Читать книгу Mami Bestseller 19 – Familienroman - Gisela Reutling - Страница 3
ОглавлениеWenn das alles ist – dachte Christiane, während sie in die trüben Fluten des Kanals blickte, die sich träge gegen die Brückenpfeiler schoben – wenn das die Liebe sein soll, die höchste Erfüllung, die zwei Menschen finden können…
Sie schob die Hände in die Taschen ihres Mantels. Es war kalt an diesem frühen Märzmorgen, über dem Wasser trieben feuchte Nebelstreifen.
Uwe Hallweg schlief sicher noch fest unter seiner seidenen Steppdecke, in seiner eleganten, mit allem erdenklichem Komfort ausgestatteten Junggesellenwohnung. Er hatte auch geschlafen, als sie sich leise davongeschlichen hatte – nicht etwa, weil sie sich schämte, sondern weil sie einfach nicht wußte, weshalb sie noch länger bei ihm bleiben sollte. Für ihn bedeutete diese Nacht mit einem Mädchen ohnehin nur ein flüchtiges Abenteuer.
Ein Frachtdampfer näherte sich langsam. Er war voll beladen und zeigte am Bug die Flagge der Niederlande. Neben der Kajüte hingen ein paar Wäschestücke feucht und schwer von der Leine herab. Wie sie wohl lebten, die Leute auf solchen Schiffen, die ihre Lasten so geruhsam über die Flüsse und Kanäle beförderten, fern von der Hast und Betriebsamkeit dieser Zeit?
Christiane war so in ihre Betrachtungen versunken, daß sie zusammenzuckte, als eine Männerstimme neben ihr sagte: »Was tun Sie denn hier?«
Langsam wandte sie den Kopf und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. »Geht Sie das etwas an?« fragte sie kühl.
»Nein, eigentlich nicht.« Der junge Mann lächelte flüchtig. »Ich beobachte Sie nur schon eine ganze Weile. Es ist doch ein bißchen beängstigend, wenn ein Mädchen zu dieser Stunde unbeweglich am Wasser steht.«
»Ach, Sie dachten, ich wollte mich da hineinstürzen? Ich denke gar nicht daran. – Außerdem bin ich eine zu gute Schwimmerin, als daß ich mich auf solche Weise umbringen könnte«, fügte sie scherzhaft hinzu.
Der junge Mann blickte sie wieder an. Nein, labil oder zu unüberlegten Handlungen fähig sah das fremde Mädchen gewiß nicht aus. Aber das hatte er von weitem nicht wissen können, da war nur etwas sehr Verlorenes um diese schmale Gestalt gewesen, etwas, das ihn einfach gezwungen hatte, anzuhalten und auszusteigen.
Schöne dunkle Augen hat sie, mußte er denken – und überhaupt gefiel ihm dieses klare feingeschnittene Gesicht ausnehmend gut, obwohl es jetzt sehr blaß und übermüdet aussah.
»Wenn Sie wollen, nehme ich Sie ein Stück mit«, sagte er und machte eine Kopfbewegung zu seinem Wagen hin, der auf der anderen Seite der Brücke hielt.
»Nein, danke, ich gehe lieber zu Fuß«, gab Christiane knapp und bestimmt zurück.
»Schade.« Der junge Mann, der keinen Mantel trug, zog das Ende seines langen Strickschals fester um den Hals. »Ich hätte mich gern noch mit Ihnen unterhalten.« Er wandte sich halb um, und unwillkürlich drehte auch Christiane den Kopf. Jetzt erst sah sie den Lieferwagen, der das Signum und den Namen einer bekannten Zeitschrift trug. »Ja, ich fahre Zeitungen aus für einen Großvertrieb«, fuhr der Fremde erklärend fort. »Von irgend etwas muß der Mensch ja leben, wenn er nicht mit einem goldenen Löffel auf die Welt gekommen ist.« Er lächelte beinahe vergnügt, aber dann lag in seinem Blick doch ein leises Bedauern, als er verabschiedend sagte: »Also, ein schönes Wochenende, und auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen.« Sekundenlang sah sie ihm nach, wie er davonging, langbeinig, schlank, mit blonden Haaren. Er war eigentlich nett, mußte sie denken, aber sie vergaß es gleich wieder. Sie fror jetzt erbärmlich in ihrem dünnen Seidenkleid, das sie unter dem Mantel trug.
Bis zu dem Haus am Stadtrand, in dem sie eine kleine Wohnung hatte, war es nicht mehr allzu weit. Sie schritt rasch aus und fühlte, wie ihr allmählich wärmer wurde. Sie freute sich darauf, ausschlafen zu können und ein Wochenende vor sich zu haben, an dem sie tun und lassen konnte, was ihr gefiel.
Uwe Hallweg rief nicht an. Sie hatte es auch kaum anders erwartet, aber sie war trotzdem erleichtert, als auch der Sonntag verging, ohne daß das Telefon klingelte.
»Hoffentlich begegne ich ihm morgen nicht in der Firma, dachte Christiane, während sie ihre Sachen für den nächsten Tag bereitlegte. Aber das Verwaltungsgebäude der Hoch- und Tiefbau-Gesellschaft Hallweg war groß, und außerdem war der Juniorchef nur selten in seinem Büro. Noch hielt sein Vater, Richard Hallweg, die Zügel fest in der Hand.
Der Sohn führte die Verhandlungen mit den auswärtigen Geschäftspartnern und kümmerte sich um die weitverzweigten Niederlassungen – das war die offizielle Version. Aber man munkelte, daß er vor allem sein Leben genoß, das Leben eines reichen jungen Mannes, der sich nichts zu versagen braucht und überall dort zu finden ist, wo die große Welt sich trifft.
Am Freitagabend war er völlig überraschend auf dem Betriebsfest der Firma aufgetaucht, zum Entzücken der anwesenden Damen, zur Verärgerung der Herren, die sich von diesem blendend aussehenden Playboy in den Schatten gestellt fühlten.
Christiane fand es peinlich, wie ihre Kolleginnen ihm schöne Augen machten, und sie sah betont gleichgültig über ihn hinweg. Gewiß, Uwe Hallweg sah sehr gut aus mit seinem dunklen Haar, der gebräunten Haut und den dunklen Augen, aber sein ganzes Auftreten, sein strahlendes Lächeln mit blitzendweißen Zähnen erschien ihr allzu erfolgsgewohnt.
