Читать книгу Ymirs Rolle - Gisela Schaefer - Страница 4
ОглавлениеYmir und Embla
Mit voller Wucht traf das Holz Ymirs Rücken, und Ymir, der Bärenstarke, sackte leicht in die Knie.
„Donnerwetter,“ keuchte er und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, „so stark hat sie noch nie zugeschlagen.“
Er bog seinen Arm so weit es ging über die rechte Schulter, um die schmerzende Stelle zu reiben.
„Wenn’s so weitergeht, wächst mir bald eine Hornhaut auf dem Buckel,“ brummte er und ließ sich schwer auf die Bank vor seinem Haus sinken.
Damals, vor Jahren, als es begann, da hatte er sich noch amüsieren können über ihr herrliches Temperament. Und wenn ihn das Holz traf, hatte er höchstens gefragt: „Nanu, hat ein Laubblatt mich berührt?“
Krach! – „Die Vögel haben wohl Reisig auf mich geworfen.“
Krach! – „Ich glaube, mir ist eine Eichel auf die Schulter gefallen.“
Dann hatte Embla lachen müssen, waren es doch genau die Bemerkungen der Götter aus den Geschichten gewesen, die sie Ymir so oft erzählt hatte. Ymir, der Gutmütige, hatte sie dann beschwichtigend in die Arme genommen – danach war jedesmal für eine Weile wieder Frieden. Aber mit der Zeit war es doch lästig geworden, und schließlich ärgerte ihn ihre ständige Launenhaftigkeit und Unbeherrschtheit, die selbst bei den geringsten Anlässen jederzeit aus ihr herausbrechen konnten. Heute bedauerte er fast den Tag, an dem er dieser Furie Embla zum Zeichen seiner ewigen Liebe und Treue das Holz, mit dem sie ihn so malträtierte, als Hochzeitsgeschenk überreicht hatte.
Ymir starrte hinunter auf den hellschimmernden Sandstrand, der das Ende des Fjords bildete und der einzige Zugang von See aus zu dem weiten, grünen Tal dahinter war. Auf beiden Seiten der zum Meer hin immer breiter auseinanderklaffenden Bucht ragten steile, schroffe Felswände aus dem Meer. Kahl und düster bis auf vereinzelte Mooskissen und Placken rostroter Flechten. An manchen Stellen weiß vom Kot der Seevögel, die hier brüteten und ihre Eier selbst auf schmalste Vorsprünge und Kanten legten. Wie oft schon hatte Ymir beobachtet, wie ungeschützte Gelege oder Jungvögel abrutschten, von einer Windboe hinweggefegt oder leichte Beute von Raubvögeln wurden.
„Muss daran liegen, dass es auf einen mehr oder weniger nicht ankommt bei dem massenhaften Nachwuchs, den sie haben,“ dachte er nun und seufzte tief.
„Und ich,“ grollte es in seinem Innern verbittert, „ich habe keinen einzigen Sohn, nicht mal eine Tochter! Allmächtiger Odin, warum schenkst du Embla und mir keine Kinder? Siehst du nicht, dass sie immer unausstehlicher wird und mir alle Schuld an unserem Unglück zuschiebt?“
Er lehnte seinen Kopf an die Holzbohlen hinter sich und schloss die Augen. Wie sorgenfrei und unbeschwert war sein Leben einst verlaufen – vor vielen, vielen Jahren ...
waren Ymirs Eltern, Skadi und Grima, aus einer Region hoch oben im Norden des Landes hierher in den milderen Süden gezogen, wo die Äcker fruchtbarer, die Weiden saftiger und, was für Skadi das Wichtigste war, Eichen, Buchen und Eschen dichter und kräftiger wuchsen – denn Skadi war Schiffbauer. Doch nicht nur wegen der Kargheit des Landes und der grimmigen Kälte hatte er seine Heimat verlassen. Skadi hatte vielmehr mitansehen müssen, wie über seinen damaligen Herrn ein Unglück nach dem anderen hereinbrach: Söhne, die nicht wiederkehrten von waghalsigen Raubzügen, zwei Missernten hintereinander, so dass ihm sein Vieh verhungerte oder im nicht enden wollenden Winter erfror. Der einst so reiche, stolze Großgrundbesitzer schrumpfte zusammen auf einen armseligen, bedeutungslosen Bauern. Hinzu kam, dass um diese Zeit erste Bestrebungen im Gange waren, aus den vielen kleinen Herrschaftsbereichen der Landbesitzer, Häuptlinge, Jarle und Kleinkönige ein geschlossenes, starkes Reich zu schmieden. Der Kampf um Land, Macht und die Krone wurde mit Gewalt oder List und Tücke geführt. Wer nicht genügend Krieger und Schiffe besaß, wer nicht durch Handel zu großem Reichtum gelangen konnte, wurde überrannt und vereinnahmt. Nach all seinen Schicksalsschlägen hatte Skadis Herr nicht mehr die Kraft, sich gegen diese Bedrängnisse weiter zu wehren.
So beschloss Skadi eines Tages zu gehen. Mit dem wenigen Geld, das er gespart hatte, kaufte er sich und Grima aus der Leibeigenschaft frei – sein Herr feilschte nicht lange um den Preis, was sollte er auch weiterhin mit einem Schiffbauer anfangen. Sie luden ihren Hausrat und Skadis Werkzeug auf einen Holzkarren, spannten ein Pferd davor und zogen nach Süden, immer möglichst nahe der Küste bleibend. Nach fünf anstrengenden Tagesmärschen erreichten sie die erste größere Ansiedlung und wurden gastfreundlich aufgenommen, aber Arbeit gab es nicht, denn der Platz des Schiffbauers war schon vergeben. Skadi und Grima setzten daher ihre Reise fort, zum ersten Mal froh darüber, dass sie noch kinderlos waren. Die Strapazen des mühsamen Weges erschöpften sie mehr und mehr, immer dichter und unwegsamer wurden die Wälder, immer zahlreicher die herumstreunenden Wölfe. In den Nächten zündeten sie helllodernde Feuer an und hielten abwechselnd Wache, damit es nur ja nicht erlosch – es wäre ihr sicherer Tod gewesen.
Das nächste herrschaftliche Gehöft, auf das sie trafen, besaß keinen Uferstreifen, also brauchte man auch keine Schiffe. Beim übernächsten wurden sie sofort verjagt, kaum dass sie angekommen waren und den Mund öffnen konnten, weil man sie für armes Bettelvolk hielt. Am vierten wären sie glatt vorbeigelaufen, ohne es zu bemerken, hätte ihnen nicht eine gebieterische Stimme zugerufen: „Wer seid ihr und wohin wollt ihr?“
Ymir rutschte auf seiner Bank weiter nach vorne und streckte die Beine weit von sich. Ja, so hatten seine Eltern damals den ehrgeizigen jungen Herrn von Drachenbergen oder Dragensfjell kennengelernt – seit nunmehr vier Jahren Ymirs Schwiegervater. Ymir konnte sich die erschreckte Grima und den kampfbereiten Skadi gut vorstellen, sie hatten ihm oft genug von dieser ersten Begegnung im Wald erzählt. Wie Skadi sich mit gezücktem Schwert angespannt im Kreis drehte, um den Frager irgendwo im Dickicht zu entdecken ...
„Ich bin Skadi der Schiffbauer,“ stieß er hervor, „und das ist meine Frau Grima. Wir sind auf der Suche nach Arbeit. Und wer bist du?“
„Steck dein Schwert weg, ich tu dir nichts!“
Wie vom Himmel gefallen landete direkt vor ihnen ein Mann auf dem weichen Waldboden, ging in die Knie und federte wieder hoch. Skadi warf einen kurzen Blick nach oben, der Mann musste auf einem der Felsen gesessen haben.
„Du sagst, du bist Schiffbauer?“ Der Fremde sah Skadi prüfend an: „Was meinst du damit? Hast du mal ein paar Holznägel eingeschlagen oder am Teer geschnuppert. Für einen Meister scheinst du mir reichlich jung.“
„Mein Vater war Schiffbauer und seit ich zurückdenken kann, habe ich nichts anderes getan, als ihm bei der Arbeit zur Hand zu gehen,“ antwortete Skadi stolz und ein wenig verärgert über den arroganten Ton dieses Mannes, der ganz sicher jünger war als er selbst.
„Ich habe mehr als ein Schiff gebaut, das kannst du mir glauben, und seit dem Tode meines Vaters vor drei Jahren ganz alleine. Komm nur her und schau hier herein.“
Er öffnete den Deckel seiner Werkzeugkiste und zeigte auf den Inhalt.
„Sieht so das Werkzeug eines Gehilfen aus, der nur Nägel einschlagen kann?“ fragte er herausfordernd.
„Mal sehen,“ sagte der Fremde gedehnt, „Breitbeil und Kratzeisen, Feilen, eine Metallsäge, Bohrer, Zangen, Meißel. Nicht schlecht, deine Ausrüstung. Kannst du einen Mastbaum am Kiel so befestigen, dass er nicht bei der ersten Brise umknickt? Oder reicht dein Können nur für Ruderboote mit Schlingen?“
Skadi sah überrascht auf: „Ich verwende schon lange keine Lederriemen, oder wie du es nennst, Schlingen mehr. Ich führe die Ruder durch Löcher in der Bordwand, groß genug, um sie eine volle Länge durchs Wasser ziehen zu können. Ich möchte einen Hammer wetten, dass du sowas noch nie gesehen hast. Schlingen reißen viel zu schnell und werden bei Frost spröde. Außerdem, wenn du genug Wind in den Segeln hast und die Ruder nicht brauchst, kannst du die Schilde deiner Krieger in die Löcher hängen … falls du denn welche haben solltest, du scheinst mir reichlich jung.“ Skadi konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen und fuhr fort: „Jedenfalls machen sie die Bootswände schön hoch und schützen vor hohem Wellengang … oder auch schnellen Pfeilen. Ach, und noch was, keiner meiner Mastbäume ist jemals umgeknickt oder gesplittert, weil ich nämlich ...“
Skadi stoppte seinen Redefluss erschrocken, er hatte viel mehr von seinem Wissen preisgegeben als gut war.
„Bist du etwa auch Schiffbauer?“ fragte er misstrauisch.
„Nein, keine Angst,“ lachte der Fremde. „Kommt mit, ich zeige euch was. Kann sein, dass ihr von Odin selber hierher geschickt worden seid.“
„Wie meinst du das?“ Skadi horchte auf.
Der Fremde streckte ihm seine Hand hin: „Ich bin Gunnar und die Wälder ringsum sind mein, einige Tagesmärsche nach allen Richtungen. Hast du die Eichen gesehen, die hohen Fichten und geraden Eschen? Meinst du, daraus könntest du ein paar Schiffe bauen?“
Gunnar wartete Skadis Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort, indem er auf die Felswand zeigte, die neben ihnen aufragte: „Das sind die Drachenberge, alles mein, und was dahinter liegt auch. Du wärst glatt vorbeigelaufen, stimmt’s? Am Eingang der Schlucht, meine ich.“
Gunnar ging nun ein Stück die Felswand entlang und Skadi und Grima folgten ihm. Sie gelangten an einen schmalen Spalt, gerade so breit, um einen Pferdewagen oder einen Schlitten durchzulassen. Nach wenigen Metern schien der Weg bereits zu Ende zu sein – eine perfekte Täuschung, denn er machte hinter einem Felsvorsprung eine scharfe Kurve nach rechts und zog sich nun gut 150 m in Windungen weiter, bis er erneut scheinbar vor einer Feldwand endete. Diesmal war es eine verborgene Linkskurve, hinter der sich der Ausgang aus der Schlucht befand.
