Читать книгу Eine Liebe - ein ganzes Leben lang: Roman um ein Nachkriegs-Schicksal - Glenn Stirling - Страница 7

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Das Licht der Deckenlampe flackerte. Mit rhythmischem Gleichmaß tickte der große Messingwecker auf. Aus dem kleinen Rundfunkgerät tönte Marschmusik.

Renate erhob sich und drehte das Radio ab. Müde rieb sie sich die Augen, trank den Rest des Kaffees, der noch in der Tasse war, und trat vor den Spiegel. Ein junges Gesicht sah sie an. Abgespanntheit, Erschöpfung zeichneten dieses Gesicht. Unter den blauen Augen lagen tiefe Schatten. Die Wangen waren blass. Das blonde Haar entbehrte den Friseur, und das machte selbst die kleine weiße Haube nicht wett.

Sie band sich die weiße Schürze um, strich die Falten glatt und warf einen Blick auf die Uhr. Zehn Minuten vor Mitternacht. Gleich mussten die Mädels von der Station kommen, und für Renate begann der Dienst. Die Nacht war zum Tag geworden.

Nachdenklich ging Renate zu ihrem Bett, legte die Decke zurecht und lächelte, als sie auf Lisbeth Zenkers Bett den kleinen Teddybären entdeckte. Lisbeth liebte es, dieses kleine braune Plüschknäuel. Es war ihr ein Trost und ein Halt in diesem Wirrwarr aufregender Tage.

Ich muss gehen, dachte Renate und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Gang brannte nur eine Notbeleuchtung. Schwaches, bläuliches Licht, bei dem man kaum etwas erkennen konnte. Es war kalt. Irgendwo schien eine Tür offen zu stehen. Es zog. Fröstelnd verschränkte Renate die Arme und ging schneller.

Der beißende Geruch einer Desinfektionsflüssigkeit drang ihr in die Nase. Heller Lichtschein fiel aus einer geöffneten Tür. Als Renate einen Blick in den Raum warf, sah sie zwei Männer in weißen Kitteln, die mit Bürsten die Wände und den Fußboden mit der übelriechenden Brühe bestrichen.

Angewidert ging Renate weiter. Vor dem Lift blieb sie stehen. Zweimal kam der Fahrstuhl vorbei, doch jedes Mal war er mit Verletzten und Krankenträgern besetzt und hielt nicht an.

Sie beschloss, die Treppe hinunterzugehen. Laut hallten ihre Tritte von den hohen Wänden des Gewölbes wider. Warmer Dunst von der Küche drang durch den Treppenschacht.

Schon wieder Erbsen, dachte Renate und schüttelte sich. Sie war froh, als sie im ersten Stockwerk anlangte und auf den langen Gang trat. Hier herrschte reger Betrieb. Ein neuer Krankentransport schien angekommen zu sein. Sanitäter schoben Krankentragen zum Operationssaal und den Untersuchungsräumen. Stöhnende Männer, oft bis zur Unkenntlichkeit verbunden, lagen auf diesen Tragen. Junge Männer.

Ein bärtiger Mann mit Arztkittel kam Renate entgegen. Er erkannte sie und lächelte. „Immer pünktlich, so etwas schätze ich. Die beiden Zimmer sind bis zum Rand voll. Sie werden genug Arbeit haben.“

„Ich bin es inzwischen gewohnt“, erwiderte sie leise.

Er nickte und maß sie mit abschätzendem Blick. „Schade um Sie junges Füllen. Aber so ist die Zeit. Übrigens sind auf 281 nur Amerikaner. Einer davon ist’n interessanter Fall. Armer Teufel, vielleicht kann ich ihm auch nicht mehr helfen.“

„Sie haben so vielen helfen können, Herr Professor“, sagte sie bewundernd.

Er legte seine Hand auf ihre Schulter. „Pst! Der 'Professor' ist hier verpönt, Füllen. Oberstabsarzt nennt man mich jetzt. Vielleicht gewöhnen Sie sich noch daran.“ Er lachte und ging weiter.

