Читать книгу Mami Bestseller 12 – Familienroman - Gisela Reutling - Страница 3

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»Du liebst ihn immer noch«, stellte Bruno Meinrad fest. Dabei sah er prüfend in das Gesicht seiner Tochter, das abgespannt wirkte und doch wie von einer inneren Erregung gekennzeichnet war.

»Nein, Vater, wo denkst du hin!« Mit einer nervösen Bewegung strich sich Cornelia über das Haar. »Das ist doch längst aus und vorbei.« Sie wandte sich beiseite, um dem durchdringenden Blick zu entgehen, der auf ihr ruhte.

»Warum regt es dich dann so auf, dass du Dieter Markgraf wiedergesehen hast?«, fragte Bruno Meinrad trocken.

»Es kam so überraschend – plötzlich stand er vor mir«, murmelte Cornelia abgerissen.

»Und was sagte er?«

»Nichts Besonderes«, antwortete Cornelia achselzuckend. »Hallo, wie geht es dir, du siehst gut aus … Ja, er redete, als wären nicht drei Jahre vergangen, sondern als hätten wir uns vorige Woche oder vorigen Monat zuletzt gesehen. Und eher beiläufig teilte er mir mit, dass er sich hier als Internist niederlassen würde.«

»So ist das.« Bruno Meinrad nickte nachdenklich. Das war es wohl, was ihr zu schaffen machte. Wie froh war sie damals gewesen, dass er nach Norddeutschland gegangen war und damit eine beträchtliche Entfernung zwischen ihnen lag. Und sie sollte ihm nicht erzählen, dass es vorbei war. Trotzdem sagte er, wie um sie zu beschwichtigen: »Die Stadt ist groß genug, dass ihr euch nicht dauernd in die Arme laufen müsst, Cornelia.«

»Natürlich.« Cornelia bezwang sich, sie bemühte sich sogar um ein Lächeln. »Es hat mich nur im Moment aus dem Konzept gebracht. Im Grunde geht es mich überhaupt nichts an, wo er arbeitet und was er tut.« Es klang herb, und das schwache Lächeln stieg ihr auch nicht bis in die leicht umschatteten Augen.

»Dann ist es ja gut. – Übrigens … Markus hat angerufen«, lenkte er ab. »Er ist aus Norwegen zurück und wollte heute Abend mit dir ausgehen. Ich habe ihm gesagt, dass du Nachtdienst hast.« Als seine Tochter nur etwas apathisch nickte, trat er auf sie zu und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. »Leg dich jetzt hin, Cornelia, und versuch, etwas vorzuschlafen. Du siehst müde aus.«

»Ich laufe lieber ein Stück, Vater, das tut mir wohler«, meinte sie. »Danach kann ich mich immer noch eine Stunde ausruhen.«

Er stand am Fenster und sah ihr nach, als sie das Haus verließ. Sie hatte feste Schuhe angezogen zu ihrem sportlich-eleganten Kostüm, in dem sie in der Stadt gewesen war. Sonst trug sie oft Hosen, weil es praktischer für sie war. So oder so war sie eine hübsche Erscheinung, schlank und aufrecht, mit ihrem leichten, raschen Gang. Eine junge Frau, die man mit Wohlgefallen sah. Warum hatte sie nur kein Glück?

Kein Glück in der Liebe, schränkte der Vater ein. Beruflich war alles wie erwünscht verlaufen: Studium, Staatsexamen, promovierte Ärztin. Doch das war ihrer Begabung, ihrem Fleiß und ihrer Strebsamkeit zu verdanken. Zu einem erfüllten Frauenleben gehörte mehr.

Indessen lief Cornelia mit ausholenden Schritten zum Fluss, an dem sich die Auen entlangstreckten. Hier war es windiger als zwischen den Häusern, es wehte durch ihr Haar und kühlte ihre Stirn. Das frische junge Grün tat ihren Augen wohl. Allmählich besänftigte sich der unruhige Schlag ihres Herzens.

Du hast anscheinend nichts dazugelernt, hielt sie sich vor. Dieter braucht dich nur anzusehen mit seinen blauen Augen, mit diesem gewissen Lächeln, und schon ist es um dein Gleichgewicht geschehen. Es war wie ein Anprall gewesen …

Ja, gewiss, überlegte sie weiter, nur weil diese Begegnung so völlig unvermutet war, weil sie ihn weit weg wähnte, hatte es sie so getroffen. Sonst wäre sie bestimmt kühl und überlegen geblieben. Sie brauchte doch nur an die letzte schlimme Auseinandersetzung zu denken, die ihr Zusammenleben beendet hatte.

Zwei Jahre waren sie zusammen gewesen. Dieter war der Meinung, dass man zum Glücklichsein keinen Stempel vom Standesamt brauchte. Er wusste seinen Standpunkt so überzeugend zu vertreten, dass sie diesen zu dem ihrigen machte. Man brauchte sich nur umzusehen: Eine Partnerschaft ohne Trauschein war heutzutage nichts so Besonderes mehr. Wenn erst ein Kind kam, würde man sie ohnehin legalisieren. Doch das war vorläufig noch kein Thema für sie beide.

Vorausgegangen war ein schönes, ein wunderbares Jahr. Sie glaubten füreinander bestimmt zu sein. Jede Stunde ihrer knappen Freizeit, die sie gemeinsam verbrachten, wurde ihnen zu einem Fest.

Hätten sie es nur dabei belassen!