Skadi und Grima hielten erstaunt an: Vor ihnen breitete sich ein weites, sanft abfallendes Tal aus, von allen Seiten umschlossen und geschützt von hohen Gebirgszügen. Skadi starrte auf den hellschimmernden Sandstrand in der Ferne, der das Ende eines Fjords bildete und der einzige Zugang von See aus zu diesem Tal war. Auf beiden Seiten der zum Meer hin immer breiter auseinanderklaffenen Bucht ragten steile, schroffe Felswände aus dem Meer, kahl und düster.
Ymir lehnte sich etwas vor und sah zum Haus seiner Eltern hinüber. Es war noch immer das gleiche, das sie damals gebaut hatten, nachdem sie mit Gunnar einig geworden waren ...
denn Skadi zögerte nicht lange: Er hatte das fruchtbare Land mit den vielen kleinen Gehöften und dem großen in der Mitte, die fetten Kühe auf den Weiden, Schaf- und Ziegenherden, Schweine und Pferde mit blonden Mähnen gesehen. Er hatte die fast uneinnehmbare Lage des Tales und den perfekten Anlegeplatz für eine ganze Flotte von Schiffen bemerkt - und er fand schnell heraus, dass Gunnar äußerst ehrgeizig war, woraus er zu Recht folgerte, dass seine Ziele hochgesteckt waren. Daher war er nur allzu gern bereit, in seine Dienste zu treten, jedoch als freier Mann, anders als die meisten bereits im Tal ansässigen Handwerker und Bauern. Gunnar war einverstanden, denn er hatte genug gehört, um sicher zu sein, dass Skadi von seinem Handwerk mehr verstand als alle Schiffbauer, denen er bisher begegnet war, zudem schienen in seinem Kopf eine Menge Ideen für neue, bessere Konstruktionen zu sein. Und Gunnar fand auch heraus, dass Skadi und Grima sich seit langem Kinder wünschten, woraus er zu Recht folgerte, dass ein Mann mit Familie nicht unstet umher irrt, sondern bestrebt ist, für sich und die Seinen ein dauerhaftes Zuhause zu schaffen. So gab er Skadi ein Stück Land, die Genehmigung, sich soviel Baumaterial für ein Haus wie nötig zu schlagen und steckte mit ihm unten am Ufer seinen Arbeitsplatz ab. Weder Skadi noch Gunnar sollten jemals ihre Entscheidung von damals bereuen.
Während der Sommermonate baute Skadi Schiffe, die, sobald die kalte, dunkle Jahreszeit anbrach, abgedeckt wurden. Der Fjord blieb zwar wegen der warmen Meeresströmung eisfrei, aber neue Schiffe mussten in Ruhe trocknen – Skadi nannte es „reifen“. Grima saß während dieser Zeit am Spinnrad und ließ körbeweise Schafwolle durch ihre Finger gleiten, bis sie zu dünnen Fäden versponnen war. Dann webte sie daraus Tücher und nähte sie aneinander zu quadratischen Segeln, während Skadi, unter vielen Seufzern oder auch heftigen Flüchen, sich lange damit abquälte, furchteinflößende Drachenköpfe für die Vordersteven seiner Schiffe zu schnitzen. Gunnar hatte es ihm so oft und so anschaulich erklärt: „Aus ihren Augen soll die schiere Angriffslust blitzen. Aus ihren Rachen muß der Feind jeden Augenblick sengende Flammen erwarten und den Gifthauch ihres Atems zu spüren glauben. Ihr Anblick muss grauenvoll sein und den Arm des Feindes lähmen vor Entsetzen!“
Ymir lachte laut auf, als er sich an die freundlich grinsenden Wesen mit den gütigen Augen erinnerte, die trotz aller Bemühungen seines Vaters dabei herauskamen.
Nicht, dass Skadi nicht schnitzen konnte, im Gegenteil, selbst die kompliziertesten und verschlungendsten Ornamente gelangen ihm perfekt - nur eben Furchteinflößendes nicht. Gunnar verzichtete schließlich darauf, sie für seine Kriegsschiffe zu verwenden – er verteilte die drolligen Tierchen an seine Kinder und machte sie damit sehr glücklich. Er war Skadi deswegen nicht böse, aber eines Tages, als sie ausgelassen die Sonnenwende feierten, als in Gunnars Halle die langen Tische und Bänke mit seinen Kriegern, Bauern und Handwerkern besetzt waren, als über dem Herdfeuer ein Ochse am Spieß gedreht wurde und Met und Bier in Strömen flossen, da konnte er sich nicht mehr zurückhalten und zog Skadi damit kräftig auf. Der nahm’s gelassen hin. Als aber Gunnar dann im Vollrausch auch über seine Kinderlosigkeit spottete, wand sich Skadi vor Verlegenheit und Kummer wie ein Wurm. Niemand konnte ihm nachfühlen, wie traurig er war deswegen und wie schmerzhaft er diesen Mangel empfand. Am wenigsten Gunnar, der vor einem Jahr Freydis zur Frau genommen hatte und im letzten Monat voller Stolz seinen ersten Sohn dem allmächtigen Odin entgegengestreckt hatte, um dessen Segen für ihn zu erbitten.
Ein weiteres Jahr verging und Gunnars zweiter Sohn kam zur Welt, dann sein dritter, dann waren es sogar Zwillinge, die Freydis ihm gebar. In diesem Jahr jedoch ging auch Skadis und Grimas größter Wunsch in Erfüllung – nach all der langen Zeit des Wartens und Bittens bekamen auch sie einen Sohn. Und weil er so ungewöhnlich groß und kräftig war, nannten sie ihn Ymir, nach dem Riesen aus der Weltentstehungsgeschichte. Ymir sollte ihr einziges Kind bleiben, während Gunnar noch eine Tochter und vier Söhne bekam.
Die Spiele mit Gunnars Kindern gehörten zu den frühesten Erlebnissen, an die sich Ymir selbst erinnern konnte, und daran, dass eins aussah wie das andere, nur in verschiedenen Größen. Dass einer dieser rothaarigen, vollkommen gleich gekleideten, ständig johlenden und raufenden Wildfänge ein Mädchen sein könnte, das war ihm lange Zeit nicht in den Sinn gekommen. Ymir schlug sich mit beiden Händen auf die Schenkel und schüttelte den Kopf, als wenn ihn dies auch heute noch irritierte ...
denn Embla schwang den Hammer ebenso kraftvoll wie jeder ihrer Brüder. Sie schleuderte den Speer genau auf den Punkt, den man ihr zeigte. Sie tauchte minutenlang ohne nach Luft zu schnappen und rannte mühelos bei jedem Wettlauf mit. In einer einzigen schnellen Bewegung zog sie einen Pfeil aus dem Köcher auf ihrem Rücken, legte an, spannte den Bogen und traf ihr Ziel: einen hakenschlagenden Hasen oder ein aufstiebendes Schneehuhn. Auf einem Gebiet war Embla sogar allen Jungen und Mädchen überlegen: Sie sammelte Geschichten, wie andere Kinder Muscheln sammelten. Sie kannte soviele spannende Sagen von den Göttern im Himmel und den Helden längst vergangener Zeiten wie niemand sonst. Wenn die Kinder beieinander saßen auf dem frisch ausgestreuten Stroh in einer Ecke von Gunnars Halle, wenn das lodernde Herdfeuer zuckende Schatten auf die Wände und über ihre Gesichter warf, wenn wie aus weiter Ferne das Lärmen und Grölen der Erwachsenen zu ihnen drang, das Zischen von spritzendem Fett und das dumpfe Aufsetzen der Becher, dann fing Embla an zu erzählen. Und jedesmal begann sie ihre Geschichten mit leiser, eindringlicher Stimme und den beschwörenden Worten:
„Am Anfang war nur Feuer und Eis. Als sie aufeinandertrafen, entstanden aus den Wassertropfen Ymir der Riese und Audumla die Kuh.“
Das war die Stelle, an der Ymir immer betreten auf den Boden vor sich starrte, denn jeder wusste inzwischen, dass Ymir der Riese böse war und von ihm das Geschlecht der bösen Reifriesen abstammte. Embla schien sein Unbehagen nie zu bermerken.
„Audumla leckte am Eis, und nach und nach kam Buri zum Vorschein. Buris Enkel war Odin. Odin schuf das Himmelsdach und stützte es an jeder Ecke mit einem Zwerg. Die Zwerge hießen Norden, Süden, Osten und Westen. Odin schuf auch die Erde. Als das Meer zwei Baumstämme an den Strand schwemmte, hauchte er ihnen seinen Atem ein und schuf Askr und Embla, die ersten Menschen.“
Nach dieser Einleitung folgte stets die eigentliche Geschichte. Oh, wie gebannt die Kinder an Emblas Lippen hingen, wie begierig sie waren, von Kämpfen und Intrigen, von glorreichen Siegen und bitteren Niederlagen zu hören. Ymir mochte am liebsten die Geschichten über Thor, Odins ältestem Sohn, den er wegen seiner gewaltigen Stärke bewunderte und um seinen immertreffenden Hammer Mjölnir beneidete. Heimlich schnitzte er sich aus hartem Wurzelholz eine solche Waffe und hoffte, dass sie Mjölnir ähnlich sei. So schwer wurde sein Hammer, dass Ymir anfangs kaum imstande war, ihn vom Boden aufzuheben. Aber eines Tages schwang er ihn so leicht über seinen Kopf wie die anderen Jungen ihre Steinschleudern. Von dieser Zeit an wurde er Ymir der Bärenstarke genannt.
Einmal, so erinnerte er sich jetzt auf seiner Bank, hatte Embla ihm einen gewaltigen Schreck eingejagt, indem sie seinen Glauben an den unbezwingbaren Thor erschüttern konnte, aber – Odin sei Dank – nur für kurze Zeit. Embla erzählte nämlich folgendes:
„Thor kam wähend einer Wanderung nach Utgard, dem Land der Reifriesen, und traf dort auf einen seiner Bewohner. Dieser Riese nun machte Thor durch allerlei Bosheiten so zornig, dass er ihm mit seinem Hammer Mjölnir auf den Kopf schlug. Der Riese zeigte sich jedoch wenig beeindruckt und sagte lediglich: „Nanu, hat ein Laubblatt mich berührt?“
Thor schlug erneut zu – aber alles, was der Riese von sich gab war: „Ich glaube, mir ist eine Eichel auf den Kopf gefallen.“
Ungläubig schwang Thor den Hammer ein drittes Mal und schlug mit der ganzen Kraft, die er aufzubieten hatte, zu.
„Die Vögel haben wohl Reisig auf mich geworfen,“ sagte der Riese nur leichthin.
