Читать книгу Pistengeier: Berlin Turbo #9 - Glenn Stirling - Страница 6

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„Beugen Sie sich etwas vor“, sagte der Arzt, ein Mann Ende Dreißig mit blondem Haar und einer goldenen Brille.

Rolf Nerlinger tat, wie ihm geheißen. Er stand vor einer Liege, beugte sich vor und stützte seine Unterarme auf die Liege. Der Arzt hörte ihm den Rücken ab, pochte mit dem Mittelfinger seiner rechten Hand auf bestimmte Stellen, hörte ihn wieder ab und sagte schließlich: „Husten Sie mal, aber richtig!“

Rolf Nerlinger hustete.

Ihm war kalt, der Raum war schlecht geheizt. Und Rolf war noch an die Hitze Nordafrikas gewohnt, von wo er am frühen Morgen erst zurückgekommen war. Aber etwa seit Lyon hatte er diese Magenschmerzen und offenbar auch Fieber; der Arzt hatte es ihm vorhin gemessen, knapp neununddreißig. Geröntgt hatten sie ihn auch. Zum Glück war er nüchtern gewesen, als er den Kontrastbrei schlucken musste, sonst hätte er morgen wiederkommen müssen, denn sie verlangten, dass er nüchtern war. Aber als er in Lyon das letzte Mal gegessen hatte, war es ihm kurz danach wieder herausgekommen, und seitdem aß er nichts mehr.

„Seit wann genau haben Sie die Magenschmerzen, Herr Nerlinger?“, fragte der Arzt. „Sie können sich wieder aufrichten.“

Rolf Nerlinger wandte sich um, zog sich die Hose wieder höher und blickte beinahe flehend zu seinem Unterhemd, weil ihm so kalt war.

„Ein bisschen hat es schon gemeckert, als wir noch in Spanien waren.“

„Haben Sie Urlaub in Spanien gemacht?“

„Aber nein, ich bin Fernfahrer. Ich hatte eine Terminfracht nach Marokko. Auf dem Rückweg in Spanien fing es an, das war gestern Mittag etwa, und immer nach dem Essen. Ich hatte auch so einen Brechreiz, aber das gab sich dann. Nur in Lyon, als ich da wieder aß ...“

„Hatten Sie denn Hunger?“, wollte der Arzt wissen.

„Ja, ich hatte Hunger. Aber wenn ich dann aß, dann wurde es mir von Mal zu Mal mehr schlecht, und in Lyon war es so schlimm, dass ich es erbrochen habe. Und danach habe ich nichts mehr gegessen, ich wollte nicht mehr essen.“

„Für die Untersuchung ist es gut gewesen, aber sonst ... Haben Sie denn Hungergefühl?“

„Ja, bis vorhin, bis ich den Brei gegessen habe“, meinte Rolf Nerlinger. „Kann ich mich jetzt anziehen? Mir ist verdammt kalt.“

Der Arzt blickte auf seine Arme.

„Ja, ich sehe es, Sie haben Gänsehaut. Aber so kalt ist es doch hier drinnen gar nicht. Vielleicht haben Sie sich noch nicht wieder an unser Klima gewöhnt.“

„Kann sein - mir ist sagenhaft kalt.“

„Sie haben ja auch Fieber, es wird damit zusammenhängen. Ziehen Sie sich rasch an! Ja, Herr Nerlinger“, meinte der Arzt, als er sich hinter seinem Schreibtisch niederließ und auf das Krankenblatt blickte, das er eben angelegt hatte, „mit dem Arbeiten ist es vorläufig nichts. Was Sie da haben, ist eine solide Magenschleimhautentzündung, aber das ist nur zweitrangig. Die ganze Geschichte bei Ihnen kommt vornehmlich von der Bauchspeicheldrüse, und daher haben Sie auch diesen Schmerz, von dem Sie gesprochen haben.“

„Ja, es tut zeitweise verdammt weh.“

„Wenn Sie also sinnvoll behandelt werden sollen - und das möchten Sie ja sicher - dann müssten Sie mal ein paar Tage bei uns bleiben.“

„Wie denn? Hier im Krankenhaus? Ich habe eine neue Fracht!“, sagte Straubinger. „Ich muss mit einer Ladung zurück nach Marokko, das sind Terminfrachten.“

Der Arzt sah ihn ungläubig an.

„Kann denn eine Terminfracht wichtiger sein als Ihre Gesundheit, Herr Nerlinger? Ich will Ihnen sagen, wie es für Sie weitergeht, auch wenn Sie mich ansehen, als erzählte ich Ihnen Märchen. Die Schmerzen werden stärker. Sie werden so stark, dass Sie es gar nicht mehr aushalten können. Sie werden nichts mehr bei sich behalten, alles erbrechen. Das Fieber wird steigen, es wird auch wieder fallen, Ihnen wird sterbenselend zumute sein. Und dann brechen Sie irgendwo unterwegs zusammen. Was Sie haben, ist eine Pankreatitis, eine Bauchspeicheldrüsenentzündung. Das mit dem Magen ist wie gesagt nur ein Symptom, eine Randerscheinung. Übrigens sollten Sie sich gar keine Gedanken machen. Wenn Sie nämlich von uns behandelt werden, sind Sie die Geschichte in zehn, zwölf Tagen wieder los. Dann schonen Sie sich noch etwas und können, wenn Sie sich strikt am Anfang an die Diät halten, in drei, vier Wochen wieder Ihren Wagen fahren.“ Der Arzt lächelte. „Ist das eigentlich eine so schöne Arbeit?“

„Sie macht jedenfalls Spaß“, meinte Rolf Nerlinger. Er hatte immer noch nicht hinuntergeschluckt, dass er jetzt krankfeiern sollte und dann noch hier im Krankenhaus bleiben musste. Verdammt noch mal, dachte er, dann müsste ja Klaus völlig alleine fahren. Heiliger Strohsack, auf dieser langen Strecke, und dann noch die Fahrt über die Pisten in Marokko.

Der Arzt ahnte wohl, was in Rolf Nerlinger vorging.

„Nun kommen Sie mal her, setzen Sie sich erst einmal!“ Rolf stopfte sich noch das Hemd in die Hose. „Oder möchten Sie sich hinlegen?"

„Ach wo, mir ist nur so verdammt kalt, das ist alles, sonst fühle ich mich ... na ja, so halbwegs“, meinte er dann einschränkend.

Der Arzt nickte.

