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2. Kapitel

Time to say good-bye.

Andrea Boccelis und Sarah Brightmanns Stimmen erfüllen den Raum. Mama liegt im Sarg als würde sie schlafen. Ich streichele ihr sanft über das kalte Gesicht, mit schweißnasser, zitternder Hand über ihre Haare. Die Altarkerzen links und rechts des Sarges werfen Schatten an die Wände. Weiße Lilien. Überall weiße Lilien.

Zeit ‚Auf Wiedersehen’ zu sagen. Orte, die ich nie mit dir gesehen und besucht habe. Jetzt, ja werde ich dort leben mit dir, werde ich abreisen auf Schiffen und Meere. Ich weiß. Nein, nein ich existiere nicht mehr. Es ist Zeit ‚Auf Wiedersehen’ zu sagen.

Scheiß Müsli!

Am Ausgang der Aussegnungshalle wartet Papa auf mich. Er schaut mich fragend an, will mich umarmen. Ich schleudere seine tastende Hand von mir weg und renne aus dem Friedhof.

In unserem Haus schwebt mir eine Wolke von Mamas Parfüm entgegen. Der Duft von All about Eve ist nachhaltig, Mamas Kleider an der Garderobe verbreiten diesen fruchtig frischen Duft durch das ganze Haus.

»Du riechst wie ein Apfel Mom.«

»Beiß nicht in mich hinein.«

Danach rennt sie spielerisch um den Wohnzimmertisch herum.

»Pass auf die Glasvase auf Mom!«

»Klar doch. Bin doch nicht von gestern.«

Wir spielen Fangen durch das ganze Haus und kichern dabei wie Grundschulkinder.

Die Küche sieht aus, wie vor meiner Matheklausur. Mein Frühstücksgedeck steht noch so auf dem Tisch, wie Mom es für mich hingestellt hatte. Ich will es abräumen, und entdecke einen zusammengefalteten Zettel unter dem Teller mit dem Obst für mein Müsli. Obenauf ein Lippenstiftküsschen von Mum.

‚Hot Paprika’ – von Lorèal. Den Lippenstift hatte sie sich zum Geburtstag gewünscht.

Ich drücke dir die Daumen, Davie, und denke ganz fest an dich. Deine Matheklausur wird schon hinhauen. Halte einfach deine sieben Sinne zusammen. Wenn du heimkommst, wartet eine Überraschung auf dich.

Hdl. Mama.

Es ist so, als ob Mom direkt neben mir spricht, ich kann sie förmlich spüren. Eine Überraschung hat sie für mich.

»Was hast du dir jetzt schon wieder einfallen lassen Mom? Wo soll ich denn die Überraschung dieses Mal suchen?«

Grinsend schaue ich auf die Küchenuhr. Es dauert noch ein Weilchen, bis Mom von der Arbeit heimkommt.

Mama ist tot. Die Erkenntnis trifft mich wie ein eiskalter Guss Wasser. Ich lasse die Rollos herunter und verkrieche mich in meinem Bett. Das Telefon läutet, ich reiße das Kabel aus der Steckdose. Es klingelt, ich stelle die Haustürglocke ab. Im Wohnzimmer fällt mein Blick auf die vielen bunten Sofakissen auf der Couch. Die sind, wie immer, fein säuberlich nach Farben und Größen aufgereiht. Grün, gelb, orange, blau, violett. Mit perfektem Schlitz in der Mitte. Mama hat da immer mit der flachen Hand hinein gehauen.

‚My home is my Castle’ hatte Mama immer gesagt, wenn ich sie dieser Pedanterie wegen ausgelacht habe.

»Was ist heute eigentlich für ein Tag Mom?«

»Wann muss ich den Orchideen ein Schnapsglas voll Wasser geben?«

»Wir machen das immer sonntags, dann vergessen wir es auch nicht mein Kleiner«, hatte Mama vor vielen Jahren mir den Orchideengießauftrag übergeben. Das war an dem Tag, als Papa uns wegen einer anderen Frau verlassen hatte.

Nach dem Blumengießen wollten wir Eis essen gehen. Zu ‚Dellarte’ – unserem Lieblings-Eiscafé.

»Die haben das beste Joghurt-Eis der Stadt, Davide.«

»Von der ganzen Welt, Mami!«

Das scheinen viele andere Leute auch zu wissen, das Café ist hoffnungslos überfüllt. An einem der Tische entdecke ich meine Patentante Hanna, Mamas beste Freundin. Ich freue mich sie zu sehen und winke ihr wild zu.