Ymirs Herz hatte wild gepocht und es hatte eine Weile gedauert, bis er sich wieder beruhigt hatte, selbst nachdem Embla den unerhörten Vorfall aufgeklärt hatte. Nach einer langgedehnten Pause sah sie Ymir direkt an und in ihren Augen funkelte es schelmisch: „Du Leichtgläubiger! Warum bist du so blaß geworden? Zweifelst du wirklich an der Stärke Thors? Nun, ich will dich von deinen Qualen befreien. Nicht die Stärke Thors, nicht die Treffsicherheit seines Hammers haben versagt, nein, der Riese war nämlich der Utgard-Loki höchstpersönlich, der König der Reifriesen, der über Zauberkräfte verfügt. Loki hatte bei jedem Schlag einen für Thor unsichtbaren Berg vor seine Stirn gehalten und erst als Thor Utgard verlassen hatte, gab er sich zu erkennen und rief ihm nach: „Ich bin froh, dass du aus meinem Land raus bist und ich werde dich auch nie wieder hineinlassen. Siehst du den Berg da drüben mit den drei tiefen Tälern? Diese Täler hast du mit deinem Hammer geschlagen. Ohne meine Zauberkunst hätte selbst dein schwächster Hieb mich auf der Stelle getötet.“ Dann machte sich Loki unsichtbar und ließ den wutschnaubenden Thor allein zurück.“
Ymir streckte sich und spürte wieder seinen geschundenen Rücken. „Ich brauche einen Berg wie der Utgard-Loki, um mich vor den Schlägen von Gunnars Tochter zu schützen,“ fluchte er. Dann fiel ihm ein, dass Gunnar seinerzeit keineswegs erfreut war über Emblas Geburt, jedenfalls erzählten die Älteren im Tal auch heute noch, wie er nach einem ersten kurzen Blick auf das Neugeborene achselzuckend gebrummt hatte ...
„Was soll’s … einmal ist keinmal! Beim nächsten Mal wird’s wieder ein Junge.“
Damit war die Angelegenheit vorerst erledigt, zumal alle folgenden Kinder tatsächlich wieder Söhne wurden. Embla wuchs ganz selbstverständlich als Gleiche unter Gleichen zwischen all ihren Brüdern und deren Freunden auf – niemanden kümmerte das, erst recht nicht, nachdem Emblas Mutter Freydis bei der Geburt ihres elften Kindes gestorben war. Embla selber kam auch nicht auf die Idee, dass es anders sein könnte, und Gunnar war mit dieser Entwicklung zufrieden.
Nur gelegentlich erinnerte er sich daran, dass sie ein Mädchen war, und zwar immer dann, wenn ein Fremder in seiner Halle saß und, vom Met berauscht, leichte Beute für ein Spielchen wurde. Dann ließ Gunnar nämlich seine Kinderschar vorführen und sich in einer Reihe aufstellen. Alsdann forderte er seinen Gast auf herauszufinden, welches davon kein Junge sei und versprach als Belohnung für die richtige Antwort einen Silberbecher. War die Antwort falsch, erhielt Gunnar einen. Eine einfache Sache, so dachte jeder, zumal die Kinder allerlei Wettkämpfe und Geschicklichkeitsspiele vorführten – dabei muss doch ein kleines Mädchen auf den ersten Blick zu erkennen sein. Wenn es so leicht gewesen wäre, dann hätte Gunnar diese Wette ganz sicher nicht angeboten, was jeder, der ihn kannte, hätte wissen müssen. Jedoch die stets gut gefüllten Becher und die alle Sinne benebelnden Duftschwaden von Gebratenem und Frischgebackenem schalteten jede Vorsicht aus. Nicht ein einziges Mal büßte Gunnar einen Silberbecher ein, dagegen nahm die Anzahl seiner eigenen ständig zu, denn eine ganze Weile lang fand er immer wieder neue Opfer.
Irgendwann bekam Ymir mit, dass Embla ein Mädchen ist, wunderte sich kurz, und dachte dann nicht weiter darüber nach. Bis die Zeit kam, als es für jedermann unübersehbar wurde: mit der äußerlichen Veränderung trat auch eine innere ein, denn sie zog sich von nun an zurück von ihren bisherigen Spielgefährten, kein Fluch kam ihr mehr über die Lippen, Schwertkämpfe wurden ihr zu rauh und Fische harpunieren zu grausam. Sie trug ein langes Gewand wie die anderen Frauen und hielt es an der Schulter mit einer hübschen Spange zusammen. Über ihre Arme streifte sie Silberreifen und ihr Haar ließ sie wachsen, bis es zu einem Zopf geflochten werden konnte, in den sie ein blaues Tuch band.
„Es ist das gleiche Blau wie das ihres Kleides, und es passt gut zu ihren roten Haaren,“ dachte Ymir verwirrt. Wieso war es plötzlich wichtig, was sie trug und in welcher Farbe? Und rote Haare hatte sie doch schon immer gehabt. Er kam sich ziemlich albern und kindisch vor. Dabei war er schon lange kein Kind mehr. Die Wettkämpfe zwischen ihm und seinen gleichaltrigen Freunden fanden zwar noch statt, aber sie waren ernster geworden und heftiger. Er ging fischen und jagen, wenn Grima was für den Kochtopf brauchte, die meiste Zeit jedoch verbrachte er mit Skadi auf der Werft, denn für Ymir stand fest, dass er ein Schiffbauer wie sein Vater werden wollte.
Das Schlimme jedoch war, dass er sich auf nichts mehr richtig konzentrieren konnte, seit er dieses blaue Band in ihren roten Haaren bemerkt hatte. Er vermisste auch ihre Geschichten, obwohl er sie alle kannte, und sah sie nicht einmal mehr regelmäßig so wie früher. Ymir hatte das Gefühl, dass sie sich immer weiter von ihm entfernte, immer unerreichbarer wurde. Bedrückt und unruhig zugleich lebte er von einem Tag zum nächsten. Gar nichts konnte ihn herausreißen aus seinem Zustand, nichts ging ihm mehr leicht von der Hand. Skadi musste ihn oft unwirsch aus seinen Träumereien wecken: „Glaub ja nicht, dass ich mir deine Faulheit und Vergesslichkeit noch lange mit ansehe, nur weil du mein Sohn bist.. Ich werde mir einen anderen Lehrjungen suchen,“ schimpfte er verärgert. Grima indes ahnte, was in Ymir vorging und hoffte, dass es schnell vorübergehen würde, denn, so vermutete sie, Gunnar würde für Embla sicher einen Häuptlingssohn aus einem anderen Tal aussuchen und sie nicht einem Handwerker zur Frau geben.
Ymir verschränkte die Arme vor seiner Brust, es war kühl geworden.
„Das war eine schlimme Zeit,“ dachte er, „und sie dauerte bis zu dem Tag, der mein Leben mit einem Schlage veränderte.“
An diesem alles entscheidenden Tag war Ymir frühmorgens tief in den Wald hineingegangen, um Bäume zu markieren, die er mit Skadi später fällen wollte. Während er sorgfältig Ausschau hielt nach Stämmen in der passenden Stärke und mit geradem Wuchs, hörte er plötzlich ein leises Schluchzen. Vorsichtig bog er die hochgeschossenen Farnkräuter auseinander – und wer hockte da zusammengekauert mit Tränen in den Augen? Ymir war zu verdutzt, um auch nur ein Wort herauszukriegen. Embla wischte sich über die Augen und sprang erfreut hoch, wobei sie so unglücklich auftrat, dass sie mit einem Fuß umknickte, strauchelte und – hätte sie sich nicht geistesgegenwärtig an Ymir geklammert – unweigerlich in’s Gestrüpp gefallen wäre. Ymir war von den Ereignissen so überrumpelt, dass ihm die naheliegendste Frage, wieso gerade sie sich verlaufen hatte, kannte sie doch den Wald so gut wie kaum ein anderer, gar nicht in den Sinn kam. Dieses zitternde, hilflose, über alle Maßen dankbare, ihn vertrauensvoll umklammernde Geschöpf brauchte seinen Schutz. Welch ein glücklicher Zufall, dass er zur rechten Zeit am rechten Ort war zu ihrer Rettung.
„Ha, von wegen Zufall, von wegen hilflos,“ dachte er und musste trotz allem grinsen, „war alles von ihr genau geplant.“ Embla hatte schon immer genau gewusst, was sie wollte – und es auch immer bekommen. „Das ist das Problem,“ Ymir kniff die Lippen zusammen, „zum ersten Mal in ihrem Leben läuft es nicht so, wie sie es will. Darum ist sie so unzufrieden, so aufbrausend, so giftig.“
Der Heimweg von Ymir und Embla durch den Wald von Dragensfjell an diesem denkwürdigen Tag zog sich in die Länge, denn obgleich Ymir sie fest um die Taille gefasst hatte um sie zu stützen, kamen sie nur langsam vorwärts. Als sie beide schließlich gegen Abend den Eingang zur Schlucht erreicht hatten, waren sie sich einig: sie würden heiraten. Ymir kam sich wie in einem Traum vor, zweifelte aber nicht daran, dass dieser wundervolle Traum in Erfüllung gehen würde – Embla hatte entschieden, das genügte. Als sie auseinandergingen, hüpfte sie vergnügt heim.
Gunnar machte keinerlei Anstrengungen, seiner Tochter den selbsterwählten Bräutigam auszureden. Nicht unbedingt aus Vaterliebe, Gunnar hatte ganz andere Gründe: Kein ehrgeiziger Schwiegersohn, der ihm zum Konkurrenten werden konnte, die nächste Generation hervorragender Schiffbauer fest an seinen Hof gebunden – mit der Aussicht auf die übernächste. Gunnar hatte schon immer weit in die Zukunft geplant und seine eigene war eng verbunden mit seinen seit Jahren im Geheimen, aber konsequent verfolgten Zielen. So forderte er als einzige Bedingung, dass Ymir vor der Hochzeit auf Reisen gehen solle. Auch dabei ging es nicht darum, dass Ymir was von der Welt sehen sollte, nein, Gunnar fehlte einfach noch ein kräftiger Bursche in einem seiner Boote für die bevorstehende Fahrt ins Sachsenland, wo eine größere Gruppe von seinen Leuten eine Siedlung gegründet hatte, von der aus sie Beutezüge ins Landesinnere unternahm. Von Zeit zu Zeit holte sich Gunnar seinen Anteil und kontrollierte gleichzeitig, ob die Gruppe weiterhin loyal ihm gegenüber war. Das erreichte er dadurch, dass immer einige seiner Männer aus dem Tal für ein oder zwei Jahre im Sachsenland blieben, „um die Siedler zu unterstützen“ wie Gunnar es nannte.
Ymir schaute auf das breite, farbige Band am Horizont. Um die schmale Kuppe der untergehenden Sonne glühten orangerote Streifen, durchzogen von langsam dahingleitendem Gewölk, übergehend in ein dunkles Rot, dann in ein tiefes, ruhiges Violett, an den Rändern sich auflösend im Dunkelblau der Nacht. Morgen würde es wieder einen strahlend schönen Frühlingstag geben.