Aber welches liebende Paar wünscht sich nicht eines Tages die ständige Nähe des anderen. Besonders sie, Cornelia, war ganz sicher, dass der Alltag ihrer Liebe nichts von ihrem Glanz nehmen könnte. Wenn Dieter auch mehrfach beteuerte, dass er seine Freiheit brauchte – sie nickte nur lächelnd dazu. Sie hatte ja gar nicht die Absicht, ihm Fesseln anzulegen. Er würde schon häuslicher werden, wenn aus seiner geräumigen, mit kühler Sachlichkeit eingerichteten Junggesellenwohnung ein gemütliches Heim wurde.

Es war ein Irrtum. Dieter nutzte die sogenannte Freiheit, die er sich ausbedungen hatte, mehr aus, als ihr lieb sein konnte. Er fuhr allein zu wissenschaftlichen Kongressen, ging allein aus, ließ sich oft genug auch ohne die Partnerin einladen. Dass er dabei natürlich auch andere Frauen kennenlernte, die ihn genauso attraktiv fanden wie sie, blieb nicht aus.

Eine Weile nahm sie es hin, weil er gereizt reagierte, wenn sie den Mund auftat. Aber auf die Dauer war sie nicht bereit, sich ihm bedingungslos unterzuordnen. Es kam zu Auseinandersetzungen, die nur im Anfang in stürmischen Versöhnungen endeten. Doch sie bewirkten nicht viel, weil schließlich doch alles beim Alten blieb.

Es waren Jahre, in denen ihre Liebe allmählich verwelkt, an den Enttäuschungen erstickt war, die sie sich gegenseitig bereiteten.

Auch Dieter war enttäuscht von ihr, weil sie nicht das nachgiebige, still duldende Frauchen war, für das er sie wohl gehalten hatte. Er warf ihr mangelnde Toleranz vor, und mancher Streit hatte mit dem Satz begonnen: »Du hast es doch gewusst, dass ich mich nicht anbinden lasse!« Sie hatte den Verdacht, dass er eine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Dieter stritt es ab. Es fielen böse, erbitterte Worte, mit denen sie sich verletzten. Dies war das Ende.

Es ist wohl besser, wir trennen uns, hatte Dieter mit steinernem Gesicht gesagt und sie hatte ihm tonlos zugestimmt.

Er hatte ein Angebot nach Hamburg angenommen, wollte nun dort seine fachliche Ausbildung zum Herzspezialisten beenden.

Cornelia sagte es sich hundertmal und mehr, dass dieser scharfe Schnitt richtig und unumgänglich gewesen war. Aber die Wunde war da, und sie heilte nur langsam.

Sie war wieder in ihr Elternhaus gezogen. Die Mutter war vor einigen Jahren gestorben, eine nette ältere Frau führte ihrem Vater den Haushalt. Bruno Meinrad war Architekt, er hatte sein Büro im Hause. Aber er überarbeitete sich nicht mehr. Die Verhältnisse erlaubten es dem inzwischen Vierundsechzigjährigen, nur noch gelegentlich einen Auftrag anzunehmen, an den er dann auch mit Freude heranging. Cornelia hatte eine sehr innige Beziehung zu ihm.

Ein Jahr später lernte sie Markus Springer kennen, den Juniorchef des Omnibus-Reisebüros Springer. Dort hatte sie eine Urlaubsreise per Bus und Schiff nach Südnorwegen gebucht. Der Vater hatte sie dazu gedrängt, es würde sie auf andere Gedanken bringen. Die Fjorde, die Gletscherwelt zu sehen, das war ein Erlebnis, wie er aus eigener Erfahrung wusste.

Er sollte recht behalten. Es löste sich wie ein Knoten in ihr, sie lernte wieder zu lachen, heiter zu sein in geselliger Runde. Markus Springer, der größere Reisen selbst begleitete, verstand es ausgezeichnet, die richtige Atmosphäre unter seinen Gästen zu schaffen. Cornelia konnte nicht umhin, zu bewundern, wie vielseitig dieser junge Mann war, wie er jede Situation überlegen und mit wachem Verstand meisterte.

Nach der dreiwöchigen Reise rief er sie später noch einmal an. Ob man sich wiedersehen könnte? Sie war überrascht, aber sie hatte nichts dagegen. Er war weltläufig, wie es sein Beruf mit sich brachte, und man konnte sich interessant mit ihm unterhalten.

Sie trafen sich in einem Restaurant, und er sagte: »Es ist ein ungeschriebenes Gesetz bei uns, keinen Passagier vorzuziehen, deshalb konnte ich Ihnen unterwegs nicht zeigen, wie gut Sie mir gefielen, Frau Dr. Meinrad. Das möchte ich jetzt nachholen.« Dabei lachte er mit blitzenden Zähnen und übermütig funkelnden Augen.

»Sie gefielen mir auch«, bekannte Cornelia freimütig, in heiterem Ton. »Es ist sicher nicht leicht, Menschen verschiedenen Alters und Herkunft in Harmonie zusammenzuhalten.«

»Ja, ja, da könnte ich Ihnen so manche Anekdote erzählen …« Er tat es, und sie amüsierte sich. Es war entspannend, mit Markus Springer beisammen zu sein. Endlich einmal kein Gespräch über Krankheiten, kein Fachsimpeln wie bei gelegentlichen Kollegentreffs.

Das »Frau Doktor« ließ er bald fallen, sie kamen sich näher, und nach einigen Monaten, während derer sie sich manchmal getroffen hatten, schließlich sehr nahe.

Als Cornelias Gedanken bei diesem Punkt angelangt waren, setzte sie sich, schon auf dem Heimweg, auf eine Bank und sah sinnend über den Fluss. War es Liebe, was sie mit Markus verband?