Sie seufzte. Nachdenklich sah sie ihm nach, wie er schwergewichtig den Gang entlangstapfte. Sie wusste, dass er ein genialer Mann in seinem Beruf war. Und wenn sie noch nicht im Sud ihrer Umgebung untergegangen war, dann dankte sie es ihm, der schützend seine Hände über sie hielt wie ein treusorgender Vater.

Viele Türen gingen von diesem langen Gang ab. Eine davon war die Tür mit der Nummer 281. Renate öffnete sie. Nur eine schwache Birne erleuchtete den großen Raum mit den vierzehn Betten. Vierzehn Betten, vierzehn Mal Schmerz und Not, vierzehn Mal Hoffnung, Sehnsucht, Bangen.

Vor ihrem Dienstantritt waren nur acht Betten belegt gewesen. Jetzt hatte man alle mit ihrer traurigen Last bepackt.

Gesichter wandten sich ihr zu. Augenpaare, die sie zweifelnd, hoffend oder abweisend anblickten. Gesichter, in denen sich Schmerz und Leid abzeichneten.

Einige lagen apathisch in ihren weißen Laken. Im Schein der schwachen Lampe erschienen Renate diese Gesichter fahl wie die von Toten.

Hinter Renate knarrte die Tür. Sie drehte sich um und erblickte einen der Krankenträger der Station. „Willy?“

Er war klein, hatte eine Stupsnase und ein sommersprossiges Gesicht. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er konnte ebenso gut fünfunddreißig wie fünfundvierzig Jahre alt sein. Rotes Haar schimmerte unterhalb seiner Mütze.

„Sechs Neue, Schwester Renate. Alles Amis. Von dem am Fenster meint der Oberstabsarzt, der würde vielleicht das Kriegsende nicht mehr erleben. Pah, vielleicht erlebt es keiner von uns. Radio gehört, Schwester?“

„Ein bisschen.“

„Wie ist die Luftlage?“

„Wie immer“, erwiderte sie und blickte zum Fenster, wo der Mann lag, den der Professor einen „interessanten Fall“ genannt hatte.

Willy zog eine Liste aus der Tasche und ging daran, mit Kreide Namen und Dienstränge sowie Nummern auf die schwarzen Tafeln über den Betten zu schreiben.

Renate hatte indessen Zeit, ihre Schützlinge einzeln nachzusehen. Da lagen links zwei Kanadier, neben ihnen ein beinamputierter Engländer und drei Neuseeländer. Alle Übrigen stammten aus den Vereinigten Staaten. Blonde, braun und dunkelhaarige junge Männer. Renate gab nichts darauf, woher sie stammten. Es interessierte sie wenig, dass sie mit ihnen nur englisch sprechen konnte. Für sie waren es Menschen, kranke, hilfebedürftige Menschen, ebenso wie jene in den anderen Zimmern des Hauses.

Die Kanadier waren nett zu ihr. Ihnen ging es schon etwas besser, und Renate hatte den Eindruck, dass es ihnen manchmal schon zu gut ging.

Der Engländer hatte seine Krise noch nicht überwunden und nahm kaum noch am Leben und Treiben im Zimmer Anteil. Ebenso erging es dem langen Schwarzen, der auf der linken Seite des Zimmers lag.

Renate hatte nur mit wenigen echten Kontakt. Oft blieben diese Verletzten bloß ein paar Tage hier, manchmal zwei Wochen, dann kamen sie ins Krankengefangenenlazarett. Nur die schweren Fälle blieben länger.

Und ein solcher schwerer Fall schien der brünette Amerikaner zu sein, der „interessante Fall“.

Sie blieb vor seinem Bett stehen. Er lag reglos in den Kissen. Sein wächsernes Gesicht war eingefallen, die Backenknochen standen weit hervor. Sie bemerkte, wie seine Kiefermuskeln vibrierten.