„So schön wie der Tag der Abreise damals,“ erinnerte er sich ...
als er aufrecht in seinem Boot stand, den ungewohnten schweren Helm auf dem Kopf, die Streitaxt am Gürtel, den Wurfspeer in der rechten und den Schild in der linken Hand. Reglos, den Blick abwechselnd auf Embla, auf seine Eltern und auf Gunnar gerichtet. Während sie mit prall geblähtem Segel aus dem Fjord hinaus aufs offene Meer glitten, stürmten sehr gemischte Gefühle auf Ymir ein: Freudige Erwartung, Lust auf Abenteuer, Tatendrang, aber auch die bange Frage, ob Embla ihm wohl treu bliebe, und der nagende Zweifel, ob er sich bewähren oder überhaupt zurückkehren würde, denn Seefahrten waren gefährlich. Stürme und hoher Wellengang bedrohten sie ebenso wie Seeräuber, die kein Erbarmen mit den Besatzungen eroberter Schiffe kannten.
Die kleine Flotte aus drei Schiffen mit je 15 Mann an Bord segelte in südwestlicher Richtung an der Küste entlang, änderte den Kurs am Stirnbogen des Landes scharf nach Süden und fuhr dann in gerader Linie, außer Sichtweite der gefährlichen dänischen Küste und an den vorgelagerten Inseln vorbei, in eine der Flussmündungen des Sachsenlandes.
Um die Mittagszeit des sechsten Tages nach ihrer Abfahrt erreichten sie einen Nebenfluss und Erik, der das Kommando über die Flotte führte, ließ die Flagge von Dragensfjell aufziehen und gab das Zeichen zum Abbiegen. Die Einfahrt war eng und dichtes Buschwerk zu beiden Seiten des Ufers versperrte jede Sicht auf das Land dahinter. Erik sah, wie Ymir die Stirn runzelte und sagte deshalb zu ihm: „Diesen Nebenfluss hat Gunnars Vater vor Jahren entdeckt und auch den Stützpunkt gegründet. Wart’s nur ab!“
Eine ganze Weile fuhren sie weiter, bis der Fluss in einen See mündete, umgeben von dichtem Strauchwerk und Binsen. Hinter einer Landzunge, den Blicken zunächst verborgen, glitten sie in eine Bucht und auf einen Holzsteg zu, an dessen Pfählen zwei Drachenboote befestigt waren. Zwei weitere lagen auf dem kiesigen Uferstreifen.
Ein langgezogenes Signal ertönte und kurz darauf erschien ein Mann, der ihnen heftig gestikulierend ihre Anlegestellen zuwies. Kaum hatten sie den Landesteg hinter sich gelassen, lichtete sich das Dickicht und gab den Blick frei auf eine weite, flache Landschaft und die durch einen Palisadenzaun und davorliegendem Graben geschützte Siedlung.
Als sie am Abend an der Feuerstelle des Gemeinschaftshauses saßen und alle Grüße aus der Heimat überbracht und alle Nachrichten ausgetauscht waren, sagte Björn, der Dorfvorsteher: „Übermorgen werden wir aufbrechen mit zwei von unseren Schiffen und zwei von euren. Mit viel Glück finden wir ein Gehöft, das noch nicht aufgegeben wurde. Diejenigen, die im Herbst zurück nach Norwegen fahren, müssen Gunnar die Nachricht bringen, dass das Land hier weit und breit leer und verlassen ist. Er wird nicht gerade erfreut sein, aber hier ist nichts mehr zu rauben. Sagt ihm, dass wir die Siedlung halten wollen, aber als Viehzüchter und Ackerbauern.“
Björn machte eine kleine Pause, nahm einen kräftigen Schluck Bier und fuhr dann fort: „Vor vier Tagen hatten wir einen gewaltigen Sturm, einige Häuser und zwei Boote sind stark beschädigt worden. Ich brauche ein paar Männer, die zum Schutz der Frauen und Kinder hier bleiben und gleichzeitig die Schäden beheben. Es ist nicht zufällig einer unter euch, der was von Holzarbeiten versteht? Seit Hakon, unser Schiffbauer, gestorben ist, tun wir uns schwer.“
Ymir kratzte sich das Kinn und meldete sich zögerlich, wusste er doch nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Auf der einen Seite war er ganz froh, nicht am Raubzug teilnehmen zu müssen, er verabscheute die Greueltaten, die oft damit verbunden waren. Auf der anderen Seite erwarteten Embla und Gunnar ganz sicher wenigstens eine kleine Heldentat von ihm. Um Häuser und Schiffe zu reparieren hätte er diese lange Fahrt wirklich nicht unternehmen müssen, das konnte er auch zuhause.
„Ich bin Schiffbauer,“ sagte er.
„Das ist das beste, was uns passieren konnte,“ Björn war hocherfreut „dann übernimmst du die Verantwortung für alle Reparaturen, und fang beim Zaun an, den hat’s ordentlich erwischt. Wenn du mit allem fertig bist, kannst du uns ein zusätzliches Schiff bauen, wer weiß, wann wir wieder einen Schiffbauer unter uns haben.“
Dann bestimmte er einige weitere Männer, die sich nur murrend und widerwillig seinem Befehl fügten, bei Frauen und Kindern daheim zu bleiben, während die anderen in den Kampf zogen.
Am übernächsten Tag fuhren sie mit vier Schiffen stromaufwärts. Ymir sah sich etwas gründlicher im Dorf um: 38 Häuser standen zu beiden Seiten einer Straße, die mitten durch die Ansiedlung führte. Jedes Haus hatte seinen eigenen Gemüse- und Kräutergarten auf der Rückseite, und auch ein Stück Wiese für Hühner und Enten. Es gab ein Langhaus für die Männer, die sich nur zeitweise bei ihnen aufhielten oder noch keine Familie gegründet hatten, das Gemeinschaftshaus für Versammlungen, Ställe für Pferde, Schweine, Schafe und Ziegen, ein Backhaus aus Natursteinen erbaut, einen rund gemauerten Brunnen und außerhalb des Dorfes die Begräbnisstätte, die mit großen Steinbrocken markiert war, deren Anordnung den Umriss eines Schiffes erkennen ließ.
Nachdem Ymir alle Schäden festgestellt hatte, ritt er mit zwei Helfern in den nahegelegenen Wald, wo sie das notwendige Holz schlugen, entfernten die Äste und ließen die Stämme von den Pferden ins Dorf und zum Fluss an Ymirs zukünftigen Schiffsbauplatz ziehen. Als sie an einem Steinbruch vorbeikamen, entdeckte Ymir an dessen Rand eine kräftig gewachsene Baumart, die er nie zuvor gesehen hatte.
„Auf keinen Fall,“ warnten die Männer erschrocken, als sie sahen, dass er Anstalten machte, den Baum zu fällen, „Björn würde das nie erlauben, er trägt Früchte, die im Herbst reif werden. Lass dir von seiner Frau Inga welche vom letzten Jahr geben, falls du sie nicht kennst..“
„Früchte vom letzten Jahr? Wie schafft sie es, sie so lange frisch zu halten?“ fragte Ymir erstaunt.
Die Männer lachten lauthals: „Nicht nötig, mit ihnen irgendwas zu machen … aber wenn du sie essen willst, mußt du starke Zähne haben.“
Natürlich war Ymir jetzt richtig neugierig geworden und ging gleich zu Inga. Sie holte eine Schüssel hervor, die angefüllt war mit kleinen, verschrumpelt aussehenden Kugeln.
„Probier sie!“ forderte sie ihn auf.
Als er sie unschlüssig in der Hand drehte, sagte sie: „Wenn dir deine Zähne lieb sind, versuch nicht , sie damit zu knacken. Leg sie auf den Tisch und hau mit der Faust drauf. Nur was drin steckt, kann man essen. Die Einheimischen nennen sie Walnüsse. Leider gibt es hier in der Umgebung nur diesen einen Baum am Steinbruch. Vor Jahren stand ein zweiter daneben, aber der ist irgendwann abgestorben. Sieh dir die Schüssel an,“ Inga kippte die Nüsse in einen Eimer, „und diese Löffel hier, das ist alles aus dem Wurzelholz des Walnussbaumes. Mein Vater Hakon war Schiffbauer und Schnitzer. Was sagst du dazu?“
Es war das schönste an Wurzelholz, was Ymir je gesehen hatte. Diese schwungvollen Maserungen, diese wolkigen Muster und Linien, die feinen Grau- und Brauntöne. Er strich bewundernd über die weiche, glattgeschmirgelte Oberfläche.
„Wenn du irgendwo einen abgestorbenen oder kranken Walnussbaum entdecken solltest, was ich nicht glaube, denn wir haben schon alle danach gesucht, dann grab die Wurzel aus. Du bekommst wertvolle Geschenke für alles, was du daraus schnitzt. Alle Frauen im Dorf möchten Schüsseln aus Walnussholz, sie beneiden mich um meine.“
Ymir steckte die beiden mit einem feinen Häutchen umgebenen Hälften der Nuss in den Mund.
„Hast du schonmal sowas köstliches gegessen?“ fragte Inga. „Dabei sind sie auch noch sehr nahrhaft, denn sie sind voller Fett. Und wie du siehst, kann man sie monatelang aufbewahren. Ich weiß nicht, warum der Walnussbaum so selten ist, vielleicht ist es ihm nicht warm genug in unserem Land. Jedenfalls haben wir mehrmals vergeblich versucht, Schößlinge anzupflanzen, sie sind alle eingegangen.“
Vier Wochen waren vergangen, als Björn mit seiner Flotte wieder zurückkehrte. Einen einzigen Gutshof hatten sie gefunden und ihn abgebrannt bis auf die Grundmauern. Ein armseliges Dorf hatten sie links liegengelassen, mehr aus Hochmut denn aus Mitleid mit den entsetzten Bewohnern.
„Die vom Gutshof haben uns frühzeitig kommen sehen und sind in die Wälder geflüchtet,“ Björn zuckte mit den Schultern, „es wäre sinnlos gewesen, sie zu verfolgen. Wir haben alles mitgenommen, was wir brauchen können.“
Ymir starrte auf den Jungen, der gefesselt in einem der Boote lag. Etwa 12 Jahre alt mochte er sein, verdreckt, zerlumpt und spindeldürr. Björn folgte seinem Blick: „Eine von unseren Eroberungen,“ sagte er leichthin.
Obwohl sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war, gab der Junge keinen Laut von sich.
„Ist auf der Flucht gestürzt und hat sich wohl den Fuß verstaucht. In ein paar Tagen wird er wieder arbeiten können, sonst hätten wir ihn nicht mitgeschleppt.“
„Ich könnte einen Gehilfen brauchen zum Nägelschnitzen für dein neues Schiff,“ sagte Ymir schnell, „dabei braucht er seine Füße nicht.“
„Meinetwegen,“ brummte Björn.
„Ich habe mir unten am Fluss eine Hütte gebaut, gleich neben meinem Arbeitsplatz. Er kann dort mit mir wohnen.“
„Meinetwegen,“ rief ihm Björn mit abgewandtem Gesicht zu, denn er war schon auf dem Weg nachhause.
Ymir hob den Jungen auf die Schulter, trug ihn zu seinem neuen Holzhaus und legte ihn auf das Lager aus Stroh und Decken. Der Raum war groß genug für zwei, er würde sich ein anderes herrichten. Vorsichtig tastete er den Fuß ab und der Junge stöhnte.