Sie vermochte es weder zu bejahen noch zu verneinen. Es war nicht so, dass sie glaubte, ohne Markus nicht leben zu können, wie es ihr einst bei Dieter geschah. Da war es Liebe gewesen. Sie wollte nicht sagen die große, leidenschaftliche, sondern eben die Liebe, als eine unteilbare Größe. Wie hätte man denken können, dass sie vergehen würde?

Vielleicht war das andere besser, wenn man sich selbst bewahrte, nicht gänzlich im anderen aufging.

Sie nahm sich vor, Markus bald anzurufen und ihm zu sagen, dass sie sich auf ein baldiges Treffen mit ihm freute.

*

»Sie glauben, dass die Patientin simuliert?«, fragte Cornelia. »Aber als ich sie untersuchte, fühlte sich ihr Unterbauch hart und gespannt an, und sie klagte über Schmerzen. Ich habe daraufhin eine Uterographie veranlasst, die allerdings nichts ergab.«

»Nach meiner Ansicht ist die Frau hochgradig neurotisch«, erklärte der Oberarzt, der sich wie gewöhnlich noch mit der Nachtdienst tuenden Ärztin besprach. »Ich habe mit ihrem Hausarzt geredet, er ist derselben Ansicht. Frau Eckner ist seit Jahren bei ihm in Behandlung, wegen ständig wechselnder Beschwerden. Oft genug lässt sie ihn auch nachts zu sich rufen, mal ist es das Herz, mal der Magen, mal die Galle. Dabei sind die Organe gesund. Die Krankheiten, die sie zu haben glaubt, existieren nur in ihrer Einbildung.«

»Das verstehe ich nicht.« Kopfschüttelnd betrachtete Cornelia die Krankenblätter. Da gab es Verdacht auf Magengeschwüre und Gallensteine, ohne dass in einem einzigen wirklich eine Erkrankung nachgewiesen werden konnte. »Man gibt doch nicht vor, Schmerzen zu haben, wenn man keine hat.«

»Sie mag sie ja tatsächlich empfinden«, räumte Dr. Holl ein. »Nur dass deren Ursache nicht im organischen Bereich, sondern in der Seele liegt. – Sie sehen mich so erstaunt an, Frau Kollegin, in Ihrer kurzen Praxis ist ihnen wohl ein solcher Fall noch nicht vorgekommen?«

»Nicht in diesem Umfang, nein«, musste Cornelia zugeben. »Ich weiß natürlich, dass seelische Konflikte einen Körper belasten können. Aber über Jahre hindurch, und noch dazu bei einer verhältnismäßig jungen Frau! Wie alt ist sie genau?«, sie sah nach. »Zweiundvierzig«, stellte sie fest. »Das ist doch kein Alter …«

»Tja, man müsste herausfinden, wo die Wurzel allen Übels liegt.« Dr. Holl rieb sich die Nase, eine Angewohnheit, wenn er nachdachte. »Ich habe mich«, fuhr er fort, »bei Dr. Müller, also dem Hausarzt, auch nach ihren persönlichen Verhältnissen erkundigt. Sie ist verheiratet, der Mann ist Steuerberater, der einzige Sohn ist schon aus dem Haus. Weiter wusste er mir nichts darüber zu sagen, er ist wohl in seiner Praxis ziemlich überlastet.«

Sekundenlang schwiegen sie. Dann sah der Oberarzt seine jüngere Kollegin an. »Wollen Sie nicht mal mit Frau Eckner reden, Frau Meinrad?«, schlug er vor. »Mir ist nämlich schon aufgefallen, dass die Patientinnen Ihnen besonderes Vertrauen entgegenbringen. Wenn ich nur an dieses junge Ding denke, dem wir den Magen auspumpen mussten, weil es eine Überdosis Tabletten geschluckt hatte. Sie haben das Mädchen doch ordentlich wieder aufgebaut, nachdem es sich ihren Liebeskummer von der Seele geredet hatte.«

Cornelia nickte leicht. Es war die Kurzschlusshandlung einer Siebzehnjährigen gewesen. »Der Fall Eckner liegt wohl etwas anders«, zögerte sie.

»Sicher«, stimmte Dr. Holl ihr zu. »Versuchen könnten Sie es immerhin. – Ja, das wär’s dann wohl.«

Aber Cornelia hatte noch eine Frage. »Wie steht es mit Frau Berger auf Zimmer 11? Sie hat in den letzten Nächten kaum Ruhe gefunden.«

»Ich habe Schwester Anni schon gebeten, dass sie heute ein stärkeres Schlafmittel bekommen soll«, gab der Oberarzt zurück. »Wir haben die Biopsie vorgenommen …«, er stockte. Seine Miene verdüsterte sich.

»Und –?«, fragte Cornelia ahnungsvoll.

»Karzinose«, antwortete Dr. Holl kurz.

Cornelia zog scharf den Atem ein. Das bedeutete: Aussaat von Krebszellen im ganzen Körper. »So weit ist es also schon«, murmelte sie mit blassen Lippen. Es war zuerst nur ein Verdacht gewesen. Nun hatte er sich bestätigt.

»Sie hätte viel früher zu uns kommen müssen«, sagte der Arzt etwas schroff. »Wozu gibt es schließlich Vorsorgeuntersuchungen?«

Bedrückt trat Cornelia an diesem Abend ihren Nachtdienst an. Renate Berger hieß die junge Frau, der das Todesurteil gesprochen war. Im gleichen Alter wie sie, Anfang dreißig. Cornelia war noch weit davon entfernt, als Ärztin darüberzustehen. Sie lehnte sich noch ohnmächtig auf bei der Vorstellung, einfach nicht mehr helfen zu können. Sie nahm sich vor, zu ihr zu gehen, sobald anderes Wichtiges getan war.