»Tante Hanna«, schreie ich aufgeregt und will an ihren Tisch laufen.

»Bleib hier«, sagt Mama, packt mich an meinem Arm und zieht mich aus dem Café hinaus auf die Straße. Mama schnauft ganz laut und zittert.

»Ist dir schlecht geworden Mami?«, frage ich ängstlich. Ich sehe Tante Hanna durch die Glasscheibe, sie lacht mit den Frauen an ihrem Tisch. Ich klopfe an die Scheibe und winke. Tante Hanna sieht mich, winkt aber nicht zurück.

»Komm Davie«, flüstert Mama und wir gehen, ohne Eis zu essen, setzen uns an eine Bank am Neckar und füttern schweigend die Enten mit der verkrümelten Brezel, die ich noch in meinem Rucksack hatte. Ich sehe, dass Mama weint und bleibe ganz brav sitzen.

Manche Dinge erledigen sich von selbst, hatte Mama immer gesagt.

In meinem überfüllten Postfach in der Heilbronner Hauptpost finde ich einen Brief meiner Mieter. Neugierig reiße ich ihn auf, lese ihn im Laufen. Ich muss mich beeilen, meine Überraschung steht im Halteverbot. Es gab wieder einmal weit und breit keinen freien Parkplatz.

Familie Braune fragt an, ob sie früher aus dem Mietvertrag aussteigen könne, sie haben auch schon einen Nachmieter parat. Berufliche Veränderung sei angesagt. In vier Wochen schon. Ich solle mich doch bitte melden.

»Manche Dinge erledigen sich von alleine Mom. Da hast du recht wie immer! Ich wohne wieder in unserem Haus, Mama. Es ist fast wie früher. Unsere Möbel habe ich wieder so hingestellt, wie wir sie stehen hatten. Die Kommode, unsere Bilder, das Geschirr und die Bettwäsche habe ich vom Dachboden heruntergeholt, den Rest lasse ich vorerst noch oben.

Der Karton mit der Bettwäsche war angeknabbert wahrscheinlich von einer Maus. Ich habe vorsorglich drei Fallen mit Leberwurst eingestrichen und auf dem Dachboden verteilt, hatte gerade nichts anderes da. Mäuse mögen doch Leberwurst, Mom, oder?

Unsere Kissen auf dem Sofa habe ich so aufgereiht, wie du es immer gemacht hast. Farblich sortiert. Grün. Gelb. Orange. Blau. Violett. Ich schlage auch immer mit der flachen Hand in die Kissen. Mein Schlitz sitzt perfekter in der Mitte als deiner, Mom.

‚My home is my Castle’. Jetzt lachst du über mich Mom, gell?!

Die Familie Braune hat gut auf unser Haus aufgepasst, es ist nichts beschädigt und der Garten sieht fast so gepflegt aus wie bei dir. Die Braunes haben ihre restlichen Lebensmittel bei mir stehen lassen. Sie scheinen sich von Fertigprodukten zu ernähren. Ich habe eine dieser Dosen geöffnet. Linsensuppe mit gerauchtem Schweinefleisch stand da drauf. Ausgesehen und gerochen hat die Pampe aber wie Katzenfutter und geschmeckt, wie schon einmal gegessen.

Mein Fiat ist gerade mal wieder in Reparatur, Mom. Diesmal sind es die Zündkerzen. Hoffentlich bleibt es dabei. Ich bin fast pleite.

»Im Leintal-Zoo in Schwaigern werden ehrenamtliche Helfer zur Pflege eines alten Pferdes gesucht, da werde ich mich melden. Ich will mich sinnvoll beschäftigen, bis ich eine feste Arbeitsstelle habe. Meine Bachelornoten sind nicht gerade der Burner. Vielleicht ist das der Grund, warum mich niemand einstellen will. Eher aber, weil ich schwul bin, denke ich. Die Arbeitgeber haben reichlich Auswahl. Von meinem Studiengang haben nur drei Studenten eine Anstellung bekommen. Die meisten haben sich notgedrungen dafür entschieden, den Master zu machen. Das kann ich mit meinen Noten aber kicken, habe auch kein Geld für die Studiengebühren.

Ich muss dir etwas erzählen Mom. Nicht heute, irgendwann einmal.«

Am Eingangstor zum Leintal-Zoo begrüßt mich lautes Tiergeschrei. Ich melde mich als ehrenamtlicher Helfer am Kassenhaus, die Dame freut sich, ich darf mich im Park umschauen, der Chef kommt erst in einer Stunde. Sie drückt mir eine Tüte säuberlich geschnittener Karotten, Apfelschnitze und eine Wegbeschreibung in die Hand.