„Noch. Wenn wir Sie nicht behandeln, wird es schlimmer, verlassen Sie sich darauf. Ich erzähle Ihnen wirklich keine Märchen.“ Er hatte schon die Hand am Telefon, wählte dann, und Rolf hörte ihn sagen: „Schwester Edith, ich habe hier eine Einweisung. Könnten Sie sich mal darum kümmern? ... Natürlich, in die Innere Abteilung. Pankreatitis, akut, ja, richtig.“ Als der Arzt aufgelegt hatte und sich Rolf Nerlinger wieder zuwandte, fragte der: „Wovon habe ich das?“

„Wovon hat man so etwas? Es könnte mit Viren zusammenhängen, weil Sie in Afrika waren. Da liegt dieser Verdacht irgendwie nahe. Aber ich glaube nicht daran. Allerdings müssen wir das genau feststellen. Es kann aber auch sein, dass Sie ganz einfach sensibel sind und vielleicht Fett gegessen haben, das Sie nicht vertragen. Das verbirgt sich mitunter in Soßen, überhaupt in Lebensmitteln. Jedenfalls, Herr Nerlinger, sollten wir Sie am besten gleich hierbehalten, zumal Sie Fieber haben. Wenn Sie jemanden verständigen wollen, können Sie das nachher, wenn Schwester Edith kommt, alles erledigen. Es wäre so das Beste. Denn wenn Sie erst wieder nach Hause gehen, wird es nur unnötig schlimmer. Sie müssen sofort an den Tropf. Ich will damit sagen, wir machen eine Infusion, die Ihnen sehr helfen wird, und vor allen Dingen brauchen Sie jetzt Flüssigkeit. Wenn Sie nicht essen, muss dem Körper wenigstens Flüssigkeit zugeführt werden. Aber das machen wir schon“, meinte er lächelnd. „In einer Woche fühlen Sie sich schon sehr viel besser, und in zwei Wochen sind Sie so gut wie voll auf den Beinen. Dann noch etwas Ruhe und schließlich Diät. Aber das kann ich Ihnen alles später erklären.“

Rolf Nerlinger wusste, dass draußen noch jede Menge Patienten warteten. Und während er noch ein wenig hilflos auf den Arzt schaute, tauchte Schwester Edith, eine zierliche rothaarige Krankenschwester auf, die so etwa Mitte Dreißig war. Sie lächelte Rolf vertrauenerweckend an und fragte: „Sie sind die Einweisung?“

„Einweisung?“, fragte Rolf und grinste. „Mein Name ist Nerlinger.“

„Dann kommen Sie mal mit, Herr Nerlinger.“ Sie blickte über die Schulter auf den Arzt und sagte zu ihm: „Ich erledige das. Schicken Sie das Krankenblatt nachher rüber?“

Der Arzt nickte nur und hatte schon auf den Knopf gedrückt, damit im Wartezimmer das Schild: Der Nächste bitte! aufleuchten würde.

Draußen auf dem Gang nachher, über den ihn Schwester Edith lang führte, wurde Rolf das ganze Ausmaß dieses plötzlichen Hammers, wie er es nannte, bewusst. Er musste sofort bei der Spedition anrufen. Klaus war ja schon wieder beim Laden. Heute Mittag wollten sie losfahren, die nächste Tour. So ging es schon eine ganze Zeit. Wie die Verrückten fuhren sie jetzt, zumal Sigi Kölzer und Toni Feldmann mit ihrem Zug diese Fracht nicht mehr fuhren. Die Schalupke-Spedition ließ nur noch einen ihrer Züge nach Marokko mit Fertighäusern fahren, nach den Vorfällen, die sich da am Anfang ereignet hatten.

Für Rolf Nerlinger und seinen Gefährten Klaus Matschke wurde von dem Zeitpunkt an, da sie nur noch alleine Fertighäuser nach Marokko fuhren, das Ganze zu einer hektischen und mörderischen Schinderei. Sie schrubbten Tag und Nacht, missachteten ihre Fahrzeiten, ihre Pausenzeiten. Einer fuhr, der andere schlief, solange sie in Europa fuhren. In Afrika gab es Strecken, wo sie beide wachbleiben mussten, weil vier Augen ganz einfach mehr sahen als zwei. Und dann die Fahrten über die Pisten bis zu diesem Stützpunkt der Firma Beziers.

Heute Mittag sollte es wieder losgehen. Aber die Sache mit der Bauchspeicheldrüse machte Rolf Nerlinger jetzt einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Und nicht nur durch seine, auch durch die der Spedition Schalupke.

Später dann hatte er Gelegenheit zu telefonieren. Als Ralf Kirchlechner, der Disponent, erfuhr, um was es ging, rutschte er beinahe vom Stuhl.

„Was sagst du, Rolli, im Krankenhaus bleiben? Verdammt noch mal, was machen wir da?“

„Das musst du mich nicht fragen“, erwiderte Rolf. „Da musst du dir schon selbst etwas ausdenken. Verdammt noch mal, ich habe Fieber, und der Arzt meint, die Sache mit meiner Bauchspeicheldrüse wird immer schlimmer. Wie weit ist der Cowboy denn mit dem Laden?“

„Der ist fertig, der ist eben in den Hof gekommen, vor einer Minute vielleicht. Steht drüben mit Addi, die quatschen. Der wartet auf dich.“

„O Heimatland!“, brummte Rolf. „Dann sag ihm Bescheid. Jedenfalls läuft bei mir nichts. Denkt euch was aus. O verdammt, mir ist hundeschlecht. Also, du weißt alles, mach es gut!“ Rolf legte auf, und Schwester Edith, die ein Stück entfernt gewartet hatte, blickte Rolf besorgt an. Er krümmte sich wieder. Da waren die Schmerzen erneut in seinem Leib. Bohrende, stechende Schmerzen.

„Herr Nerlinger, nun kommen Sie! Sie sollten längst im Bett liegen, dann noch ewig zu telefonieren!“, rief sie aufgebracht und nahm ihn am Arm. Er war mindestens zwei Köpfe größer als sie, ein Bär von einem Mann neben dieser zierlichen Schwester. Und er ließ sich wie ein Teddy abführen. Noch ein paar Zimmer weiter, und die Schwester sagte: „So, und mit ihnen liegen zwei nette Leute. Sie werden sich bestimmt gut mit ihnen verstehen. Und jetzt nichts wie ins Bett!“

Sabine Schalupke, die junge attraktive Chefin der Spedition, hatte das Problem kurzerhand selbst in die Hand genommen. Sie ließ Klaus Matschke rufen, der drüben bei Addi Piltz in der Werkstatt war. Gleichzeitig telefonierte Ralf Kirchlechner, der Disponent, wegen eines zweiten Fahrers. Er selbst hatte ja niemanden zur Verfügung. Auf den Nahverkehrsfahrzeugen war kein Mann übrig, und die Fernzüge befanden sich alle unterwegs. Doch es gab noch einen Ausweg, jedenfalls glaubte das Ralf Kirchlechner. Und dieser Ausweg hieß Paul Rittlinger.