Renate Berger lag in einem Zweibett-Zimmer am Fenster. Die andere Patientin war eine alte Dame, die ohne Hörgerät halb taub war. Mit einem Nicken erwiderte sie den freundlichen Gruß der eintretenden Ärztin und las weiter in ihrem Taschenbuchroman. Sie brauchte nichts mehr, auch keinen Zuspruch. Sie wurde sowieso in den nächsten Tagen entlassen. Cornelia zog sich einen Stuhl an das andere Bett. Auf dem Nachttisch lag noch das Schlafmittel, das Schwester Anni dahingelegt hatte.

»Ich nehme das nicht«, sagte die Patientin. »Ich will wach bleiben, Frau Doktor. Ich habe so viel zu bedenken, nachts, wenn die anderen schlafen und es ruhig ist auf der Station.«

»Ein paar Stunden Schlaf braucht aber jeder Mensch, Frau Berger«, wandte Cornelia behutsam ein. Dabei betrachtete sie das abgezehrte Gesicht der Kranken. Es musste einmal sehr hübsch gewesen sein, bevor die Krankheit es gezeichnet hatte.

Der blasse Mund verzog sich ein wenig, ihre Augen sahen zur Decke empor. »Ich werde bald genug lange schlafen können«, kam es wie ein Hauch zurück. Cornelia griff nach der schmalen Hand und umfasste sie. Aber bevor sie etwas sagen konnte, richtete sich der Blick der Patientin wieder auf sie. »Oder glauben Sie, ich wüsste nicht, dass ich bald sterben muss?«

»Woher wollen Sie das wissen?«, sprach Cornelia leise. »Über Leben und Sterben entscheiden nicht wir.«

»Ich weiß es«, beharrte die andere. »Ich spüre es in mir. Ich lese es in den Mienen der Ärzte, auch in Ihren Augen, Frau Doktor, und wenn Sie alle hundertmal glauben, sich zu beherrschen und mir mit Worten auszuweichen.«

Cornelia senkte die Lider und streichelte sacht über Renate Bergers Hand. Hier hatte es wohl keinen Sinn mehr, die bittere Wahrheit zu verleugnen.

»Warum sind Sie denn nicht schon früher zum Arzt gegangen, Frau Berger?«, fragte sie mit enger Stimme. »Auch wenn Sie keine Schmerzen hatten, der Gewichtsverlust musste Sie doch aufmerksam werden lassen.«

»Ich hatte Angst«, stieß die Patientin hervor. »Ich wollte nicht krank sein. Mein Kind brauchte mich doch …« Sie tat einen tiefen, zitternden Seufzer.

Eben deshalb hättest du auf dich achten müssen, dachte Cornelia. Aber sie sprach es nicht aus. Was sollten Vorwürfe für einen Sinn haben. »Wie alt ist Ihr Kind?«, erkundigte sie sich.

»Heike ist sechseinhalb. Sie ist voriges Jahr in die Schule gekommen. Ach, ich vermisse sie so … Haben Sie Kinder, Frau Doktor?« Als Cornelia mit einem Kopfschütteln verneinte, fuhr sie fort: »Dann können Sie sich nicht vorstellen, wie es einem fehlt. Seit fünf Tagen, seit man mich hierbehalten hat, habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Aber besucht Sie. Ihr Mann denn nicht mit Ihrem Kind?«

Die Kranke wandte den Kopf ein wenig beiseite. »Ich habe keinen Mann. Heike hat keinen Vater. Wir stehen ganz allein, wir beide.«

»Haben Sie gar keine Angehörigen mehr?«, fragte Cornelia bestürzt.

»Eine Schwester. Aber die ist in Amerika. Ich habe ihr geschrieben, wie es um mich steht. Aber sie wird wohl nicht kommen können. Ihr Mann lässt sie bestimmt nicht fort.«

Sekundenlang schwieg Cornelia. »Wo ist Ihre Heike denn jetzt?«, erkundigte sie sich dann.

»Bei einer Nachbarin, einer alten Frau. Sie geht wegen eines Hüftleidens nur noch selten aus dem Haus, und der Weg hier heraus ist ihr zu umständlich.«

»Gibt es denn nicht eine Freundin, eine Kollegin, die Ihnen Ihr Töchterchen mal bringen könnte? Sie sind doch berufstätig, nehme ich an.«

»Ich habe für ein Übersetzungsbüro zu Hause gearbeitet. So konnte ich mich immer um Heike kümmern. Und eine Freundin hab ich nicht. Die paar Leute, die ich kenne, haben immer alle keine Zeit.« Es klang so niedergeschlagen, dass Cornelia die blasse Hand, die sie immer noch hielt, fester ergriff.

»Morgen Nachmittag bringe ich Ihnen Ihre Heike«, versprach sie spontan. »Sagen Sie mir, wo Sie wohnen, dann hole ich sie und fahre sie auch wieder zurück.«

»Sie – Sie würden das tun, Frau Doktor?«, stammelte die Patientin mit geweiteten Augen.

»Ja, warum nicht«, sagte Cornelia betont leichthin. Ein schwaches Lächeln voller Dankbarkeit huschte um Renate Bergers Mund.