Er blickte sie nicht an. Starr sah er zur Decke. Wie sie jeden gefragt hatte, fragte sie auch ihn in seiner Sprache: „Wünschen Sie etwas zu trinken?“

„Ja“, erwiderte er rau, ohne sie anzusehen.

Sie warf einen Blick auf die Krankentafel, die vor seinem Bett hing. Ja, er durfte trinken. Also keinen Bauchschuss. Richtig, da stand es: Rückgratverletzung fünfter Wirbel.

Willy malte gerade den Namen auf die Tafel. Frederic Doyle, Captain, Air Force 350889 SR.

„Übrigens“, meinte Willy, „ich muss wahrscheinlich weg hier. Der Spieß erzählte was von Verlegung. Vom Stalag kommen Ami-Sanis hierher. Viel Vergnügen. Dir kann ja nichts mehr passieren, Schwester, wenn wir den Krieg verlieren.“

Renate achtete nicht auf Willy. Sie blickte nur in Frederic Doyles Gesicht. Er schien verstanden zu haben, was Willy gesagt hatte. Sie hätte nicht sagen können, wieso sie das glaubte, aber es kam ihr so vor.

Willy war mit dem Beschriften fertig und lehnte sich an den Nachttisch. „Wenn ich dir ’nen Rat geben kann, Schwester, dann halte dich gut mit denen hier. Die gewinnen diesen verdammten Krieg. Na, wer weiß, ob wir das noch erleben. Ich muss zum OP, sind noch drei von unseren dort.“ Er schlurfte zu den Kanadiern hinüber. „Eh, nix Red-Cross-Paket?“

„Lass ihnen doch ihre paar Zigaretten!“, sagte Renate scharf.

„Drei Sondermischung für eine Navycut“, feilschte Willy mit dem Kanadier.

Renate gab dem Captain zu trinken. Er konnte sich dabei nicht aufrichten, und im Liegen war er sehr ungeschickt dabei. Ein Teil des Tees war danebengegangen.

Dann ging das Licht aus. Sie musste zur Stationsküche, eine Kerze holen.

Im zweiten Zimmer, das sie zu betreuen hatte, musste einem Verletzten eine Spritze gesetzt werden. Und so ging es die ganze Nacht durch. Kurz vor neun gingen die Ärzte Visite. Auch jetzt hatte Renate kaum Zeit, und als kurz vor zehn die Ablösung kam, war sie hundemüde. Erschöpft wankte sie zu ihrem Zimmer im Obergeschoss.

Lisbeth Zenker zog sich gerade an. Sie hatte heute ihren freien Tag. Wie auch Renate, war sie Medizinstudentin gewesen, bevor man sie als Schwester dienstverpflichtete. Lisbeth war fünfundzwanzig Jahre alt, damit etwas älter als Renate, und auch sonst wusste sie entschieden mehr vom Leben ... und von den Männern.

„Hallo, da kommt mein Füllen! Der Professor sagte, bei dir wäre Hochbetrieb. Was sind das für Jungen?“, rief Lisbeth und fuhr sich mit den Fingern durch ihre dunkle Haarfülle.

„Amerikaner.“

Lisbeth machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das interessiert mich überhaupt nicht. Amerikaner! Ich will wissen, ob sie nett sind oder doof oder was sonst.“

Renate lächelte. „Wie sie eben sind. Ich habe wenig Zeit gehabt, ihr Seelenleben zu erforschen.“

„Wozu sprichst du so gut Englisch? Sollst doch einen mit Rückgratverletzung haben. Die OP-Schwester meinte, er wäre hoffnungslos verloren.“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Renate. Sie ließ sich auf dem Bett nieder und wischte sich über die Stirn. Es ist furchtbar, dachte sie. Ich bin schon so abgebrüht, kein Schicksal kann mich noch bewegen, nichts interessiert mich wirklich.