Kirchlechner hatte Sabine Schalupke davon erzählt. Und als jetzt Klaus Matschke zu ihr kam und sie sich begrüßten, sagte Sabine Schalupke zu dem hageren dunkelhaarigen Mann: „Sie wissen noch gar nicht, was mit Rolf Nerlinger passiert ist.“

„Na, irgendwas mit seinem Magen. Er hat richtige Krämpfe gehabt, und gebrochen hat er auch.“

„Er bleibt im Krankenhaus.“ Sie berichtete ihm, was sie von Kirchlechner wusste. Und dann fuhr sie fort: „Sie können natürlich die Strecke nicht allein fahren, das ist einfach nicht machbar. Bei dem Tempo, wie ihr das abreißt, brauchen Sie unbedingt einen zweiten Mann, Herr Matschke.“

„Und wer ist das?“, fragte Klaus misstrauisch. Er hatte da in der Firma schon einiges erlebt. Nicht alle, die von der Chefin für gute Fahrer gehalten wurden, waren es dann auch.

„Kennen Sie Herrn Rittlinger?“

Klaus schüttelte den Kopf. „Nie gehört. Wie ist denn sein Vorname?“

„Paul. Er heißt Paul Rittlinger. Er hat bis vor kurzem bei Schenker gefahren.“

„Und warum tut er es nicht mehr?“

„Er hatte wohl irgendwelche Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten. Jedenfalls hat er sich bei uns beworben.“

„Hören Sie, Chefin, der Mann fährt mit mir Tag und Nacht. Sie können nicht von mir verlangen, dass ich einen Wildfremden hier mitnehme, den ich gar nicht kenne. Ich bin, das können Sie sich ja vorstellen, auf diesen anderen angewiesen, der da mit mir fährt. Es gibt Situationen da in Marokko, von denen lassen Sie sich gar nichts träumen, Chefin. Und wenn ich mich nicht hundertprozentig auf meinen Partner verlassen kann, so wie ich mich auf Rolli und er sich auf mich verlassen konnte, dann bin ich verloren, und Ihr Lastzug mit.“

„Um den Lastzug brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, der ist sehr hoch versichert. Seit Sie und Herr Nerlinger diese Marokko-Fahrten machen, haben wir die Versicherung sehr erhöht. Nach den Erfahrungen, die Sie am Anfang bei Ihrer zweiten Tour ...“

„Schon gut“, meinte Klaus. „Aber ich möchte diesen Rittlinger doch genauer kennenlernen. Mir wäre lieber, es führe einer mit, den ich kenne, einer von uns hier. Und wenn es einer vom Nahverkehr ist. Dann können Sie Rittlinger ja solange im Nahverkehr fahren lassen.“

„Tut mir leid, hier kann ich keinen entbehren. Und da sind auch einige, die haben nur Klasse drei. Auf den Siebeneinhalbtonnern ist das ja möglich, aber Ihren Zug ...“ Sie redete und redete, und am Schluss gab Klaus nach. Dabei kannte er diesen Paul Rittlinger immer noch nicht.

Eine halbe Stunde später sollte er ihn kennenlernen, denn da kam er. Irgendjemand hatte ihn nach dem Telefonat mit Kirchlechner geholt.

Im ersten Augenblick konnte sich Klaus nicht allzu viel beim Anblick dieses Mannes denken. Er war etwa so groß wie er selbst, schmal, schätzungsweise Anfang Dreißig. Er grinste verlegen und schief, sah aber sonst aus wie einer, der das Arbeiten gewohnt war. Jedenfalls hatte er hornige Pranken, das spürte Klaus bei der Begrüßung. Was Klaus aber sofort auffiel, war die Fahne von Bierdunst, die ihm bei der Begrüßung entgegenschlug.

„Ist das der Zug da drüben?“, fragte Paul Rittlinger mit deutlichem Berliner Akzent, und er deutete auf den Magirus 360 M 19 und den Blumhardthänger dahinter.

„Ja, das ist er“, brummte Klaus nur. „Hast du schon so einen Bock gefahren?“

Rittlinger winkte ab.

„Mein Gott, wenn ich die Kisten alle zählen müsste. Der Typ genau war nicht drunter, aber der 320er.“

„Also gut“, meinte Klaus, „dann komm mal mit, dann sage ich noch ein paar Takte dazu. Kannst du denn sofort abkommen?“

„Ja, ja, ich hole bloß schnell meine Klamotten. Das dauert höchstens eine halbe Stunde.“

„Und hör mal“, meinte Klaus mahnend, „trink nichts mehr! Hast du schon viel intus?“

„Zwei Mollen, mehr nicht“, behauptete Paul Rittlinger. „Ich müsste bloß eine Karre haben, die mich hinbringt.“

„Zu deiner Wohnung?“

Rittlinger nickte.

„Ich regle das. In einer halben Stunde bist du da. Frag Kirchlechner, er kann dich fahren. Ich habe keinen Bock, meinen Wagen aus dem Schuppen zu ziehen.“

Rittlinger war es zufrieden, verschwand im Büro, und kurz darauf fuhr Kirchlechner ihn selbst weg. Klaus hatte seinen Wagen fix und fertig zum Fahren, aufgetankt bis an den Rand, Öl nachgesehen, Filter gewechselt, auch den Luftfilter erneuert, alles war wieder bereit zur großen Fahrt. Einer der Auszubildenden, die bei Addi Piltz in der Werkstatt arbeiteten, prüfte noch die Luft vom Anhänger. Und als auch das alles geschehen war, kam Addi Piltz und sagte: „Hör mal, Cowboy, wir haben alles abgeschmiert, was abzuschmieren ist. Viel ist das ja heutzutage nicht mehr. Die Lichtanlage ist auch in Ordnung. Nun sieh zu, dass du die Kiste heil zurückbringst. Bevor du das nächste Mal startest, erneuern wir den Kotflügel hinten rechts. Das ist ja bloß noch ein Trümmerhaufen.“

„Wenn du die Pisten siehst da unten und hörst, wie die Steine fliegen und gegen die Kotflügel donnern, Addi“, meinte Klaus, „dann wunderst du dich auch nicht, wie der Kotflügel nachher aussieht.“

„Und die Reifen“, meinte Addi, „wechseln wir auch aus, wenn du das nächste Mal zurückkommst.“

„Ich bin gespannt, ob der Bursche in einer halben Stunde wieder hier ist. Fünf Minuten davon sind schon vergangen“, meinte Klaus.