Nach ein paar Metern Fußweg stehe ich Auge in Auge mit einem Kranich.

Hiiilfe! Ich habe gar nicht gewusst, dass diese Viecher so groß sind. Ich peile als erstes den ‚Lebensbereich Teich’ an, danach den Naturlehrpfad und den ‚Lebensraum Steinhaufen’. Die Schreie der Kraniche, Pfauen und Affen verfolgen mich. Ein grauseliges Orchester!

Zwei Stunden später habe ich statt einer ehrenamtlichen Tätigkeit einen Vertrag für einen Minijob in der Tasche. Ich soll nach Parkschluss mit dem Rad das Zoo-Gelände abfahren, nachschauen, ob sich niemand darin versteckt hat, bei den Tieren alles in Ordnung ist, die Wege säubern und die Mülleimer leeren.

An meinem dritten Arbeitstag werde ich fündig. Der ‚Lebensbereich Teich’ ist mit Holz überdacht, links und rechts sind Betonwände, zum Teich hin eine Glaswand. Da hat es sich einer bequem gemacht, sehe ich.

»Sie müssen den Park jetzt bitte verlassen.«

»Warum?«

»Weil wir jetzt schließen.«

»Ist doch mir egal.«

»Uns aber nicht. Bitte gehen sie.«

»Arschloch!«

»Gehen sie endlich!«

»Lass mich in Ruhe.«

Der verwahrloste Mann will sein behagliches Bett aus alten Zeitungen nicht aufgeben, nimmt immer wieder einen tiefen Schluck aus seiner Pulle mit dem Meckstädter Doppelkorn und ich versuche noch einmal den Eindringling höflich daran zu erinnern, dass wir jetzt Feierabend haben und er hier unerwünscht ist.

Der grauselig riechende Mensch wird wütend, schmeißt mir voller Wut die halb volle Flasche ins Gesicht, meine Nase knackt laut, mein Blut spritzt wie eine Fontäne in alle Richtungen, ich sehe Sterne. Viele. Sternenhimmel!

»Volltreffer«, grölt der Penner begeistert.

Ich ziehe den Kerl an seinen Haaren hoch, schüttle ihn, knalle ihn gegen das Holzgeländer an der Brücke, mein Blut läuft über sein Gesicht und ich schlage wütend auf ihn ein. Schlage immer wieder ein in seine blöd grinsende Fresse.

»Verschwinde endlich.«

»Halt’s Maul du Arsch-Ficker.«

Ich versetze dem besoffenen Typen einen kräftigen Stoß mit meiner Faust, schubse ihn vor mir her, wie einen bockigen Esel. Ein Schubser. Er bleibt stehen. Ein Schubser. Er bleibt wieder stehen.

»Lauf endlich!«

»Halt dei Gosch.«

Ich schubse ihn kräftiger, setze einen Fußtritt hinterher, trommle mit meinen Fäusten auf seinen Rücken ein, da fällt der Kerl in den Teich, gibt keinen Mucks mehr von sich und säuft so schnell zwischen Seerosen und Sumpfdotterblumen ab, dass ich staune.

Ich setze meinen Rundgang fort und finde eine leere Spritze im

‚Lebensraum Hecke’. Als ich sie aufheben will, huscht eine Spitzmaus erschreckt vor mir davon.

‚Lebensraum Hecke’ zerkratzt meine Beine, meine Hände, meine Sinne. Durch Spinnwebenkunstwerke sehe ich schemenhaft Säckchen aus Leinen baumeln. Ich schneide wieder einmal das Anglergarn durch, stecke die Leinensäckchen in meine Hosentasche, verschweige meinen Arbeitgebern den Fund.

Sorgfältig überprüfe ich den Spielplatz, laufe über das Klettergerüst, krabble suchend über das gelb rot blaue Trampolin. Ich bin erleichtert, als meine Suche ergebnislos verläuft. Die Kinder sollen Kinder bleiben dürfen.

Hinter dem alten Holunderbaum nahe dem Holzsteg beim ‚Lebensbereich Teich’ werde ich abermals fündig. Ich verstaue die Leinenbeutel vorerst in meiner Hosentasche, dann bei mir zuhause in der Kommode im Wohnzimmer.