„Hab’ ich mir’s doch gedacht … dein Knöchel ist gebrochen, aber sag das besser niemandem. Ich muss den Knochen richten, sonst wirst du nie mehr richtig laufen können. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.“
Der Junge verstand kein Wort, aber er ahnte, was Ymir ihm sagen wollte und nickte. Ymir steckte ihm ein Stück Leder in den Mund: „Beiss feste drauf, es wird weh tun!“
Dem Jungen trat der Schweiß auf die Stirn und er schloss die Augen. Ymir packte den Fuß und es gab ein schrecklich knirschendes Geräusch, der Junge verlor das Bewußtsein. Als er wieder aufwachte, war sein Fuß geschient und mit Lappen fest umwickelt. Neben seinem Lager stand ein Krug mit Wasser, auf einem Stück Holz lagen Brot und Käse. Der Junge aß gierig, dann schlief er erschöpft ein.
Als er am nächsten Morgen erwachte, setzte sich Ymir vor ihn, tippte sich mit dem Finger auf die Brust und sagte: „Ymir!“ Dann zeigte er auf den Jungen und fragte: „Wie heißt du?“
Der Junge begriff und antwortete: „Widukind.“
„Widukind,“ wiederholte Ymir, „das wäre schonmal geklärt.“ Dann rümpfte er die Nase und fügte hinzu: „Du brauchst dringend ein Bad, und auch was anderes zum Anziehen, diese Fetzen halten keinen Tag länger.“
Er überlegte eine Weile, dann ging er zu Inga ins Dorf.
„Wenn ich dir zwei Löffel mache aus Wurzelholz, gibst du mir dann einen Kittel und einen Gürtel für den Jungen?“
„Wann?“ fragte Inga.
„Den Kittel brauche ich sofort, die Löffel bekommst du später. Ich muss erst für deinen Mann ein Schiff bauen, danach mache ich mich auf die Suche nach einer Wurzel.“
„Was soll das für ein Geschäft sein?“ lachte sie und gab Ymir das Kleidungsstück und einen geflochtenen Strick, um es in der Mitte zusammenzuhalten.
Zufrieden lief Ymir zurück zu Widukind, nahm ihn auf den Arm und setzte ihn kurzerhand an einer seichten Stelle des Sees ins Wasser, den neuen Kittel legte er ins trockene Gras. Jeden Tag versorgte er seinen Fuß, indem er einen frischen Kräuterbrei auftrug, wie er es von Grima gelernt hatte. Geduldig zeigte er ihm, wie man Holznägel schnitzt und fütterte ihn so gut, dass Widukind schon bald nicht mehr ganz so dürr und armselig aussah. Nach vier Wochen nahm er ihm die Schienen ab und der Junge machte seine ersten unsicheren Gehversuche.
„Bald läufst du wieder wie ein Hase. Du kannst von Glück sagen, dass du nicht für den Rest deines Lebens humpeln musst,“ sagte Ymir und benutzte Hände und Füße, um sich einigermaßen verständlich zu machen. Widukind schnitzte nicht nur hervorragende Nägel, er lernte auch in kürzester Zeit viele Worte von Ymirs Sprache, so dass sie sich von Tag zu Tag besser verständigen konnten.
Die Reparaturarbeiten im Dorf und am Palisadenzaun waren längst beendet und auch Björns neues Schiff fast fertig. Während all der Wochen war Ymir regelmäßig auf die Jagd gegangen, um für sich und den Jungen Fleisch zu beschaffen, wobei er ständig nach Walnussbäumen Ausschau hielt. Aber vergeblich – weder einen gesunden, noch einen kranken oder abgestorbenen konnte er entdecken. Widukinds Wortschatz erweiterte sich indes schnell, so dass Ymir ihm von diesem innigsten Wunsch erzählen konnte, und auch von dem Hochzeitsgeschenk, das er für Embla daraus schnitzen wollte. Widukind wiederum beschrieb den einst so stolzen, großen Gutshof seines Vaters mit den vielen Menschen, die dort lebten und arbeiteten. Je länger sie beieinander waren, desto freundschaftlicher und vertrauensvoller wurde ihr Verhältnis, ein bißchen wie zwei Brüder, fand Ymir und dachte mit Schrecken daran, Widukind zurücklassen zu müssen, wenn er im Herbst wieder nach Norwegen fahren würde. Wie konnte er es verhindern, dass der Junge zum Sklaven würde? Björn wartete nur darauf, den inzwischen wieder gesunden, kräftigen und geschickten Jungen für sich arbeiten zu lassen.
Während Ymir sich darüber den Kopf zerbrach, beschloss Björn, mit einigen seiner Männer einen längeren Jagdausflug zu unternehmen zu einem entfernt liegenden Wald, wo es Wildschweine und Hirsche in Hülle und Fülle gab, damit allmählich ein Wintervorrat an Wild eingelagert werden konnte. Je nach Jagdglück rechnete man mit etwa zwei Wochen bis zur Rückkehr. Das brachte Ymir auf die rettende Idee. Zwei Tage lang erwog er sehr sorgfältig sein Vorhaben, dann war der Plan fertig und Ymir entschlossen, ihn durchzuführen - die Abwesenheit von Björn kam wie gerufen, es war unwahrscheinlich, dass eine weitere günstige Gelegenheit auftauchen würde.
„Inga,“ sagte er zu Björns Frau, „was hältst du davon, wenn ich mich ernsthaft auf die Suche begebe nach einer Wurzel, ich meine, in einem viel weiteren Umkreis als bisher. Du weißt selber, dass hier nichts zu finden ist. Außerdem stehe ich in deiner Schuld und möchte gern mein Wort halten. Aber dazu bräuchte ich ein Pferd mit Wagen.“
Inga sah ihn nachdenklich an, ein Pferdefuhrwerk war ein wertvoller Besitz.
„Ach lass nur, wenn du es nicht entscheiden kannst, warte ich eben, bis Björn wieder da ist. Es hätte nur gerade ganz gut gepasst … das Schiff muß ein paar Tage trocknen, ehe ich weiterarbeiten kann … war nur so eine Idee von mir... „ Ymir tat so, als wolle er gleich wieder gehen. Wie vermutet, hatte er jedoch genau ins Schwarze getroffen.
Inga stemmte empört die Hände in die Hüften: „Ich kann alleine entscheiden, und ich will meine zwei Löffel, das heißt, für das Ausleihen eines Pferdes verlange ich außerdem eine Schale.“
„In Ordnung,“ seufzte Ymir, es würde nicht viel übrig bleiben für Emblas Geschenk.
„Wie lange wirst du wegbleiben?“
„Ich weiß noch nicht, vielleicht eine Woche, vielleicht zwei … ich nehme Widukind mit,“ fügte er leichthin hinzu.
Schon am nächsten Morgen zogen sie los, Ymir hatte die Zügel in der Hand und Widukind saß neben ihm. Natürlich wusste er, was Ymir suchte, aber was sein Freund sonst noch im Sinn hatte, das ahnte er ganz und gar nicht.
Nachdem sie acht Tage umhergezogen waren über Wiesen und durch Wälder, was mit dem Pferdewagen nicht immer einfach war, gab Ymir enttäuscht auf. Am Abend, als sie am Feuer saßen und auf den letzten Resten einer Hasenkeule kauten, beschloss er, zurück zum Dorf zu ziehen, und das bedeutete, dass die Zeit gekommen war, seinen Plan, das zweite Ziel dieser Reise, auszuführen. Mit Vorbedacht hatte er eine nordöstliche Route gewählt.
„Wenn wir morgen einen scharfen Bogen nach Westen machen, müssten wir doch an den Fluss kommen oder nicht?“ fragte er und leckte sich die Finger. Noch ehe Widukind antworten konnte, fuhr er fort: „Nach dem, was du erzählt hast, lag der Gutshof deines Vaters nicht allzu weit vom Fluss entfernt. Ich schätze, man braucht zwei bis drei Tagesmärsche bis dorthin. Meinst du, das kannst du alleine schaffen?“
Widukind schaute ihn verständnislos an und Ymir fuhr fort:
„Ich kann dich nicht begleiten, das wäre zu gefährlich für mich. Du nimmst deinen Trinkwasserbeutel mit und morgen, auf dem Weg zum Fluss, werde ich versuchen, noch einen Hasen zu erwischen. Den braten wir und wickeln ihn in Blätter, dann hast du genug für deinen Weg. Außerdem kannst du im Wald Beeren sammeln und, wenn nötig, Fische fangen. Wie man Feuer macht, weißt du und ich glaube nicht, dass hier Tiere sind, die dir gefährlich werden könnten. Du brauchst also keine allzu große Angst zu haben.“
Widukind hatte inzwischen begriffen, was Ymir mit ihm vorhatte und dicke Tränen rollten ihm über die Wangen. Schluchzend würgte er hervor:
„Ich habe keine Angst.“
Ymir starrte ins Feuer: er hatte keine Wurzel gefunden, Widukind, den er ins Herz geschlossen hatte, war nur noch wenige Stunden bei ihm, Björn würde ihm eine Menge Vorwürfe machen - er drehte den Kopf etwas zur Seite, hatte es nicht gerade direkt hinter ihm geknackt?
Mehrere Hände packten ihn, warfen ihn zu Boden, ein Knie bohrte sich in seinen Rücken, seine Arme wurden nach hinten gerissen und seine Handgelenke zusammengebunden. Alles das geschah in Sekundenschnelle. Gleichzeitig brach ein Freudengeschrei los und Ymir sah, wie Widukind von einem Mann umarmt und herumgewirbelt wurde, während die anderen Männer ihm auf die Schulter klopften oder ihn freundschaftlich in die Seite stupsten. Dann setzten sie sich um das Feuer. Da sie alle auf einmal zu sprechen schienen, war es schwierig für Ymir, etwas zu verstehen, aber soviel bekam er mit, dass es Widukinds Vater mit einigen Dorfbewohnern war, von denen er überwältigt worden war. Offenbar auf der Jagd, hatten sie den Feuerschein gesehen und sich herangeschlichen.
Nach einer Weile verstummte das Stimmengewirr, nur Widukinds Stimme war noch zu vernehmen. Eindringlich und bittend sprach er auf die Männer ein und Ymir war klar, dass es um ihn, um sein Leben oder seinen Tod ging. Er sah, wie Widukind auf seinen Knöchel zeigte und allmählich wich der Groll aus den Gesichtern der Männer. Auch Widukinds Vater schien seinen Widerstand aufzugeben, obwohl Ymir sich vorstellen konnte, wie groß seine Rachegelüste wegen des ihm angetanen Unrechts waren. Er nickte und gleich darauf kam Widukind zu Ymir und setzte sich neben ihn:
„Hab keine Angst mehr,“ sagte er zu ihm. „Ich habe ihnen alles erzählt, auch, dass du mich morgen freilassen wolltest. Aber du bist der einzige, den sie verschonen wollen, sollte ihnen je ein anderer von euch in die Hände geraten, werden sie keine Gnade kennen, sag das den Männern in deinem Dorf. Sie werden dir auch dein Pferd, deinen Wagen und deine Axt lassen. Mit diesem Messer hier darf ich dir die Fesseln lösen, denn wir werden jetzt sofort aufbrechen, folge uns auf keinen Fall. Ich danke dir, auch im Namen meines Vaters, dass du mich gesund gepflegt hast. Eine Bitte habe ich noch: Sag den Leuten im Dorf nicht, dass du uns gesehen hast. Jetzt muss ich gehen, leb wohl mein Freund.“
Widukind lächelte schwach und Ymir meinte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Es war ihm genauso schwer ums Herz.
