Читать книгу Mami Bestseller 4 – Familienroman - Gisela Reutling - Страница 3
Оглавление»Und nach den Nachrichten sehen wir uns dann den Krimi an«, sagte Martin. Dabei stand er vom Tisch auf und ging zum Sessel, um es sich vor dem Fernseher bequem zu machen.
Regine stellte das Geschirr vom Abendessen zusammen und trug es in die Küche. Eigentlich hätte sie lieber das Konzert gehört, das von einem anderen Sender übertragen wurde. Aber Martin würde sich damit wohl nur langweilen. Sie lächelte ein wenig in sich hinein. Daran hatte sie sich schon gewöhnt in den zwei Jahren, die sie nun befreundet waren, dass sie nicht ganz die gleichen Interessen hatten. Was machte das schon aus, wenn man sich liebte. Man passte sich an. Martin war nun einmal so, ein Realist, der nicht viel für die schönen Künste übrig hatte.
Die kleine Küche, die zu ihrer geräumigen Einzimmer-Wohnung in dem modernen Wohnblock gehörte, war bald aufgeräumt. Sie setzte sich zu Martin, streckte spielerisch die Hand nach ihm aus, die er auch sogleich mit seiner breiten, kräftigen Hand umfasste. Doch er ließ sie bald wieder los.
»Mal sehen, ob wir heute eine Million gewonnen haben«, sagte er und zog einen Lottoschein aus seiner Tasche. Regine musste lachen.
»Glaubst du an Wunder?«, fragte sie mit heiterem Spott.
»Na ja, warum sollen denn immer nur andere das große Geld machen«, erwiderte er. »Wir könnten’s doch auch brauchen.«
»Das denken viele. Aber es hieße, die Stecknadel im Heuhaufen finden. Ach, Martin«, sie wurde ernst, »wir können doch ganz zufrieden sein. Denk doch mal an all jene, denen es so viel schlechter geht auf dieser Welt. Wir haben doch unser Auskommen und können uns auch einmal etwas leisten, ein Essen in einem hübschen Restaurant, eine Ferienreise. Ist das etwa nichts?«
Martin gab ihr einen überlegenen, fast nachsichtigen Blick aus seinen graublauen Augen, so, als sei ihre Rede doch recht naiv.
»Du weißt genau, mein Schatz, dass ich nicht ewig Angestellter bei Immobilien-Möller bleiben möchte. Ich will mein eigener Chef sein. Leider fehlt mir dazu noch das nötige Startkapital. Bevor ich das Geld dafür nicht zusammengekratzt habe, können wir nicht heiraten«, schloss er entschieden und wandte sich dem Bildschirm zu, wo der Sprecher gerade mit den Nachrichten begann.
Warum eigentlich nicht, dachte Regine geistesabwesend. Warum wollte Martin unbedingt erst sein eigenes Büro haben, was hatte das mit ihnen beiden zu tun? Er wohnte doch bei seinen Eltern, er fand es bequemer so, und billiger. Aber sie sparte ja mit. Sie konnte jeden Monat von ihrem Gehalt als Fremdsprachenkorrespondentin eine bestimmte Summe zurücklegen für die gemeinsame Zukunft. Nur wollte sie die nicht in weiter Ferne sehen. Sie war jetzt achtundzwanzig, sie wünschte sich eine Familie, Kinder, ihren festen Platz im Leben.
»Möchte wissen, wann es da endlich Ruhe geben wird«, brummte Martin. Regine nickte. Ja, was sich ihren Augen bot, war schlimm. Überall Umbruch, Zerrissenheit und viel Not. Es bestätigte sie nur in ihrer Meinung, dass sie sich hier nicht beklagen durften.
Plötzlich richtete sie sich jäh auf und hielt unwillkürlich den Atem an.
Ein ihr wohlvertrautes Antlitz erschien auf dem Bildschirm: hageres Gesicht, ernste Augen mit verhangenem Blick, eine hohe, zerfurchte Stirn unter schneeweißem Haar. Dazu ein knapper, nüchterner Kommentar: »Der italienische Schriftsteller Roberto Valli starb im Alter von zweiundsiebzig Jahren in Rom. Seine Romane und Schriften wurden in mehrere Sprachen übersetzt.«
Das Bild verschwand. Regine atmete aus. Roberto Valli. Nun war er tot. Sie glaubte noch seine Stimme zu hören, seine letzten Worte: »Ich lasse Sie nicht gern gehen, Regine …«
»Das war der doch, bei dem du mal in Italien warst«, sagte Martin und streifte sie mit einem Blick. Regine nickte nur stumm.
Die Lottozahlen am Mittwoch kamen. Martin schrieb eifrig mit. »Wieder nichts!«, rief er erbost aus und zerriss den Tippzettel. »Ich hole mir ein Bier, ja, Regine?«
Da sie nicht mittrinken wollte, trank er gleich aus der Flasche. Er behauptete immer, so schmecke es besser.
Der Serien-Krimi lief. Martin machte wie üblich seine Bemerkungen dazu. Er verfolgte, im Gegensatz zu Regine, mit Interesse den Film. Ihre Gedanken zerflatterten. Vor das ziemlich brutale Geschehen, das da vor ihren Augen abrollte, schoben sich andere Bilder …
Ein weißes Haus auf den Hügeln, von Palmen und Zypressen umgeben, silbrigsprühende Wasserfontänen. Ein Garten mit Marmorstatuen von bleicher Schönheit. Stille und Kühle in den hohen Bäumen, auch wenn draußen die Hitze glühte. Und darin dieser Mann, Roberto Valli, nur mittelgroß, schmal, fast zu schmal die Gestalt für das Haupt, das er trug. Ein Mann voller Widersprüche, nicht nur im Äußeren.