Ihre Stimme war plötzlich fester, als sie die Adresse nannte, den Weg beschrieb. Cornelia nickte und erhob sich. »Gut. Dann werden Sie jetzt aber auch die Tabletten nehmen und schlafen, damit Sie morgen frisch sind, wenn der liebe Besuch kommt. Ich werde später noch einmal nach Ihnen schauen.«

Das Herz war ihr schwer, als sie die Tür von Zimmer 11 hinter sich schloss. Welch eine traurige Geschichte war das.

In der Mitte des Ganges gab es einen offenen Aufenthaltsraum, den man der zahlreichen Grünpflanzen wegen »die Laube« nannte. Einige Patienten hatten sich dort vor dem Fernseher niedergelassen. Cornelia erkannte unter ihnen Frau Eckner. Ihr fiel ein, was Dr. Holl ihr gesagt hatte. Ach ja, dachte sie, muss das heute sein, dass ich sie mir vornehme? Ihr stand der Sinn nicht danach.

Aber da kam sie schon auf sie zugestürzt, mit wehendem Morgenrock. »Frau Doktor!«, rief sie mit schriller Stimme. »Ich habe einen wahnsinnigen Druck um den Kopf. Also das ist wie ein Ring …« Mit einer theatralischen Gebärde fuhr sie mit allen zehn Fingern in ihr hellblond gefärbtes Lockenhaar. »Mit meinem Blutdruck muss irgendetwas nicht stimmen. Entweder ist er zu hoch, oder zu niedrig. Ich flehe Sie an, untersuchen Sie mich und geben Sie mir ein Medikament, sonst überstehe ich die Nacht nicht.«

»Dann wollen wir mal sehen«, sagte Cornelia. »Kommen Sie mit.«

Es war wieder einmal falscher Alarm, stellte sie fest, während sie den Blutdruck maß, die Augenreflexe prüfte.

»Hoffentlich krieg ich keinen Schlaganfall«, murmelte die Patientin dumpf.

»Davon sind Sie weit entfernt«, sagte Cornelia und nahm das Stethoskop ab, mit dem sie den Körper gewissenhaft abgehorcht hatte. »Sie steigern sich in etwas hinein, Frau Eckner. Das ist Ihre Krankheit.«

Die Angeredete verzog weinerlich das Gesicht. »Und ich dachte, bei Ihnen würde ich Verständnis finden. Sie sind doch auch eine Frau. Die Männer, diese Herrgötter in Weiß, die haben ja überhaupt kein Mitgefühl mit einem, da kann man noch so elend dran sein«, jammerte sie und wischte sich über die Augen.

»Ich fürchte, das sehen Sie falsch«, erwiderte Cornelia ruhig. »Jeder ist bemüht, zu helfen, denn das ist unsere Aufgabe.«

»Mir hat noch niemand helfen können«, sagte Ilse Eckner verbittert, während sie wieder in ihren Hausmantel schlüpfte.

»Darüber wollen wir einmal reden, von Frau zu Frau!« Aufmunternd nickte Cornelia der anderen zu.

»Jetzt gleich?«, fragte diese hoffnungsvoll und fast begierig. Den »Ring um den Kopf« schien sie vergessen zu haben.

»Ja«, sagte Cornelia knapp und führte sie in das neben dem Untersuchungsraum gelegene Sprechzimmer der Ärzte.

Es fiel ihr nicht schwer, das Vertrauen der Patientin zu gewinnen. Reden zu können und eine geduldige Zuhörerin zu haben, das bereitete ihr ein Hochgefühl. Es war ja sonst niemand da, der ihr wirklich zuhörte, wirklich auf sie einging, so betonte sie. Sie war eine sehr einsame Frau, wie sie versicherte. Ihr Sohn war aus dem Haus, und ihr Mann hatte neben dem Beruf seinen Stammtisch, seinen Kegelklub, und am Wochenende fuhr er zu den Fußballspielen seines Vereins. Da blieb nicht viel Zeit für sie übrig.

»War das immer so?«, fragte Cornelia mit einem aufmerksamen Blick, als ihr Gegenüber einmal Luft holte.

»N-nein«, gab Frau Eckner etwas zögernd zu, »eigentlich nicht. Erst seit ein paar Jahren, seit unser Junge sich abgenabelt hat, wie er das nennt, und seit ich eine kranke Frau bin. Mein Mann glaubt ja nicht daran. Er nimmt schon Reißaus, wenn ich nur davon anfange.« Ihre Miene nahm einen tiefgekränkten Ausdruck an.

»Sie sind keine kranke Frau, Frau Eckner«, hielt ihr Cornelia offen und nachdrücklich entgegen. »Organisch sind Sie gesund, dafür sollten Sie dankbar sein. Sie fühlen sich vernachlässigt. Sie haben keine Aufgabe mehr, seit Ihr Sohn selbstständig geworden ist, den Sie wahrscheinlich liebevoll umsorgt haben. Sie flüchten sich in immer neue Leiden und Beschwerden, um Ihren Mann auf sich aufmerksam zu machen. Aber damit erreichen Sie gerade das Gegenteil – er nimmt Reißaus, wie Sie selber sagen. Sie vertreiben ihn und wahrscheinlich auch andere nur mit Ihren vielen Klagen. Sonst wären Sie sicher nicht einsam, und vermutlich käme Ihr Sohn dann auch öfter.«

Die Unterlippe der Frau begann zu beben. »Nun hatte ich so gehofft, bei Ihnen Verständnis zu finden, Frau Doktor, und nun halten auch Sie mich für eine Spinnerin!«

»So ist es nicht«, widersprach Cornelia. »Körperliches und seelisches Befinden hängen zusammen, und bei Ihnen ist die Seele der Auslöser Ihres schlechten Befindens.«

»Die Seele.« Frau Eckner nickte bedeutungsvoll. Das hatte ihr noch niemand gesagt. Es war etwas Neues. Es war interessant. »Gibt es dafür auch etwas?«

»Wenn Sie Pillen meinen: Nein. Aber es gibt Ärzte, die sich ausschließlich damit befassen. Drüben in der Nervenklinik.«

Hier fuhr Frau Eckner auf. »Ich bin doch nicht geistesgestört!«, entrüstete sie sich.

