Читать книгу Der exzellente Butler Parker 28 – Kriminalroman - Günter Dönges - Страница 3

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Josuah Parker bemerkte an diesem frühen Nachmittag auf den ersten Blick, daß noch einiges auf ihn zukommen würde.

Lady Agatha Simpson bewegte sich über die geschwungene Freitreppe nach unten in die große Wohnhalle des Hauses. Der Auftritt einer regierenden Monarchin hätte kaum wirkungsvoller und dramatischer ausfallen können. Die ältere Dame strahlte Energie und Unternehmungslust aus. Nach dem Lunch war sie in ihr Studio gegangen und hatte ausgiebig meditiert, wie sie ihren Mittagsschlaf vornehm umschrieb.

»Mister Parker«, rief sie ihrem Butler entgegen, »ich habe gerade meine heutige Bestrahlung überprüft.«

»Konnten Mylady neue Erkenntnisse für den Tag gewinnen?« erkundigte sich Parker, der alterslos schien und dem Urbild eines englischen Butlers glich.

»Nach meinem Horoskop wartet auf mich in der zweiten Tageshälfte eine besondere Überraschung, Mister Parker«, antwortete die passionierte Detektivin. »Die Sterne raten mir, auf Menschen zuzugehen, offen und ohne Vorurteil. Was meinen Sie dazu?«

»Ein Rat, den Mylady grundsätzlich zu beherzigen belieben«, meinte Josuah Parker. »Vorurteile sind Mylady völlig fremd, wie die Vergangenheit lehrte.«

»Das stimmt allerdings«, gab sie wohlwollend zurück. »Ich hasse Voreingenommenheit. Aber zurück zu meiner Tages-Bestrahlung, auf mich wartet eine besondere Überraschung.«

Parker kannte das neue Steckenpferd seiner Herrin. Sie hatte sich mit Vehemenz der Astrologie verschrieben und ein entsprechendes Handbuch gekauft. In diesem war die sogenannte Bestrahlung der Gestirne für den jeweiligen Tag genau aufgeführt. Zusätzlich studierte die ältere Dame selbstverständlich noch die Horoskope in der Regenbogenpresse.

»Mylady planen eine Ausfahrt?« fragte Parker.

»Wie sollte es sonst zu überraschenden Begegnungen kommen, Mister Parker?« erwiderte sie munter. »Man darf den Sternen schließlich nicht alles überlassen.«

»Haben Mylady sich bereits für ein bestimmtes Ziel entschieden?«

»Aber nein, Mister Parker.« Sie lächelte fast mitleidig. »Das wiederum werden die Gestirne entscheiden. Ich werde mich treiben lassen. Ich denke, ich sollte in einer Viertelstunde fahren.«

»Mylady prüften bereits das Tages-Horoskop in der Zeitung?« Der Butler präsentierte eine Seite, die er bereits vorsorglich aufgeschlagen hatte.

»Nun, was erwartet mich?«

»Laut Horoskop wird Mylady geraten, einen Tag der Ruhe und Besinnung zu pflegen.«

»Lächerlich«, mokierte sie sich umgehend. »Sie werden unter dem falschen Sternzeichen nachgelesen haben, Mister Parker.«

»Zudem raten die Gestirne den betreffenden Personen, unangenehmen Dingen aus dem Weg zu gehen.«

»Ein guter Rat«, erklärte sie. »Ich neige ja ohnehin nicht dazu, Streit zu suchen.«

»Eine Feststellung, Mylady, wie sie kaum treffender sein könnte.« Josuah Parker unterschlug bewußt sein Wissen, das aus dem Alltag stammte. Die ältere Dame nutzte – wie die Erfahrung lehrte – jede sich bietende Möglichkeit, in erreichbare Fettnäpfchen zu treten. Sie war geradezu berüchtigt für ihre ungenierte Offenheit. Sie sagte stets das, was sie gerade dachte, ob es nun opportun war oder nicht.