Sonderbarerweise hatte er sie zuerst zum Tanz aufgefordert. Er tanzte wunderbar, aber sie hatte nur spöttisch gelächelt, als er zu ihr sagte: »Sie sind das schönste Mädchen im ganzen Saal.«
»Sie werden heute abend sicher noch oft Gelegenheit finden, dieses liebenswürdige Kompliment anzubringen, Herr Hallweg!«
Zuerst hatte er sie verdutzt angesehen, wahrscheinlich hatte er eine andere Wirkung seiner Worte erwartet, dann lachte er. »Sie irren sich. Ich möchte, daß Sie meine Partnerin sind, nur Sie allein!«
»Ist das ein Befehl?«
»O nein. Eine Bitte!« Dabei hatte er ihr tief in die Augen geblickt und sie etwas näher an sich gezogen. Es erregte sie auf eine seltsame Weise. Und gleichzeitig packte sie ein gewisser Übermut.
»Ich fürchte, Sie können es sich nicht erlauben, Ihr ganzes Interesse einer einzigen Dame zuzuwenden. Als Sohn des Gastgebers haben Sie doch Pflichten, oder?«
Er verzog den Mund ein wenig. Es klang arrogant, als er entgegnete: »Ich kann mir alles erlauben, und das Wort ›Pflicht‹ höre ich gar nicht gern.«
Sie hatte gedacht: Wenn du nicht zufällig als Sohn eines Millionärs zur Welt gekommen wärst, dann wüßtest du eher, was es heißt, Pflichten zu haben. So ist deine Karriere natürlich gesichert, ohne daß du in den Niederungen des harten Alltags herumzukriechen brauchst. Sie fühlte seinen Blick, und sie erwiderte ihn. Uwe Hallweg lächelte hintergründig.
»Sie scheinen nicht ganz einverstanden mit mir zu sein. Wie heißen Sie eigentlich?«
»Christiane Mellin.«
»Christiane. Ich werde Sie Chris nennen. Trinken Sie ein Glas Sekt mit mir, Chris?«
So hatte es angefangen. Uwe Hallweg flirtete mit ihr, und sie ging aus irgendeiner Laune heraus auf dieses Spiel ein. Sie spürte die neidischen Blicke der anderen in ihrem Rücken und fühlte sich dadurch herausgefordert.
Man hatte ihr oft genug zu verstehen gegeben, wie komisch es sei, daß sie mit ihren zweiundzwanzig Jahren noch keinen Freund hatte. Die Gespräche der Mädchen drehten sich um nichts anderes, und selbst ihre Freundin Barbara, mit der sie sich sonst gut verstand, hatte ihr einmal unverblümt erklärt, sie müsse nicht ganz normal sein, wenn sie ohne Liebe leben könne.
»Wie oft waren Sie schon verliebt, Chris?« fragte Uwe Hallweg, als es auf Mitternacht zuging und sie einen Letkiss zusammen tanzten.
»Tausendundeinmal«, lachte Christiane. Was ging es ihn an, daß sie noch nie verliebt gewesen war? Auch diesmal war sie es nicht, ihr Verstand blieb wach und kühl, sie beobachtete sich selbst neugierig, während sie dem stürmischen Werben Uwe Hallwegs mit einem Lächeln begegnete.
Natürlich wollte er sie dann nach Hause bringen, und natürlich küßte er sie unterwegs. Er verstand sich aufs Küssen ebensogut wie aufs Tanzen, und als er sie bat: »Du kommst mit zu mir, Chris?«, da widersprach sie nicht.
Warum sollte es nicht Uwe Hallweg sein, mit dem sie ihr erstes Liebeserlebnis hatte?
Aber es war kein Glück dabei, im Gegenteil. Mit einem Gefühl grenzenloser Enttäuschung hatte sie auf den Mann geblickt, den fremden Mann, der sie rasch und ohne Zärtlichkeit nahm und dann an ihrer Seite eingeschlafen war. Leise war sie fortgegangen.
Nein, sie wünschte sich nicht, Uwe Hallweg wiederzusehen. Sie wollte vergessen, was in jener Nacht geschehen war.
*
Vierzehn Tage später. Christiane stand an der Haltestelle und wartete auf den Omnibus. Es war viertel nach fünf; ein häßlicher, trübgrauer Nachmittag mit Nieselregen, in den sich ab und zu ein paar wäßrige Schneeflocken mischten. Mit ihren Gedanken war sie noch bei der Arbeit. Der Brief an Laroche in Paris hatte ihr einige Schwierigkeiten bereitet wegen der zahlreichen technischen Begriffe, die darin vorkamen. Sie wollte ihn morgen noch einmal überprüfen, bevor sie ihn dem Chef zur Unterschrift vorlegte.
Jemand sagte neben ihr: »Man muß sich nur genug wünschen, dann geht es auch in Erfüllung!«
Zuerst wurde es ihr gar nicht bewußt, daß diese Worte ihr galten, doch dann sah sie plötzlich in das Gesicht eines jungen Mannes, der ihr bekannt vorkam. Ach ja, das war der junge Mann, der sie auf der Brücke vor einem vermeintlichen Selbstmordversuch bewahren wollte. Sie nickte ihm freundlich grüßend zu, und er lächelte freudig zurück.
»Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, meine schöne Unbekannte in dieser großen Stadt wiederzufinden«, gestand er ihr. »Hoffentlich sagen Sie mir jetzt nicht, daß Sie gar keine Zeit dazu haben, mit mir eine Tasse Kaffe zu trinken!«
»Etwas Zeit habe ich schon«, gab sie zu, »und eine Tasse Kaffee würde mir jetzt sicher ganz guttun.«
Er lächelte wie jemand, dem man eine große und unverhoffte Freude gemacht hat, und eine kleine warme Welle schlug in ihr empor.
Es waren nur ein paar Schritte bis zu einem netten Café.
Bevor sie sich an einem der kleinen runden Tische niederließen, stellte der junge Mann sich vor: »Ich heiße Andreas Veidt, bin vierundzwanzig Jahre alt und studiere Volkswirtschaft.«
»Also nicht hauptberuflich Zeitungsfahrer«, meinte Christiane lächelnd, während sie sich von ihm den Mantel abnehmen ließ.
»Nein, obwohl das ein guter Job ist. Ich verdiene mir damit, wenigstens teilweise, mein Studium. Anders wäre es für meine Eltern eine zu große Belastung, ich habe noch einige jüngere Geschwister.«
Verständnisvoll nickte sie ihm zu. Auch seine offene, ungezwungene Redeweise berührte sie angenehm. Sie nahmen Platz, und nun nannte auch Christiane ihren Namen.
