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Kapitel 4

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Es war der 31. Dezember und diesmal hatte sie der Dienstplan erwischt. Hanna Wolf, Kommissarin vom K13 der Frankfurter Kripo, musste zusammen mit ihrem Kollegen Torsten Schwarz Dienst schieben. Silvester war bei den Kollegen nicht sehr beliebt. An diesem Tag stolperten mehr Betrunkene als sonst durch Frankfurt. Die Krankenhäuser hatten jede Menge Unfälle mit Feuerwerkskörpern zu versorgen und die Männer der Feuerwehr saßen buchstäblich auf heißen Kohlen. Dass die Kriminalpolizei an Silvester zu einem Mord gerufen wurde, kam allerdings nicht so häufig vor. Doch in diesem Jahr sollte alles anders sein.

Eine Frau aus dem Stadtteil Fechenheim hatte sich über den Notruf gemeldet und berichtet, eine tote Frau gefunden zu haben. Die Kollegen des K13 machten sich auf den Weg zum Tatort. Kommissar Torsten Schwarz saß am Steuer. Einen Tag vor Neujahr quälte sich eine noch größere Blechlawine als sonst Richtung Hanauer Landstraße und es ging einfach nicht voran. Hanna griff zur Leuchte und klemmte das Signal auf das Dach des Wagens. Langsam wichen die Fahrzeuge zur Seite und bildeten eine Gasse. Doch die Kripo konnte trotzdem nur im Schritttempo weiterfahren. Besonders die LKWs, die Richtung Offenbach oder stadtauswärts nach Hanau fahren wollten, blockierten die Straße. Torsten fluchte leise vor sich hin.

„Kein Stress. Die Tote läuft uns nicht weg“, meinte Hanna ruhig.

„Wahrscheinlich pennen die Autofahrer noch“, grummelte Torsten.

Die Kommissarin erwiderte nichts, sondern blickte noch einmal auf das Display ihres Handys. Der Kollege hatte ihr im Telegrammstil eine Mitteilung geschickt. Weibliche Leiche. Tatort Baumertstraße. Vielleicht war es ein Familiendrama. Der Jahreswechsel ruft nicht bei jedem Begeisterung hervor. Hanna sah sich den Punkt im Navi genauer an. Sie würden bald dort sein.

Links und rechts der Hanauer Landstraße kann man die Ödnis von Fechenheim bewundern. Baumärkte, Tankstellen, der alte Neckermann-Bau und viele Autohäuser. Keine besonders einladende Gegend. Kurz vor der Mainkur bog Torsten rechts in die Straße Alt-Fechenheim ein. Der Stadtteil war früher ein Fischerdorf am Main, von dem nichts mehr übrig geblieben war, außer einer Straße, die Ankergasse heißt. Torsten fuhr bis zur genannten Hausnummer und parkte neben einem anderen Polizeiauto auf dem Trottoir. Die Kripobeamten stiegen aus und sahen sich nach einem Kollegen um.

„Wo ist die Tote?“, fragte Torsten einen Uniformierten, der sich wegen der Kälte ins Polizeiauto geflüchtet hatte. Der Mann deutete mit der Hand auf das hinter ihnen stehende Gebäude:

„Erster Stock rechts.“

Im Treppenhaus waren Stufen aus schwarzweißem Terrazzo und ein verspieltes Treppengeländer mit dunklem Handlauf führte nach oben. Die Abschürfungen an den Wänden zeugten von zahlreichen Umzügen. Vor den Wohnungstüren standen die schmutzigen Schuhe der Mieter, fein säuberlich nebeneinander aufgereiht.

Nachdem Hanna im ersten Stock angekommen war, hielt sie einen Augenblick vor der Wohnungstür inne. Auf dem Messingschild stand Familie Möller. Sie drückte die Türklinke herunter und ein bekannter Geruch schlug ihr entgegen. In geheizten Räumen verbreitet sich der typische Leichen- und Verwesungsgeruch relativ rasch. Kollegen von der Schutzpolizei und der Spurensicherung standen in der Küche um das Opfer herum, das auf dem Fußboden lag. Sie diskutierten über den möglichen Tathergang.