Lady Agatha war mit dem Blut- und Geldadel der Insel eng verschwistert und verschwägert, verfügte über enormen Reichtum und leistete sich jede Extravaganz. Auf der anderen Seite aber konnte sie von schottischer Sparsamkeit sein. Sie war eine exzentrische Dame, die lustvoll ihren sehr persönlichen Weg durch das Leben nahm.

Bevor Agatha Simpson sich weiter zu ihrem Horoskop äußern konnte, meldete sich das Telefon. Parker begab sich würdevoll an den Apparat und nannte seinen Namen. Lady Agatha, die die Wohnhalle inzwischen erreicht hatte, griff nach dem Raumverstärker und schaltete ihn ein.

»Hier Pickett«, meldete sich eine bekannte Stimme. »Mister Parker, ich habe gerade eine wichtige Nachricht in der Szene aufgeschnappt. Die ›Brille‹ soll aus dem Untersuchungsgefängnis geflüchtet sein. Mehr weiß ich natürlich noch nicht, aber ich werde am Ball bleiben.«

»Und ich erst«, warf Lady Agatha laut und mit kämpferischem Nachdruck ein. »Aber wer ist eigentlich diese ›Brille‹?«

*

Sie saß im Fond des hochbeinigen Monstrums, wie Parkers privater Wagen genannt wurde. Dabei handelte es sich um ein ehemaliges Londoner Taxi, das einen bereits recht betagten Eindruck machte. Das Äußere täuschte darüber hinweg, daß dieses Gefährt unter dem eckigen Aufbau modernste Technik verbarg. Eingeweihte nannten den Wagen nicht von ungefähr eine Trickkiste auf Rädern.

Parker hatte Mylady bereits ins Bild gesetzt, was die ›Brille‹ betraf. Dieser Mann war ein führender Rauschgifthändler, der vor etwa zwei Monaten von Scotland Yard festgenommen worden war. Er galt als der Chef eines Drogen-Rings, der Europa mit Heroin und Kokain überschwemmte.

»Ich denke gerade an den guten McWarden«, ließ Lady Agatha sich vernehmen. »Sehr erstaunlich, daß er sich noch nicht mit mir in Verbindung gesetzt hat, nicht wahr?«

»Chief-Superintendent McWarden dürfte momentan unter starkem Streß stehen, Mylady. Er wird sich mit Sicherheit bald melden.«

»Und ich werde ihm wieder mal aus der Patsche helfen«, sagte sie. »Ohne mich ist der Mann doch völlig hilflos.«

»Mylady wollen sich mit der sogenannten Brille befassen?«

»Selbstverständlich, Mister Parker« antwortete sie. »Solchen Kriminellen muß man das Handwerk legen. Ich hoffe, Sie wissen bereits, wo ich den Hebel ansetzen kann.«

»Mylady denken sicher an ungewöhnliche Kontakte, die sich dem Wissen der Behörden entziehen.«

»Richtig«, bestätigte sie umgehend und nickte wohlwollend. »Ich hasse ausgetretene Pfade, Mister Parker. Und wie sieht solch ein erster Kontakt aus?«

»Es gibt einen Mister Hale Corvey, Mylady, der eine Art Nachrichtendienst für Zuchthäuser und Gefängnisse unterhält. Mister Corvey betreibt darüber hinaus den Versand von Spezialitäten aller Art in die erwähnten Anstalten und vermittelt zudem auch noch Anwälte.«

»Und das betreibt er unter den Augen der Behörden?« wunderte sich Lady Agatha nachhaltig.

»Mister Hale Corvey steht einem Verein vor, der sich mit der Betreuung von rechtmäßig verurteilten Gesetzesbrechern befaßt, Mylady.«

»McWarden kennt natürlich diesen Verein, wie?« sorgte sie sich.