»Christiane, das ist hübsch, das paßt zu Ihnen«, meinte Andreas Veidt spontan. »Ich hatte Ihnen in meinen Gedanken schon einige Namen gegeben: Elisabeth, Charlotte, Margaret – ja, komisch«, unterbrach er sich etwas verlegen, »es waren lauter altmodische Namen, die mir in den Sinn kamen.«
Christiane zog belustigt die Augenbrauen in die Höhe. »Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment ist«, meinte sie lachend. »Halten Sie mich etwa für ein altmodisches Mädchen?«
»Aber nein, um Gottes willen!« wehrte er rasch ab. »So habe ich das doch nicht gemeint. Aber Sie scheinen mir meilenweit entfernt zu sein von einer gewissen Sorte moderner junger Mädchen, die sich hopp-hopp von einem Mann ins Bett ziehen lassen.« Als er merkte, daß Christiane unvermittelt rot wurde, fügte er etwas zerknirscht hinzu: »Entschuldigen Sie, Fräulein Mellin, unter Studienkollegen lernt man, sich etwas salopp auszudrücken.«
Sie unterhielten sich angeregt über dieses und jenes. Auch Christiane erzählte von sich, daß sie frühzeitig auf sich gestellt war, in Abendkursen Französisch und Englisch erlernt hatte und seit einem Jahr als Fremdsprachensekretärin bei der Firma Hallweg arbeitete.
»Tüchtig, tüchtig!« Andreas Veidt lächelte anerkennend. Dann versank er in ein nachdenkliches Schweigen und rührte mit dem Löffel in seiner Tasse. Endlich begann er zögernd: »Aber es gibt ja sicher jemand, der Rechte auf Sie hat…«
»Wie meinen Sie das?« fragte Christiane erstaunt.
Er sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an. »Ich meine, daß ein Mädchen wie Sie sicher nicht allein ist…«
»Ach so! Nein, ganz allein bin ich nicht, ich habe einen netten Freundeskreis hier. Aber ich bin weder verliebt noch verlobt noch sonst irgendwie gebunden«, erklärte sie lächelnd.
»Dann darf ich Sie also um ein Wiedersehen bitten?« Und als Christianes Lippen das Lächeln beibehielten und er in ihren Augen keine Ablehnung las, fuhr er eifrig fort:
»Vielleicht am Sonntag? Im Künstlerhaus ist eine Ausstellung der Maler des Impressionismus, würde Sie das interessieren?«
Es interessierte Christiane, und sie verabredeten sich. Dann brachte Andreas Veidt sie zur Bushaltestelle. Kurz bevor der Omnibus kam, fragte er: »Jetzt wüßte ich nur noch gern, warum Sie neulich morgens um fünf einsam und allein auf der Brücke gestanden haben.«
Christiane blickte die Straße entlang, das Licht der Neonlampen spiegelte sich in den Pfützen. »Ich kam von dem Betriebsfest unserer Firma«, antwortete sie mit spröder Stimme. »Ich hatte Lust, zu Fuß durch die frische Luft nach Hause zu gehen.« Sie wandte sich ihm zu und reichte ihm die Hand. »Da kommt mein Bus. Auf Wiedersehen, Herr Veidt!«
»Auf Wiedersehen, bis Sonntag. Ich freue mich mehr darauf, als ich sagen kann!« Warm und fest war sein Händedruck.
*
Als sie am Sonntag, am Spätnachmittag, das Künstlerhaus verließen, pfiff ein eisiger Wind durch die Straßen und trieb Schnee- und Graupelschauer vor sich her.
»Das nennt sich nun Frühling«, schimpfte Andreas Veidt und legte wie beschützend leicht den Arm um Christianes Schultern.
»Das nennt sich erst April«, hielt das Mädchen ihm lachend entgegen, während es den Regenschirm aufspannte.
»Ich glaube, hier in der Nähe gibt es eine nette Weinstube, flüchten wir uns erst mal da hinein«, schlug Andreas vor. »Sicher bekommen wir dort auch etwas Gutes zum Abendessen.« Er sah sie von der Seite an. »Oder haben Sie für heute abend etwas anderes vor?«
»Nein.« Christiane überlegte. Sie wußte, daß die in der Nähe gelegene Weinstube ein exklusives teures Restaurant war, dessen Preise nicht für den schmalen Geldbeutel eines Werkstudenten paßten. Und wie sie Andreas Veidt einschätzte, würde es ihn kränken, wenn sie ihren Anteil selbst bezahlen wollte. Deshalb sagte sie entschlossen: »Wenn Sie mit einem belegten Brot und einer Tasse Tee vorliebnehmen, könnten wir auch zu mir nach Hause fahren.«
Christianes kleine Wohnung war ohne besonderen Aufwand, aber sehr nett und persönlich eingerichtet. »Setzen Sie sich, Herr Veidt«, forderte sie ihren Gast auf und wies auf den Sessel neben der Stehlampe, die ein warmes honiggelbes Licht verbreitete.
»Schön haben Sie es hier«, meinte der junge Mann und sah sich mit einem beinahe verträumten Lächeln um. Er hatte das Gefühl, auf einer stillen Insel zu sein. Er dachte an sein kärglich möbliertes Zimmer und stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er später einmal ein eigenes Heim hatte, und eine Frau wie Christiane Mellin ihn abends erwartete…
Sie tranken Tee, plauderten, betrachteten zusammen den Katalog der ausgestellten Bilder, den Christiane im Künstlerhaus erstanden hatte. Später bereitete sie einen kleinen Imbiß zu, und sie ließen es sich schmecken.
»Ich danke Ihnen für diesen Tag«, sagte Andreas Veidt, als er sich verabschiedete. »Sehen wir uns bald wieder?«
»Rufen Sie mich doch in den nächsten Tagen im Büro an!« Sie duldete es, daß er ihre Hand ein paar Sekunden länger als üblich festhielt, und ihre Blicke versanken ineinander. In diesem Moment war eine prickelnde Spannung zwischen ihnen.
Wenn er mich jetzt küßt, dachte Christiane – aber er küßte sie nicht, sondern wandte sich hastig ab. »Auf Wiedersehen«, sagte er noch einmal etwas heiser und stieg die Treppen hinunter. Christiane fühlte sich beschwingt, als sie anschließend in ihrer Wohnung noch ein wenig aufräumte. Was für ein schöner Sonntag das war, dachte sie.
Ob Andreas sie bald wieder anrufen würde?
Dann lächelte sie selbstvergessen vor sich hin, weil sie ihn schon Andreas nannte.
*
Er rief bereits am Montag an.