„Sieh das nicht so eng! Leg dich was pennen oder komm mit rein, hier draußen ist es zu kalt. Wie warm habt ihr es denn da unten?“

„Nachts ist es kalt, Addi“, sagte Klaus. „Am Tag schmilzt du so weg. Aber nachts um zwei und zwischen der Mittagshitze ist ein Unterschied von vierzig Grad. Da klappern dir die Zähne vor Kälte nachts.“

„Du bist jung“, meinte der alte Werkstattmeister, „du wirst es überstehen. Hau dich in deine Koje und penn die halbe Stunde!“

Es wurde mehr als eine halbe Stunde. Nach etwas über einer Stunde kam Kirchlechner endlich mit Paul Rittlinger an. Der hatte sich wohl auch umgezogen, trug jetzt Manchesterhosen, eine blousonartige Windjacke und ein kariertes Hemd. Auf dem Kopf trug er eine Kappe, wie sie im Winter bei der Bundeswehr üblich ist.

Mein Gott, mit diesem Kopfschmuck wird er die Vopos richtig in Wallung bringen, dachte Klaus noch, dann sagte er: „Also gut, Paul, dann leg mal den Riemen auf die Orgel!“

„Du meinst, ich sollte fahren?“

„Ich dachte, du hättest Klasse zwei, oder hast du die nicht?“

„Willst du den Führerschein sehen?“

„Ich hoffe, dass Ralf ihn gesehen hat. Aber zeig ihn mir mal! Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

Der Führerschein war zehn Jahre alt.

„Zufrieden?“, fragte Paul und grinste Klaus an.

Dieses Grinsen, dachte Klaus, geht mir noch eines Tages auf den Keks. Und er sagte: „Nun heiz die Kiste an, dann schieben wir ab!“

Er stieg auf der Beifahrerseite ein, klappte noch mal den Fahrtenschreiber auf und schrieb den Namen von Rittlinger drauf. Dann erst war Rittlinger eingestiegen, sah sich kurz suchend um, schob, ohne dass der Motor lief, die Gänge hin und her, dann startete er den Motor.

Als der 360 PS starke Diesel losbrummte, sagte Klaus noch: „Du musst die Kupplung gut durchtreten.“

Rittlinger hatte es gehört, nickte, und dann trat er doch nicht weit genug durch, und nach Einlegen des ersten Ganges gab es dann prompt einen Ruck.

„Ich hatte gesagt, gut durchtreten!“, knurrte Klaus und war weit davon entfernt, sich entspannt in die Ecke zu lehnen.

Dann fuhren sie los. Der Zug war voll beladen, aber gewichtsmäßig nicht bis zur Obergrenze. Diese Fertighäuser, die sie drauf hatten, waren nicht so schwer, dass die Gesamtladung zwanzig Tonnen überstieg.

Paul fuhr an, als sei er zum Großen Preis vom Nürburgring aufgerufen.

„Mensch, schieb doch nicht ab wie der Rettungswagen! Du musst das ruhiger sehen, wir kommen schon hin nach Marokko. Du bist nicht Röhrl, und das ist kein Sportwagen."

„Nun mach dir nicht ins Hemd!“, knurrte Paul Rittlinger. „Der Motor ist etwas stärker als die, die ich gewohnt bin.“

„Was hast du denn zuletzt gefahren?“, wollte Klaus misstrauisch wissen.

„DB, 280 PS.“

„Sattelzug?“, fragte Klaus.

Rittlinger nickte und starrte verbissen nach vorn. Bei der nächsten Kreuzung ging es besser. An der Grenze zur DDR hatte er dann den Bogen heraus. Aber als sie dort weiterfahren konnten, legte er um ein Haar den Schlagbaum um.

Unmittelbar danach fuhr er so dicht an einem stehenden holländischen Sattelschlepper vorbei, dass Klaus die Luft anhielt, weil er dachte, jetzt geht die Plane fliegen. Aber es klappte. Man hätte aber kaum noch eine Hand zwischen Plane und Spiegel des Holländers und den des eigenen Zuges legen können. Auf der DDR-Autobahn drehte Rittlinger dann auf.

„Mensch, mach halblang, die Vopos legen uns still!“, mahnte Klaus. „Du kannst doch hier nicht mit hundert volle Pulle dahinsegeln! Mit hundertfünf! Bist du vom Affen gebissen?“

Rittlinger fuhr dann langsamer, fünfundachtzig. Das ließen sogar die Vopos durchgehen.

Klaus war hundemüde, er hätte am liebsten geschlafen, aber er traute sich nicht. Irgendwas warnte ihn. Dieser Rittlinger fuhr nicht sicher. Und er hatte auch nicht das Gefühl, es könnte daran liegen, dass Rittlinger nur mit diesem Zug nicht vertraut war. Der fuhr einfach unsicher. Aber nach zehn Jahren Klasse zwei? Dann ging es doch etwas sicherer, als sie durch die DDR fuhren, und er hielt sich auch an das Tempo. Doch Klaus, der hundemüde war, traute sich nicht zu schlafen. Er verfluchte den Einfall Kirchlechners, ausgerechnet so eine Type auf den Zug zu setzen, und dann bei einer Fahrt, wo es später in Marokko drunter und drüber gehen würde.

An der Grenze zur Bundesrepublik nachher wieder der übliche Zirkus, und diesmal gab es wenigstens keine Zwischenfälle, dass Rittlinger irgendwo so haarscharf vorbeigefahren wäre wie in Berlin.

Weil die Fahrerei so halbwegs gutging, wagte Klaus nun doch ein Nickerchen. Er blieb aber auf dem Sitz, schlief im Sitzen, schreckte aber plötzlich wieder auf, und er hätte nicht sagen können, ob er nun lange oder nur ein paar Minuten geschlafen hatte.

Paul Rittlinger hatte scharf gebremst. Und er schimpfte laut auf den Vordermann. Sie standen etwa einen halben Meter hinter einem Anhänger.

„Näher dran konntest du wohl nicht?“, fragte Klaus verschlafen und rieb sich die Augen. „Was ist denn los?“

„Dieser Rohrkrepierer hat einen Satz auf die Bremse gemacht. Ich konnte gerade noch den Zug zum Stehen bringen“, behauptete Rittlinger.