»Davon kann gar keine Rede sein«, beschwichtigte Cornelia. »Sie machen sich eine völlig falsche Vorstellung. Dort sind Psychiater, die sich in ausführlichen, behutsamen Gesprächen mit den Patienten befassen und ihnen sozusagen den Sinn wieder zurechtrücken, wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Darauf sind sie spezialisiert, während wir hier für körperliche Leiden da sind.«

»In Gesprächen«, sagte Frau Eckner nachdenklich. Das gefiel ihr.

»Ja. Deshalb schlage ich vor«, hakte Cornelia nach, »dass wir Sie, im Einverständnis mit Oberarzt Dr. Holl, zur ambulanten Behandlung dorthin überweisen. Vielleicht werden Sie sich schon bald sehr viel wohlerfühlen.«

»Man wird ja sehen«, murmelte die andere skeptisch.

Am nächsten Morgen, bevor sie nach Hause fuhr, erstattete Cornelia Dr. Holl Bericht, da er gerade seinen Dienst antrat.

»Gut gemacht«, schmunzelte er. »Sie wird sich ungeheuer wichtig vorkommen. Der arme Mann kann einem leidtun. Na, vielleicht bringen sie sie da zur Vernunft. Sonst noch etwas?«

»Nein, nichts Besonderes. Frau Berger hat diese Nacht geschlafen, ich habe mehrmals nach ihr gesehen. Sie ist sich über ihren Zustand im Klaren«, fügte sie niedergeschlagen hinzu.

Der Oberarzt nickte ernst. Dann ging er zur Tagesordnung über.

*

Auf Cornelias mehrmaliges Klingeln wurde nicht geöffnet. Erst als jemand das Haus verließ, schlüpfte sie hinein und stieg die Treppen zum 2. Stock empor. Es war ein älteres, vierstöckiges Mietshaus mit jeweils drei Wohnungen auf jeder Etage. Sie fand das Namensschild Berger und ein paar Schritte weiter A. Hoppe.

»Ja …, wer ist da?«, fragte eine eher unwillige Stimme, nachdem Cornelia geläutet hatte.

»Ich bin die Ärztin von Frau Berger«, antwortete Cornelia. »Ist die kleine Heike bei Ihnen?«

Die Tür wurde um einen Spaltbreit geöffnet. Noch stand Misstrauen in den Augen der weißhaarigen Frau, während sie die Fremde musterte. Aber dann trat sie doch beiseite und sagte: »Kommen Sie rein.« Sie war von untersetzter Gestalt und bewegte sich schwerfällig. »Ich mach sonst grundsätzlich nicht auf«, fuhr sie fort, »es passiert doch so viel.«

»Ich hätte Sie vorher anrufen sollen, aber Sie haben kein Telefon«, bemerkte Cornelia in entschuldigendem Ton.

»Ich brauch kein Telefon«, kam es zurück. »Wenn mal was ist, kann ich nebenan bei Frau Berger telefonieren. Wie geht’s ihr denn?«

»Nicht sehr gut. Sie sehnt sich danach, ihr Kind zu sehen. Ich wollte Heike für eine Stunde zu ihr bringen. Sie liegt auf meiner Station. Ich bin Dr. Cornelia Meinrad.«

»Da wird Heike sich ja freuen. Sie fragt dauernd nach ihrer Mama.« Anna Hoppe führte die Besucherin ins Wohnzimmer. Dort saß ein kleines Mädchen auf dem Fußboden vor dem Fernseher, es lief eine Kindersendung. »Heike, hier will jemand zu dir. Du darfst deine Mama besuchen.«

Wie elektrisiert sprang die Kleine auf, sah mit großen fragenden Augen zu der fremden jungen Frau empor.

Was für ein reizendes Kind, musste Cornelia denken.

»Guten Tag, Heike«, sagte sie mit einem netten Lächeln und streckte ihre Hand nach der Kinderhand aus. »Du kannst gleich mit mir kommen, um deine Mutti zu besuchen. Das möchtest du doch gern, nicht?«

»Ja, o ja!«, stieß Heike hervor. »Kommt sie denn bald wieder nach Hause?« Cornelia wurde einer Antwort enthoben, weil Frau Hoppe in diesem Moment sagte: »Ich wär ja auch schon mal mit ihr hingefahren, aber ich komme ja kaum die Treppen hinunter.«

»Und dazu ist es auch noch ein ziemlich weiter Weg«, äußerte Cornelia freundlich. »Es ist schon sehr dankenswert, dass Sie sich Frau Bergers Töchterchen annehmen.«

»Tja, es ist ja sonst niemand da«, seufzte die Frau. Indessen zog Heike sich eilig ihre Schuhe an und ihr T-Shirt zurecht, nahm auf Geheiß von Frau Hoppe ihr Strickjäckchen darüber.

»Kann ich noch schnell meine Spardose aus der Wohnung holen?«, fragte das Kind dann etwas atemlos.

»Wozu brauchst du deine Spardose? Frau Doktor fährt doch mit dem Auto hin.« Unwirsch kam es heraus, aber sie meinte es sicher nicht so.

