Читать книгу DIE SCHATTENBITTE - Gloria Fröhlich - Страница 3

1.Kapitel

Оглавление

GLORIA FRÖHLICH

DIE SCHATTENBITTE

Ihr seid mir die Liebsten, flüsterte Anna-Hedwig und strich mit der Hand zärtlich über die pastellfarbigen Blüten, die vor Kraft strotzten. Die tiefgrünen, buschigen Pflanzen hatten sich nach der Gewalt des gestrigen Unwetters, wieder zu ganzer Größe aufgerichtet. Vorsichtig sammelte sie die Löwenmäulchen ein, die dem Sturm und Regen doch zum Opfer gefallen waren und bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, auf der nassen Erde lagen. „Es tut mir so weh, dass ich euch nicht beschützen konnte. Hätte ich für euch ein Glashaus, wäret ihr jetzt noch bei den anderen“, flüsterte sie. Anna-Hedwig verbrachte gern viel Zeit in ihrem verwilderten Garten, kümmerte sich um die unzähligen Blumen und sprach in einschmeichelndem Ton mit ihnen, wie eine liebende Mutter mit ihren Kindern. Sie erfreuten ihr Herz, wenn sie mit einer bunten Farbenpracht prahlten, und sie nannte sie ein Wunder vollkommener Schönheit. Und Anna-Hedwig sorgte sich, wenn sie vor sich hinkümmerten und sie herausfinden musste, woran es ihnen wohl mangelte. Lasst Blumen sprechen. Die rote Rose ist das Symbol für die Liebe. Die gelbe Rose bekommt die Schwiegermutter, die weiße Lilie symbolisiert Reinheit, und das Veilchen verkörpert Bescheidenheit. So sagen es Menschen durch die Blumen. Sprechen Blumen für sich selbst, sieht es anders aus. Mit hängenden Köpfen tun sie unmissverständlich kund, wenn sie durstig sind und wenn ihnen Staunässe zu schaffen macht. Und sie zeigen ihre Wunden, wenn sie von saugenden Blattläusen befallen sind und von anderen Fressfeinden bedroht wurden. Blumen sprechen auch, indem sie sich weigern, zu blühen, und sie bekommen Krankheiten. Zum Beispiel dunkle Rostflecken und Mehltau, der sich wie ein weißer Schleier auf ihre Blätter legt. Wehmütig hielt Anna-Hedwig die aufgelesenen Löwenmäulchen auf ihrer Handfläche, wie auf einer Bahre, um sie zu Grabe zu tragen. Sie brachte es jedoch nicht übers Herz, welke Blüten auf den Kompost zu werfen, sondern hatte eine alte Kristallschale bereitgestellt, in der bereits verblühte Stiefmütterchen und Rosen eng beieinander lagen, in der ihre Farben verschwammen, und der Verfall wie ein malender Künstler mit weich fließenden Konturen die Endlichkeit skizzierte. Anna-Hedwig stand bewegungslos da und genoss die Stille dieses Sonntags in der neuen Umgebung, die aus allen Richtungen fiel. Wenig später lauschte sie auf den monotonen Ruf der Kirchenglocken in der Ferne, der von dem leichten Wind immer wieder für einen kurzen Augenblick verschluckt wurde. Sie war dem fordernden Ruf dieser Kirche erst ein Mal gefolgt und hatte dann versucht, wenigstens ein wenig zu glauben, was sie glaubte, schuldig zu sein, wenn sie sie schon für ihr Bedürfnis betrat. In allen Kirchen brach sie immer ein wenig weg, um dann leise und auf Zehenspitzen wieder zu wachsen, wenn sie verhalten in einer der dunklen oder hellgrau gestrichenen Bänke einen Platz fand und dann, die Hände im Schoß, in die meistens weiß gekalkte Höhe sah und sich so winzig und erwartungsvoll unwohl fühlte. Dann nahm sie sich vor, diesen Ort, der ihr nicht gut tat, in Zukunft zu meiden. Aber seit sie hierher gezogen war, drängte sie es eines Tages doch wieder, es war an einem Montag, die erwartete Ehrfurcht des Gewölbes und die klamme Kühle der Kirche aufzusuchen, um sich andächtig und dankbar zu geben und um vielleicht doch das zu finden, was sie glaubte, zu suchen. Es geschah selten, dass sie mit dem blutigen Leid des Gekreuzigten allein war, aber es schien tatsächlich so zu sein, denn sie hatte die zusammengesunkene Gestalt in der Bank nicht bemerkt, an der sie vorbeigegangen war, um in der ersten Reihe zu sitzen, als wäre die Nähe zu Jesus am