Klaus sah sich um. Sie waren auf der Autobahn. Auf der linken Seite standen die PKWs in langer Reihe. Ein Stau also.

„Nächstens hältst du mehr Abstand!“, knurrte Klaus. „Du kannst doch nicht so dahinrauschen und dann auf die Bremse springen wie ein Hirsch!“

„Hat der doch vor mir getan, was sollte ich machen? Wär’s dir lieber, ich wäre ihm draufgeknallt?“

Klaus sagte nichts, machte die Tür auf, und es kam kalt herein. Er stieg aus, blickte nach vorn. Rücklichter, soweit das Auge reichte.

Plötzlich stutzte er. Zwei Überholspuren, dachte er, alle voll PKW. Aber das war es nicht, nicht die PKW störten ihn, drei Spuren.

„Hei“, rief er nach oben, „wo sind wir?“

„Auf dem Weg, wo sonst!“, rief Paul von oben.

„Du verdammter Arsch“, brüllte Klaus, „das ist die Autobahn nach München!“ Er stieg wieder ein. „Du Blödmann, wir wollen nach Frankreich und Spanien, und du fährst nach München! Hast du in Nürnberg gepennt? Wo sind wir hier überhaupt, was war die letzte Abfahrt, die du gesehen hast?“

„Ja“, meinte Paul und kratzte sich am Kinn, „Greding, glaube ich.“

„Greding!“, stieß Klaus hervor. „Das darf doch alles nicht wahr sein! In meinem Kopf ist ein Spukschloss, das gibt es doch überhaupt nicht! Fährt der an Nürnberg vorbei nach München! Menschenskind, du hättest Richtung Heilbronn fahren müssen. Kennst du denn die Strecken nicht? Und mir hast du erzählt, du bist die ganze Zeit auf dem Bock herumgekurvt, weißt überall Bescheid. Ich habe dich noch an der Grenze gefragt, ob du die Strecke kennst, da hast du ja gesagt. Und ich Idiot lege mich pennen! Und wir fahren jetzt wieder zurück, stecken aber erst einmal in diesem verdammten Stau! Mensch, ich könnte dich erschlagen!“

„Das ist ja alles so verwirrend, das soll einer begreifen, diese schwachsinnigen Schilder alle! Und überhaupt, über München ist es ja kürzer.“

„Jetzt wird der Hund in der Pfanne verrückt“, meinte Klaus. „Mensch, wenn ich das Rolli erzähle, der flippt glatt aus. Über München kürzer! Kannst du das Wort Landkarte überhaupt buchstabieren? Da oben steckt eine, sieh sie dir mal an, du Spinner! Über München kürzer! Vielleicht, wenn du nach Wien willst oder nach Innsbruck oder nach Italien. Wir wollen aber nicht nach Italien, verdammt noch mal. Wir wollen nach Spanien, und da geht es nun mal über Mühlhausen, das ist die Autobahn Karlsruhe - Basel. Und wenn wir zu der hin wollen, verdammt noch mal, müssen wir über Nürnberg und Heilbronn fahren!“

Paul kratzte sich am Kopf, zog die Landkarte heraus, als wollte er Klaus nachweisen, dass der unrecht hatte. Aber dann sah er wohl selbst, wie es mit seiner kürzeren Strecke über München aussah.

„An Greding bist du vorbei, wie lange ist das her?“, wollte Klaus wissen.

„Noch nicht lange“, behauptete Paul.

„Dann ist Altmühltal die nächste“, überlegte Klaus laut. „Dann müssen wir in Altmühltal runter und auf die andere Seite und wieder zurück. O Heimatland!“

„Dann wäre es ja besser“, meinte Paul, „wir fahren durch und nehmen die Stuttgarter Bahn von München aus.“

„Ach, die kennst du wohl?“ Klaus hätte diesen Paul zusammenschlagen können. So ein Schwachkopf!, dachte er. Fährt Richtung München. Und ich Penner lege mich hin und schlafe, bilde mir ein, dass dieser verdammte Hirsch die Strecke kennt. Autobahn, jedes Kind weiß da Bescheid! Und der fährt mit unserem Zug Richtung München. Greding, das ist schon der halbe Weg zwischen Nürnberg und Ingolstadt. Nun fahren wir noch bis Altmühltal, dann wieder zurück. Ist aber immer noch besser, als über München zu fahren. Und jetzt stecken wir im Stau. Nichts geht mehr. O Heimatland, o Heimatland!

Nach etwa zehn Minuten bewegte sich etwas, nicht weit, dann stand wieder alles. Dann ruckte es wieder ein Stück.

„So, Sportsfreund, jetzt will ich dir was sagen“, erklärte Klaus. „Wenn der ganze Mist wieder in Bewegung kommt, fährst du die nächste Ausfahrt herunter, drüben auf der anderen Seite wieder drauf und zurück.“

„Mach dir nicht gleich in die Hosen! Du brauchst das doch nicht zu bezahlen, das bisschen Sprit.“

„Das bisschen Sprit, du Heini! Das ist doch nicht bloß der Sprit! Die Zeit, es ist doch unsere Zeit!“

„Du kriegst dein Geld doch auch, wenn du lange unterwegs bist.“

„Es ist eine Terminfracht, begreifst du das nicht?“

„Allmählich“, meinte Paul, „geht mir das Ganze auf den Keks hier. Du führst dich auf wie der große Zampano. Wer bist du denn? Du bist genauso ein Fahrer wie ich, und jeder kann mal einen Fehler machen. Aber du tust, als wenn ihr dazugehört. Heißt du vielleicht auch Schalupke? Oder hast du was mit der Chefin?“

„Rede ruhig weiter“, meinte Klaus ganz ruhig. „Rede weiter, und du wirst gleich eine in die Fresse bekommen. Das ist genau die Sprache, die ich am meisten liebe, solche Sprüche.“

Schließlich bewegte sich der Zug vor ihnen wieder, und diesmal blieben sie am Rollen, wenn auch sehr langsam. Erst Schritttempo, dann etwas schneller, und schließlich löste sich der Stau auf. Im Vorbeifahren sahen sie auch die Ursache. Ein Lieferwagen war einem LKW hinten aufgefahren.

„Und dafür das Theater“, murmelte Klaus. „Auf drei Spuren alles zu, weil einer auffährt.“

Altmühltal tauchte auf.

„Nichts wie runter hier und auf die andere Seite!“, sagte Klaus.