Regine wäre jetzt gern in der Stille gesessen und hätte die flüchtigen Bilder vor ihrem geistigen Auge festgehalten. Aber da war der Fernseher und natürlich Martin.
Martin schlug sich auf die Schenkel. »Donnerwetter, den hätte ich nicht für den Mörder gehalten! Du?«
»Nein, ich auch nicht.« Dabei hatte sie nur eine blasse Ahnung, um was es eigentlich gegangen war.
Sie schämte sich ein bisschen, weil es ihr gar nicht ungelegen kam, dass Martin nicht bleiben konnte. Er wollte noch einen Kunden treffen, der erst am späten Abend Zeit hatte. Ehrgeizig und tüchtig war er, das musste man ihm lassen. Es war ihm deshalb auch nicht zu verdenken, dass er danach strebte, in seine eigene Tasche zu arbeiten.
Sie küssten sich, bevor er ging. »Ich freue mich aufs Wochenende, du«, raunte er verliebt, dicht an ihrem Mund.
»Ich mich auch, Martin«, flüsterte sie zärtlich und schmiegte sich in seine starken Arme. Er war ein Mann, bei dem man sich geborgen fühlen konnte.
Sein Wagen stand am Straßenrand unter der Neonbeleuchtung, die den Weg überspannte. Regine öffnete ihr Fenster im 3. Stock, und sie winkten sich noch einmal zu. Dann schloss sie das Fenster wieder. Es war Anfang Februar, und recht kalt.
Den verstorbenen Schriftsteller, den Regine doch sehr gut kannte, hatte Martin mit keinem Wort mehr erwähnt. Nun, Valli war weiter kein Begriff für ihn, auch wenn sie ihm zu Beginn ihrer Bekanntschaft davon erzählt hatte. Wie von jener Zeit in Italien, die ihr unvergesslich bleiben würde.
Nachdem sie ihr Sprachenstudium vor fünf Jahren mit einem Diplom beendet hatte, war sie nach Rom gegangen, wo ein internationaler Verlag eine Sekretärin suchte. Sie freute sich auf die Arbeit, die vielseitig und interessant war, sie war neugierig auf das Leben in dieser von Kunst und Geschichte trächtigen Metropole.
Dort, im Verlag, war sie auf Roberto Valli aufmerksam geworden. Sie hatte schon früher ein Buch von ihm gelesen, das sie sehr beeindruckt hatte. Jetzt kaufte sie sich auch seine anderen Bücher, um sie in der Originalsprache zu lesen. Sie fand seine Gedankentiefe faszinierend.
Persönlich lernte sie ihn eines Tages in dem Café nahe ihrer Arbeitsstätte kennen, wo sie manchmal einen Espresso oder ein Eis zu sich nahm. Da alle Tische mehrfach besetzt waren, näherte Roberto Valli sich dem ihren, an dem sie allein saß. Höflich bat er sie, Platz nehmen zu dürfen. Sie errötete. »Es ist mir eine Ehre, Signor Valli«, sagte sie. Sie kam sich sehr jung und unbedarft vor neben dieser Geistesgröße.
Doch schnell gewann sie ihre Unbefangenheit wieder, denn er war sehr freundlich zu ihr. Ja, er hatte sie schon im Verlag bemerkt. Große schlanke Mädchen mit echt blonden Haaren fielen hier auf. Eine Deutsche, das hatte er sich gedacht. Wie lange sie denn schon in Rom sei?
Regine erzählte von sich. Es erschien ihr leicht, diesem Menschen mit dem silberhaarigen Charakterkopf gegenüber aufgeschlossen zu sein. Sie spürte, dass sie ihm gefiel, sie erkannte es an dem warmen Schein in seinen Augen, mit denen er sie ansah. Oh, diese Begegnung war ein Erlebnis für sie!
»Vielleicht sehen wir uns einmal wieder«, sagte er, als sie wieder in ihr Büro musste und gab ihr seine schmale Hand. »Es würde mich freuen.«
Sie sahen sich wieder. Dieses Café schien sozusagen sein Stammlokal zu sein, wenn er in der Stadt zu tun hatte. Die Kellner behandelten den berühmten Mann bevorzugt, und etwas davon fiel auch auf die junge Regine ab, wenn sie in seiner Gesellschaft sein durfte.
Sie wusste jetzt, dass er außerhalb wohnte, in der Campagna, wie man das römische Umland nennt. Ansonsten wusste sie nur wenig über ihn, außer dem, was im Klappentext seiner Bücher stand: Sein Werdegang, seine Reisen, sein erstes Werk, das ihn bekannt gemacht hatte. Man spürte, dass hier ein Mensch war, der sein Privatleben nicht der Öffentlichkeit preisgab.
Eines Tages fragte er sie, ob sie bereit wäre, ihre Stellung im Verlag aufzugeben und für ihn tätig zu werden. Der Sekretär, der bisher seine Manuskripte in die Maschine geschrieben und die Korrespondenz erledigt hatte, war schon seit geraumer Zeit anderweitig beruflich gebunden. Seitdem harrte vieles auf seinem Schreibtisch der Erledigung. Auch musste in seiner umfangreichen Bibliothek manches geordnet und neu katalogisiert werden.