»Mit letzter Sicherheit, Mylady«, gab der Butler zurück. »Mister McWarden weiß allerdings auch, daß Mister Corvey niemals auch nur eine Andeutung machen würde, was die Flucht der ›Brille‹ angeht.«

»Sie glauben, daß dieses Subjekt etwas weiß, Mister Parker?«

»Dies sollten Mylady als völlig sicher unterstellen. Vorgänge, die zu einer Flucht aus dem Untersuchungsgefängnis führen, sind hausintern nicht zu tarnen oder gar zu unterschlagen.«

»Ich werde diesem Corbett nachdrücklich auf den Zahn fühlen.« Mylady konnte sich keine Namen merken.

»Mister Hale Corvey«, korrigierte Parker in seiner bekannt höflichen und diskreten Art.

»Wie auch immer.« Ihre Stimme klang ein wenig ärgerlich. »Klammern Sie sich nicht an Kleinigkeiten, Mister Parker, das führt zu nichts. Wo finde ich diesen Verein?«

»In Stepney, Mylady«, erwiderte der Butler. »Man ist bereits auf dem Weg dorthin.«

»Sehr schön.« Sie nickte zustimmend. »Es würde mich nicht wundern, wenn ich diese ›Brille‹ bei ihm finden würde, Mister Parker.«

»Myladys Nachmittags-Bestrahlung läßt einen gewissen Optimismus zu.«

»Daran dachte auch ich gerade«, sagte sie nachdenklich. »Ich werde schließlich eine überraschende Begegnung haben. Und ich weiß, daß es dazu kommen wird. Wieso nennt man dieses bewußte Subjekt eigentlich ›Brille‹, Mister Parker?«

»Weil es ungemein kurzsichtig ist, Mylady, wie in den Zeitungen stand. Es bedarf daher einer dickglasigen Brille.«

»Dann müßte das Subjekt ja leicht zu finden sein«, gab sie optimistisch zurück. »Ohne Brille dürfte dieser Mann doch hilflos sein.«

»Ein Hinweis, Mylady, den man sich unbedingt einprägen sollte.«

»Oder hat der betreffende Kriminelle vielleicht bereits die Insel verlassen?« sorgte sie sich plötzlich.

»Auch damit sollte man durchaus rechnen, Mylady.«

»Natürlich ist er noch hier«, meinte sie anschließend. »Er weiß doch genau, daß die Polizei sämtliche Flug- und Schiffshäfen gesperrt hat.«

»Dennoch sollte es durchaus möglich sein, die Insel zu verlassen«, deutete der Butler an. »Es gibt der Möglichkeiten viele, wenn meine Wenigkeit sich so ausdrücken darf.«

»Er ist noch hier«, wiederholte sie mit Nachdruck, »so etwas spüre ich.«

»Mister John Ronnars ist selbstverständlich klar, daß man international nach ihm suchen wird, Mylady.«

»Wer ist John Ronnars?« fragte sie verdutzt.

»Die erwähnte ›Brille‹, Mylady«, erläuterte Parker und war ein wenig verdutzt darüber, daß die ältere Dame den Namen richtig wiederholt hatte. So etwas kam überaus selten vor.

*

Der junge Mann im Vorzimmer von Hale Corvey gab sich sehr arrogant und ungeduldig zugleich.

»Ohne Anmeldung ist da kaum was zu machen«, sagte er herablassend, nachdem Parker in Lady Simpsons Namen um ein Gespräch mit dem Vereinsleiter gebeten hatte. Dieser junge Mann saß in einem modern eingerichteten Büro vor einem Personal-Computer und tat sehr beschäftigt. Nach seiner Auskunft schien er die beiden Besucher bereits wieder vergessen zu haben. Er fühlte sich hinter der Trenn-Barriere sehr sicher und unangreifbar.

»Würden Sie dennoch freundlicherweise nachfragen?« bat Parker in seiner bekannt höflichen Art.

»Sie sehen doch, daß ich im Moment beschäftigt bin«, herrschte ihn der junge Mann gereizt an, ohne auch nur hochzublicken. Er blätterte in einer Akte und ließ sich dabei nicht stören.