Als sie wieder auf der anderen Seite auf die Autobahn kamen, sagte Klaus: „Jetzt fährst du noch bis Greding, da ist eine Erfrischungsrast, da hältst du. Aber fahr da bloß langsam runter und wirf mir nicht noch den Zug um. Jetzt kommt es auf die paar Minuten auch nicht mehr an. Was ich brauche, ist ein Kaffee, und anschließend fahre ich.“

Paul meinte kleinlaut: „Es tut mir leid, verdammt noch mal, es tut mir wirklich leid, aber ... Es ist eben passiert. Du brauchst doch nicht so ein Theater zu machen. Ich bin eben auch müde.“

„Du kannst nachher pennen bis zum Gehtnichtmehr“, meinte Klaus. „Ich will bloß noch den Kaffee haben.“

In Greding hielten sie an der Erfrischungsrast. Sie tranken ihren Kaffee, und am liebsten wäre Klaus rausgelaufen und hätte den Zug angeheizt und wäre davongefahren - ohne Paul. Aber das kann man natürlich nicht machen, sagte er sich. Einem so einen Armleuchter auf den Bock zu setzen, ist schon ein starkes Stück. Vielleicht sollte ich in Berlin anrufen. Aber die pennen ja längst.

Nach der Rast fuhr Klaus. Dass er dieselbe Strecke wieder zurückfahren musste, sie also ein ganzes Stück völlig umsonst gefahren waren, versetzte ihn immer wieder aufs Neue in Wut. Auch als er längst in Nürnberg auf die richtige Autobahn gefahren war und sich nun Richtung Heilbronn bewegte, wurde er seinen Zorn auf Paul und dessen Unfähigkeit nicht los. Paul hatte sich hinten in die Koje gelegt und schlief. Er schnarchte. Er schnarchte sogar laut.

Ohne Rücksicht auf Paul drehte Klaus das Radio an. Und er ließ es so spielen, dass auch Paul etwas davon hatte. Aber das störte den nicht. Der schnarchte mit der Musik im Duett.

Der richtige Penner. Wirklich ein richtiger Penner, dachte Klaus. Aber so allmählich verrauschte die Wut. Er schien Paul regelrecht vergessen zu haben. Der Magirus schnurrte, die Reifen rauschten, alles lief nach Plan. Allmählich konnte er etwas von der Verzögerung aufholen, und es rollte auch gut. Kein Stau, nichts. Er drehte auf.

Hinter ihm schnarchte Paul noch immer. Er schien sämtliche Wälder zwischen der Lüneburger Heide und dem Bayrischen Wald abholzen zu wollen. Klaus hatte sich daran gewöhnt.

Dann, hinter Heilbronn, wurde der Verkehr etwas dichter, aber noch immer ging es gut. Schließlich stieß er auf die A5 und rauschte Richtung Basel ab. Hier war ganz wenig los. Klaus hätte jubeln können vor Freude. Manchmal war so wenig Betrieb, dass er Fernlicht aufmachen konnte und einige Male fast zehn Minuten lang hintereinander. Von Süden kam so gut wie gar nichts rauf, und was von Nord nach Süd rollte, war auch nicht allzu viel.

Er hoffte, dass es bei den Franzosen schnell gehen würde. Verplombt war ja alles. Die Papiere waren fertig, also kein Aufenthalt.

Mitternacht war längst vorüber. Vielleicht, sagte sich Klaus, wird es schon hell, wenn wir durch die Vogesen ziehen. Bei Besancon werden wir rasten, eine gute Tasse Kaffee!

Aber jetzt erst einmal die Abzweigung für die Lastwagen zur französischen Grenze.

Runterschalten, Blinker an, und jetzt der Zoll. Hoffentlich dauert’s nicht ewig. Und es ging schneller noch, als Klaus zu hoffen wagte. Eine Zöllnerin fertigte sie ab, und Klaus setzte, als er sie anblickte, sein verführerischstes Lächeln auf.

Aber dann, ein Stück hinter der Grenze, kam der Hammer. Polizei, dann die Kelle, rote Lampen, anhalten.

Wo tut’s denn nun weh?, dachte Klaus und beugte sich aus dem Fenster.

Der Polizist schaute hinauf.

„Le Disque.“

„Was?“, fragte Klaus, der schon wusste, was der Polizist meinte.

„Scheibe“, sagte der Polizist und machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger.

Klaus klappte den Fahrtenschreiber auf, nahm die Scheibe heraus.

Was wollen die mir denn?, dachte er. Ich bin doch hier auf ihrem Gebiet nur herumgekrochen.

Der Polizist winkte einen zweiten heran, offenbar ein Elsässer. Der sagte, nachdem der Polizist mit ihm gesprochen hatte, zu Klaus: „Ihr habt nur noch eine halbe Stunde, dann müssen Sie Pause machen.“

„Ich habe eine Ablösung“, sagte Klaus. „Der schläft noch.“

„Wir machen bei Besancon Kontrollen. Ich will Ihnen das nur sagen. Wenn Sie dann zu lange am Steuer waren, werden Sie bestraft.“

„Danke für den Hinweis“, erwiderte Klaus. „Ich werde meinen Kollegen rechtzeitig wecken.“

Dann ging es weiter. Klaus fuhr noch ein Stückweit, noch nicht mal die halbe Stunde lang, dann fuhr er rechts am Ende einer Steigung auf einen Parkplatz, hielt und weckte Paul, der aufschreckte, als hätte er gerade zwei Minuten die Augen geschlossen gehabt.

„Was ist? Was ist?“, rief er aufgeregt und schlaftrunken gleichzeitig.

„Ablösung. Aber bevor du die Kiste in Gang setzt, möchte ich dir drei Takte sagen, Sportsfreund. Nicht, dass wir plötzlich in Paris landen.“

„Keine Sorge, keine Sorge, Mensch! Ich passe auf, das passiert mir nicht noch mal.“

„Vor Lyon wirst du mich wecken, hast du verstanden? Du wirst mich vor Lyon wecken, und zwar noch bevor du in den Tunnel kommst. Wenn die Strecke abwärts geht, bist du da schon mal gefahren?“

„Hunderte Mal.“

„Sind das auch nicht Hoffmanns Erzählungen? Irgendein Märchen aus Tausendundeiner Nacht?“

Paul schüttelte voller Überzeugung den Kopf.

„Aber nein doch! Das mit Nürnberg war Scheiße, das gebe ich zu, das ist mir halt passiert. Ich habe mir eingebildet, über München geht es auch. Weiß selbst nicht warum. Ich hatte wohl die Karte nicht richtig im Kopf.“

Klaus sagte zunächst nichts, und er dachte: Hoffentlich hat er überhaupt was im Kopf!