Regine erglühte vor Freude über dieses Angebot. Konnte sie sich etwas Schöneres denken, als neben diesem bedeutenden Mann zu arbeiten, der ihr auch persönlich sehr sympathisch war.
»Man wird mich nicht so ohne Weiteres freigeben«, wandte sie ein. »Ich habe mich für ein Jahr verpflichtet.«
Roberto Valli wischte ihre Bedenken mit einer Handbewegung fort. »Lassen Sie das meine Sorge sein. Ich werde mit Ihrem Chef sprechen.«
»Es wäre wunderbar!«, sagte sie freimütig, mit leuchtenden Augen.
Mit einem Lächeln in den Mundwinkeln betrachtete er sie. »Warten Sie es ab, Signorina Peters. Vielleicht wird es Ihnen zu einsam bei mir draußen sein …«
»Bestimmt nicht«, versicherte sie überzeugt, und bescheiden fügte sie hinzu: »Ich werde mir alle Mühe geben, Ihren Ansprüchen gerecht zu werden, Signor Valli.«
So war sie, nach nur fünf Monaten im Verlag, zu Roberto Valli gekommen, in sein schönes Haus, in dem er anscheinend allein mit seiner Wirtschafterin Maria wohnte. Jedenfalls deutete nichts auf die Anwesenheit eines Familienmitgliedes hin. Sie bekam ein Zimmer, dessen Einrichtung sie entzückte. Es hatte rosafarbene Seidentapeten, einen Baldachin über dem breiten Bett und zierliche weiße Schleiflackmöbel.
»Das ist viel zu schön für mich«, entfuhr es Regine, die in Rom in einer einfachen Pension gewohnt hatte.
»Es ist ein Tochterzimmer«, sagte Maria, eine kleine flinke Frau um die fünfzig, mit straff zurückgekämmten schwarzen Haaren. »Herr Valli wollte es so.«
»Oh, er hat eine Tochter, das wusste ich nicht. Aber wenn sie nun kommt und ihr Zimmer besetzt findet …?« Fragend sah Regine die andere an. »Ich würde mich auch mit einem bescheideneren Raum zufriedengeben«, fügte sie hinzu.
Marias Gesicht wurde undurchdringlich. »Sie wird nicht kommen«, sagte sie und presste die Lippen zusammen.
»Und …, gibt es eine Signora Valli?«, fragte Regine zögernd. »Oder ist der Signor geschieden, oder verwitwet?«
»Für einen strenggläubigen Katholiken gibt es keine Scheidung«, erklärte Maria abweisend. Mehr zu sagen schien sie nicht bereit, und Regine wagte auch nicht weiterzufragen. Sie war hier angestellt mit einem großzügigen Gehalt, alles andere hatte sie nichts anzugehen.
Dennoch entwickelte sich ihre Beziehung anders als zwischen Arbeitgeber und Angestellter. Sie verehrte Roberto Valli, ja, sie empfand eine tiefe, bewundernde Zuneigung für ihn, und er zeigte ihr, dass er nicht nur mit ihrer Arbeit zufrieden war, in die sie sich mit Feuereifer gestürzt hatte, sondern dass sie ihm auch eine liebe, angenehme Hausgenossin war. Öfter speisten sie zusammen, oder er forderte sie auf, ihn auf einem seiner ausgedehnten Spaziergänge zu begleiten, die er gern unternahm. Regine entwickelte ein feines Gespür für seine Stimmungen, sie wusste zu schweigen, wenn er nicht reden wollte, und das war häufig der Fall. Er schien dann vergessen zu haben, dass sie neben ihm stand. Manchmal wunderte sie sich, dass er sie trotzdem bei sich haben wollte. Aber irgendwie beglückte sie das auch. »Sie brauchen mir nicht immer zur Verfügung zu stehen, Regine«, sagte er einmal. Sie hatte ihn gebeten, sie beim Vornamen zu nennen. »Wenn Sie etwas unternehmen wollen, werde ich mich darauf einrichten. Sie erwähnten irgendwann einen Kollegen, der Ihnen das antike Rom gezeigt hat. Vielleicht möchten Sie ihn wiedersehen?«
Regine schüttelte den Kopf. »Ich lege keinen Wert darauf, diese Bekanntschaft zu vertiefen«, erklärte sie. »Ich will keine Hoffnungen erwecken, die ich doch nicht erfüllen kann … Nein, Signor Valli …! Ich brauche keine Zerstreuung. Ich bin sehr glücklich hier bei Ihnen.«
»Bei einem alten Mann, dessen Manuskripte Sie entziffern müssen?«, fragte er mit einem kleinen Lächeln.
»Ich könnte mir keine schönere und bedeutsamere Arbeit wünschen. Es ist eine Bereicherung für mich«, bekannte sie.
Sein Blick ruhte mit einem Ausdruck großer Wärme auf ihr. »Sie sind ein ganz besonderes Mädchen, Regine«, sagte er bewegt. Und, nach einigen Sekunden des Schweigens: »Eine Tochter wie Sie sollte man haben …« Seine Stimme klang rau.
Seine Tochter – zum ersten Mal in all diesen Wochen, die sich schon zu Monaten rundeten, erwähnte er sie. Denn es gab sie doch. Sie hatte ein Zimmer in ihrem Vaterhaus gehabt. Regine befeuchtete mit der Zungenspitze ihre Lippen.