„Guten Morgen, natürlicher Tod?“, fragte Hanna in die Runde, als sie ins Zimmer trat.

Ein Mann im weißen Schutzanzug schüttelte den Kopf:

„Nein, mit Sicherheit nicht. Der Täter scheint seinem Opfer den Brustkorb eingetreten zu haben. Ich vermute, sie ist an ihren inneren Verletzungen gestorben.“

„Was sagt euch diese Art von Angriff?“

Der Mann verzog den Mund, sah auf die Tote und meinte lakonisch:

„Die Vorgehensweise ist eher ungewöhnlich. Die alte Frau hätte sich gegen den Täter sowieso nicht wehren können. Warum dann diese Brutalität?“

Hanna Wolf erwiderte nichts. Sie hatte beim Anblick des Opfers das gleiche gedacht. Warum diese Gewalt? Sie wandte sich an die anwesenden Schutzpolizisten:

„Was wisst ihr bis jetzt über das Opfer?“

„Witwe, allein lebend. Ihr Sohn wurde benachrichtigt. Er hat seinen Urlaub in Willingen abgebrochen und ist auf dem Weg nach Frankfurt. Die Tote wurde von einer Nachbarin gefunden. Die Frau hat einen Wohnungsschlüssel und heißt Marlies Steinacker. Sie wohnt im Haus nebenan. Der Sohn hat sie heute Morgen gebeten, nach seiner Mutter zu sehen, da sie schon gestern Abend nicht ans Telefon gegangen ist.“

„Demnach ist sie seit gestern tot?“

„Ja, nach ersten Erkenntnissen ist davon auszugehen. Wir haben den Gerichtsmediziner angerufen. Er müsste bald eintreffen und kann euch dann mehr sagen“, stellte Mike, einer der Spurensicherer in aller Ruhe fest.

Hanna sah sich in der Küche um. Alles war blitzblank sauber. Nirgendwo sah man Spuren eines Kampfes. Sie seufzte und meinte kurz:

„Wir gehen zu dieser Nachbarin und reden mit ihr.“

Auf der Straße blieben sie kurz stehen und atmeten erst einmal tief durch. Die frische Luft tat gut. Dann machten sie sich auf den Weg ins Nebenhaus, vorbei an einer größeren Menschenmenge, die sich vor dem Gebäude versammelt hatte. Es waren Schaulustige, die an Silvester nicht zur Arbeit gehen mussten. Sie nahmen die einmalige Gelegenheit wahr, ein Verbrechen aus nächster Nähe beobachten zu können. Die Wirklichkeit ist interessanter als jeder Tatort im Fernsehen.

Torsten klingelte an der Wohnungstür. Eine etwa vierzigjährige Frau öffnete. Sie hatte ein Taschentuch in der Hand und fuhr sich über die Nase.

„Wolf, wir sind von der Kripo. Können wir Sie kurz wegen Frau Möller sprechen.“

„Ja, selbstverständlich. Kommen Sie herein.“

Die Frau ging voran ins Wohnzimmer und deutete mit der Hand zu einer Sitzgruppe. Während die Drei ihre Plätze einnahmen, sah sich die Kommissarin im Zimmer um. Die Wohnungsbesitzerin hatte sich mit weißen Ikea-Möbeln eingerichtet. Der Raum wirkte dadurch hell und freundlich. Hanna wartete einen Augenblick, bis sich die verstört wirkende Frau etwas beruhigt hatte.