»Im Teich des Affen-Zoos in Schwaigern liegt eine Leiche«, melde ich der zuständigen Polizeidienststelle in Lauffen und lege den Hörer auf, bevor man mich etwas fragen kann. Erschöpft sinke ich in meinen Schaukelstuhl vor dem Wohnzimmerfenster.

Ich schaukele hoch und runter und immer wieder hoch und runter. Mein Blick fällt auf die Kommode. Da sind sie drin meine Freunde – die Spritzen und die Pillen. Ich öffne die Schublade und sie lachen mich an. Da fällt mir Amy Winehouse ein und schnell mache ich die Schublade wieder zu. So enden, wie die Rockröhre will ich nicht!

Ich werde mir Badewasser einlassen. Mit Lavendelduft. Oder Orange-Melisse-Duft vielleicht? Mama hat immer in diesen Düften gebadet, wenn sie überdreht, nervös und aufgeregt war.

»Ein warmes Bad und eine Tasse heiße Milch mit Honig, dann sieht die Welt schon wieder bunter aus.«

Ich mache Milch heiß, rühre drei Esslöffel Lindenblütenhonig darunter, verbrenne mir die Zunge beim ersten Schluck, lasse das Badewasser einlaufen, und während ich mich ausziehe, fällt mein Blick auf das gelbe Büchlein auf dem Badewannenrand.

Mom hat den kleinen Kerl geliebt. Sehr sogar. Obwohl sie den

‚Kleinen Prinzen’ von Saint-Exupèry auswendig herunterbeten konnte, hatte sie ihn immer wieder in der Badewanne nachgelesen.

»Es muss feste Bräuche geben.«

In Schwermut eingetaucht, weine ich um Mama, steige aus der Wanne, haste zu der Kommode im Wohnzimmer, reiße die Schublade auf, meine Freunde und Amy lachen mir voller Vorfreude zu.

‚Back to Black.’

Ich lache zurück, greife mit gierig zitternden Händen nach einer Einwegspritze und schicke mich in das Land der Träume.

Zurück in Trauer. Ich hau mich hin.

Ich war zu lange (weg), bin froh zurück zu sein (ich wette du weißt, ich bin …).

Ja, ich bin frei gelassen worden

Aus der Schlinge, die mich herum hängen ließ.

Ich habe den Himmel angeschaut, weil es mich glücklich macht. Vergiss den Leichenwagen, weil ich niemals sterbe.

Ich besitze neun Leben. Katzenaugen.

Beschimpfe jeden von ihnen und tobe herum. Weil ich zurück bin.

Ja, ich bin zurück. Gut, ich bin zurück.

Ja, ich bin zurück, zurück, zurück, zurück, zurück.

Das Letzte was ich höre sind die Kirchenglocken der nahegelegenen Matthäus-Kirche.

»Mamiiiiiiiiiiiiiiiiii!«

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, was für ein Tag heute ist.

Ist es überhaupt Tag? Ich höre einen schrillen Dauerton. Was ist mit meinen Ohren los? Tinnitus? Hält da jemand vielleicht seinen Daumen auf die Haustürglocke?

Ich gehe ins Bad, halte meinen brummenden Schädel unter eiskaltes Wasser, lausche. Der Ton in meinen Ohren ist weg. Mann, ist mir schwindelig! Ich lege mich wieder in mein Bett. Und höre wieder diesen Dauerton. Also doch Daumen auf der Klingel?

Ich ziehe das Rollo hoch, öffne das Fenster und mein Blick schweift suchend über unseren Vorgarten. Mir ist speiübel, mein Magen dreht sich wie der Schleudergang meiner Waschmaschine und ich kotze grüngelbe Brühe aus dem Fenster.

Ein Schatten springt rückwärts in den Garten.

»Da habe ich aber noch einmal Glück gehabt.«

»Was tun sie hier?«

»Wer sind sie?«

»Jetzt wird es aber Zeit zum Aufstehen junger Mann.«

Die Stimme kenne ich, kann sie aber niemanden zuordnen. Meine Brille. Verdammt noch mal, wo habe ich meine Brille abgelegt.

»Wir hätten da ein paar Fragen.«

»Ja?«

»Mach mal die Haustür auf, mein Junge!«

Jetzt erst erkenne ich Harald Meckle, den Hauptkommissar und Pressesprecher der Heilbronner Polizei. Ohne meine Brille bin ich blind wie ein Maulwurf, ich taste mich die Treppen runter bis zur Haustür.

»Guten Morgen. Ich habe dich wohl aus deinen Träumen gerissen?«

Was soll ich darauf antworten?

Ich öffne die Haustür bis zum Anschlag.