»Als ich hier einzog«, begann sie stockend, »da sagte Maria, das Zimmer, das ich bewohne …«
»Hören Sie auf!«, unterbrach Roberto Valli sie mit einer Schroffheit, die Regine tief erschrocken erstummen ließ. »Maria sollte den Mund halten. Ich dulde kein Geschwätz in meinem Haus.«
Sein Blick war so hart, seine Züge so finster, dass Regine glaubte, plötzlich einen ganz anderen Menschen vor sich zu haben.
»Entschuldigung«, stammelte sie. Doch er hatte sich schon abgewandt und mit steifen Schritten den Raum verlassen.
Erst Stunden später sah sie ihn wieder. Sie saß an der Schreibmaschine in dem Zimmer, das er ihr für die Arbeit zugewiesen hatte. Er kam herein, trat von hinten auf sie zu und legte ihr in einer leichten Berührung die Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid, dass ich unfreundlich zu Ihnen war«, sagte er.
Regine ließ die Finger von den Tasten sinken. »Mir tut es leid, dass ich offenbar an ein Tabu gerührt habe.« Mit einem klaren, ernsten Blick sah sie zu ihm auf. »Und Maria möchte ich in Schutz nehmen. Sie schwatzt nicht. Sie hat damals nur eine kurze Bemerkung gemacht. Sonst hat sie kein Wort darüber verloren.«
»Schon gut«, sagte er etwas müde. »Vergessen wir das. Ich möchte Sie bitten, mir nachher einen Brief zu übersetzen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mitten im Kapitel aufzuhören.«
Jetzt war er wieder höflich, rücksichtsvoll. Nie mehr, schwor sich Regine, nie mehr in der Welt wollte sie ihm wehtun.
Aber ein Zufall sollte sie doch wieder auf das Geheimnis um diese Tochter bringen.
Der Hausherr war in die Stadt gefahren, wo er von Zeit zu Zeit einiges zu erledigen hatte. Regine räumte die Bibliothek auf, wo Hunderte von Büchern die wandhohen Regale füllten. Sie waren teilweise wahllos zusammengestellt. Valli wollte sie gern nach Kategorien geordnet wissen.
Regine hatte sich schon eine Übersicht verschafft und ging methodisch an die Arbeit. Sie nahm Bücher heraus und legte sie auf andere dem Inhalt nach dazugehörige. Da geschah es, dass zwei Bretter zusammenbrachen, die sie wahrscheinlich zu sehr belastet hatte. Unglücklich besah sie sich die Bescherung. Dabei konnte sie noch froh sein, dass keines der schweren Holzbretter sie getroffen hatte. In wirrem Durcheinander lagen nun die Bücher auf dem Boden, teilweise aufgeschlagen. Und die Bretter konnte sie unmöglich wieder allein einfügen. Regine seufzte auf.
Da fiel ihr ein, dass der Gärtner heute da war. Ja, Tonio konnte ihr helfen. Das war ein freundlicher, umgänglicher Mann, der in regelmäßigen Abständen kam, um alles in Ordnung zu halten.
Regine verließ das Haus, um nach ihm zu suchen, sie fand ihn im Garten, bei den Oleanderbüschen.
»Tonio«, sagte sie kläglich, »mir ist etwas ganz Dummes passiert. Würden Sie mal mit mir in die Bibliothek kommen? Bitte!«
Bereitwillig stellte er das Wasser ab und legte den Schlauch beiseite. »Da müssen wir noch was freimachen«, meinte er im Haus, »sonst komme ich da nicht ran.«
Also räumten sie noch weitere Bücher aus. Plötzlich kam etwas zum Vorschein, das dort nicht hingehörte. Ein Bild war es, ein Gemälde. Verwundert zog Regine es hervor. Es war das Porträt eines schönen jungen Mädchens, mit lang herabfallenden schwarzen Locken, dunklen Augen und einem roten lächelnden Mund.
»Signorina Elena«, sagte der Gärtner, mit einem merkwürdigen Blick. »Nicht einmal ein Bild von ihr wollte er mehr sehen. Was für ein Vater!« Er schüttelte den Kopf.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Signor Valli ein schlechter Vater war, oder ist«, erwiderte Regine mit belegter Stimme.
»Jagt einer sonst seine eigene Tochter aus dem Haus?«, fragte Tonio und fuhr in seiner Arbeit fort. Seine Miene war düster.
»Wenn es so ist, dann muss er wohl seine Gründe gehabt haben.« Regine betrachtete das Mädchengesicht, das Lebenslust und Sinnesfreude ausstrahlte. Aber was konnten das wohl für Gründe gewesen sein, rätselte sie.
»Sie war nicht schlecht«, widersprach der Gärtner. »Nur eben anders. Kinder sind manchmal anders wie man sie sich wünscht. Ich habe selber fünf, ich weiß das. Bei Elena war es ein Erbteil von ihrer Mutter. Die ist ja eines Tages auf und davon gegangen.«
»Ohne ihr Kind?«, fragte Regine bestürzt. Tonio zuckte die Achseln. »Er hat es ihr wohl nicht gelassen. Er kann sehr hart sein.« Plötzlich richtete Tonio sich auf. Er sah auf Regine und bewegte unbehaglich die Schultern. »Stellen Sie das Bild wieder zurück, Signorina. Ich hätte Ihnen das nicht erzählen sollen. Es kann mich meinen guten, langjährigen Job hier kosten. Sie werden mich nicht verraten?« Sorgenvoll war sein Blick auf sie gerichtet.