»Hoffentlich halten Sie mich nicht für aufdringlich«, sagte er mit leichter Verlegenheit in der Stimme, »aber ich konnte es einfach nicht mehr erwarten.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, gab Christiane zurück. »Ich finde es nett, daß Sie an mich gedacht haben.«
Sie redeten ein wenig hin und her, dann fragte Andreas Veidt:
»Darf ich heute wieder zu Ihnen kommen, nur für ein Stündchen? Mir fällt augenblicklich in meinem möblierten Zimmer die Decke auf den Kopf!«
»Wie schrecklich, das kann ich natürlich nicht zulassen!« scherzte Christiane.
»Das heißt also, daß ich kommen darf?« Es klang ein wenig atemlos. Dann fügte er hinzu: »Sie müssen mir aber erlauben, daß ich diesmal etwas zu essen mitbringe. Ich will mich schließlich nicht von Ihnen durchfüttern lassen!«
Er kam, und er brachte eine Menge leckerer Kleinigkeiten mit, die er in einem Delikatessengeschäft eingekauft hatte.
»Waldorf-Salat – Schinkenröllchen – französischer Käse…« Christiane schüttelte leicht den Kopf, als sie alles auf Teller und Schüsselchen legte. »Sie sollten sich doch nicht so in Unkosten stürzen!«
Aber er strahlte wie ein Junge. »Manchmal muß man auch ein bißchen leichtsinnig sein können!« erklärte er. »Seit einer Woche ist für mich jeder Tag ein Fest!«
Christiane steckte Weißbrotscheiben in den Toaster. »Warum ausgerechnet seit einer Woche?« wollte sie wissen.
»Weil ich Sie vor einer Woche wiedergefunden habe, Christiane! – Erlauben Sie mir, daß ich Sie Christiane nenne?«
Sie hatte ein entzückendes Lächeln um den Mund, als sie ihm zunickte: »Ich erlaube es, Andreas!«
Das Blut stieg ihm in die Stirn, als er sie so lächeln sah. Vielleicht war es ihr selbst gar nicht bewußt, wie mädchenhaft und bezaubernd sie in diesem Augenblick aussah. Er hatte es ihr noch nicht sagen wollen, aber die Worte drängten sich ihm einfach über die Lippen: »Ich glaube, ich liebe Sie, Christiane!«
Sie spürte, wie ihr das Herz bis in den Hals klopfte. »Das sagen Sie einfach so daher, in der Küche, bei den Vorbereitungen für das Abendessen?«
»Ja, warum nicht, wenn mir danach zumute ist? Brauchen Sie dafür Musik und Kerzenlicht? Ich nicht.« Er trat auf sie zu und umfaßte sacht ihre Arme. »Es ist wahr, ich liebe Sie, Christiane, und dagegen kann ich gar nichts machen.«
Es begann plötzlich brenzlig zu riechen, und Christiane machte sich von Andreas los, um den Toaströster abzuschalten. »Würden Sie denn etwas dagegen unternehmen, wenn Sie es könnten, Andreas?« fragte sie leise, bevor sie sich ihm wieder zuwandte.
»Um Himmels willen, nein! Das einzige, was mich verwirrt, ist, daß es so schnell über mich gekommen ist. Ich dachte immer, ich würde viel mehr Zeit brauchen, um ganz sicher zu sein.«
Sie sahen sich an wie zwei Menschen, die wissen, daß ihnen etwas Wunderbares geschehen ist. Dann flüsterte Christiane, überwältigt, ganz im Bann dieses köstlichen, unverlierbaren Augenblicks: »Mir geht es genau wie dir, Andreas…«
»Christiane!« Ungestüm zog er sie an sich und küßte sie, und ein heißes, nie empfundenes Glücksgefühl stieg schmerzhaft in Christiane auf und drohte ihr das Herz zu sprengen.
Endlich lösten sie sich ein wenig voneinander, aber Andreas hielt sie noch immer fest. »Ich kann es noch gar nicht fassen«, murmelte er voller Zärtlichkeit und blickte ihr dabei in die Augen.
»Bisher glaubte ich kaum daran, daß es sie wirklich gibt: die große Liebe, die einen plötzlich packt und nicht mehr losläßt. Und auf einmal kann ich mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen.«
»Ich habe, bevor du kamst, noch nichts von Liebe gewußt, Andreas«, gestand Christiane. Sie ließ die Stirn gegen seine Schulter sinken. Nach einem kleinen Schweigen lachte sie leise auf. »Ich habe auch schon manches zu hören bekommen, weil ich nie einen Freund hatte, der mich vom Büro abholte oder mit dem ich zum Tanzen ging. Aber ich hatte einfach kein Interesse dafür, weißt du.« Sie hob den Kopf und lächelte ihm zu. »Es war eben noch keiner wie du!«
Und für diese Worte mußte Andreas wieder die weichen roten Lippen seiner Liebsten küssen.
Damit begann eine glückliche Zeit. Sie sahen sich beinahe täglich, sie teilten die kleinen Sorgen und Freuden ihres Alltags miteinander und wurden immer wieder davongetragen von dem großen, alles überwiegenden Glücksgefühl, einander gefunden zu haben.
»Laß mich heute bei dir bleiben«, bat Andreas eines Abends, als es spät geworden war und für ihn in wenigen Stunden die Arbeit im Zeitungsgroßvertrieb begann.
Als sie nickte, nahm er sie in seine Arme. »Du weißt nicht, wie glücklich du mich damit machst, Christiane!«
»Dich und mich«, verbesserte sie ihn. Sein Kuß ließ ihr Blut schneller kreisen, ließ sie eine fast wilde Sehnsucht empfinden, ihm ganz zu gehören. »Ich liebe dich«, sagte sie, und sie sagte es immer wieder. Es gab nichts hinzuzufügen.
Später dachte sie: Wie töricht bin ich einmal gewesen, für Liebe zu halten, was nichts als ein flüchtiger Rausch der Sinne war – und nicht einmal das. So viel wird in der heutigen Zeit über die Liebe geredet und geschrieben, und es schien Christiane jetzt, als würde dieses große Wort damit entweiht, weil in Wirklichkeit doch etwas ganz anderes gemeint war. Dieses »andere« aber war nichts, das hatte sie nun erfahren, wenn nicht auch eine einzige Verbundenheit der Herzen bestand.
*
»Was hast du denn?« fragte Inge Brunn verwundert, als Christiane plötzlich aufstand und das Fenster aufriß. Sie hatten, wie schon manches Mal, in der Frühstückspause eine Tasse Kaffee zusammen getrunken und einen kleinen Plausch gemacht. Und mitten im Gespräch über neue Frühjahrsmoden war Christiane kreidebleich geworden.