„Leb wohl, mein kleiner Bruder,“ sagte Ymir.
Widukind nahm das Messer und begann, Ymirs Fesseln zu durchschneiden. Dabei beugte er sich tief zu ihm hinunter und kniete sich so dabei hin, dass er den Männern am Feuer den Rücken zukehrte.
„Geh nicht nach Westen, sondern geradewegs nach Osten auf die Hügelkette zu, die wir gesehen haben,“ raunte er Ymir ins Ohr, „am Fuße der Hügel, direkt vor dem tiefsten Einschnitt, wirst du etwas finden. Geh unbedingt dorthin,“ flüsterte er hastig.
Dann erhob er sich und ging, ohne sich nochmal umzublicken, mit den Männern in den Wald hinein. Ymir war allein. Er setzte sich auf und rieb sich die schmerzenden Handgelenke, bis sie wieder gut durchblutet waren. Er stützte den Kopf in beide Hände und hatte eine Weile damit zu tun, das Geschehen nochmal im Geiste an sich vorüberziehen zu lassen. Dann beschloss er, Björn und den anderen genau die Geschichte zu erzählen, die er sich gleich zu Beginn seines Unternehmens ausgedacht hatte, dass nämlich Widukind ihm entlaufen sei. Kein Wort von dem Überfall, womit Widukinds letzte Bitte erfüllt wäre.
Am nächsten Morgen, nach einer Nacht, in der er kaum Schlaf gefunden hatte, machte sich Ymir auf den Weg, den Widukind ihm so nahegelegt hatte. Die Hügelkette schien zum Greifen nah, aber dem war nicht so, Ymir zog den ganzen Tag in die angegebene Richtung, erreichte jedoch erst in der Dämmerung den Fuß der Berge. Er versorgte sein Pferd, aß etwas gedörrtes Fleisch mit getrocknetem Brot, und legte sich dann unter einen Baum. Erschöpft schlief er sofort ein und wachte erst auf, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Er reckte und streckte sich, blinzelte ins Licht, stand auf und sah zu den Hügeln hinüber. Der tiefste Taleinschnitt lag direkt vor ihm, er war ganz deutlich zu erkennen, lediglich ein offenbar vor nicht allzu langer Zeit vom Blitz getroffener Baum stand im Wege. Der Stamm war in der Mitte tief gespalten und die beiden Hälften hingen rechts und links bis zum Boden, so dass es aussah, als wenn er durch diese Gewichte an seinen Seiten jeden Augenblick völlig auseinandergerissen würde.
Ymir war auf einmal hellwach – er rannte hinüber, sah die welken, aber immer noch grünen Blätter und dann die runzeligen hellbraunen Kugeln darunter. Vor Überraschung und Freude stieß er einen Schrei aus.
„Widukind, mein kluger Junge, ich danke dir von ganzem Herzen,“ brüllte er und blickte in die Richtung, in der er ihn jetzt vermutete.
Er würde sehr vorsichtig zu Werke gehen müssen, das Holz stand unter starker Spannung, ein falscher Axthieb, eine falsche Stellung und es konnte mit ungeheurer Wucht gegen ihn schnellen. Vom Stamm würde er nichts transportieren können, aber von der Wurzel soviel wie möglich. Ymir mühte sich einen ganzen und einen halben Tag lang von morgens bis abends ab, dann lag sie frei und er umwickelte sie mit einer Schnur, baute eine Rampe und zog sie auf den Karren. Er sammelte alle Früchte, obwohl sie ihm unreif erschienen, als er sie probierte - Inga würde schon was damit anfangen können.
Am Morgen des nächsten Tages machte er sich auf den Heimweg, den Wagen so schwer beladen, dass er nebenher ging, weil selbst der von Inga ausgeliehene starke Ackergaul Mühe hatte, die schwere Last zu ziehen. Aber ohne Widukind neben sich wollten die Stunden nicht vergehen. Als er nach acht endlos lang scheinenden Tagen endlich das Dorf erreichte, war Björn mit seinen Männern noch nicht zurückgekehrt. Es fiel ihm leicht, Inga und den anderen seine Geschichte vom entlaufenen Widukind aufzutischen. Inga war mit dem Verstauen der Walnüsse und den Gedanken an ihre zukünftigen neuen Schätze so beschäftigt, dass sie Ymir gar nicht richtig zuhörte. Er bemühte sich trotzdem, so glaubwürdig wie möglich zu klingen:
„Er wird nicht weit kommen, so allein im Wald,“ sagte er, „geschieht ihm ganz recht, dem Undankbaren.“
Dann ging er an den Fluss zu seiner Hütte, baute wehmütig Widukinds Bett ab und setzte seine Arbeiten am Schiff fort. Als Björn mit reicher Jagdbeute beladen heimkehrte, war es fertig, das weitaus größte in seiner Flotte. Er bewunderte Ymirs Arbeit so sehr, dass er nicht viel Worte verlor über dessen Alleingang und den Verlust von Widukind, im Gegenteil, aus Freude über das prächtige Schiff schenkte er Ymir ein dunkelbraunes, langzotteliges Bärenfell, das Ymir sich als Decke für sein zukünftiges Ehebett gut vorstellen konnte. Dann begann er endlich mit dem
Schnitzen. Zuerst die versprochene Schale und die beiden Löffel für Inga. Aus dem Rest der Wurzel gelangen noch zwei kleinere Schüsseln und übrig blieb ein längliches Stück mit einer ganz ungewöhnlich schönen Maserung, die sich in weichen Schwüngen und Bändern um ein helles, makelloses Oval wand. Ymir folgte der Maserung und heraus kam ein Rundholz, etwa armdick und unterarmlang, mit einem Griff an einem Ende. Ymir schmirgelte und polierte es so lange, bis seine Oberfläche ganz glatt war. Er mischte Bienenwachs mit Pflanzensäften, strich es über das Holz um es vor dem Austrocken zu schützen, und brachte gleichzeitig damit die feine Maserung in all ihrer Schönheit zur Geltung.
„Sieht aus wie ein Schamanenstab,“ dachte er, „wenn ich Embla einen Spruch hineinbrenne, ist es ein Glücksbringer.“
Also zerbrach er sich Tag und Nacht den Kopf darüber, einen Reim zu finden, nicht zu lang, aber doch schon aussagekräftig. Schöne Worte machen war nicht gerade seine Stärke und so war das Beste, was ihm einfiel:
Wurzel des Baumes aus fremdem Land,
Schätze turmhoch – all Unheil verbannt
Was er mit Schätzen meinte, würde Embla schon wissen: Viele Kinder, Gesundheit, Arbeit – denn das war Ymirs Vorstellung von Glück und er war sicher, dass sie die gleichen Träume hatte. Und weil er von seiner Dichtkunst ganz begeistert war, brannte er in das helle Oval von Ingas Schale einen ähnlichen Spruch:
Wurzel des Baumes aus fremdem Land,
von Inga und Björn all Unheil verbannt.
Der Sommer war längst zu Ende und Aufbruchstimmung machte sich breit unter Gunnars Abgesandten. Auch Ymir wurde zusehends unruhiger, die letzten Monate waren zwar schnell vergangen durch all die vielen Arbeiten und Erlebnisse, aber auch er spürte, dass es an der Zeit war, zurückzukehren in den Fjord von Dragensfjell. Alle nötigen Vorbereitungen wurden getroffen und am letzten Abend vor ihrer Heimfahrt sollte das traditionelle Abschiedsfest stattfinden. Da Ymir seine Arbeiten am See beendet hatte, schlief er seit einigen Tagen wieder bei seinen Gefährten im Langhaus. Am Tag vor ihrer Abreise war es bereits morgens ungewöhnlich warm und der Himmel gelblich verfärbt. Björn schaute besorgt zum Himmel:
„Gefällt mir gar nicht, sieht nach einem Unwetter aus, warten wir mal, wie es sich bis Mittag entwickelt hat.“
Zu dieser Zeit hing es bereits ockergelb über ihnen, es schien zum Greifen nahe zu sein. Unter den Tieren brach eine nervöse Unruhe aus und Björn war klar, dass irgendwas im Anzug war. Er erteilte kurz und knapp seine Befehle, ließ alle Weidetiere in die Ställe bringen, und als am frühen Nachmittag heftige Windböen über sie fegten und eine braune Wand sich bedrohlich näherte, wusste er, dass es schlimm würde. Alle Türen wurden fest verschlossen, Felle vor die Fensteröffnungen gehängt, niemand hielt sich mehr im Freien auf.
„Großer Odin, steh uns bei!“ stöhnte jemand neben Ymir, als der Sturm sie erreicht hatte und mit einem merkwürdig prasselnden Geräusch das Langhaus schüttelte.
Ymir hockte zusammengekauert zwischen seinen Gefährten.
„Die Schiffe!“ durchfuhr es ihn. „Wenn der Sturm wirklich so heftig wird, müssen sie besser gesichert werden.“
Er dachte keinen Augenblick daran, jemanden um Hilfe zu bitten oder sein Vorhaben mitzuteilen. Kurzentschlossen zog er sich eine Decke über den Kopf, wickelte einen Strick um seinen Leib und ging hinaus. Das letzte, was er hörte, war ein Schrei: „Ymir, nein!“
Dann riss es ihm die Tür aus der Hand, sie schlug hinter ihm zu und Ymir wäre fast gestürzt. Einen kurzen Moment flaute der Wind ab und er fing sich wieder. Die Luft um ihn herum war gelb und braun und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er von Sand umgeben war. Es war kaum möglich zu atmen und er zog den Stoff seiner Decke über Nase und Mund.
Die nächste Windböe kam und er musste die Augen schließen und sich abwenden. Hin und her wurde er geworfen, stolperte hilflos mit weit vornüber gebeugtem Oberkörper durchs Dorf, über die Felder in Richtung Fluss. Der Sand wurde mit solcher Wucht gegen ihn geschleudert, dass er wie die rauhe Zunge eines Rindes über jedes Stückchen freiliegende Haut schürfte und sie wund rieb. Ymir versuchte, sich so gut es ging davor zu schützen, aber schon nach wenigen Sekunden hatte er Sand in den Augen, im Mund, in den Ohren, einfach überall, jeder Atemzug war ein Ringen gegen das Ersticken. Aber er kämpfte sich Schritt für Schritt weiter vor, bis er den Fluss erreichte, der etwas tiefer lag als das umliegende Land und das Dorf. Die Schiffe tanzten wie Korken auf dem Wasser und Ymir sah, dass die Stricke, mit denen sie befestigt waren, nicht mehr lange halten würden, weil sie an mehreren Stellen fast durchgescheuert waren.
„Ich muss sie in die Binsen ziehen, damit sie sich im Schlick festsetzen, sonst zerschlagen sie sich gegenseitig oder werden weggetrieben,“ dachte er und holte aus seiner Hütte, die nun als Lagerraum diente, einige neue Seile, nutzte die kurzen Pausen zwischen den Böen, stieg ins aufgewühlte Wasser, befestigte sie nacheinander an den Booten, suchte sich passende Bäume am Uferrand aus, wickelte die Stricke darum und zog mit aller Kraft die Schiffe in das Schilf, bis sie feststeckten. Als seine Handflächen aufgerissen waren und bluteten, schnitt er mit dem Messer Streifen von seiner Decke ab und wickelte sie darum.