»Nein, Tonio, da können Sie ganz beruhigt sein«, versprach Regine. »Ich habe selber schon erfahren, wie empfindlich Signor Valli auf diese Geschichte reagiert.« Sie brachte das Bild wieder in seinem Versteck unter und Tonio befestigte die Bretter davor. Dann bedankte sie sich für die freundliche Hilfe und gab ihm ein Trinkgeld.
Regine fühlte sich verwirrt, während sie sich bemühte, alles wieder in Ordnung zu bringen. Ein Schatten war auf das Bild des von ihr so sehr verehrten Mannes gefallen.
Ein Jahr verging. Regine erlebte, wie sein Roman in Druck gegeben wurde, in hoher Auflage erschien und rühmende Besprechungen bekam. Valli schenkte ihr eines der ersten Exemplare mit einer herzlichen Widmung darin. Stolz, mit geröteten Wangen, nahm sie es in Empfang. Ein ganz klein wenig fühlte sie sich doch auch daran beteiligt. Wenn sie das handschriftliche Manuskript auch nur abgeschrieben hatte, so hatte sie doch mit aller Sorgfalt daran gearbeitet.
Und wieder saß der produktive Autor manchmal bis in die Nacht hinein an seinem Schreibtisch, ein neues Werk entstand, die Blätter häuften sich, Regine hatte zu tun …
»Wann kommst du denn nur endlich nach Hause?«, schrieb die Mutter. »So lange wolltest du doch gar nicht fortbleiben. Wir vermissen dich alle sehr.«
Alle, das waren Vater und Mutter und die beiden jüngeren Geschwister Hansjörg und Sabine. Sie hingen in Liebe aneinander. Joachim Peters war Beamter, es ging nicht gerade üppig bei ihnen zu, aber sie hatten immer ein warmes Heim gehabt.
»Bald«, schrieb Regine zurück. Doch sie schob es von Monat zu Monat hinaus. Wenn sie erst fortging, würde sie nicht mehr wiederkehren, und es hing doch ein Stück ihres Herzens an Robert Valli und dem Haus.
Dann trat etwas ein, das sie zu einer raschen Entscheidung zwang. Die Mutter war krank geworden, sehr krank. Der Vater war verzweifelt, die halbwüchsigen Geschwister hilflos ohne die sorgende Hand.
»Ich muss nun heim«, sagte Regine zu Roberto Valli.
»Ich sehe es ein«, sagte er.
Sie machten den Abschied kurz. Bei Regine wurde er überdeckt von der Angst um die Mutter. Ein trauriger, einsamer Mann blieb zurück.
*
Die junge Frau, die, im Sessel sitzend, all diese Bilder an sich vorüberziehen ließ, strich sich mit der Hand über die Stirn. Wie mochte sein Ende gewesen sein? Sie hatte nichts mehr von ihm gehört. Einmal hatte sie ihm noch geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Der Roman, den er seinerzeit begonnen hatte, war nicht erschienen. Nein, einen neuen Valli gab es nicht, wurde ihr auf Anfragen in Buchhandlungen mitgeteilt. Vielleicht war er krank geworden und konnte ihn nicht vollenden.
Ihre Mutter hatte die schwere Krankheit gottlob überstanden. Regine hatte den Haushalt geführt, bis sie sich so weit erholt hatte, dass sie die Zügel wieder selbst in die Hand nehmen konnte. Mit ihrer guten Ausbildung fand Regine bald eine Anstellung in einer großen Firma. Es war eine recht nüchterne Arbeit im Vergleich zu der vorherigen, an die sie noch manchmal mit leiser Wehmut zurückdachte. Aber sie konnte sich nun eine eigene Wohnung leisten, und dann lernte sie Martin Hiller kennen und lieben. Mit ihm hoffte sie ein dauerhaftes Glück zu finden.
Regine stand auf, um sich für die Nacht fertig zu machen. Im Schein der Lampe neben ihrer Bettcouch las sie in einem Buch von Roberto Valli, der nun nie mehr zur Feder greifen würde.
*
Es war zu Beginn der übernächsten Woche, als Regine gegen halb sechs aus dem Büro kam und eine Nachbarin ihr mitteilte, dass der Postbote einen Einschreibbrief für sie hatte. »Aber er wollte ihn mir nicht aushändigen«, entrüstete sie sich, »obwohl ich ihm sagte, dass Sie doch morgens nie zu Hause sind. Da müsste ich eine Vollmacht haben. Als ob ich den unterschlagen würde!«
»Er hat seine Vorschriften«, beschwichtigte Regine die alte Dame und nahm die Karte, die diese ihr vorhielt. Mit ihrer Unterschrift bestätigte sie, dass Frau Ida Born den eingeschriebenen Brief in Empfang nehmen dürfe.
Am Dienstagabend – es war etwas später geworden, weil Regine noch Einkäufe gemacht hatte – übergab Frau Born ihr mit wichtiger Miene den Brief. »Aus Italien«, sagte sie mit bedeutungsvollem Blick.
