Читать книгу Weihnachten 2016 - Gitte Loew - Страница 3

1. Der Wolf

Оглавление

Plötzlich sah ich ihn. Er saß auf einem verwitterten Baum und blickte in die Ferne. Selbst im Sitzen wirkte er groß und gefährlich. Der Wind spielte mit seinem gräulichen Pelz. Die wollweißen Spitzen seines Fells vermischten sie mit dem Blau des Himmels. Seine Augen schweiften über die Landschaft. Er hatte mich schon entdeckt, trotz der Entfernung, die zwischen uns lag.

„Ein Wolf“, stammelte ich aufgeregt, doch bis meine Begleiter reagierten, war das Tier hinter einem Hügel verschwunden. „Was und wo“, murmelte der Fahrer träge, ohne eine Antwort zu erwarten. Wir saßen zusammen in einem schwarzen VW Golf. Der Wagen war alt und verschrammt, aber das hatte mich nicht gestört, als sie mir anboten, mich im Auto mitzunehmen.

„Ein Wolf auf einem Baum“, murmelte ich wieder. Sie lachten und echoten spöttisch: „Ein Wolf.“

Warum sollte es kein Wolf gewesen sein, wo es doch wieder Wölfe an der Grenze zu Polen gab. Sie redeten und lachten und waren fast so weit, wieder umzukehren und nachzuschauen, als plötzlich ein Mann vor uns auftauchte. Er war groß, kräftig gebaut und trug ein Eisbärenfell als Umhang. Der Unbekannte blieb mitten auf der Straße stehen und versperrte den Weg. Der Fahrer hatte schon aus Vorsicht das Tempo gedrosselt und hielt nun an. Der Mann stand im Lichtkegel des Autos und schaute uns unfreundlich an. Sein Gesicht war hinter einem Bart versteckt und auf dem Kopf trug er eine Fellmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte.

Plötzlich sah ich den Lauf eines Gewehres, das er in seinem Mantel versteckt hatte. Die anderen mussten es auch gesehen haben, denn keiner im Auto sprach ein Wort. Der Fahrer öffnete die Wagentür, doch als der Mann das Gewehr hob und auf ihn zielte, ließ er sich wieder auf den Sitz zurückfallen. Die Tür fiel mit lautem Knall ins Schloss. Ich war so durcheinander, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Als ich den ersten Schreck überwunden hatte, flüstere ich: „Was will der Kerl?“

Bevor jemand antworten konnte, kam der Mann mit dem Gewehr im Anschlag auf uns zugelaufen. Mein Herz begann wie wild zu pochen und ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Der Mann stand jetzt neben der Tür des Autos. Ich kauerte mich auf dem Rücksitz zusammen. Da brüllte er plötzlich los: „Alle austeigen!“

Wir taten, was er uns befahl. Der Mann im Eisenbärenfell sah in meine Richtung und lief auf mich zu. Ich fühlte Panik in mir aufsteigen und wäre am liebsten davongerannt, doch der Kerl würde schießen, dass fühlte ich. Meine Beine begannen zu zitterten, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ein Schritt noch und der Kerl stand vor mir. Ich spürte seinen warmen Atem. Übelkeit stieg plötzlich in mir hoch. Ich konnte vor lauter Angst kaum aufrecht stehen und hatte Mühe, nicht umzufallen.

Der Mann zog blitzschnell etwas aus seiner Manteltasche und zog es über meinen Kopf. Dann herrschte er mich an: „Zieh den Mantel aus!“

Ich fingerte mit zittrigen Händen nach den Knöpfen und ließ den Mantel in den Schnee fallen. Angstschweiß trat aus meinen Poren. Mein Hals war jetzt feucht und ein feines Rinnsal rollte zwischen meiner Brust nach unten. Oder waren es Tränen, die aus meinen Augen strömten? Etwas Kaltes berührte mein Kinn.

„Bleib stehen und rühr Dich nicht“, schrie er mir ins Ohr.

Ich versuchte still zu stehen. Was hatte der Kerl mit mir vor? Ein Gedanke jagte den anderen. Die Kälte überzog mich plötzlich und ich begann zu frieren. Da hörte ich plötzlich den Anlasser des Autos. Zwei Türen wurden zugeschlagen und der Wagen fuhr davon.

Ich holte tief Luft und bewegte zitternd meinen Arm. Nichts rührte sich. Um mich herum war völlige Stille. Wo war der Mann mit dem Gewehr? Ich griff nach dem Ding auf meinem Kopf und zog es vorsichtig herunter. Sie waren weg. Ich stand allein im Wald. Mein Mantel lag auf dem Boden im Schnee. Ich griff danach und zog ihn vor Kälte frierend wieder an. Als ich in die Innentasche griff, fehlte mein Portemonnaie.

Ich hatte den Wolf gesehen.

Weihnachten 2016

Подняться наверх