Sie hielt sich am Fensterflügel fest und holte tief und mühsam Luft. Endlich wurde ihr etwas besser, und sie wandte sich um. Aber sie war noch immer sehr blaß. »Es ist zu warm im Zimmer, davon muß einem ja übel werden«, murmelte sie und drehte die Heizung ab, die wegen des kühlen Wetters immer noch auf Hochtouren lief. »Na, na«, Inge Brunn hob scherzhaft drohend den Finger, »Übelkeit am Morgen kann auch andere Ursachen haben!«
»Unsinn«, sagte Christiane schroff. »Eine kleine Unpäßlichkeit, das kann doch jedem passieren, oder nicht?«
»Ja, natürlich, ich hab’ ja auch nur Spaß gemacht«, lenkte Inge Brunn ein. »Du bist so empfindlich in letzter Zeit.«
Als die Kollegin wieder in ihr Büro hinübergegangen war, beugte Christiane sich über ihre Arbeit.
»Sehr geehrte Herren, auf Ihren Brief vom 16.4. teilen wir Ihnen mit…«
Christiane starrte auf das vor ihr liegende Blatt Papier, unfähig, sich zu konzentrieren. Eine würgende Angst stieg in ihr empor. Es war manches nicht so, wie es sein sollte in letzter Zeit. Aber sie hatte die Störung in ihrem körperlichen Wohlbefinden nicht wichtig nehmen wollen, und wenn sie doch einmal ein schrecklicher Verdacht durchzuckte, hatte sie ihn sogleich wieder von sich gewiesen. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein, es wäre Wahnsinn! Aber wenig später erhielt Christiane die Gewißheit, daß sie ein Kind bekam. Ein Kind von Uwe Hallweg!
Sie war ratlos und verstört wie nie zuvor und es schien ihr, als hielte eine eiserne Faust ihr Herz umklammert. Dieses Herz, das eben noch im Überschwang der ersten Liebe so selig geschlagen hatte! Sie schützte Arbeit vor, wenn Andreas sie sehen wollte, und weil er gerade ein Zwischenexamen zu bestehen hatte, gab er sich damit zufrieden.
Warum war das Kind, das in ihr wuchs, nicht von Andreas, warum war es von einem Mann, der ihr fremd und gleichgültig geblieben war? Jetzt erst, wo es zu spät war, erfaßte sie bittere Reue darüber, daß sie Uwe Hallwegs Drängen nachgegeben hatte, aus einer Sektlaune heraus, aus Neugier, um zu erfahren, was andere Mädchen in ihrem Alter längst erfahren hatten. Warum, warum hatte sie nicht gewartet, bis der Mann kam, für den sie nicht nur ein Spielzeug war? Nur wenige Wochen später sollte sie die wahre Liebe kennenlernen – welch grausame Ironie des Schicksals!
Sie ballte die Hände zu Fäusten, sie biß sich die Lippen blutig. Ich will dieses Kind nicht haben, dachte sie in wildem Aufbegehren, ich werde irgend etwas unternehmen… Aber das eine erfüllte sie ebenso mit Entsetzen wie das andere. Verzweifelt erkannte sie, daß sie sich in einer Stunde des Leichtsinns ihr Leben zerstört hatte.
*
»Hallo, Chris, kennst du mich nicht mehr?«
Christiane zuckte zusammen. »Guten Tag, Herr Hallweg«, sagte sie steif und wollte rasch an ihm vorübergehen. Doch Uwe Hallweg streckte seine Hand aus und hielt sie am Arm zurück. Sein interessantes Gesicht zeigte jenes Lächeln, das viele für unwiderstehlich hielten.
»Warum so eilig, Mädchen, willst du vor mir davonlaufen?«
Mit einem kühlen Blick sah sie ihn an. »Nein, keineswegs, aber Dr. Müller wartet auf die Akten…« Sie wies mit dem Blick auf die beiden Mappen, die sie unter dem Arm trug.
»Dr. Müller kann auch noch fünf Minuten länger warten«, meinte Uwe Hallweg lässig. Sein Lächeln vertiefte sich. »Wie geht’s dir denn immer, Chris?«
Sie haßte ihn plötzlich um dieses vertraulichen Lächelns willen.
»Danke, mir geht es gut«, antwortete sie mit großer Zurückhaltung, und dann fügte sie hinzu: »Ich möchte Sie bitten, Herr Hallweg, zu der offiziellen Anrede zurückzukehren. Es könnte sonst Gerede in der Firma geben.«
Sein Mund verzog sich spöttisch.
»Kleiner Angsthase. Erstens ist hier weit und breit niemand zu sehen, und zweitens hat es mich noch nie gestört, wenn über mich geklatscht wurde. Daran gewöhnt man sich mit der Zeit.«
»Aber mich stört es«, gab Christiane mit einer leisen Schärfe im Ton zurück.
»Ja, natürlich. Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Uwe Hallweg einsichtig. »Ich möchte trotzdem heute oder an einem der nächsten Abende mit Ihnen ausgehen, Chris!« Als er ihr Erstaunen bemerkte, fuhr er leise fort: »Ob du es glaubst oder nicht – ich habe dich nicht vergessen. Warum hast du dich neulich davongeschlichen, tat es dir leid, mit mir gegangen zu sein?«
Christiane fühlte, wie es ihr heiß in die Wangen stieg, und sie ärgerte sich über ihr Erröten. »Ich möchte nicht mehr darüber sprechen, Herr Hallweg!« entgegnete sie heftig. »Und ich habe auch keine Zeit, mit Ihnen auszugehen. Es gibt sicher genügend andere Mädchen, die mit tausend Freuden Ihre Einladung annehmen.« Sie neigte den Kopf und ging eilends davon.
Uwe Hallweg war über diese Abfuhr so verdutzt, daß er wie angewurzelt stand und ihr nachsah. Ein sonderbares Mädchen! Auf dem Betriebsfest hatte ihn ihre anfänglich so kühle, fast abweisende Haltung gereizt, er hatte es sich in den Kopf gesetzt, sie zu erobern und es war ihm schließlich auch gelungen. Dennoch war ihm nicht ganz klargewesen, wer wen besiegt hatte in diesem Spiel mit dem Feuer. Wenn man es genau besah, war sie seltsam unbeteiligt geblieben, und daß sie fortging, ohne sich nach ihm umzusehen, gerade so, als interessiere er sie nicht mehr im geringsten, war ebenfalls neu für ihn.