„Der Krieg ist bald aus“, meinte Lisbeth. Sie gähnte und streckte die Arme zur Decke. „Möchte nur wissen, was dann wird.“

„Was soll werden? Die Verwundeten werden nicht so schnell gesund, wenn der Krieg aus ist“, sagte Renate. „Ich weiß nur das eine, Lisbeth. An dem Tag, da ich nicht mehr hier sein muss, wird mein Glückstag sein.“

„Du komische Heilige. Man muss das Leben genießen, auch in schlechten Zeiten oder gerade dann. Schaff dir einen Freund an, dann wirst du nicht so trübsinnig herumschleichen! Der Unterarzt von deiner Station, wie heißt er gleich?“

„Doktor von Eberingen?“

Lisbeth lachte. „Richtig, das wär’n Mann für dich. Hübsch ist er nicht gerade, aber sonst hat er doch alles, was’n Mann haben muss. Und spendabel ist er auch.“

„Ich habe andere Interessen, als Männer zu begutachten“, erwiderte Renate und legte sich aufs Bett. „Zum Heiraten ist noch Zeit.“

„Heiraten? Man muss doch nicht gleich die Kuh kaufen, wenn man einen Liter Milch haben will. Du, Renate, hör zu! Ich war vorige Woche mit Klein aus.“ Sie setzte sich auf Renates Bettrand und erklärte geheimnisvoll: „Weißt du, wo wir waren? Errätst du mit deiner mangelhaften Fantasie niemals. Im 'Krokodil'! Füllen, das war eine Wolke, sag’ ich dir. Klein kannte den Inhaber, und wir bekamen ein paar Flaschen Wein hintenherum. Zum Glück ging mal wieder das Licht aus, und wir saßen bei Kerzenlicht. Romantisch, sag’ ich dir. Er hatte eine Art zu küssen, Füllen, na ja, davon verstehst du nichts. Jedenfalls hat er mir versprochen, mit mir heute einen Ausflug zu machen. In seinem Dienstwagen.“

„Hoffentlich erwischt euch der schwarze Mann.“

„Unsinn, mein Peterchen hat alle Papiere. Der riskiert immer was. Das ist ein Kerl, sag’ ich dir. Hach, so’n Mann lässt einen diesen ganzen Karbolstall hier vergessen. Weißt du, früher hatte ich immer richtige Scheu vor den Männern, aber die sind ganz harmlos, das habe ich inzwischen festgestellt. Man muss sie nur richtig anfassen und ihnen nicht zu viel Mut machen ...“

Was Lisbeth noch erzählte, hörte Renate nicht mehr. Sie war eingeschlafen.

Sie träumte. Und in diesen Träumen sah sie Lisbeth in Dr. Kleins Armen, dann wieder fand sie sich in Dr. von Eberingens Gesellschaft. Dazwischen geisterte immer wieder das Gesicht des schwer verwundeten Amerikaners. Der griff nach ihr und schüttelte sie.

Erschrocken wachte sie auf. Über sie beugte sich die Aufsichtsschwester, eine ältere Frau mit grauen Haarsträhnen.

„Endlich wachen Sie auf! Fliegeralarm! Mein Gott, Sie liegen ja wie tot hier! Schnell, wir müssen in den Keller!“

Renate lebte wie auf einer Insel. Um sie herum brandete das Leben, der Krieg, das Leid, der Tod. Sie wandelte wie im Traum. Sie lächelte mechanisch, sprach wie eingelernt tröstende Worte - auf Deutsch, auf Englisch. Sie hörte sich an, was ihr die Verwundeten erzählten, und immer fand sie ein nettes Wort. Aber sie empfand nicht viel dabei.

Der Amerikaner Doyle sprach kaum. Sie ertappte sich dabei, dass sie länger an seinem Bett stand, ihn umsorgte, wie sie es in diesem Maße sonst nicht tat. Aber er zeigte mit keiner Regung, ob ihm das behagte oder nicht.