Regine bedankte sich und verabschiedete die Nachbarin, die wohl gern eine nähere Auskunft gehabt hätte. Aber Regine konnte sich selber nicht erklären, was ein Dr. Paolo Monta aus Rom ihr mitzuteilen hatte. Ein Anwalt, wie sie aus dem Absender ersah. Verwundert und gespannt schlitzte sie den Umschlag auf. Ihre Augen überflogen die Zeilen … Sie musste sie zweimal lesen, denn sie glaubte zu träumen … Das gab’s doch nicht!
Es stand geschrieben:
Sehr geehrte Signora, hiermit teile ich Ihnen mit, dass der verstorbene Signor Roberto Valli Sie lt. Testament zur Erbin seines Hauses einschließlich Inventar und Grundbesitz sowie der Hälfte seines Vermögens bestimmt hat.
Zur Erledigung der erforderlichen Formalitäten und Besprechung weiterer Einzelheiten werden Sie gebeten, mich baldmöglichst in meinem Büro aufzusuchen.
Mit vorzüglicher Hochachtung Dr. Paolo Monta
Mit dem Briefbogen in der Hand, ließ Regine sich auf einen Stuhl fallen. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Allmählich begriff sie, was diese knappen, sachlich abgefassten Sätze für sie bedeuteten. Warum gerade ich, fragte sie sich, warum soll ich ein Traumhaus erben und plötzlich reich sein. Wer war ich denn für Roberto Valli. Ein Mädchen aus Deutschland, seine Sekretärin. Sie konnte noch keine Freude darüber empfinden, eher war es Beklommenheit, was ihr den Atem stocken ließ. Ein solches Glück fiel einem doch nicht in den Schoß. Sie fühlte sich wie hinausgeschleudert aus ihrem bis dahin in so ruhigen Bahnen verlaufenem Leben.
Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte in ihrer totalen Verwirrung, als es klingelte. Erst jetzt fiel es ihr wieder ein, dass Martin ja heute kommen wollte.
Regine sprang auf und öffnete ihm die Tür.
»Ich bin völlig durcheinander«, empfing sie ihn.
»Wieso, was ist denn los?«, wunderte er sich. Aufgeregt zog sie ihn herein. »Ich habe geerbt!«, stieß sie hervor und nahm das Briefblatt vom Tisch und gab es ihm.
»Italienisch! Das kann ich doch nicht lesen. So ein kluges Kind wie du bin ich nicht.«
Regine übersetzte ihm den Inhalt, dann sah sie ihn an. Mit halb offenem Mund erwiderte Martin ihren Blick.
»Menschenskind, das ist ja’n Ding«, brachte er endlich über die Lippen. »Valli – dessen Bild haben wir doch neulich erst im Fernsehen gesehen. Jetzt erinnere ich mich. Der muss doch ne Menge mit seinen Büchern verdient haben. Und von dem Haus hast du mir früher mal regelrecht vorgeschwärmt. Den beerbst du? Ich werd verrückt.«
»Ich kann’s auch noch nicht fassen«, sagte Regine und strich das Haar an ihrer Schläfe zurück.
Martin fasste sich schneller. Mit einer übermütigen Bewegung riss er sie an sich. »Regine, jetzt werden wir reiche Leute! Jetzt kann ich mich selbstständig machen. Oder du verkaufst das Haus, und wir leben erst mal eine Weile in Saus und Braus. Wie wäre das denn, hm?«
Sie machte sich von ihm los. Ihr Blick ging an ihm vorbei. Sie sah das Haus vor sich, in seiner ganzen Schönheit. »Ich weiß nicht, ob ich es verkaufen würde«, sprach sie vor sich hin.
»Na hör mal! Was sollen wir mit einem Haus da unten? Das wäre doch nur ein Klotz am Bein. Na ja«, unterbrach er sich und wiegte überlegend den Kopf, »man könnte es unter Umständen auch zu einem horrenden Preis vermieten, wenn es wirklich so große Klasse ist. Solche Objekte sind gefragt.« Er lachte erregt. »Lass mich nur machen, Regine. Wozu bin ich im Immobiliengeschäft tätig.«
»Ich war glücklich dort«, murmelte sie, als seien seine Worte an ihrem Ohr vorbeigegangen.
»Wie du das sagst …« Sein Lachen verschwand. Ein Verdacht keimte in seinen Augen auf. »Sag mal, hast du vielleicht was mit dem Alten gehabt?«, fragte er brüsk.
Regine fuhr herum. Ihre Augen sprühten. »Wie kannst du es wagen, so etwas auszusprechen, oder auch nur zu denken. Roberto Valli war fast fünfundvierzig Jahre älter als ich, er hätte mein Großvater sein können!«, hielt sie ihm aufgebracht entgegen.
»Soll alles schon vorgekommen sein«, behauptete er mit einem schiefen Lächeln.
Regine schwieg verletzt. Sie presste die Lippen zusammen und wandte sich ab. Es kam ihr vor, als habe er etwas beschmutzt, was ihr sehr viel bedeutet hatte. Martin hielt sie mit einer Handbewegung zurück.