Er ließ Paul weiterfahren. Es war Morgen geworden. Ein rötlicher Schein breitete sich über dem Himmel aus, aber im Westen war er noch pflaumenblau. Aber es versprach, nach dem vielen Regen mal ein schöner Tag zu werden. Kaum Wolken zu sehen.

Nach der kurzen Rast ging es bergab, dann wieder hinauf und wieder herunter. Klaus blieb noch solange wach, bis er sicher war, dass Paul die Gefällestrecken nicht zu schnell fuhr. Und er beobachtete auch noch, wie Paul auf einer Steigung auf die Kriechspur ging. Es standen zwar überall Schilder auf französisch: Soiez droite, dass man sich rechts halten sollte, aber ob Paul das lesen konnte, war eine andere Frage. Klaus dachte noch, er müsste ihn fragen, ob er französisch kann. Aber wahrscheinlich, sagte er sich, kann er es nicht. Und dann schlief er ein.

Er wurde etwa zwei Stunden später wach. Und das Erste, was er feststellte: Der Motor lief nicht. Und dann hörte er das Ticken, aber zugleich noch ein anderes Geräusch. Das Ticken war die Warnblinkanlage, und das schreckte ihn vollends auf.

Dann sah er Paul. Der war mit dem Oberkörper aufs Lenkrad gesunken und schnarchte. Natürlich, das Schnarchen, das war das andere Geräusch gewesen. Und die Warnblinkanlage.

Erschrocken schaute Klaus nach vorn. Sie standen auf der Standspur. Es war heller Tag, die Sonne schien.

Mein Gott, was ist denn nun passiert!, dachte Klaus fieberhaft. Hat er was am Motor?

„Hei, Penner“, rief Klaus, „wieso steht der Zug?“

Paul brauchte eine ganze Weile, bis er wach wurde. Dann gähnte er und riss dabei den Mund weit auf, blickte schlaftrunken auf Klaus und fragte mürrisch: „Was schreist du herum? Was ist denn nun wieder los?“

„Wieso steht der Zug? Warum fährst du nicht?“

„Ich war müde, verdammt noch mal! Soll ich uns die Böschung runterjagen? Ich musste anhalten.“

„Auf der Standspur? Bist du verrückt geworden? Konntest du nicht wenigstens bis zu einem Parkplatz fahren oder mich wecken?“

„Ich wollte dich nicht wecken. Ich dachte, dann spielt er wieder verrückt, also lass ich ihn pennen. Wenn ich müde bin, muss ich schlafen. Ich kann nicht fahren, wenn ich müde bin.“

„Du hast doch die ganze Zeit gepennt. Du hast gesägt, als wolltest du die Wälder von Kanada abholzen, verdammt noch mal! Und jetzt bist du schon wieder müde?“

„Kann ich was dafür? Es ist eben so.“

„Super! Weißt du was, wie wäre es, wenn ich dir von dem Geld, das ich habe, so viel gebe, dass du nach Hause fahren kannst? Mit dem Zug natürlich.“

Paul grinste. „Das meinst du doch nicht wirklich.“

„Genau das meine ich. Wir haben eine Terminfracht. Erst dieser Wahnsinnsumweg, dann legst du Schwachkopf dich hin und pennst!“

„Ich habe nicht gelegen, verdammt noch mal, und ich bin müde gewesen. Ich frage dich noch mal, ob es dir lieber ist, die Böschung heruntergejagt zu werden.“

„Ist das vielleicht ein Standpunkt“, entfuhr es Klaus. „Mensch, was bist du für ein Heini!“

„Nun reiß bloß das Maul nicht so weit auf. Du bist hier nicht in Deutschland, wir sind in Frankreich.“

„Und, was macht den Unterschied?“

„Ganz einfach“, sagte Paul. „In Deutschland, da kann ich mir nichts zuschulden kommen lassen, verstehst du? Aber hier, hier könnte ich dir auch ein paar in die Fresse hauen, das, was du mir angedroht hast. Denk bloß nicht, dass ich vor dir Angst habe!“

„Und das auf meinem Bock“, meinte Klaus kopfschüttelnd. „Weißt du, noch habe ich das Sagen hier. Wir fahren jetzt bis Besancon oder wo immer wir sind. Ich nehme an, du bist nicht mehr weit gefahren. Wie lange stehen wir hier schon?“

„Weiß ich doch nicht.“

„Und wo sind wir? Wir sind doch noch mitten in den Vogesen.“

„Kann ich dafür? Ich hab’ sie nicht dahin gepflanzt“, meinte Paul aufsässig.

„Gut. Ganz einfach, nächste Abfahrt ist unsere. Und irgendwo ist eine Stadt, da steigst du aus, Bruder! Und dann kannst du, ganz gleich wie, nach Hause fahren, zurück nach Berlin. Ich will dich jedenfalls nicht mehr auf dem Bock haben.“

Paul grinste ihn an.

„Meinst du wirklich, dass ich da mitspiele?“

„Ich bin sogar fest überzeugt davon, dass du mitspielst“, versicherte ihm Klaus.

„Vertu dich mal bloß nicht!“, erwiderte Paul. Dann schob er sich den Ärmel am rechten Unterarm hoch. Da war eine Tätowierung. „Weißt du, was das ist?“, fragte er. Klaus schaute noch nicht einmal hin. Und Paul fuhr fort: „Ich war in der Legion. Weißt du, was das ist? Fremdenlegion.“

„Na wunderbar, dann sprichst du ja wenigstens französisch“, meinte Klaus. „Dann weißt du ja auch, wie du gut heim findest.“