Kreuz wichtig, als eine krächzende Stimme sie mit Hilfe der hervorragenden Akustik bis ins Mark erschreckte. „Du widerliche Schlampe, du dreckige Hure, du hässliches Miststück“. Anna-Hedwig hatte vor Entsetzen, dass die Beschimpfungen eindeutig ihr galten, kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen können. Sie hatte den Kopf in die Richtung gedreht, aus der die Schimpftirade gekommen war und dann das knallrote Kleid und den kleinen schwarzen Sonnenhut entdeckt, der tief in ein blasses Gesicht gezogen war, das sich ihr jedoch nicht zuwandte. Sie war langsam und verunsichert weiter gegangen, war unfähig gewesen, etwas zu erwidern, hatte tief ein und aus geatmet, war am Taufbecken vorbeigegangen und vor der dicken, roten Kordel, der Absperrung zum Altar, stehen geblieben. „Du Drecksau, du ekelhaftes Monster“, hatte es abermals hinter ihr gekrächzt. Ein sonderbares Gefühl hatte Anna-Hedwig beschlichen. Es war eine Mischung aus staunender Empörung und einer unglaublichen Unfassbarkeit darüber, was ihr gerade widerfuhr. Ausgerechnet hier, an diesem Ort, an dem sie sich in einem fragilen Zustand befand und sich sicher aufgehoben fühlen wollte, tat ihr jemand verbale und somit auch psychische Gewalt an. Das war mehr als skurril. Anna-Hedwigs Augen hatten beinahe blind das großformatige Abendmahlsgemälde überflogen, die Gesichter der Jünger und das von Jesus gestreift, und sie hatte währenddessen absolut nichts denken können. Sie fühlte sich miserabel und empfand zum ersten Mal, wie verletzlich und hilflos sie gerade auch an diesem Ort war, weil er ihr tatsächlich keinerlei Schutz bot. Sie hatte sich umgedreht, den Blick zu dem knallroten Kleid unter dem schwarzen Sonnenhut vermieden und war eilig durch das Kirchenschiff, dem dämmrigen Ausgang entgegen gestrebt. Und wieder wurde sie von einem ordinären Wortschwall verfolgt. Endlich hatte sie mit jetzt heftig aufsteigender Wut, die schwere Doppeltür erreicht. Dabei nahm sie aus den Augenwinkeln einen großen, reglosen Schatten wahr. Schon hatte sie den hoch angebrachten, klobigen Türdrücker kalt in ihrer Hand gespürt, ihn kräftig nach unten gedrückt und die Tür langsam aufgeschoben. Dann war sie hindurchgeschlüpft, mit einem Schritt auf der ersten, ausgetretenen Steinstufe und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Erleichtert hatte sie aufgeatmet. Das gleißende Sonnenlicht blendete. Niemand war zu sehen. Ein geradezu himmlischer Friede waberte träge in den Tag, als wäre nichts geschehen. „Gotteshaus, verdammt noch mal, das ist ein Gotteshaus“, hatte sie geflüstert und noch hämisch hinzugefügt: „Kaum zu glauben, das ist wirklich verrückt“. Anna-Hedwig hatte kaum Zeit, sich zu besinnen, als die Kirchentür hinter ihr geöffnet wurde und sie auf weitere Beschimpfungen gefasst war. Ihr Herz hatte wie wild gepoltert, und sie überlegte, was sie tun würde, sollte die Fremde es noch einmal wagen! „Tourette, sie hat das Tourette-Syndrom, machen sie sich nichts draus“. Die sonore Stimme neben ihr klang, als spräche sie zu einem verstörten Kind. Anna-Hedwig sah den dunkel gekleideten Mann überrascht an. „Eine angeborene Erkrankung des Nervensystems. Sie leidet unter dem Zwang, obszöne und aggressive Ausdrücke herausschreien zu müssen. Andere kneifen ständig die Augen zusammen, rümpfen die Nase, schneiden Grimassen oder machen merkwürdige Geräusche. Das haben sie doch bestimmt schon gesehen und davon gehört. Es gibt noch andere Tics, wie man diese Auffälligkeiten auch nennt. Heilbar ist das nicht“. Der Gesichtsausdruck der jungen Frau schien den Mann zu locken. Das ist der große Schatten aus der Kirche, ging es Anna-Hedwig durch den Kopf. Sie schaute dem Fremden ins Gesicht und erwiderte: „Nein, das kenne ich nicht. Und was macht sie so sicher, dass die Person nicht einfach nur ihren Frust raus pöbelt? Da kann ja jeder seine Mitmenschen beschimpfen und das mit dieser Krankheit rechtfertigen“. Sie schüttelte den Kopf und fügte noch hinzu: „Und wissen sie, in einer Kirche ist das besonders schlimm, das ist einfach unerträglich. Bei wem könnte ich mich beschweren?