»Komm, Mädchen, sei nicht gleich beleidigt«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Ich hab’s ja nicht so gemeint. Du kennst mich doch. Ich bin manchmal ein bisschen derb und schnodderig.«
Ja, in der Tat, das war er. Es hatte sie schon manchmal irritiert. Aber sie wollte jetzt keinen Streit mit ihm. »Martin«, begann sie und sah ihn mit einem großen Blick an, »ich weiß ja selber nicht, wie ich dazu komme. Wir empfanden eine große Zuneigung füreinander – irgendwie – ich kann es schlecht erklären.«
»Ist ja auch egal«, fiel Martin ihr ins Wort. »Halten wir uns an die Tatsachen. Da gibt es jetzt eine Menge zu bereden …! Aber erst könnte ich einen Schnaps brauchen. Hast du einen da?«
»Ja. Und dann mache ich uns etwas zu essen. Du wirst hungrig sein.«
»Oder wir gehen essen«, schlug er vergnügt vor, »so ganz groß. Wir könnten doch eigentlich leichtsinnig sein, als Vorschuss auf den Segen hin, der da auf uns zukommen wird.«
Regine wehrte ab. Dazu war sie nicht aufgelegt, und überhaupt, es ging ihr alles viel zu schnell, wie Martin dieser ganzen Angelegenheit gegenüberstand. Noch hatte sie das Erbe nicht angetreten. Es standen noch viele Fragen dahinter.
»Du wirst also morgen, spätestens übermorgen nach Rom fahren«, sagte Martin wenig später, während er im Zimmer auf und ab schritt. »Du kannst in der Firma ja gleich sagen, dass mit dir nicht mehr zu rechnen ist. Als vermögende Frau hast du es nicht mehr nötig, in drei Sprachen Briefe zu tippen. Wenn du zurückkommst, reden wir über alles, und dann werde ich die Geschäfte in die Hand nehmen.« Selbstbewusst reckte er sich auf.
Regine sagte nichts drauf. Sie sah mit gesenkten Lidern vor sich hin. Endlich fiel Martin ihr Schweigen auf.
»Du freust dich ja gar nicht!«, bemerkte er. »Du müsstest doch eigentlich jubeln. Was ist denn los mit dir?«
»Ich weiß nicht – ich kann noch nicht richtig daran glauben …«
»Aber du hast es doch schwarz auf weiß!«, rief er aus. »Da kann doch gar nichts mehr passieren.«
»Valli hat eine Tochter«, sagte Regine mit einem verlorenen Blick. Martin stutzte.
»Eine Tochter?«, fragte er verdutzt. »Wieso, davon hast du mir noch gar nichts erzählt. Ich denke, er war allein.«
»Das war er auch. Seine Frau soll ihn verlassen haben, und mit der Tochter hat er sich wohl nicht verstanden. Er soll sie aus dem Haus gewiesen haben. Aber das alles weiß ich nicht von ihm, sondern von dem Gärtner. Roberto Valli sprach nie über persönliche Dinge, und man durfte auch nicht daran rühren.«
»Muss ja ein seltsamer Vogel gewesen sein«, meinte Martin abschätzig. Aber sein Unbehagen verflüchtigte sich schnell. »Dann wird er die Tochter enterbt haben«, vereinfachte er die Dinge, »oder sie kriegt die Hälfte des Vermögens. Die andere Hälfte, die für dich, wird ja wohl hoffentlich auch noch beträchtlich sein. Und auf alle Fälle hast du das Haus. Warte ab, daraus werde ich das größtmögliche Kapital schlagen, Regine.« Er rieb sich die Hände. »Darauf werden wir jetzt ein Glas Sekt trinken. Ich habe gesehen, du hast eine Flasche im Kühlschrank.« Pfeifend ging er zur Küche und ließ den Korken knallen. Regine stand auf und nahm zwei Gläser heraus. Sie verstand es auch nicht, warum sie nicht glücklicher war. Aber sie lächelte mit bebenden Lippen, als sie sich zuprosteten.
»Auf eine wunderbare Zukunft!«, sagte Martin strahlend.
»Ja«, sagte Regine und trank.
*
Dr. Paolo Monta empfing Regine mit ausgesuchter Höflichkeit. Er war ein mittelgroßer, unauffälliger Mann um die fünfzig, mit straff zurückgekämmtem dunklem Haar, in das sich einige graue Fäden mischten, und sehr wachen, aufmerksam blickenden Augen. Er kam sofort zur Sache.
»Ich habe alles vorbereitet«, sagte er und schlug einen Aktenordner auf. »Hier ist das Testament, und hier der Erbschein.« Er nahm beide Schriftstücke heraus und legte sie vor Regine hin. »Außerdem habe ich noch einen persönlichen Brief von Signor Valli für Sie … Bitte.« Er überreichte ihr den verschlossenen Umschlag. Regine nahm ihn an sich.
»Ich verstehe immer noch nicht, wieso Signor Valli dazu kam, mich als Erbin einzusetzen«, sprach sie verhalten. »Ich war doch nur seine Sekretärin.«
»Sie waren viel mehr für ihn, Signora Peters«, entgegnete der Advokat. »Er hat viel von Ihnen gesprochen in seinen letzten Tagen.«
»Er bedeutete mir auch viel. Ich habe ihn sehr verehrt.« Sie hob den Blick, Trauer war in ihren Augen. »Woran ist er gestorben?«
»Er erlitt einen Herzinfarkt. Er lag noch vierzehn Tage in der Klinik, aber er erholte sich nicht mehr davon. Ich setzte dieses Testament mit ihm auf, denn ich war schon seit Jahren sein Anwalt und kannte ihn gut … So weit«, schränkte er ein, »man eine widersprüchliche Persönlichkeit wie Roberto Valli eben kennen konnte.« Er zögerte einen Moment, bevor er gedankenvoll hinzufügte: »Er hatte eine Frau, und eine Tochter – und er hatte doch beide nicht.«
»Aber haben sie nicht Anspruch auf das Erbe, anders als ich, eine Fremde?«, fragte Regine beklommen.