Heike schlug die Augen nieder. »Ich wollt der Mami doch was mitbringen«, brachte sie mit dünnem Stimmchen hervor.

Cornelia war gerührt. »Wir kaufen für deine Mami an dem Blumenstand vor dem Krankenhaus ein Sträußchen, ja?«, schlug sie vor. »Du brauchst jetzt kein Geld dafür.«

»Aber ich hab was, ich kann’s bezahlen«, wandte das Kind ernsthaft ein.

»Fein. Dann lege ich es dir nur vor, und du gibst es mir später wieder. Machen wir das so?«

Heike lächelte scheu zu ihr auf, und dann gingen sie, mit einem Gruß von Frau Hoppe für die Kranke bedacht. Auf der Treppe griff Heike nach Cornelias Hand, es war wie eine ihr unbewusste Geste, aber irgendwie drückte es ein Vertrauen aus. Lange blieb sie still. Erst als sie schon ein Stück gefahren waren, sagte sie: »Wenn Sie eine Frau Doktor sind, machen Sie dann meine Mama bald wieder gesund?«

Cornelia fühlte ihre Kehle eng werden. »Es liegt nicht allein in meiner Hand, Heike«, gab sie gepresst zurück.

Es war eine ausweichende Antwort. Keine Antwort für ein Kind, dessen Augen flehten. Doch was blieb ihr sonst zu sagen?

Sie war froh, als sie angelangt waren. Am Blumenstand kauften sie einen Strauß von bunten Anemonen. Heike trug ihn vorsichtig, als sie, beklommen um sich schauend, mit Cornelia durch die Gänge ging, an vielen weißen Türen vorbei. Und endlich lagen Mutter und Kind sich in den Armen …

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Dr. Holl erstaunt, als er die Kollegin im Flur am Fenster stehen und in die Anlage hinabsehen sah. »Sie haben doch gar keinen Dienst.«

»Ich habe Frau Berger ihr Töchterchen gebracht«, antwortete Cornelia mit matter Stimme. »Ich fahre die Kleine auch wieder nach Hause.«

»Dafür opfern Sie Ihre Freizeit?«

Cornelia hob kaum merklich die Schultern. »Gemessen an den Umständen, ist das kein Opfer«, meinte sie.

Sie ging dann eine Weile in der Anlage spazieren, trank ein Glas Tee in dem Café, das sich nahe dem Ausgang befand, und als auf diese Weise eine gute Stunde vergangen war, fuhr sie wieder hinauf auf die Station. Sie fand Heike auf dem Bett ihrer Mutter sitzend. Sie waren still, die beiden, hielten sich nur bei den Händen. Die Blicke von Ärztin und Patientin trafen sich.

»Ich bin Ihnen so dankbar, Frau Doktor, dass ich meine Heike mal sehen durfte«, murmelte Renate Berger.

»Sie werden sie noch öfter sehen«, sagte Cornelia. »Übermorgen, am Sonntagnachmittag, wird Heike Sie wieder besuchen.«

Die Verabschiedung ging mit vielen Küsschen zwischen Mutter und Kind vor sich. »Musst doch nicht weinen, Mami«, sagte Heike zärtlich tröstend, als sie merkte, dass deren Gesicht nass war. »Hast doch gehört, ich darf ganz bald wiederkommen.«

»Ich wein ja gar nicht«, behauptete Renate Berger und lächelte unter Tränen.

»Ich hab Mama erzählt, dass ich es gut hab bei Frau Hoppe«, berichtete Heike unterwegs. »Sie kocht ja auch für mich und sorgt dafür, dass ich pünktlich in die Schule komme. Aber ich glaub, sie wäre bald lieber wieder allein, weil sie das so gewöhnt ist, und sie ist ja auch schon sehr alt, nicht?«

Später, als sie Heike zurückgebracht und wieder zu Hause war, sagte Cornelia zu ihrem Vater: »Ich möchte nur wissen, was aus dem Kind mal werden soll, wenn die Mutter nicht mehr ist.«

»Wenn sie noch eine Schwester in Amerika hat, sollte man doch annehmen, dass diese sich um das Kind kümmern wird«, meinte Bruno Meinrad bedächtig.

An diesem Abend, ihrem letzten Nachtdienst für den Monat, sprach Cornelia Frau Berger darauf an. Sie hatten sich vorher über Heike unterhalten, was für ein liebes, verständiges Kind sie doch sei. »Man muss sie einfach gernhaben«, äußerte Cornelia, und, um zum Thema zu kommen: »Kennt Heike ihre Tante in Amerika eigentlich?«

»Ja, aber sie war noch sehr klein, als wir mal dort waren, kaum drei Jahre. Monika hatte mir das Flugticket geschickt. Sie war da gerade ein Jahr verheiratet und wollte mir zeigen, wie sie nun lebte als Luxusfrau …«

»Luxusfrau?«, wiederholte Cornelia fragend.

Renate Berger nickte schwach. »Meine Schwester hat einen sehr reichen Mann geheiratet, der sie auf Händen trägt. Sie hat ihn auf einer Internationalen Messe kennengelernt, wo sie als Hostess arbeitete. Er hat sie dann einfach mitgenommen nach Kalifornien. Es war Liebe auf den ersten Blick, sozusagen.«

»Wenn Ihre Schwester in so guten Verhältnissen lebt, dann müsste es doch leicht für sie sein, hierherzukommen. Geschwister hängen doch im Allgemeinen aneinander, besonders, wenn sie ihre Eltern früh verloren haben.«

»Früher, ja«, sprach die Patientin leise, »aber inzwischen ist das anders geworden. Wir hören nur wenig voneinander. Die Entfernung, wissen Sie, und die ganz verschiedenen Lebensumstände – da wird man sich schon fremd.«

Cornelia vermochte das nicht ganz einzusehen. Sie versuchte, sich ein Bild von dieser Frau in Amerika zu machen. »Hat Ihre Schwester ein Kind?«, erkundigte sie sich.