„Frau Steinacker, Sie haben Frau Möller heute Morgen gefunden?“

Sie nickte: „Ja. Ihr Sohn rief an und bat mich, nach ihr zu sehen. Er war beunruhigt, da seine Mutter schon gestern Abend nicht ans Telefon gegangen ist. Ich klingelte an ihrer Tür, aber es hat sich nichts gerührt. Da habe ich aufgeschlossen und nachgesehen. Als ich die alte Frau in ihrem Blut auf dem Boden liegen sah, bin ich furchtbar erschrocken. Ich habe am ganzen Leib gezittert, und bevor ich mich noch von dem Schreck erholen konnte, hörte ich plötzlich ein Geräusch. Daraufhin bin ich wie in Panik aus der Wohnung gestürmt.“

„Wo sind Sie hingegangen? Haben Sie jemanden aus dem Haus kommen sehen?“

„Ich bin vors Haus gerannt und musste erst einmal Luft holen. Der Anblick der Toten hat mich ganz durcheinandergebracht. Aus dem Haus ist niemand gekommen, während ich mit der Polizei telefonierte.“

„Wann haben Sie die Verstorbene das letzte Mal lebend gesehen?“

Frau Steinacker zögerte, musste nachdenken. Sie war sich nicht ganz sicher.

„Frau Möller ging nur noch selten nach draußen. Ihre Familie hat sich um alles gekümmert. Ich glaube gestern Morgen, als sie am Briefkasten stand. Ich weiß nicht, ob es gestern oder einen Tag zuvor war. Sie blieb immer eine Weile draußen stehen und begrüßte Bekannte, die am Haus vorbeiliefen.“

Die Beamten hörten interessiert zu, aber die Nachbarin wusste nicht viel über das Mordopfer zu berichten. Das war nicht weiter verwunderlich. Die Frau war wesentlich jünger als die Getötete. Sie hatte den Wohnungsschlüssel vermutlich aus reiner Gefälligkeit an sich genommen. Hanna blickte zu Torsten. Er schien genauso ratlos zu sein wie sie selbst und zuckte nur mit den Schultern. Zu Frau Steinacker gewandt meinte sie:

„Vielen Dank für Ihre Auskunft. Könnten Sie mir noch schnell die Handynummer des Sohns aufschreiben? Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, melden Sie sich bitte bei uns.“

Hanna legte ihr Kärtchen auf den Tisch. Die Nachbarin schrieb die Nummer des Sohns auf einen kleinen Zettel und reichte ihn der Kommissarin. Anschließend begleitete sie die Kriminalbeamten zur Tür.

Als sie wieder auf der Straße standen, telefonierte die Kommissarin mit dem Sohn und vereinbarte ein Treffen für den gleichen Tag. Danach kehrten sie in die Wohnung des Opfers zurück.

Hanna hielt Ausschau nach Jürgen Feuerstein, dem Chef der Spurensicherung, doch sie konnte ihn nirgendwo entdecken.

„Hat Jürgen Urlaub?“

„Ja, Familienväter haben über Weihnachten bessere Karten als wir Singles. Noch eine Woche“, antwortete Mike.

Er hantierte mit Klebebändern am Küchentisch herum.

Hanna drehte sich um, durchstreifte die Wohnung und suchte nach einem möglichen Hinweis. Der Täter hatte Türen und Schubladen im Schlafzimmer aufgerissen und wohl nach Geld im Wäschefach gesucht. Auf dem Fußboden lagen verstreut Nachthemden und Unterhosen. Hanna zog noch weitere Schubladen auf, in der Hoffnung etwas zu finden. Doch außer der Leiche in der Küche, gab es nichts Auffälliges zu entdecken. Die Frau war einem Raubmörder zum Opfer gefallen, der sie gnadenlos aus dem Weg geräumt hatte. Sie ging zu Mike zurück und meinte laut, damit es alle Anwesenden hören konnten:

„Ich habe vor einigen Minuten mit dem Sohn des Opfers telefoniert. Er ist auf dem Weg nach Frankfurt. Wenn er hier eintrifft, erinnert ihn bitte daran, dass er ins Präsidium zum K13 kommen muss. Ich möchte heute noch mit ihm sprechen. Davor sollte er sich aber einen genauen Eindruck verschaffen, was in der Wohnung seiner Mutter gestohlen wurde. Vermutlich steht er unter Schock und wird einiges durcheinanderbringen.“

„Geht in Ordnung Hanna, wir sagen ihm das noch einmal.“

Die Kommissare verließen den Tatort und fuhren zurück ins Polizeipräsidium.

Es geschah am Main

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