“ Der Mann war wesentlich älter als Anna-Hedwig. Seine schlanken Hände zwirbelten das Ende seines Vollbartes. Graumelierte Locken lagen auf seinen Schultern. Er schaute Anna-Hedwig aus sanften, braunen Augen an und sagte: „Das weiß ich nicht. Eventuell fühlt sich der Pastor nur dafür verantwortlich, was in seiner Kirche während seiner Anwesenheit vor sich geht. Sie empfinden absolut richtig. Aber ich kenne die Frau, sie leidet wirklich unter dem Tourette-Syndrom. Meistens besucht sie die Kirche am Montag, wie auch heute. Wer sie kennt, bleibt in den hinteren Bänken“. Nun lächelte auch Anna-Hedwig und antwortete: „Meinen sie, es tut ihr Leid, mich beschimpft zu haben?“ Sie wartete seine Antwort nicht ab. „Ich stelle mir gerade vor, dass dann wirklich Tür und Tor für diese Unverfrorenheit geöffnet sind. Mir ist nämlich häufig mal danach zumute, meinen ganzen Frust und Ärger brüllend in die Freiheit zu entlassen. Und wenn ich mich dort aufhalten würde, wo mich niemand kennt, könnte ich mal so richtig vom Leder ziehen, und das dann mit der Entschuldigung, ich hätte das Tourette-Syndrom. Ich bekäme Toleranz und tiefes Mitgefühl. Die Beschimpften könnten Empathie zeigen und sich dabei gut fühlen, und ich wäre meine Wut auf legale Art und Weise los. Und wenn schon, denn schon. Wie ich mich kenne, würde ich dann garantiert nicht in einer leeren Kirche sitzen, wo mich niemand hört, sondern ganz bestimmt in einem rappelvollen Linienbus oder auf einer Rolltreppe in einem gut besuchten Kaufhaus beinahe bewegungslos vorankommen. Niemand könnte sich so einfach meinen Beschimpfungen entziehen. Jeder müsste sie aushalten und für einige Minuten zu sich selbst finden und sich wieder einmal so richtig spüren. Und ich hätte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, denn ich würde niemanden persönlich angreifen. Jeder könnte sich angesprochen fühlen oder auch nicht, verstehen sie? Aber wenn sie tatsächlich krank ist, beruhige ich mich und verzeihe selbstverständlich, dass es die Krankheit war, die sich so schlecht benommen hat und nicht diejenige, die darunter leidet“. Mit sichtbarem Vergnügen schaute der Bärtige auf die Frau, die ihm gegenüberstand und sagte: „Das ist eben der Unterschied zwischen einer Krankheit und reiner Boshaftigkeit. Und sie wären bösartig. Ich bin übrigens Aron“, sagte Aron. Dabei beugte er sich geringfügig vor und versteckte sogleich die Hände hinter dem Rücken. Er will mir nicht die Hand geben, dachte Anna-Hedwig. Sie zögerte einen Moment und verriet dann lächelnd, dass sie von vorn und hinten gleich heißt. Aron nickte verhalten und sagte: „Das ist doch mal was. Und möchten sie mir verraten, wie sie heißen?“ Anna-Hedwig nickte und schaute an ihm vorbei, als sie mit ernstem Gesicht erklärte: „In meinem Ausweis steht Anna-Hedwig, aber mein Rufname ist Anna“. Aron musterte sie neugierig. „Aber vorn und hinten gleich, also auch mit Nachnamen, wie ist das zu verstehen?“ „Nein, nicht beide Namen. Aber Anna spricht und liest sich von vorn und von hinten gleich, das ist doch richtig, nicht wahr?“ Und während sie Aron nun sehr aufmerksam ansah sagte sie: „Aron ist nur von vorn gelesen ein Aron, von hinten gelesen, eine Nora. Würdest Du Otto heißen, wäre es bei dir wie bei mir“. Aron schlug belustigt die Hände vors Gesicht, weil er begriffen hatte. Seine Augen blitzten auf, und er wurde sehr heiter. „Sie duzen mich?“ Anna-Hedwig nickte und freute sich im Stillen, weil sie zu erkennen glaubte, dass Arons Interesse an ihr zunahm. Er schaute sie eine Weile nachdenklich an und wagte zögerlich zu fragen: „Magst du Schattenmorellen?