»Nach dir«, sagt Kommissar Meckle.«

»Und immer schön der Wand entlang!«

Meckle läuft hinter mir her, ins Wohnzimmer, schaut sich kritisch um, drückt mich sanft auf das Sofa zwischen den bunten Kissenberg, setzt sich mir gegenüber.

»Du siehst so richtig verratzt aus!«

»Nichts gegessen?«

»Lange nicht mehr gewaschen!«

»Du stinkst wie ein alter Ziegenbock!«

Kommissar Meckle steht auf und reißt das Fenster sperrangelweit auf.

»Dein vernebeltes Gehirn braucht Sauerstoff«, knurrt er.

»Bin gleich wieder da.«

Meckle hat eine Aktentasche unter dem Arm, als er zurückkommt.

»Iss«, befiehlt er und streckt mir seine Vesperdose entgegen.

»Leberwurst«, sagt er.

»Mit Gurkenscheiben drauf. In der Thermoskanne ist Pfefferminztee. Pass auf, der ist noch heiß!«

Ich esse gierig, trinke Pfefferminztee.

»Langsam, langsam, junger Mann, sonst kommt die Brühe wieder hoch.«

»Du wirst im Leintal-Zoo vermisst, hast deine Arbeit nicht mehr angetreten«, sagt er nach einer Weile.

»Ja.«

»Was ja?«

»Ich meine nein.«

»Was jetzt? Ja oder nein?«

»Ich war nicht mehr dort.«

»Wie lange nicht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber ich.«

»Was wissen sie?«

»Die Fragen stelle ich hier.«

»Aus dem Teich im Leintal-Zoo wurde eine männliche Leiche geborgen. Hast du irgendetwas Verdächtiges bemerkt? Gesehen? Eine auffällige Frau vielleicht?«

»Nein! Ich habe keine verdächtige Frau gesehen.«

»Und gefunden hast du auch nichts? Bist du dir da sicher? Gefüllte Leinensäckchen vielleicht? Mit Anglerschnur an Gebüsche festgebunden vielleicht?

»Nein!«

»Man hat dich beobachtet, Davide.«

»Auf was wollen sie hinaus?«

»Was genau werfen Sie mir vor?«

»Wer hat was gesehen?«

»Was meinen sie zu wissen?«

Meckle streicht sich gedankenvoll über seine Stirn.

»Viele Fragen auf einmal.«

»Mir wisse, was mer wisse! Bist du satt Bub?«

»Ja.«

Kommissar Meckle packt seine Vesperdose und die Thermoskanne in seine abgeschabte braune Ledertasche.

»Der Mann war übrigens schon tot, bevor er ins Wasser fiel. Herzinfarkt. Um den geht es nicht. Es geht um die Säckchen. Nur um das Dope. Wir beide hatten erst kürzlich das Vergnügen miteinander. Da waren auch Säckchen aus Leinen im Spiel.

Ich komme wieder. Pass gut auf dich auf, Davide!«

Ich finde meine Brille auf dem Boden neben meinem Schaukelstuhl, erschrecke, als ich mich im Badezimmer-Spiegel sehe.

Das bin ich?

Ich halte das fremde Gesicht unter die Brause und hoffe auf die schnelle Wirkung eiskalten Wassers. Ich sollte mich rasieren, sehe aus wie ein Igel. Wo sind meine Rasierklingen? Ich wühle im Badezimmerschrank und Schubladen. Meine Beine sind schwer wie Blei, mir ist alles zu viel, am liebsten würde ich mich wieder ins Bett verkriechen. Endlich finde ich den Kulturbeutel. Er stand die ganze Zeit direkt vor mir und ich hatte ihn übersehen. Was ist nur los mit mir?

Ich krame wie wild in dem Beutel herum. Eine Rasierklinge findet ungeschützt den Weg zwischen meine Finger. Der unerwartete Schmerz lässt meinen Atem stocken und ich schaue ungläubig auf das viele Blut. Schaue zu, wie es von meinen Fingern tropft und lautlos in der weißen Badewannenvorlage versickert.

Ich fühle Schmerz.

Und ich spüre mich plötzlich wieder!

Kommissar Meckle hat seine Zeitung aufgeschlagen auf meinem Sofa liegen lassen, bemerke ich. Warum mischt der Polizist sich in mein Leben ein? Die Seiten mit den Stellenanzeigen springen mich förmlich an: Eine Stelle als Kellner, als Büroaushilfskraft, Verkaufsfahrer bei bofrost, Pflegehelfer im städtischen Tierheim, Schichtführer für Reinigungsund Aufräumarbeiten, Quereinsteiger für den Außendienst, Wachpersonal, Bürokraft in einer Futtermittelund Sachtransportfirma. Warum nicht?