Dabei war sie eine Schönheit, diese Christiane Mellin, er hatte einen Blick dafür. Man müßte sie nur in die richtigen Kleider stecken. Achselzuckend ging er weiter. Wenn sie nichts mehr von ihm wissen wollte – auch gut! Aber es war beinahe zum Lachen, wie diese Chris ihm die kalte Schulter zeigte!
*
»Du siehst nicht gut aus, Christiane, bist du krank?« fragte Andreas besorgt, als sie sich endlich wiedersahen.
»Ach wo, nur ein bißchen abgespannt.« Sie hängte sich bei ihm ein, weil es sie danach verlangte, seine Nähe und Wärme zu spüren. Dann blickte sie zu ihm auf. Er hatte dunkle Ringe um die Augen. »Du siehst auch nicht gerade aus, als hättest du jede Nacht neun Stunden geschlafen«, bemerkte sie ablenkend.
»Ich hab’ ja auch die Nächte hindurch gebüffelt – weil ich vorher ein bißchen gebummelt hatte, weißt du?« Ein Lächeln hing in seinen Augenwinkeln. »Aber dafür hab’ ich auch mein Zwischenexamen mit ›Gut‹ bestanden!«
»Das ist ein Anlaß zum Feiern, meinst du nicht?« Flüchtig rieb sie den Kopf an seiner Schulter. »Ach, Andreas, du hast mir so gefehlt.«
Zärtlich drückte er ihren Arm an sich. »Und du mir! Ist das nicht sonderbar, bis vor kurzem haben wir uns noch nicht gekannt, und nun brauchen wir einander wie die Luft zum Atmen.«
Mein Liebster, dachte sie, oh, mein Liebster, was soll das werden mit uns?
»Ich möchte heute abend Wein trinken«, erklärte sie fast heftig, »und lachen und fröhlich sein. Es gibt so wenig glückliche Stunden im Leben.«
Er sah sie an. Sie kam ihm verändert vor, ein wenig fiebrig fast. In ihren Augen flackerte Unruhe. »Aber, mein Liebes, wir werden doch noch viele glückliche Stunden zusammen haben!«
Nein, uns bleibt nur noch eine kurze Spanne Zeit, schrie es in ihr. Aber sie war verzweifelt entschlossen, diese kurze Zeit, die ihr noch mit Andreas blieb, bis zur Neige auszukosten.
Sie erwiderte seine Küsse mit einer Leidenschaft und Innigkeit, die ihn entzückte. Und sie verbrachten jede freie Stunde zusammen. Manchmal hatte Christiane ein schlechtes Gewissen, wenn Andreas eigentlich über seinen Büchern hätte sitzen müssen. Aber sie dachte dann: Er wird alles schnell aufholen, wenn er erst wieder allein ist.
Wie sich ihre weitere Zukunft gestalten würde, wußte sie nicht. Das, was nachher kam, ohne Andreas, lag wie ein finsterer Abgrund irgendwo in der Ferne. Vielleicht würde sie sich in eine Niederlassung der Firma in einer anderen Gegend Deutschlands versetzen lassen. Dort würde sie ihr Kind zur Welt bringen und für es sorgen, wie andere ledige Mütter auch. Eines wußte sie ganz sicher: daß Uwe Hallweg kein Recht auf dieses Kind haben sollte. Wenn sie es schon zur Welt brachte und ihr Lebensglück dafür opferte, dann sollte es auch ihr allein gehören. Mehr als eine finanzielle Unterstützung hatte sie von diesem Mann ohnehin nicht zu erwarten, und darauf konnte sie verzichten, denn sie verdiente genug.
Aber noch schob sie diese düsteren Gedanken so weit wie möglich beiseite, noch war Andreas der Mittelpunkt ihres Lebens – noch!
Es war nun endlich auch in der Natur Frühling geworden, der Himmel spannte sich so blau über der Stadt, daß man hätte glauben können, an der Riviera zu sein. An den Sonntagen fuhren Andreas und Christiane nun oft hinaus, sie liefen zwischen blühenden Wiesen und Feldern entlang, deren zarte Halme sich der Sonne entgegenstreckten. Und manchmal blieben sie stehen und küßten sich. Nie würde Christiane diese Stunden vergessen!
»Im August sollten wir ans Meer fahren«, meinte Andreas eines Nachmittags, als sie auf einem sonnigen Plätzchen am Waldrand saßen. »Ich bin so gern am Meer, du auch?«
Christianes Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Wie ahnungslos er war! Im August würde man ihr ihren Zustand schon ansehen, dann wollte sie die Stadt verlassen. Eine grenzenlose Traurigkeit überkam sie. Sie schluckte die Tränen, die ihr plötzlich ihre Kehle beengten, hinunter. »Ich war noch nie da«, murmelte sie und sah einem Zitronenfalter zu, der sich mit zitternden Flügeln auf ihrem Knie niedergelassen hatte.
»Dann wird es aber Zeit!« rief Andreas lebhaft. »Mein Großvater stammt aus Husum, ich habe noch Verwandte dort, die können wir mal besuchen…«
Er machte Zukunftspläne, und Christiane lächelte verkrampft dazu und hoffte, daß er sich täuschen ließ. Nur sie allein wußte, daß diese Pläne nicht in Erfüllung gehen würden.
*
Der Personalchef, Herr Rödern, war ein netter, älterer verständnisvoller Mann.
»Sie können am 1. September in unserer Niederlassung in München anfangen, Fräulein Mellin«, sagte er. »Aber haben Sie sich Ihren Entschluß auch gut überlegt? Wir schätzen Sie alle als tüchtige Mitarbeiterin, und daß Sie ein Kind bekommen, sollte für Sie kein Grund sein, uns zu verlassen.«
»Es sind persönliche Gründe, aus denen ich nicht länger in dieser Stadt bleiben möchte«, erklärte Christiane fest.
Rödern senkte die Lider. »Ich verstehe. Dann werde ich also meinem Münchener Kollegen Bescheid geben. Man soll sich auch gleich um eine Wohnung für Sie bemühen.«
Das wäre also geschafft, dachte Christiane. Doch das Schlimmste stand ihr noch bevor: die Aussprache mit Andreas. Sie ließ sich nun nicht mehr länger hinausschieben.
Manchmal träumte sie davon, daß er sagen würde: Ich liebe dich trotzdem, du darfst nicht fortgehen! Aber das
waren gefährliche, wirklichkeitsferne Träume, die sich nicht erfüllen würden.