Einer der Kanadier sprach ein wenig deutsch. „Schwester“, sagte er, „der Captain sturer Hund, verstehn. Hier oben krank, verstehn!“ Er tippte an die Stirn. „Er hängen zwei Tage in elektrischen Drähten, versteh’n?“

Sie begriff nicht, was der Kanadier meinte. „Seid lieber nett zu ihm, er ist sehr krank!“, ermahnte sie den Kanadier auf Deutsch.

„Der bald kaputt“, erwiderte der Kanadier. „Ich gut verstehn, was Doktor Rochlitz sagen.“

„Das hast du falsch verstanden“, erwiderte sie und musterte die Krankenkarte Doyles. Als sie aufsah, begegnete ihr Blick dem seinen.

„Schwester“, sagte er leise, und er sagte es auf Deutsch. Sie bemerkte das gar nicht. „Schwester, glauben Sie es auch?“

Sie trat neben sein Bett und ergriff seine Hand. „Nein, ich glaube es nicht. Professor Doktor Rochlitz ist ein Pessimist, aber ein sehr guter Chirurg. Er wird Sie durchbringen.“

„Wann wird er operieren?“, fragte er, und seine Stimme klang rau und belegt. Sein Akzent hob das besonders hervor. Jetzt erst bemerkte sie, dass er deutsch gesprochen hatte.

„Ich weiß es nicht, aber er wird wissen, wann es richtig ist. Sie sind noch sehr schwach.“

Er lächelte. Das ließ sein Gesicht jünger wirken. Auf der Karte hatte sie gelesen, dass er achtundzwanzig Jahre alt war. Aber manchmal wirkte er wie ein Greis.

Sie wusste nicht, warum sie so reges Interesse an seinem Schicksal nahm. Viele Menschen, junge Menschen, hatten schwer verletzt in diesem oder dem benachbarten Zimmer gelegen. Manche von ihnen waren gestorben. Aber keiner hatte sie so beschäftigt wie dieser Mann, von dem der Kanadier sagte, er ginge „kaputt“. Grausames Wort.

Sie sah es den übrigen Männern im Zimmer an, wie sie von Doyle dachten. Er war für sie schon so gut wie tot. Sie hassten den Tod. Sie wollten nicht sehen, wie der Tod kam. Vielleicht fürchteten sie sich davor, erst zu enge Bande mit Doyle zu knüpfen, um dann zu erleben, wie der Tod diese Bande zerriss. Sie scheuten es, und er war einsam, wie ausgestoßen.

Sie ahnte nicht, welchen anderen Grund es noch gab. Doyle war Captain. Der einzige Offizier im Zimmer. Die Kluft wurde dadurch nicht leichter überbrückt.

Doyle war am Unterkörper gelähmt. Er konnte nicht gerade liegen, sondern musste wie in einer Hängematte ruhen. Sein Oberkörper wurde durch eine Art Korsett gehalten und von einem Seilzug mit Gewichten gestreckt. Jede Bewegung, die geringfügigste, war mit furchtbaren Schmerzen verbunden.

Tausende von Männern in diesem Haus litten Schmerzen. Und gerade bei diesem einen hier glaubte sie, den Schmerz auch am eigenen Leibe zu spüren.

Es musste auffallen, wie sie sich um Doyle bemühte. Zuerst bemerkten es die Männer im Zimmer. Sie hänselten Renate. Der deutschsprechende Kanadier erzählte es Willy. Und der sprach mit Kameraden darüber.

Bald wusste es die ganze Station. Renate musste zur Oberschwester. Ahnungslos betrat sie das Zimmer des resoluten Fräuleins. Oberschwester Frieda hatte den Frühling des Lebens lange hinter sich und war ob ihrer Launen berüchtigt. Der aufreibende Dienst, die Fliegeralarme und so manches andere verschlimmerten die Reizbarkeit dieser Frau.