“ Für Anna-Hedwig kam die Frage sehr überraschend, und sie reagierte zunächst mit sekundenlanger Sprachlosigkeit. Dann wiederholte sie: „Schattenmorellen? Das sind doch Sauerkirschen, wenn ich mich nicht irre, und wie kommst du jetzt darauf?“ Aron trat von einem Bein aufs andere und erwiderte: „Deine Antwort ist richtig, es sind Sauerkirschen, und die sind in etwa drei Wochen reif. Ich will, dass du nach dem Schreck in der Kirche in drei Wochen mit der roten Süße deine Hände, und wenn du außerdem noch Lust hast, auch deinen Magen füllst. Was hältst du davon?“ In Anna-Hedwigs Kopf wirbelten krause Gedanken, und sie zwitscherte: „Die Hände, den Magen und vielleicht noch ein Kirschenpaar über jedes Ohr?“ Aron kniff die Lippen zusammen und zwirbelte nervös das Ende seines Vollbartes. Dann nickte er zustimmend. Seine Lippen bewegten sich, als wollte er etwas sagen, doch er schwieg. Und dann schaute er sie für wenige Augenblicke so hypnotisch an, als würde er sie zwingen wollen, zuzustimmen. Das verwirrte Anna-Hedwig. Die Frau in der Kirche hatte eine unheilbare Nervenkrankheit, und dieser Mann hatte gerade eine sehr merkwürdige Frage gestellt. Gehörten die vielleicht zusammen und lauerten arglosen Kirchgängern auf? Aber was könnten sie von ihr wollen? Anna-Hedwig wurde sehr misstrauisch. Sie wusste, mit solchen Menschen war manchmal „nicht gut Kirschen essen“. Wie lustig das gerade passte, dachte sie und hatte das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen, um nicht in eine Falle zu geraten. Sie lächelte Aron an, tat belustigt und sagte: „Dazu müsste ich erst einmal eine Kirsche probieren, denn du sprichst von Süße und gleichzeitig von sauer, da gibt es vielleicht ein Problem. Außerdem kann ich meine Hände mit einem Trick zu einer ziemlich großen Schüssel formen. Und manchmal bin ich unersättlich. Bist du sicher, dass du so viele Kirschen hast? Außerdem kenne ich dich doch überhaupt nicht“. Aron schien amüsiert zu sein und beklopfte mit den Händen die aufgesetzten Taschen seiner schwarzen Jacke, um zu demonstrieren, dass er keine Kirschen bei sich hatte und sagte: „Dann erkläre ich es dir. Es gibt eine Menge Kirschbäume, eine richtige Plantage unter grünen Netzen, die zentnerweise Früchte tragen. Es werden dringend Erntehelfer, und das können auch Frauen sein, gesucht. Vielleicht brauchst du einen Job. Ich denke du hast keinen, weil du Zeit hast, wochentags in die Kirche zu gehen, während andere Menschen arbeiten. Und ich habe dich beobachtet. Du bist fest entschlossen bis ganz nach vorne an den Altar gegangen, als hattest du etwas Wichtiges vor. Vielleicht hast du darum gebetet, etwas zu bekommen, das ich dir geben kann. Wir beide sind sozusagen zur rechten Zeit am rechten Ort. Also, was meinst du?“ Anna-Hedwig war ein wenig verwirrt und antwortete belustigt: „Du glaubst tatsächlich, ich hätte um eine handvoll Schattenmorellen gebetet, zu der mir ein Job verhelfen könnte, den du zu vergeben oder zu vermitteln hast?“ Aron nickte freundlich und Anna-Hedwig war erleichtert, dass er anscheinend keine schlechten Absichten hatte, als die Kirchentür erneut knarrte und gleich darauf der schwarze Sonnenhut über dem roten Kleid erschien. Sie unterbrachen ihr Gespräch und warteten auf das, was jetzt wahrscheinlich kommen würde. Aber die Frau mit dem Tourette-Syndrom, die Anna-Hedwig auf Ende Dreißig schätzte, schien sie nicht zu bemerken und in Eile zu sein, murmelte Unverständliches und lief hektisch an ihnen vorbei und dann über das Kopfsteinpflaster, das weiter hinten von grauen Gehwegplatten abgelöst wurde. Doch während sie sich mehr und mehr entfernte, gewann das Tourette-Syndrom erneut die Oberhand, und sie brüllte etwas in den Tag, das nicht mehr zu verstehen und