Es war an einem Abend im Juli. Die Fenster in Christianes Wohnung standen weit offen, um die laue Luft hereinzulassen. Sie hatten, wie so oft, zusammen zu Abend gegessen, aber Christiane hatte kaum ein paar Happen heruntergebracht. Es wird das letzte Mal sein, daß er mir so gegenübersitzt, munter plaudernd, mit diesem frohen Lächeln in seinem offenen ehrlichen Gesicht. Das letzte Mal, das letzte Mal, hämmerte es in ihren Schläfen. Er würde sich betrogen fühlen, weil sie so lange geschwiegen und ihn in dem Glauben gelassen hatte, es würde eine gemeinsame Zukunft für sie geben. Ach, sie hatte sich doch nur ein paar Wochen Glück stehlen wollen…
Andreas breitete bunte Prospekte auf dem Tisch aus – blauer Himmel, Wasser, weiße Segelschiffe. »Mein Freund Otto will mir seinen Wagen für unsere Ferienfahrt leihen. Er ist zwar schon ein bißchen klapprig, aber er läuft noch. Sieh mal, Christiane, und so habe ich mir unsere Reiseroute vorgestellt…« Er faltete eine Straßenkarte auseinander und nahm einen Bleistift zur Hand, um den geplanten Weg nachzuzeichnen.
Christiane konnte es plötzlich nicht mehr ertragen. »Aus dieser Fahrt wird nichts werden, Andreas«, sagte sie mit spröder Stimme.
Betroffen hob er den Kopf. »Warum nicht? Du brauchst dringend eine Erholung, Christiane!«
»Ich werde zum 1. September in unsere Niederlassung in München versetzt. Im August werde ich alle Hände voll zu tun haben, meine Übersiedlung nach dort vorzubereiten.« Es kam beinahe unbeteiligt über ihre Lippen, und ihre Miene war maskenhaft starr dabei.
Andreas sah sie an, als glaubte er, nicht richtig gehört zu haben. Dann legte er mit einer langsamen Bewegung den Bleistift aus der Hand. »Das ist doch wohl ein schlechter Scherz, Christiane!«
»Mir war noch nie weniger zum Scherzen zumute als jetzt«, entfuhr es ihr. Sie sah ihn mit großen dunklen Augen an, dann nickte sie schwer. »Es stimmt schon, Andreas, ich gehe fort.«
Allmählich schien er zu begreifen, daß ihr jedes Wort bitterer Ernst war. Sein Gesicht wechselte die Farbe. »Warum?« fragte er fassungslos, »warum willst du fort? Wir sind doch so glücklich hier. Wenn du in München bist, können wir uns nur ganz selten sehen.«
Gequält wandte sie sich ab. »Es wird wohl so sein, daß wir uns dann überhaupt nicht mehr sehen«, murmelte sie erstickt.
Andreas schnellte empor. »Was soll das heißen? Willst du Schluß mit mir machen?« Heftig schüttelte er den Kopf. »Was ist das auf einmal für ein Unsinn! Die Firma kann dich doch nicht einfach in eine andere Stadt versetzen, oder doch? Dann mußt du dich dagegen wehren!« hielt er ihr erregt entgegen.
Christiane preßte die Hände gegeneinander. Es war alles noch schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie sah beiseite. »Ich habe ja selbst um meine Versetzung gebeten«, brachte sie hervor.
Sein Atem ging rasch. Unverwandt sah er sie an. »Nun verstehe ich überhaupt nichts mehr!« Als sie regungslos, mit hängenden Schultern, vor ihm stand, faßte er sie hart beim Arm. »Erkläre mir doch endlich, was das alles bedeuten soll!« verlangte er und schüttelte sie leicht. In seinen Augen flackerte Unruhe.
Sie blickte zu Boden. »Ich bekomme ein Kind«, sagte sie tonlos. Es war eine ganze Weile still nach ihren Worten, und als Christiane es endlich wagte, aufzublicken, sah sie, daß die verschiedensten Empfindungen in Andreas’ Gesicht miteinander stritten.
»Deshalb warst du manchmal so sonderbar in letzter Zeit, so wechselhaft in deinen Stimmungen. Meinst du, ich hätte das nicht gemerkt?« Er fuhr sich mit beiden Händen über das Haar, dann glitt ein staunendes Lächeln über seine Züge. »Ein Kind… Aber Christiane, das ist doch kein Grund zum Verzweifeln! Dann heiraten wir eben jetzt schon und nicht erst, wenn ich mit meinem Studium fertig bin. Es gibt doch viele Studentenehen. Zusammen werden wir es schon schaffen, auch mit einem Baby!« Seine Augen blickten hell und zuversichtlich, er war voller Optimismus.
Christiane war wie betäubt über seine Reaktion. Du lieber Himmel, er glaubte, das Kind sei von ihm. Und daß er so dachte, war ja eigentlich ganz natürlich. Erschüttert ließ sie sich in einen Sessel sinken. Wenn es doch ein Mauseloch gäbe, in das sie sich verkriechen könnte.
Andreas nahm neben ihr auf der Couch Platz, ergriff ihre kalte, schlaff herabhängende Hand und nahm sie in seine beiden warmen festen Hände. »Was hast du dir da eben zusammenphantasiert, du wolltest fortgehen?« redete er der Verstörten weich und liebevoll zu. »Aber du brauchst mir nichts zu sagen, ich kann es mir schon denken. Ich habe dir einmal erzählt, daß ich der Ansicht bin, ein Mann dürfte nicht eher heiraten, bevor er auch imstande sei, eine Familie zu ernähren. Alles andere sei verantwortungslos. Aber, Christiane, was redet man nicht alles! Wenn man dann vor die Entscheidung gestellt wird, sieht die Sache doch ganz anders aus. Du aber hast gedacht, es wäre eine zu große Belastung für mich, weil ich ein armer Teufel bin und noch mehrere Semester vor mir habe.« Er beugte sich vor und hauchte einen Kuß auf ihre Wange. »Du Dummes, Liebes, glaubst du denn, ich würde dich im Stich lassen? Und mir einfach durchgehen zu wollen, das kommt ja überhaupt nicht in Frage! Ich rechne es deinem Zustand zu, daß du solche närrischen Ideen haben konntest.«
Mit geschlossenen Augen lehnte Christiane in ihrem Sessel. Wenn es doch wahr wäre, dachte sie heiß und schmerzvoll, wenn Andreas der Vater meines Kindes wäre, wie wundervoll könnte alles sein! Sie fühlte, wie seine Hand liebkosend über ihre blassen Wangen glitt. »Du solltest heute bald schlafen gehen, mein Herz. Mir scheint, Mama zu werden ist doch recht anstrengend.« Auch seine Stimme war wie ein Streicheln.