„So, da kommt endlich die Sünderin“, empfing sie Renate in zornigem Ton. „Scheinen ja tolle Zustände auf Ihrer Station zu herrschen, wie? Wie ist das also mit diesem Kriegsgefangenen?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Oberschwester“, sagte Renate verständnislos.

„Von diesem Captain natürlich, diesem Ami! Sie scheinen ihm Sonderbehandlung angedeihen zu lassen. Hier gibt es keine Sonderbehandlung, erst recht nicht für Kriegsgefangene.“ Renate wurde rot. Nicht, weil sie sich schuldig fühlte, sondern aus Empörung über die Behauptung, die ihr ins Gesicht geschleudert wurde.

Die alternde Oberschwester deutete das anders. „Sie können von Glück reden, dass der Oberstabsarzt Ihr Schutzengel ist. Wenn es auf mich ankäme, würden Sie in die Infektionsabteilung gesteckt. Aber leider Gottes dürfen sich die Ärzte alles rausnehmen. Ich will Ihnen etwas sagen, Schwester Renate: Wenn ich noch mal das geringste Tönchen höre von wegen Sonderbehandlung, sollen Sie was erleben. Sie sollten sich schämen!“

„Ich weiß nicht, warum ich mich schämen soll. Doyle ist sehr schlimm dran. Und wenn ich es ihm leichter mache, dann nicht, weil er Amerikaner ist.“

„Nein, etwa nicht? Sie spekulieren wohl mit dem Kriegsende, wie?“

Es hat keinen Zweck, sagte sich Renate. Sie beschloss zu schweigen.

Ja, dachte sie, ich spekuliere mit dem Kriegsende, aber nicht so, wie du das meinst. Ich will endlich wissen, warum ich lebe, raus aus diesem Haus, will ein Mensch sein.

Sie konnte wieder gehen. Als sie draußen auf dem Gang stand, überlegte sie, ob sie nicht doch diesem Kriegsgefangenen eine „Sonderbehandlung“ zuteil werden ließ. Aber wenn es so war, warum tat sie das?

Die Antwort lag so nahe, aber sie kam nicht darauf. Sie hätte es sich auch gar nicht vorstellen können.

Auch als sie am nächsten Tag während ihrer dienstfreien Stunden vor dem OP-Saal stand, kannte sie die Antwort noch nicht. Sie dachte auch nicht daran, sich eine Antwort zu geben. Ihre Gedanken befassten sich mit der Operation an Frederic Doyle, Captain der US Air Force. Er lag jetzt da drinnen, und Professor Dr. Rochlitz musste einen Kampf mit dem Tod bestehen.

Leise trat sie ein. Niemand beachtete sie. Erst nach einer Weile blickte der lange Unterarzt von Eberingen über die Köpfe der Chirurgen und Schwestern hinweg auf Renate.

Ihre Blicke trafen sich. Sie sah, wie es in von Eberingens Augen aufblitzte. Seinen Mund konnte sie nicht erkennen. Der war vom Mundschutz verdeckt. Aber sie hatte das Gefühl, er würde lachen.

Aus der Entfernung beobachtete sie die Operation. Ihre Hände hielt sie auf dem Rücken. Die Finger krampften sich ineinander. Gespannt verfolgte sie jeden Befehl, jeden Handgriff, soweit sie den erkennen konnte. Und selbst ein Laie hätte begriffen, dass es eine Operation auf Leben und Tod war.

Plötzlich fuhr sie zusammen. Sirenengeheul. Noch nie hatte sie dieses nerzermürbende Geheul so gepeinigt wie gerade jetzt.

Werden sie weitermachen? Oder müssen sie die Operation abbrechen?

Sie sah, wie der Professor den Kopf hob, sah, wie Dr. Klein nickte und auch Dr. von Eberingen den Kopf senkte.

Sie fürchtete schon, es werde abgebrochen, aber dann ging es weiter.