Wo ist mein Papier? Die Umschläge?

Mein Schreibzeug?

Ich wühle wieder planlos in Schubladen und Schränke, finde nicht das, was ich suche, werfe das unnütze Zeug achtlos auf den Boden und lasse es dort liegen.

Ich bediene mich an Mamas Schreibtisch, versuche meine sieben Sinne zusammenzuhalten und schreibe bis spät in die Nacht Bewerbungen.

»Fein säuberlich!«

»Das ist deine Visitenkarte, Davie.«

»Ich weiß, Mama.«

Die Kommode im Wohnzimmer. Immer wieder schweifen meine Blicke zu den Schubladen mit den Drogen, lassen meine Gedanken nicht los, setzen sich in meinem Kopf fest, sodass ich kaum klar denken kann. Ein zerknülltes Papier nach dem anderen landet als Müllberg auf dem Fußboden. Amy Winehouse röhrt aus dem CDPlayer.

Ich mache Milch heiß, rühre drei Esslöffel Honig darunter, schreibe mit letzter Willenskraft und unter äußerster Anstrengung meine Bewerbungen nochmals. Meine Mama im Himmel soll zufrieden mit mir sein. Ich klebe grüne Briefmarken auf die braunen Umschläge. Marken der Hoffnung.

Ich werde es schaffen, will doch ein normales Leben führen.

Wie gehetzt renne ich zum nächsten Briefkasten. Er ist weit. Keuchend werfe ich die Umschläge ein.

Was wird jetzt werden?

Ich bin aufgelöst.

Wieder zuhause, setze ich mich in meinen Schaukelstuhl und versuche mich ruhig zu schaukeln, schaukele hoch und runter. Immer wieder hoch und runter. Das hatte Mama mit mir immer so gemacht, wenn ich unruhig und zappelig war.

Mein Blick verfängt sich in den Schubladen meiner Kommode. Kirschbaum.

Von Oma. Wertvoll.

Morgen kommt die Müllabfuhr.

Ich schütte entschlossen den Restbestand der Drogen in einen Müllbeutel, trage ihn nach draußen, klettere auf die Bank neben dem städtischen Behälter und erreiche so die Öffnung des Eimers. Ich stampfe den Beutel mit den Füßen in die Tiefe des stinkenden Eimers.

Ich werde es schaffen! Ich will es schaffen!

Ich werde es schaffen! Ich werde es schaffen! Ich will es schaffen!

Mama tanzt in ihrem weißen Totenhemd um mein Bett herum und lacht.

»Fang mich, Davie!« Als ich nach ihr greifen will, wird sie durchsichtig, taucht am Fußende des Bettes wieder auf. »Fang mich doch, Davie.«

Ich hüpfe aus dem Bett und renne Mama hinterher. Wir spielen Fangen durch das ganze Haus. Auf Mamas langem Gewand krabbeln unzählige weiße Würmer rauf und runter.

»Du riechst nach süßem Blut Mama.«

»Beiß nicht in mich hinein.«

Höhlenartigen Augen verschießen leuchtende Blitze. Mama wirft mit beiden Händen weiße Lilienblüten nach mir, lacht fröhlich:

»Komm, Davide, lass uns tanzen!«

Ich lege Amy Winehouse ein, strecke meine Hände nach Mama aus. Mom wird wieder durchsichtig, bleibt diesmal aber verschwunden.

»Mami?«

Weiße Lilien.

Überall weiße Lilienblütenköpfe. Flackernde Schatten an den Wänden. Weißer Rosenkranz.

Mir ist kalt. So verdammt kalt.

»Mamiiiiiiiiiiii.«

Albträume. Schüttelfrost. Kotzen. Haut wie Pergamentpapier. Violettfarbene Ringe unter den Augen. Abgemagert bis auf die Knochen. Wahnvorstellungen.

Albträume. Schüttelfrost. Kotzen. Wahn. Albträume. Schüttelfrost. Wahn.

Albträume. Schüttelfrost. Albträume.

Albträume. Ritzen.

Und ich spüre mich mehr, als ich ertragen kann.

»Gott, erhöre mein Gebet und verbirg dich nicht vor meinem Flehen. (Psalm 55)

Gib mir die Kraft diese schwere Zeit zu überstehen.

Ave Maria

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