Dr. Monta legte die Fingerspitzen vor sich auf dem Schreibtisch zusammen. »Seine Frau«, begann er in erklärendem Ton, »verzichtete auf alle Ansprüche, als sie ihn verließ. Sie wollte frei sein. Das ist wohl an die zwanzig Jahre her. Sie scheidet also aus. Seine Tochter Elena ist vor zwei Jahren tödlich verunglückt.«
Regine zuckte zusammen. »Das musste aber doch schlimm für Signor Valli gewesen sein«, brachte sie stockend hervor, »auch wenn …« Etwas hilflos verstummte sie.
»Wenn er sich mit ihr entzweit hatte, meinen Sie«, vollendete der Anwalt. »Ja, sie waren wie Feuer und Wasser, Vater und Tochter. Sie war, ganz im Gegensatz zu ihm, sehr freizügig in ihren Ansichten. Eine temperamentvolle moderne junge Frau, die leben wollte, wie es ihr gefiel. Als sie schließlich ein Kind erwartete und den Mann nicht heiraten wollte, wies er ihr die Tür und verbot ihr, ihm jemals wieder unter die Augen zu treten.« Er sah Regine an, die ihm mit blasser Miene zugehört hatte. »Ob es schlimm für ihn war, erst nach ihrem Tode wieder von ihr zu hören?« Ungewiss hob er die Schultern. »Er hat es erst viel später erfahren. In den letzten Jahren war er wieder viel auf Reisen gegangen, wie von einer inneren Unruhe getrieben …«
»Und das Kind?«, fragte Regine mit angehaltenem Atem. »Lebt es?«
»Ja. Es ist ein Mädchen, heißt Lucia und ist jetzt etwa fünf Jahre alt.« Ein bedeutsamer Ausdruck trat in seinen Augen. »Und damit komme ich auf die erste Bedingung, die an das Testament verknüpft ist: Sie sollen herausfinden, wo das Kind jetzt lebt, zunächst einmal …«
»Das weiß man gar nicht?«, entfuhr es Regine.
»Nein. Signor Valli hat seine Enkelin nie gesehen. Am Ende seines Lebens hat er das sehr bereut. Aber da war es zu spät.«
»Aber wie soll ich das denn herausfinden?«, fragte Regine verwirrt. »Ich wüsste nicht, wo ich da ansetzen sollte.«
»Die letzte Adresse von Elena Valli ist bekannt. Von da aus wird vermutlich eine Spur zu dem Kind führen. Eventuell müsste man einen Detektiv darauf ansetzen. Die Mittel dafür stehen Ihnen ja zur Verfügung. Dann, Signora, sollen Sie das Kind wie Ihr eigenes großziehen, ihm eine gute Ausbildung geben und ihm eine liebevolle Mutter sein.«
Regines Lider zuckten. Ihre Gedanken überstürzten sich. Sie sollte für immer hier leben? Gebunden sein an ein völlig fremdes Kind?
»Mit Lucias Volljährigkeit«, hörte sie den Anwalt mit sachlicher Stimme weitersprechen, »kann sie über die Hälfte des hinterlassenen Vermögens verfügen, das bis dahin auf einem Sperrkonto ruht. Die andere Hälfte, wie Sie bereits wissen, Signora Peters, steht Ihnen zur Verfügung«, fuhr er fort. »Hinzu kommen die eingehenden Tantiemen der Bücher, die ebenfalls halbiert werden. Nach Ihrem Tode erbt Lucia Valli das Haus, und den Grundbesitz.«
Regine holte tief Atem. Es war unvorstellbar, dass sie Millionärin sein sollte. Aber dies erschien ihr im Augenblick gar nicht so wichtig. »Ich weiß nicht, ob ich die Erbschaft annehmen kann«, sagte sie in plötzlicher Panik.
»Warum nicht?«, fragte der Anwalt ruhig.
»Weil …, ich fühle mich der Aufgabe nicht gewachsen, Lucia Valli an Kindesstatt anzunehmen«, stammelte sie. »Ich kann auch nicht für immer in Italien bleiben, ich habe doch meine Familie in Deutschland.« Und Martin, fügte sie bei sich hinzu. Ja, was würde Martin zu alldem sagen? Nervös nestelte sie an ihrer Handtasche, befeuchtete mit der Zungenspitze ihre Lippen. »Was würde mit dem mir zugedachten Erbe geschehen, wenn ich es ablehne?«
»Dafür hat der Verstorbene keine Vorsorge getroffen«, antwortete Dr. Monta. »Er war überzeugt, dass Sie sein Vermächtnis erfüllen würden. Er wollte Ihnen und seinem Enkelkind damit ein sorgenloses Leben bereiten – Signora Peters!« Er beugte sich ein wenig vor über seinen Schreibtisch und sah der ihm gegenübersitzenden jungen Frau zwingend in die Augen. »Es wäre sehr töricht von Ihnen, wenn Sie das Erbe ausschlügen.« Fast väterlich war sein Ton jetzt. »Ich gebe Ihnen drei Tage Bedenkzeit. Dann kommen Sie wieder zu mir und geben mir die erforderlichen Unterschriften. Sie würden es sonst eines Tages sehr bereuen, dessen bin ich ganz sicher.«