„Odin, mach, dass die Bäume halten, mach, dass die Stricke halten, mach, dass der Sturm aufhört,“ betete er mehr als einmal, während er das letzte Seil knirschend um einen Stamm zog. Aber der Sturm tobte immer grausamer.
Ymir, der Bärenstarke, ließ sich zu Tode erschöpft an einem der Bäume auf die Erde sinken, er hatte alle Schiffe gesichert, aber nun verließen ihn die Kräfte, die Knie gaben nach unter ihm und Tränen liefen aus seinen entzündeten Augen. Den Rückweg ins Dorf würde er auf keinen Fall schaffen, mit einer letzten Willensanstrengung kroch und schob er sich zum nächstgelegenen Schiff, rollte sich über die Bordwand und unter die Ruderbänke, zog das Segeltuch über sich und verlor das Bewußtsein.
Björn war auf einen heftigen Sturm gefasst gewesen, aber eine solche Katastrophe, wie sie nun über sie hereinbrach, hatte er nicht erwartet und auch noch nie erlebt. Der Orkan zerstörte nicht nur alle Häuser und den Palisadenzaun einschließlich seinem Wachturm, die Unmassen an feinem, gelben Sand lagen nun in einer dicken Schicht über dem Land und über dem Dorf. In jede Ritze war er gedrungen, hatte ihr Saatgut, ihr Mehl, ihre ganze Ernte vernichtet, hatte die Ställe der Tiere zerschmettert, so dass viele von ihnen darunter begraben lagen. Aber das Schlimmste war, dass auch einige der Dorfbewohner, Männer, Frauen und Kinder, unter den Trümmern ihrer Häuser gefunden wurden, erstickt oder erdrückt, denn der Wind hatte mit unbarmherziger Gewalt Sand gegen sie gepeitscht und Lehmbrocken und Balken gegen sie geschleudert. In ihrer Not waren sie unter Felle und Decken gekrochen, die sie nicht schützen konnten.
So plötzlich, wie die Katastrophe über sie hereingebrochen war, so plötzlich endete sie. Ein unbeschreibliches Chaos herrschte und durch die gelbe Staubschicht auf den Gesichtern der Menschen zogen sich dunkle Rinnsale, als ihnen Tränen des Entsetzens über die Wangen liefen. Man fand Ymir, mehr tot als Lebendig, kaum bei Bewußtsein, und trug ihn ins Dorf. Sie schleppten mühsam Wasser vom Fluss herbei, gaben den Verletzten zu trinken und verbanden ihre Wunden - viel mehr konnten sie nicht tun in diesen ersten Stunden. Sie wussten, dass ihr Dorf verloren war und dass sie schnell zu einer Entscheidung kommen mussten über ihre Zukunft. Als ihnen klar wurde, dass die Boote das einzige waren, was ihnen erhalten geblieben war, beschlossen die meisten von ihnen, zurück nach Norwegen zu ziehen. Es gab keine Alternative: Der Winter stand bevor, das Land war mit Sand bedeckt, das Dorf zerstört, alle Lebensmittel verdorben. Eine kleine Gruppe junger Männer und Frauen entschied sich, mit den verbliebenen Pferden und Kühen im Land zu bleiben und solange umherzuziehen, bis sie eine Stelle finden würden, wohin der Sturm keinen Sand getragen hatte.
„Allein Ymir haben wir es zu verdanken, dass wir überhaupt von hier fort können,“ sagte Björn. „Jeder darf im Übrigen nur das mitnehmen, was er auf dem Leib hat, nur so passen wir alle in die Schiffe. Machen wir uns an die Arbeit!“
Drei Tage lang dauerten die Vorbereitungen für die Abreise, dann war es soweit. Ernst und still standen die Dorfbewohner in den Booten, als sie langsam aus dem Hafen hinausglitten, dann verstellten ihnen Büsche und Bäume den Blick auf ihr verlorenes Land.
„Ja, so hat sich das damals abgespielt,“ dachte Ymir wehmütig, „als ich Emblas Hochzeitsgeschenk unter meinem Hemd versteckt mit an Bord genommen hatte, obwohl Björn alles verboten hatte, was nicht unbedingt lebensnotwendig war.“
„Was sitzt du da herum und starrst ins Dunkle? Das Essen steht auf dem Tisch, soll es kalt werden?“
Ymir, der tief versunken gewesen war in seine Erinnerungen, zuckte bei diesen unfreundlichen Worten zusammen. Heißer Zorn stieg in ihm hoch – er stand auf, ging entschlossen ins Haus, vorbei an dem Topf mit dem dampfenden Eintopf aus Lauch, zerstampftem Roggen und Kaninchenfleisch, sah sich suchend um bis er es gefunden hatte, nahm es an sich und verließ das Haus.
„Was soll das bedeuten?“ schrie sie ihm nach. „Gib mir sofort mein Holz zurück, du hast es mir geschenkt!“
Aber Ymir kümmerte sich nicht um ihr Gezeter. Er schwang sich auf sein Pferd, ritt zur Schlucht und durch sie hindurch. Ein halber Mond erschien und gab ein wenig Licht. Als er glaubte, tief genug im Wald zu sein, nahm er das Holz und schleuderte es weit von sich, machte auf dem Absatz kehrt, um nicht von Reue gepackt zu werden, und lenkte sein Pferd zurück ins Tal. Er ging nicht nachhause in dieser Nacht, sondern blieb bei Skadi und Grima. Keiner von ihnen machte ein Auge zu – bis der Morgen dämmerte saßen sie beieinander.
„Glaub mir Ymir,“ sagte Grima müde, „alles, was Embla fehlt, und darum immer zänkischer macht, ist ein Kind. Niemand versteht besser als wir,“ sie sah Skadi an, der zustimmend nickte, „was es heißt, jahrelang vergeblich zu warten.“
„Ich weiß,“ entgegnete Ymir und ließ den Kopf tief hängen, „aber was soll ich tun? Sagt mir, was soll ich tun? Wenn Odin uns nicht hilft, wer dann?“
Seine Stimme klang so verzweifelt, dass es Grima ins Herz schnitt.
„Der Schamane!“ sagte Skadi in die entstandene Stille hinein. „Ich selber werde zu ihm gehen.“
„Aber niemand weiß, wo er wohnt,“ warf Ymir ein.
„Dann werde ich solange suchen, bis ich ihn gefunden habe,“ antwortete Skadi entschlossen.
Ymir blickte in ihre bekümmerten Gesichter und entdeckte in ihren Augen einen leisen Hoffnungsschimmer.
Als die ersten Vögel erwachten, machte sich Ymir auf den Weg zur Werft. Der frühe Morgen war die beste Zeit für eine gute Arbeit, und Arbeit war die beste Medizin um seine Sorgen zu vergessen.
Skadi ritt, wie er es angekündigt hatte, in den Wald hinein. Drei Tage lang irrte er umher, ohne auch nur das geringste Anzeichen eines Menschen zu finden. Er hatte längst die Trampelpfade hinter sich gelassen und stolperte, sein Pferd am Zügel hinter sich herziehend, immer tiefer hinein in den unwegsamen, unberührten Teil des Waldes. Er verlor die Orientierung in dem Dickicht, es war ihm egal. Er würde nicht wieder zurückkehren, bis er den Schamanen gefunden hatte. Am Morgen des vierten Tages - fahle, schräg einfallende Sonnenstrahlen gaben gerade soviel Licht, dass er das Nächstliegende sehen konnte - stand er plötzlich, nur wenige Meter von seinem Nachtlager entfernt, vor der Höhle des Schamanen. Die war unschwer als solche zu erkennen, denn in einem Halbkreis davor waren an in die Erde gesteckten Pfählen Amulette, Schädelknochen, Federn und allerlei andere geheimnisvolle Zeichen und Dinge angebracht, ganz offensichtlich als Abschreckung gedacht.
Skadi rief nach dem Schamanen, aber nichts rührte sich. Er wagte nicht, die Höhle zu betreten, deshalb setzte er sich davor und hoffte inständig, dass er bald zurückkäme. Nach einer Weile fing er an, laut zu Odin zu beten, immer ausführlicher erzählte er von seinem Kummer, von Ymir und Emblas Problemen, von Grimas Tränen.
„Oh Odin,“ hob er bittend die Hände zum Himmel, „hilf uns allen, schick den Schamanen ins Tal und gib ihm die Kraft, uns zu helfen.“
Skadi verbrachte einen Tag und eine Nacht vor der Höhle, aber der Schamane tauchte nicht auf. Er beschloss, ihm eine Botschaft zu hinterlassen, denn es war bekannt, dass der Schamane weite Reisen unternahm - mal tauchte er unverhofft hoch im Norden auf, dann wieder tief im Süden – es machte keinen Sinn, noch länger vor seiner Behausung auszuharren. Skadi schälte ein Stück Rinde von einem Baum und ritzte auf die Innenseite mit seinem Messer die Drachenberge. Dann die Bitte: „Komm bald, wir brauchen deine Hilfe“. Zum Schluss schnitt er den Umriss eines Schiffes hinein und seinen Namen. Er warf die Rinde vor den Eingang der Höhle und hoffte, dass der Schamane die Nachricht finden und verstehen würde. Dann machte er sich auf den Heimweg.
Wochen vergingen, ohne dass irgendetwas geschah. Grima sah darin eine endgültige Entscheidung der Götter und wagte kaum noch, Ymir in die Augen zu sehen. Der Sommer ging zu Ende und die Ernte wurde eingefahren, Scheunen und Vorratskammern füllten sich. Wie in jedem Jahr, ließ Gunnar Zweige und Äste aufschichten zu einem gewaltigen Erntedankfeuer. Das Fest begann am Mittag und als die Dämmerung alles in ein weiches, blaues Licht tauchte, loderten die Flammen hoch auf. Im Tal breitete sich ein Duft von gebratenen Äpfeln aus, von knusprigen, fetttriefenden Speckscheiben, von warmen Fladenbroten und frisch gebrautem Gerstenbier. Gunnar, inmitten seiner Familie, seiner Krieger, Handwerker und Bauern, ließ seinen Becher immer wieder auffüllen, hob ihn hoch in die Luft – und dann konnte er nicht anders, er mußte Ymir verhöhnen, genauso, wie er es vor Jahren mit Skadi, Ymirs Vater gemacht hatte.
„Seht euch diesen Schwiegersohn an … ja, seht ihn nur alle an,“ grölte er mit gerötetem Gesicht und vom Bier glasigen Augen. „Feiert ohne Scham das Erntedankfest. Wo ist denn deine Ernte? Auch in diesem Jahr hast du keine, wie in den Jahren zuvor. Meine Tochter sollte längst eine ganze Schar von Kindern ...“
Noch ehe er seinen Satz beenden konnte, sprang wie aus dem Nichts eine Gestalt mitten unter die Feiernden und pflanzte sich breitbeinig und mit weit ausladenden Armen vor Gunnar auf. Auf ihrem Kopf saß eine Lederhaube, die sich im Nacken fortsetzte, über den Rücken lief und schmaler werdend in einem Schweif endete. Von der Stirn an bis zum Boden starrten spitz zulaufende Panzerschuppen, und dick aufgetragene schwarze und grüne Farbe entstellte ihr Gesicht zu einer drachenähnlichen Grimasse. Über einem grünen Leinenkittel hingen Ketten aus Reißzähnen, Hauern und Krallen wilder Tiere. An den Handgelenken wippten Armbänder mit langen Vogelfedern und um die aus den Lederhosen herausschauenden Fußgelenke klapperten weißgebleichte Knochen hell und hohl gegeneinander.