Wenn ich ihm die Wahrheit gar nicht eingestände, zuckte es Christiane durch den Sinn. Das Kind würde dann eben einige Wochen zu früh zur Welt kommen. Aber konnte man mit einer solchen Lüge leben? Vielleicht, wenn sie verhinderte, daß zwei Menschen todunglücklich wurden. Eines Tages würde man dann vielleicht vergessen, daß man sich sein Glück mit einer Lüge erkauft hatte.
Andreas brach bald auf, weil er sah, wie müde Christiane war. Und auch er mußte ja sehr früh aufstehen, aber er war viel robuster als seine Liebste, die nun ein Kind von ihm unter dem Herzen trug. Bevor er ging, küßte er sie noch einmal voll überströmender Zärtlichkeit. »Morgen reden wir weiter. Wir müssen das Aufgebot bestellen. Jezt bin ich froh, daß du schon bald meine Frau wirst – dann kann dich mir niemand mehr wegnehmen!« Sein Lächeln war hell und glücklich.
Obwohl Christiane sich erschöpft fühlte, ging sie noch nicht zu Bett. Rastlos lief sie in ihrer Wohnung hin und her, sie setzte sich hin und sprang sogleich wieder auf, von innerer Unruhe zerrissen. Wie hatte sie schweigen können? Sie hatte sich doch so fest vorgenommen, heute endlich Klarheit zu schaffen! Aber es war furchtbar schwer, dem ahnungslosen Geliebten einen Dolch ins Herz zu stoßen.
Aber sie durfte sich doch auch nicht eines ungeheuren Betrugs schuldig machen! Daß sie das überhaupt erwägen konnte, erfüllte sie mit Scham und Entsetzen. War es schon soweit mit ihr gekommen, daß sie an dem liebsten Menschen ein Verbrechen begehen wollte – denn einem Mann das Kind eines anderen unterschieben zu wollen, das war doch ein Verbrechen! Sie bekam plötzlich Angst vor ihrer eigenen Schwäche. Es wäre das beste, wenn sie Andreas nicht mehr wiedersähe, dann liefe sich auch nicht Gefahr, der Versuchung erneut zu unterliegen. Einen Schlußstrich ziehen, ohne den wahren Grund dafür anzugeben… Das war hart, aber Andreas würde wohl so viel Stolz besitzen, um ihr nicht nachzulaufen.
Sie holte Briefblock und Schreibstift aus der Schublade und begann mit fliegenden Fingern zu schreiben:
Lieber Andreas, ich fand heute abend nicht den Mut, Dir mit aller Bestimmtheit zu erklären, daß unsere Wege sich trennen müssen. Ich habe wirklich keinen anderen Wunsch, als nach München zu gehen, um dort ein neues Leben anzufangen. Für das Kind kann ich schon allein sorgen, mach’ Dir keine Gedanken darum. Du sollst Dich ganz frei fühlen, so, wie ich es für mich auch in Anspruch nehmen möchte. Alles Gute, Christiane.
Sie brachte den Brief noch zu einem Kasten, der um dreiundzwanzig Uhr geleert wurde. Ihre Knie zitterten, sie fühlte sich taumelig und zum Umsinken elend, als sie wieder nach Hause ging.
*
Am darauffolgenden Montag wurde Christiane Mellin zum Juniorchef gerufen.
In seinem elegant eingerichteten Büro erhob Uwe Hallweg sich hinter seinem Schreibtisch, als Christiane eintrat. »Guten Morgen, Fräulein Mellin. Bitte, nehmen Sie Platz.« Seine Stimme klang ruhig und sachlich, er deutete auf einen Stuhl. Christiane erwiderte seinen Gruß und sah ihn abwartend an.
»Ich habe gehört, Sie wollen uns verlassen«, begann er. »Das ist sehr bedauerlich.«
»Ich bleibe ja bei der Firma«, entgegnete Christiane. »Ich wechsle nur die Umgebung.«
»Ja, auf Ihren eigenen Wunsch.« Uwe Hallweg lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und sah sie mit einem eigenartigen Blick an. Dann fuhr er wie beiläufig fort: »Ich hatte eigentlich etwas anderes mit Ihnen vor, Fräulein Mellin. Da ich durch eine Umdisposition in der Geschäftsleitung häufiger als bisher im Büro anwesend sein werde, benötige ich für mich eine Sekretärin. Bisher hat ja Frau Werter, die Sekretärin meines Vaters, für mich mitgeschrieben, aber das wird ihr dann natürlich zuviel, außerdem beherrscht sie keine Fremdsprachen. Ich habe mit unserem Personalchef darüber gesprochen, daß ich Sie gern für diesen Posten haben würde. Tja, und da sagte er mir, daß Sie in Kürze nach München gehen würden. Er nannte mir auch den Grund hierfür…« Sein Blick wurde eindringlich, forschend, und Christiane fühlte, wie sie nervös wurde unter diesem Blick, dem sie nicht ausweichen konnte. Ihre Finger spielten mit der Gürtelschnalle ihres Kleides.
»Ist das Kind von mir, Chris?« fragte Uwe Hallweg unvermittelt in verändertem Ton.
In ihren Augen zuckte es auf. Er hatte die Wahrheit erkannt! Sekundenlang blickten sie sich schweigend an.
»Also ja. Ich habe es mir doch fast gedacht!« Uwe Hallweg stand auf und ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab.
»Ich habe Ihnen Ihre Frage nicht mit einem Ja beantwortet, Herr Hallweg«, sagte Christiane mit spröder Stimme.
Uwe Hallweg schnellte herum. »Aber deine Augen haben mir Antwort gegeben! Mir kannst du doch nichts vormachen. Du bist nicht der Typ, der heute mit diesem und morgen mit jenem schläft.«
Christiane zuckte zusammen. Dann erhob sie sich ebenfalls. Hochaufgerichtet stand sie vor Uwe Hallweg. »Es ist wahr: Sie sind der Vater des Kindes, das ich erwarte«, gestand sie mit erzwungener Ruhe. »Sie hätten es nie erfahren, wenn es nach mir gegangen wäre. Aber Sie brauchen deshalb keine Unannehmlichkeiten zu fürchten. »Ich stelle keinerlei Ansprüche an Sie.« Mit einem freien stolzen Blick sah sie ihm in die Augen.
Voller Staunen und Verwunderung erwiderte der junge Mann ihren Blick. Welche Haltung dieses Mädchen hatte! Jedes andere hätte Kapital aus der Tatsache geschlagen, daß es ein Kind von ihm bekam.