Читать книгу Schlechte Zeiten für Märchen und andere wundersame Geschichten und Gedichte - Gisela Walitzek - Страница 5

Hänsel und Gretel

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Es war einmal eine Frau. Die war von Herzen gut. Das Glück hatte ihr zwei liebe Kinder anheimgegeben – ein Bübchen und ein Mädchen, beide anstellig, folgsam und brav. Darüber war die Frau von Herzen froh.

An diesem Tag aber saß die gute Mutter auf einem Baumstumpf und grämte sich sehr, denn die Kinder waren ihr verlorengegangen. Ausgebüxt, um es genauer zu sagen. Siebenhundertfünfundneunzig Mal schon hatte die Mutter den Kindern gesagt, dass sie nicht so weit weglaufen sollen. Siebenhundertfünfundneunzig Mal beim Bübchen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Das Mädchen siebenhundertfünfundneunzig Mal auf einem Ohr taub. Und das diesmal ausgerechnet im dunklen, dunklen Wald.

Es dauerte nicht lange, da kamen die Kinder an ein Häuschen von Pfefferkuchen fein. Hierin aber wohnte keine andere als die böse, kinderfressende Hexe. Als sie nun aber draußen das Getrampel und Gezänke von Bübchen und Mädchen vernahm, vermeinte sie nichts anderes, als dass es Hänsel und Gretel seien. Auf die hatte sie nämlich schon lange gewartet, um sie zu fressen.

„Knusper, knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?“, fragte sie deshalb ungeduldig.

„Ich nicht“, sagte das Bübchen.

„Ich auch nicht“, empörte sich das Mädchen. Dabei war es glatt gelogen, denn Bübchen und Mädchen hatten aus Übermut schon handtellergroße Stücke aus dem Häuschen gerissen.

Die Hexe war verwirrt. „Vielleicht war es ja der Wind“, meinte sie dann.

„Als ob der Wind knuspern könnte“, sagte das Bübchen und dann lachten die beiden Kinder sich fast kringelig.

„Wollt ihr denn gar nicht an meinem Häuschen knuspern?“, frage die Hexe ärgerlich.

„Angegammelten Lebkuchen esse ich nicht“, sagte das Bübchen.

„Hast du nicht was anderes?“, fragte das Mädchen.

Die Hexe überlegte.

„Vielleicht Blubberkaugummi“, sagte das Bübchen.

„Oder Lakritzschnecken“, sagte das Mädchen.

Nun war es aber so, dass die Hexe noch nie etwas von Blubberkaugummi und Lakritzschnecken gehört hatte. Sie war aber nicht dumm und lockte die Kinder erstmal in ihr Häuschen. Dort wollte sie die beiden mästen und hernach, wenn sie schliefen, braten und fressen.

„Guck mal, ein schwarzer Papagei“, sagte das Mädchen und zeigte auf den Raben Abraxas. „Kann der sprechen?“ Und dann brachte das Mädchen dem possierlichen Tierchen die neuesten Unflätigkeiten aus dem Kindergarten bei. Derweil machte das Bübchen – „Pussi! Pussi!“ – dem Hexenkater den Garaus.

Unterdessen hatte die Hexe den Tisch gedeckt. Für jedes Kind einen kleinen Laib altbackenes Brot.

„Hast du keine Schokocreme?“, fragte das Bübchen.

„Oder Brötchen? Oder Cupcakes?“, fragte das Mädchen.

Die Hexe raufte sich die Haare. Dann beschloss sie, die Kinder zu fressen, auch ohne sie vorher gemästet zu haben. Also schickte sie die beiden schnurstracks ins Bett.

„Aber erst gucken wir noch einen Film“, verlangte das Bübchen.

„Wo ist denn dein Fernseher?“, fragte das Mädchen.

Nun war es aber so, dass die Hexe auch keinen Fernseher hatte.

„Wie? Keinen Fernseher? Keinen DVD-Player? Keinen Beamer?“, fragte das Mädchen erschüttert.

Die Hexe schüttelte den Kopf.

„Dann will ich sofort nach Hause“, jammerte das Bübchen und gab der Hexe die Handynummer und zur Sicherheit auch die Festnetznummer der braven Mutter, denn bei der merkwürdigen Alten wusste man ja nie.

„Wahrscheinlich hat sie keine Flatrate“, flüsterte das Bübchen.

„Wahrscheinlich hat sie gar kein Telefon“, flüsterte das Mädchen.

Und so war es auch. Die Hexe aber rupfte sich vor Verlegenheit und Scham ein Haar nach dem anderen aus. Dabei schluchzte sie und erzählte den Kindern weinend, wer sie war und was sie wollte. Beim Was-sie-wollte hörten das Bübchen und das Mädchen schon nicht mehr zu.

„Ich darf sie aber in den Backofen schubsen“, rief das Bübchen.

„Nein ich“, kreischte das Mädchen.

Und dann zogen und zerrten die Kinder an der Hexe, dass der Pfefferkuchen am Häuschen wackelte. Womöglich wäre der Alten noch ein Unheil geschehen, wäre nicht just in diesem Moment die von Herzen gute Mutter herbeigeeilt. Weil nämlich das Bübchen auf dem Weg zum Hexenhaus aus Langeweile sein halbes Franzbrötchen verkrümelt hatte, während dem Mädchen aus einem Loch in der Hosentasche nach und nach die beim Mittagessen verschmähten Erbsen herausgefallen waren, hatte die gute Mutter ihre lieben Kleinen wiederfinden können.

War das eine Freude!

„Ward ihr denn auch artig?“, fragte die Mutter.

„Na logo“, sagte das Bübchen.

„Und ob“, sagt das Mädchen und es war noch nicht mal gelogen.

Die gute Mutter aber dankte der Hexe vieltausendmal. Und die Hexe dankte der guten Mutter vieltausendmal zurück.

Noch am gleichen Abend aber nahm die Hexe ihren Raben, den Kater, den Besen und sonst gar nichts und verschwand aus dem Wald. An die Tür vom Pfefferkuchenhäuschen zauberte sie von unterwegs einen Zettel. Auf dem stand: Lieber Hänsel, liebe Gretel! Komme gleich wieder.

Sie ist es bis heute nicht.

Schlechte Zeiten für Märchen und andere wundersame Geschichten und Gedichte

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