Am Kopfende des OP-Tisches stand das Atmungsgerät. Der Beutel blähte sich auf, fiel zusammen, in rhythmischen Abständen. Immerzu beobachtete sie diesen Beutel. Solange er sich aufblähte, würde Doyle leben.

Ich will, dass er lebt! Ich will, dass er wieder gesund wird!, schrie es in ihr. Die Knöchel ihrer Finger wurden weiß, aber sie achtete nicht darauf. Ganz fest presste sie die Finger ineinander, als könne sie so mithelfen, den Kampf gegen den Tod zu gewinnen.

Flugzeuge brummten am Himmel. Aber es geschah nichts. Die Entwarnung kam. Und noch immer operierten die Ärzte.

Endlich war es so weit. Der Professor drehte sich um, entdeckte Renate und nickte ihr zu.

Der väterliche Blick seiner gütigen Augen besänftigte ihre Nervosität. Sie fühlte sich erleichtert.

Eine Schwester zog dem Chirurgen die Gummihandschuhe herunter. Er nahm sich den Mundschutz ab und löste die Gummischürze. Lächelnd trat er vor Renate hin und gab ihr die Hand. „Ich glaube, wir haben gewonnen. Er wird ein paar Tage in die Sonderstation kommen. Sie werden ihn pflegen, Füllen.“

„Herr Professor, die Oberschwester ...“, wandte Renate ein.

Er legte seine Hand auf ihrem Arm. „Kind, kümmern Sie sich nicht um die Oberschwester. Sie pflegen ihn. Und damit basta! Ich hoffe, er wird in acht Wochen aus dem Gröbsten sein. Das schaffen wir nur, wenn wir ihm etwas Hilfestellung geben. Ich glaube, das könnten Sie wie kein anderer.“ Er beugte sich vor und flüsterte: „Dieser verfluchte Krieg kann nicht mehr lange dauern. Die Amerikaner sind bei Remagen über den Rhein gekommen. Und dann hat Ihnen keine Oberschwester etwas zu befehlen. Halten Sie noch solange durch! In zwei Wochen ist für uns der Krieg aus.“

Sie spürte plötzlich Misstrauen. „Haben Sie sich deshalb so um ihn bemüht?“, fragte sie skeptisch.

Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, Füllen. Vielleicht Klein oder von Eberingen, aber ich nicht. Übrigens könnte ich Ihnen die gleiche Frage stellen. Na?“ Er lachte leise. „Sie sind ebenso empört wie ich, nicht wahr? Kommen Sie, Füllen, wir wollen zusammen eine gute Tasse Kaffee trinken. In einer Viertelstunde habe ich den nächsten Patienten, und an dem nehme ich das gleiche Interesse wie an Ihrem Doyle.“ Er betonte „Ihrem“ und lächelte, als sie errötete.

„Es ist nicht mein Doyle!“, protestierte sie.

Er legte väterlich den Arm um sie und führte sie zur Tür. „Nicht doch, Füllen, nicht doch. Ich kannte einen jungen Assistenzarzt, der liebte eine Frau, die dem Tode näher war als dem Leben, ich habe ihn damals einen Wahnsinnigen genannt. Die Frau war verloren, medizinisch gesehen. Aber sie kam durch. Ein Wunder? Ja, ein Wunder der Liebe. Sie lieben ihn, Füllen. Wer weiß, ob er für Sie so empfindet. Aber wenn Sie ihn damit, mit Ihrer Liebe nämlich, über die Runden bringen, dann war diese Liebe nicht umsonst, auch wenn sie keinen prosaischen Abschluss findet, wie es eine Ehe ist oder so ähnlich. Warten Sie in meinem Zimmer, ich komme gleich! Setzen Sie schon mal Wasser auf. Den Kaffee mache ich selbst. Geheimrezept“, fügte er mit spitzbübischem Schmunzeln hinzu.

Eine Liebe - ein ganzes Leben lang: Roman um ein Nachkriegs-Schicksal

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