Der Schreck über das plötzliche Auftauchen des Schamanen saß tief – es war totenstill geworden. Wie versteinert erwarteten sie seinen Spruch. Wen würde er verfluchen, wem brachte er Unglück, oder eine frohe Botschaft? Sollte gar Gunnar, der Häuptling, bestraft werden für sein loses Mundwerk, für seine Undankbarkeit gegen einen seiner besten Männer? Der Schamane schwang zwei Stäbe drohend gegen Gunnar.
„Schweige für immer, denn das Kind wird geboren werden,“ stieß er endlich heiser hervor, und sein einziges Auge blitzte und funkelte zornig, „und du, Gunnar von Dragensfjell, wirst es dereinst zu deinem Nachfolger erklären.“
„Niemals,“ schrie Gunnar, „niemals das Kind eines Schiffbauers, der in meinen Diensten steht!“
„Nicht du bestimmst das, sondern die Götter. Glaubst du nicht mehr an die Götter, Gunnar?“
„Ich glaube an meine Kraft, sonst nichts,“ schleuderte ihm Gunnar trotzig ins Gesicht.
„Für diesen Hochmut wirst du bestraft, denn du selber wirst nie dein großes Ziel erreichen.“
Gunnar erbleichte bei diesem Fluch des Schamanen und der Becher mit Bier, den er erhoben hatte, um Ymir vor allen zu demütigen, entglitt seiner zitternden Hand. Der Schamane wandte sich ab von ihm und stand nun vor Ymir und Embla. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, warf er ihnen in einer blitzschnellen Bewegung einen seiner Stäbe zu – und war im nächsten Moment in der Dunkelheit verschwunden. Embla und Ymir hatten gleichzeitig nach dem Stab gegriffen. Sein Holz war so sanft und glatt - atemlos tasteten sie weiter über seine Oberfläche und im flackernden Feuerschein lasen sie Ymirs eingebrannten Spruch. Embla drückte ihr Hochzeitsgeschenk fest an sich: „Unser Sohn wird geboren, und eines Tages wird Gunnar ihm die Nachfolge anbieten,“ flüsterte sie.
„Nicht dem Sohn eines Schiffbauers, du hast es gehört,“ antwortete Ymir.
„Er wird,“ sagte sie und der Ton ihrer Stimme duldete weder Widerspruch noch Zweifel.
Gunnar war die Lust am Feiern vergangen.
„Der fette Speck liegt mir schwer im Magen,“ brummte er finster und verließ das Fest. Er warf sich auf sein Lager und starrte lange in die Flamme der Öllampe. Er war nun 44 Jahre alt, und die meiste Zeit seines Lebens hatte er gekämpft und gearbeitet, er fühlte die ersten Spuren davon in seinen Knochen. Wie oft hatte er sich und seine Leute, das Tal mit den Drachenbergen und den Wäldern, seine Handels- und Kriegsschiffe gegen Feinde verteidigen müssen. Wie hart hatte er um Macht und Reichtum ringen müssen. An seine Mutter konnte er sich gar nicht erinnern, sie war viel zu früh gestorben. Sein Vater kehrte von einem Raubzug nicht mehr heim, als Gunnar 14 Jahre alt war. Seit dieser Zeit war er auf sich selber gestellt gewesen. Und all diese harten Jahre sollten umsonst gewesen sein, sein Ziel, die Krone Norwegens, nicht erreicht werden? Und das alles wegen eines kleinen, wenn auch derben Spaßes auf Kosten seines Schwiegersohnes, den er zwar als Schiffbaumeister hoch schätzte, der aber offensichtlich nicht zum Ehemann taugte? In Gunnar wuchs die Gewissheit, dass er schnell handeln musste, sonst war vielleicht alles verloren. Seine Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Er musste für das nächste Frühjahr eine Versammlung der Fürsten einberufen und sie endlich dazu bringen, ihm die Krone aufzusetzen. Bis jetzt hatten sie sich stets geweigert, wenn er die Sprache darauf gebracht hatte. Er würde es diesmal mit List erzwingen. Er würde Boten an ihre Höfe senden, gleich morgen, und sie für das nächste Frühjahr an einen neutralen Ort bestellen. Und was das Kind von Embla und Ymir anging – was kümmerte es ihn, es war ja noch nicht einmal geboren. Gunnar wollte die Krone für sich, nie war er so entschlossen gewesen wie in diesem Augenblick. Und eines Tages würde er sie an seinen Ältesten, an Thormod, weitergeben, an niemanden sonst.
Thormod war das Ebenbild seines Vaters, äußerlich und innerlich: wildverwegen, mutig bis zur Tollkühnheit und mit einem scharfen Verstand versehen. Nichts hatte ihn bisher für längere Zeit an einem Ort halten können, ständig wurde er getrieben von Unrast. Gunnar liebte ihn vor allen anderen und nahm sich vor, Thormod in Zukunft enger an seinen Hof zu binden, um ihn auf seine zukünftige Rolle vorzubereiten. Dem Zufall würde er nichts überlassen – und auch nicht dem Schamanen. Er, Gunnar, würde planen und lenken – nicht dieser albern bemalte Möchtegern-Drache.
Gunnar fühlte die Anspannung allmählich weichen, er hatte die Fäden wieder in der Hand. Er schloss die Augen und versank in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Jäh schreckte er auf, mit dem deutlichen Unbehagen, beobachtet zu werden. Die Öllampe flackerte unruhig, als hätte ein Luftzug sie gestreift. Gunnar sah niemanden, nur hinter seinen Augenlidern haftete noch für einen Moment das Abbild eines schwarz-grünen Musters.
„Der Schamane,“ fuhr es ihm durch den Kopf, „“er verfolgt mich bis in meine Träume.“
Sein Herz pochte wild und er dachte wieder an Thormod. Was, wenn dem besten seiner Söhne etwas zustoßen würde? Zornig versuchte Gunnar, diese verzagten Gedanken wegzuscheuchen. Aber sie quälten ihn weiter. Und endlich musste er sich das eingestehen, wovor er so große Angst hatte: Es war nur Thormod, auf den er baute – und bauen konnte!
Ingvar, sein Zweitältester, war faul und feige.
„Er wird wie eine Kuh im Stall sterben, niemals wie ein Krieger,“ dachte Gunnar, „nicht mal ein Handwerk kann er ausüben,“ und es krampfte ihm die Brust zusammen, als er sich nun zum ersten Mal diese bittere Wahrheit eingestand.
Olav war der geborene Kaufmann. Mit einer Bootsladung Schaffelle hatte er vor vier Jahren begonnen. Inzwischen befehligte er eine Flotte von sechs Schiffen und trieb Handel an allen Küsten Europas.
Hugi und Frodi, die Zwillinge, waren vor zwei Jahren ausgezogen, das letzte, was er von ihnen gehört hatte, war, dass sie sich als Begleitschutz für einen reichen byzantinischen Händler verdingten.
Harald und Ottar waren mit ihren Familien und einigen Freunden vor einem Jahr an die Südwestküste von England gesegelt, um sich dort Land zu erobern. Gunnar wußte nicht, ob ihr Unternehmen erfolgreich verlaufen war oder sie noch weiter auf der Suche waren, oder sogar umgekommen waren.
Ingjöld war immer ein Einzelgänger gewesen, schon als Kind. Viel nachdenklicher und stiller als seine Brüder, fast verschlossen. Er verabscheute lärmende Feste und suchte lieber die Einsamkeit des Waldes. Mit Gunnar kam es zum Bruch, weil Ingjöld nicht einsehen konnte, warum es freie und unfreie Menschen gab.
„Jeder Mensch ist gleich viel wert,“ hatte er trotzig zu Gunnar gesagt.
„Nicht bei mir,“ war Gunnars harsche Antwort gewesen.
„Dann muss ich gehen.“
Gunnar erinnerte sich genau an dieses Gespräch vor wenigen Monaten und Ingjölds zornige Augen. Er konnte niemanden am Hof brauchen, der seine Leute auf falsche Ideen brachte, auch wenn es sein eigener Sohn war, seine Autorität würde dadurch gefährdet. Außerdem war Gunnar fest davon überzeugt, dass die meisten Menschen eine starke Führung brauchten, ja sich sogar danach sehnten. Aus diesem Grunde hatte er nichts dagegen unternommen, als der Rebell Ingjöld allein mit einem einzigen, kleinen Boot seine Heimat verließ, auch wenn der Verlust eines Sohnes schmerzhaft für ihn war.
Leif war 17 und lebte wie Ingvar im Tal. Ein wahrer Hüne, mit Muskeln, die wie dicke Stränge hervorquollen, wenn er sie anspannte. Vor zwei Jahren war er bei Gunnars Schmied in die Lehre gegangen und inzwischen ein Meister seines Faches. Niemand schmiedete so scharfe Schwerter wie er, niemand so leichte und trotzdem stabile Helme und Schilde, niemand so ausgewogene Pflüge und runde Kessel. Nichts und niemand würde ihn je von seiner Leidenschaft, Metall zu verarbeiten, abbringen.
Nie zuvor war es Gunnar so klar gewesen, dass er trotz seiner neun Söhne eigentlich keine Wahl hatte. Neun Söhne? Wie lange war es her, dass er nicht mehr an seinen zehnten Sohn gedacht hatte? Eine Ewigkeit, musste er sich nun gestehen. Gunnar rechnete: seit 10 Jahren war Halvdan verschwunden, er wäre jetzt 16 Jahre alt. Ob er das Zeug zu einem Führer gehabt hätte? Was nutzte es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, Halvdan war tot, das war sicher. Wer mit sechs Jahren in den Wald läuft, nicht wiederkehrt und auch nicht wiedergefunden wird, der konnte nichts anderes als tot sein. Gunnar fragte sich, warum er so lange nicht mehr an ihn gedacht hatte und wusste sofort, dass er über all die Jahre den gleichen Groll empfunden hatte wie in Halvdans ersten sechs Lebensjahren, als er noch mit ihm unter einem Dach lebte. Er war es, der Freydis Leben ausgelöscht hatte – und Gunnar hatte es ihn jeden Tag spüren lassen. Er hatte ihn so streng wie keines seiner anderen Kinder erzogen, bestraft, beschimpft, gedemütigt, ja, er hatte ihn gehasst. Und Halvdan war ein stilles, einsames, verzweifeltes Kind geworden – es muss furchtbar für ihn gewesen sein, dachte Gunnar und war über seine neuen Gefühle überrascht. War Halvdans Weglaufen etwa eine Flucht gewesen vor der Lieblosigkeit seines Vaters, vor dessen ständig anklagenden Augen? Was sonst? Gunnar spürte, wie zum ersten Mal keinerlei Wut, keine Bitterkeit beim Gedanken an Halvdan in ihm aufstieg.
„Wie dem auch sei,“ dachte er, „und was immer aus ihm hätte werden können, Halvdan ist nicht mehr! Es bleibt dabei, es ist nur Thormod, auf den ich bauen kann, kein anderer.“