„Ich bin noch nicht zu Ende mit meiner Geschichte“, meinte Paul. „Bei der Legion lernt man eine Menge. Sie stellt große Anforderungen an einen. Ich war fünf Jahre da. Dann bin ich zurückgekommen. Da ist noch eine alte Geschichte gewesen. Ich habe das mit dem Gericht in Ordnung gebracht, habe aber Bewährung. Deswegen muss ich in Deutschland kleine Brötchen backen, verstehst du? Aber jetzt bin ich in Frankreich. Und für die Franzosen ist das schon was, wenn man fünf Jahre in der Legion abgerissen hat, verstehst du? Überleg dir das! Freiwillig kriegst du mich jedenfalls nicht von diesem Bock. Ich muss die Arbeit behalten. Ich gebe zu, ich bin ein bisschen aus der Übung. Bei der Legion habe ich Dreiachser GMC gefahren, auch schon mal einen Berliet, Militärfahrzeuge. Ich wollte dir das nicht auf die Nase binden. Aber wo es jetzt um so was geht, kannst du das ruhig wissen. Die haben mich vor fünfeinhalb Jahren drankriegen wollen, weil ich angeblich ein paar Pakete mit Zigarren geklaut hätte. Das waren Davidoff-Zigarren, das Stück für sechs Mark. Die ganze Geschichte hatte einen Wert von etwas über zehntausend Mark. Das wollten sie mir anhängen. Ich hatte mit den Zigarren nichts zu tun. Es gab aber ein paar Stinker, die behaupteten, sie hätten mich dabei gesehen, wie ich das Zeug vom Hänger geholt hätte. Damals war ich Beifahrer. Der Erste Fahrer war ein Schweinepriester. Er konnte mich auch nicht leiden. Jedenfalls wollten die mich verknacken. Da habe ich die Mücke gemacht, bin nach Frankreich, bin zur Legion. Aber schließlich hat man im Ausland irgendwann einmal die Schnauze voll. Und ich dachte, fünf Jahre sind eine lange Zeit, da könnte schon Gras drüber gewachsen sein. War aber nicht. Da habe ich mich gestellt. Vor sechs Wochen habe ich das Urteil bekommen.“

„Und ich habe gedacht, du warst bei Schenker, das haben sie erzählt.“

„War ich auch, aber nur vierzehn Tage, nicht zum Fahren, zum Auf- und Abladen. Luftfracht, verstehst du? Berlin Tegel, manchmal auch Tempelhof, auf alle Fälle Knochenschinderei. Und da habe ich mich beworben, bei Schalupke, na ja, und den Job will ich behalten. Du machst mir das nicht kaputt. Du hast gar keine Ahnung, was bei mir in der letzten Zeit los war. Die haben mir die Prozesskosten angehängt. Wenn ich die nicht bezahle, muss ich in den Knast. Ich will nicht in den Knast. Wenn sie mich schon verdonnern für etwas, was ich gar nicht getan habe, dann will ich wenigstens in Freiheit bleiben. Um das für die Prozesskosten bezahlen zu können, habe ich in zwei Schichten gearbeitet. Auf dem Flughafen für Schenker und nachts Musik gemacht in einer Disco. Ich bin fix und fertig, verstehst du? Und deshalb wurde ich müde. Das wird sich legen, das ist jetzt am Anfang noch. Ich bin das einfach noch nicht wieder so gewöhnt, am Steuer zu sitzen.“

„In anderen Worten“, meinte Klaus, „du hast überhaupt keine Erfahrung auf dem Bock, jedenfalls nicht im Fernverkehr.“

„Doch, habe ich schon. Damals, als sie mich reinlegen wollten und ja auch reingelegt haben, mit diesen Scheißzigarren, da bin ich Fernverkehr gefahren. Aber weißt du, hier hat sich viel geändert in fünf Jahren. Es ist ja sogar noch länger als fünf Jahre. Das muss erst mal einer begreifen. Dir ist das alles Gewohnheit geworden, für mich ist vieles neu.“

„Warum, zum Teufel, hast du mir nicht die Wahrheit gesagt, du verdammter Arsch! Hättest du gesagt, das und das ist mit mir ...“

Paul lachte wild auf.

„Was wäre dann gewesen? Du hättest sofort mit deiner Chefin telefoniert und gesagt, diesen Knastologen willst du nicht.“

Klaus dachte: Na ja, verständlich, wenn er das annimmt. Der weiß ja nicht, wie Rolli und ich über so was denken. Und dann sagte er: „Schön und gut, überredet. Aber du hättest die Wahrheit sagen können. Es wäre besser gewesen und hätte uns manchen Ärger erspart. Und jetzt, wo ich weiß, was mit dir los ist, fährst du weiter. Du fährst, und ich setze mich daneben. Und wenn du merkst, dass du irgendwas nicht richtig kannst, dann fahr rechts ran und halte. Dann wechseln wir. Und wenn du was nicht weißt, dann frage mich das. Aber bau keinen Scheiß nach dem andern! Wir haben eine Terminfracht. Und wenn du wieder mal müde bist, wofür ich verdammt noch mal Verständnis habe, wenn ich weiß, was läuft, dann wecke mich. Wir müssen am Rollen bleiben, verstehst du das nicht?“

„Klar, verstehe ich das.“ Paul machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Tut mir ja verdammt leid, aber was soll’s?“

„Los, wenn du dich fit fühlst, dann heiz die Kiste an, und weiter! Einfach auf der Standspur zu halten, du musst verrückt sein!“

Paul ließ an, schaltete die Warnanlage ab. Und als er sich vergewissert hatte, dass die Bahn frei war, ging er auf Strecke.

Klaus dachte über das nach, was er gehört hatte. Noch immer hatte Paul den Ärmel hochgeschoben, so dass die Tätowierung auf dem rechten Unterarm zu sehen war. Es war ein behaarter Arm, aber die Tätowierung war deutlich. Es war das Wappen der Fremdenlegion.

Sie kamen dann auf die Pariser Autobahn, und es ging südwärts Richtung Lyon.

Vor Lyon löste Klaus Paul ab. Dann fuhren sie an der Rhone entlang, als sie aus dem Tunnel heraus waren. Es ging noch immer nach Süden. Sie kamen gut voran. Auch an den Mautstellen klappte es, sie hatten kaum Aufenthalt. Zehn Minuten hatte es gedauert, unmittelbar hinter Lyon an einer Großtankstelle die Tanks zu füllen. Aber dann ging es weiter.

Die drei Fässer mit Diesel, die sie auf dem Maschinenwagen hatten, wurden nicht angerührt. Die brauchten sie noch auf den Pisten Marokkos. Es war die eiserne Reserve. Sechshundert Liter Heizöl. Sie konnten es erst tanken, wenn sie abgeladen hatten und die Plomben entfernt waren. Und sie mussten es verbraucht haben, bevor sie zurück nach Deutschland kamen. Aber darin hatte Klaus seine Erfahrungen. Die Fässer würden leer sein, wenn sie Deutschland wieder erreichten.

Klaus fuhr bis Nimes. Paul hatte bis dahin geschlafen. Klaus weckte ihn. Sie fuhren noch bis zu einer Raststätte, aßen ein paar Happen, tranken Kaffee, dann übernahm Paul.

Wenn es so weitergeht, dachte Klaus noch, als sie der Sonne entgegenrollten, haben wir den Zeitverlust bald wieder aufgeholt. Es schnurrt wie der Teufel. Ein Glück ...

Pistengeier: Berlin Turbo #9

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