schließlich auch nicht mehr zu hören war. Anna-Hedwig und Aron schauten sich an und lächelten ein großzügiges Verzeihen. „Wo waren wir stehen geblieben“, fragte Aron. Anna-Hedwig schaute auf ihre Füße, dann in sein Gesicht und sagte: „Du möchtest, dass ich bei der Kirschenernte helfe. Und darum nehme jetzt mal an, dass du heute nicht wegen deines Seelenheils hier bist, sondern um weltliche Dinge gebetet hast, wie zum Beispiel um eine arbeitswillige Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht, als Schattenmorellen zu pflücken. Habe ich Recht? Ist das dein Job?“ Aron wiegte sich auf seinen Beinen, schaute erst zur einen, dann zur anderen Seite und sagte sehr zögerlich: „Das ist vielleicht meine Aufgabe. Und wirst du kommen?“ Anna-Hedwig kniff die Lippen zusammen, überlegte eine Weile, dann nickte sie. Über Arons Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln. Dann wirkte er unruhig, als er sagte: „Mein Fahrrad steht um die Ecke. Der Obsthof liegt einige Kilometer weit weg in Richtung Moor. Am Straßenrand steht ein großes Schild mit dem Hinweis auf einen Hofladen. Wenige Meter weiter siehst du auf dem Dach des großen Bauernhauses ein Storchennest. Du fährst durch das große Tor mit der Reetdachmütze. Es ist der größte Hof hier in der Gegend. Du wirst ihn finden. Gewiss wirst du ihn finden und noch etwas. Komme heute auf den Tag genau in drei Wochen, pünktlich um acht Uhr. Das ist sehr wichtig. Du wirst ihn finden, ganz sicher“, flüsterte er noch einmal kaum hörbar. Anna-Hedwig fragte sich, wieso er voraussetzte, dass sie sich hier nicht auskannte? Sie hatte ihm nicht erzählt, dass sie erst kurze Zeit hier wohnte. Ihr Radius war zwar noch begrenzt, aber sie würde die Umgebung noch erkunden und stimmte zu, indem sie sagte: „Ich finde bestimmt dort hin“. Aron nickte versonnen. Anna-Hedwig hatte das Gefühl, dass er abwesend war. Er wirkte plötzlich sehr ernst und schaute durch sie hindurch, kratzte sich durch die Haare am Kopf und sagte sehr leise: „Gut, ich habe noch etwas zu erledigen da drinnen“. Er wies mit dem Kopf zur Kirchentür. „Wir sehen uns dann in genau drei Wochen?“ Anna-Hedwig nickte. Aron drehte sich um und verschwand hinter der Kirchentür, die diesmal zu ihrer Verwunderung nicht das geringste Geräusch machte. Er hat mehr Kraft als ich, dachte sie, stand ein wenig verloren da und überlegte, ob sie auf ihn warten sollte. Den Abschied fand sie etwas abrupt und ziemlich unbefriedigend. Sie hatten sich nicht einmal die Hand gereicht. Eine sehr seltsame Begegnung, dachte sie und ging langsam einmal um die Kirche herum. Sie hatte das Gefühl, sein Fahrrad sehen zu wollen, aber es war keins da. Anna-Hedwig machte sich auf den langen Heimweg. Dabei ging ihr der Mann, der Anfang Vierzig sein mochte, nicht aus dem Kopf. Ihr war aufgefallen, wie blass er war, und dass er trotz seiner Größe und Konstitution ziemlich zerbrechlich wirkte. Vergeblich schaute sie sich noch einmal um, ob er aus der Kirche käme und sie sich ganz gewiss noch einmal zuwinken würden, als wären sie Vertraute. Sie war ein wenig enttäuscht, dass sie ihn nicht noch einmal gesehen hatte und dann allein auf der Landstraße. Die alten Lindenbäume am Straßenrand warfen kühle Schatten und Anna, ich lasse Hedwig ab jetzt der Einfachheit halber weg, schaute über die Weiden bis zum Horizont. Durch die Bekanntschaft mit Aron noch durchsonnt, lauschte sie auf die Feldlerche, die im Azur des Himmels jubilierte. Was für ein großartiger Tag. Anna konnte es noch gar nicht glauben, aber sie hatte tatsächlich wieder einen Job. Wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, aber immerhin. Endlich wieder Geld zu verdienen, würde ihr gut tun. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie Aron nicht nach dem Lohn gefragt hatte.

DIE SCHATTENBITTE

Подняться наверх