»Ach nein«, antwortete Renate Berger nur.

»Will sie keine Kinder?«, fragte Cornelia weiter.

»Ich weiß nicht«, zögerte die andere. »Die Monika vielleicht schon … Aber das kann ja noch werden. Sie ist drei Jahre jünger als ich«, fügte sie hinzu.

»Ich kann mir ungefähr denken, worauf Sie hinauswollen, Frau Doktor«, kam es schleppend über ihre Lippen. »Aber meine Heike wäre nicht glücklich dort. Abgesehen davon, dass es sicher auch gar nicht infrage käme. Äußerlich, ja, da ist es ein Paradies, aber drinnen ist es kalt. Wissen Sie …, das ist komisch …, in kleinen Wohnungen kann es wärmer sein als in einer Prunkvilla.«

Sie wandte den Blick ab und starrte gegen die Decke. »Manchmal wünschte ich, ich könnte sie mitnehmen, meine Heike«, flüsterte sie gequält.

Cornelia erschrak.

»Das dürfen Sie nicht denken, Frau Berger. Ein schönes gesundes Kind hat ein Recht auf sein Leben. Es findet sich immer ein Ausweg.«

Worte, dachte sie, als sie das Zimmer verließ, nachdem sie der Schwerkranken ihr Schlafmittel verabreicht hatte. Mehr als Worte konnten es nicht sein, und sie spendeten keinen Trost.

Am Sonntag, nach dem Besuch bei ihrer Mutter am frühen Nachmittag, fuhr Cornelia Heike nicht sofort wieder zu Frau Hoppe, sondern sie nahm sie mit zu sich nach Hause. In der stillen Wohnung bei der betagten Nachbarin war sie noch lange genug.

»Du sollst uns helfen, den Erdbeerkuchen aufzuessen, den unsere Frau Schwendtner heute für uns zum Kaffee gemacht hat«, sagte sie munter.

»Wer ist Frau Schwendtner?«, wollte Heike wissen.

Cornelia erzählte ein bisschen von dem guten Geist im Hause, von ihrem Vater, der Häuser baute und wie sie so lebten.

»Schön ist es hier«, rief Heike aus, als sie ausstiegen, und sie sah sich um, wo es viel Grün gab und hübsche Einfamilienhäuser. »Das ist lieb von dir, dass du mich mitgenommen hast und ich nicht gleich wieder zu Frau Hoppe muss. Oh, Verzeihung!« Sie legte ihr Händchen gegen den Mund, weil sie die Frau Doktor aus Versehen geduzt hatte.

»Bleib ruhig dabei, Heike.« Cornelia lächelte. »Wir kennen uns ja nun schon gut, da brauchst du mich nicht mehr zu siezen. Kannst auch Tante Cornelia zu mir sagen.«

Heike strahlte. »Cornelia, das ist ein schöner Name«, befand sie.

Das Kind wurde freundlich, ja herzlich empfangen, denn nicht nur der Hausherr, auch die Wirtschafterin wusste inzwischen um sein trauriges Schicksal. Zu viert saßen sie um den Tisch und ließen sich den frischen Kuchen munden. Bruno Meinhard fragte die Kleine nach der Schule, Frau Schwendtner erzählte von ihren Enkeln, die sie leider nur selten sah, weil sie weit weg wohnten. So waren sie bemüht, Heike abzulenken und sie Wärme und Zuwendung spüren zu lassen.

»Besuche uns nur einmal wieder«, sagte Cornelias Vater, als er merkte, dass dem Kind nach einer guten Stunde das Fortgehen schwer wurde. Das hübsche Gesichtchen schien förmlich kleiner zu werden. Heike bedankte sich artig und ging an Cornelias Hand davon, um zu Frau Hoppe zurückzukehren. Und die Mami blieb im Krankenhaus, und niemand sagte ihr, wann sie wieder heimkommen würde.

»Du hast ihr erlaubt, dich Tante zu nennen«, sprach Bruno Meinhard später mit ernster Miene zu seiner Tochter. »Wohin soll es führen, wenn sie sich zu sehr an dich anschließt, wie es jetzt schon den Anschein hat?«

Cornelia wusste keine Antwort darauf. »Du hast ja auch gesagt, sie solle wiederkommen«, hielt sie ihm entgegen.

Der Mann nickte gedankenvoll. »Sie ist so ein armes kleines Ding«, murmelte er, als erkläre das alles.

Um neunzehn Uhr war Cornelia mit Markus verabredet. Er hatte einen Tisch in ihrer beider Lieblingsrestaurant reservieren lassen, wo sie essen wollten. Sie hatten sich seit mehr als drei Wochen nicht gesehen, und Cornelia gestand es sich jetzt erst ein, dass sie ihn vermisst hatte. In seiner Gegenwart sah die Welt doch gleich ganz anders aus. Er erzählte von der Norwegenfahrt, bei der er die Reiseleitung hatte. Es war dieselbe Route wie jene, bei der sie sich kennengelernt hatten, und mancher Satz begann mit »Weißt du noch –?« Der Nordfjord, die reißenden Wasserfälle, die in den engen Talkessel stürzten – all das wurde wieder vor Cornelias geistigem Auge lebendig.

Mami Bestseller 12 – Familienroman

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