

Beiden war das »Du« völlig selbstverständlich über die Lippen gekommen, und jetzt riß Thomas die geliebte Frau in seine Arme und suchte ihren Mund.

Aufseufzend überließ sich Antje dem aufschäumenden Gefühl der Seligkeit.

Thomas hob Antje auf die Arme und trug sie hinter die Düne, die ihre junge Liebe vor fremden Blicken schützte. Behutsam ließ er die geliebte Frau in den Sand gleiten und küßte sie, küßte ihren Mund, ihre Hände, ihre Arme.

»Ich habe mich bereits damals in dich verliebt, als du mich wild angefaucht hast!« flüsterte er dicht an ihrem Ohr.

»Ja, Thomas, es war wie ein Blitz. Aber man will an Wunder nicht glauben. Man ist mißtrauisch geworden.«

»Antje, endlich bekomme ich die große Familie, die ich mir immer gewünscht habe! Du hast prächtige Söhne!«

Antje schmiegte sich an ihn, als sie das Leuchten in seinen Augen sah. »Warte nur ab, die Lausebengel werden deine Begeisterung noch früh genug dämpfen. Sie können einen ganz schön in Atem halten.«

»Ein Haus voll Leben! Und eine Frau wie dich! Das ist mehr, als ich jemals zu hoffen wagte!«

Thomas schloß Antjes Lippen mit einem Kuß, der ihren Bund feierlich besiegelte.

Mami Bestseller Staffel 6 – Familienroman

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