»Dann werde ich mir selbst helfen«, schaltete Lady Agatha sich ein.

»Tun Sie das«, gab der Ahnungslose zurück. Eine Sekunde später zuckte er zusammen. Lady Agatha vertrieb sich bereits die Zeit und benutzte dazu erst mal einen schweren Aschenbecher, den sie gezielt zu Boden fallen ließ. Anschließend befaßte sie sich mit einer an sich billigen Blumenvase und brachte sie schwungvoll mit der Wand in Berührung. Die Wand widerstand, die Vase hingegen ging zu Bruch, was nicht ohne Lärm erfolgte.

»Was ist denn das?«

Der junge Mann sprang auf und bückte sich blitzschnell, als Mylady ihn mit einem Ablagekorb aus Plastik bedachte, der auf dem schmalen Tresen stand. Dieser Behälter mit Inhalt, segelte über den jungen Mann hinweg und fegte dann über den Arbeitstisch. Dabei stieß er an eine Schale, die mit Heftklammern gefüllt war.

Lady Agatha hatte inzwischen die Trennklappe des Tresens hochgenommen und marschierte zu einer Tür, hinter der wohl der Vereinsgründer zu vermuten war. Der junge Mann warf sich der Eindringenden entgegen und wollte sie stoppen.

Er hätte es besser nicht getan ...

Agatha Simpson klatschte ihm ihren perlenbestickten Pompadour auf die nicht klein geratene Brust und veranlaßte ihn auf diese Weise, wieder im Sessel Platz zu nehmen. Sie hatte allerdings derart schwungvoll pariert, daß der junge Mann mitsamt dem Möbel zu Boden ging.

»Mit Ihrer Erlaubnis.« Parker zeigte sich ungemein hilfsbereit und half dem Gemaßregelten hoch. Bei dieser Gelegenheit klopfte der Butler ihn äußerst geschickt nach Waffen ab und fand, wie er vermutet hatte, eine Pistole. Sie verschwand rasch zwischen den schwarz behandschuhten Händen des Butlers und landete in einer der Taschen des Covercoats, den Parker trug.

Lady Agatha hatte bereits die Tür geöffnet und marschierte energisch in Richtung eines mittelgroßen, rundlichen Mannes, dessen Kahlkopf wie ein kleiner Mond strahlte.

»Sind Sie dieser Vereinsleiter?« herrschte sie ihn an.

»Hale Corvey«, kam die verblüffte Antwort. »Sind Sie angemeldet?«

»Sie haben die große Ehre und den Vorzug, Mylady einige Fragen beantworten zu dürfen, Mister Corvey, die sich auf einen gewissen Mister John Ronnars beziehen.«

»Ehre und Vorzug?« Hale Corvey war längst aufgestanden und blickte ein wenig zu auffällig über Parkers Schulter hinweg zur Tür. Der Butler deutete diesen Blick durchaus richtig. Nicht umsonst hielt er seinen Universal-Regenschirm mit der linken Hand in die Waagerechte. Die Spitze wies nach hinten.

Und sie traf den jungen Mann, der sich gerade anschickte, mit einem Stock zuzuschlagen. Der Getroffene brüllte auf, faßte nach seiner Magenpartie, wo ihn die Schirmspitze getroffen hatte, knickte ein und kniete im Zeitlupentempo nieder.

»Meine Wenigkeit bedauert ungemein das kleine Mißgeschick«, entschuldigte sich Parker, während er sich gemessen umwandte. »Atmen Sie möglichst tief durch. In schätzungsweise fünf Minuten werden Sie sich mit Sicherheit bedeutend wohler fühlen als zum gegenwärtigen Zeitpunkt.«

*

»Das ist alles ein schreckliches Mißverständnis«, entschuldigte sich Hale Corvey umgehend. »Sie ahnen ja nicht, mit welchen Besuchern wir es hier oft zu tun haben. Da ist eine gewisse Reserve schon durchaus angebracht.«

»Von welchen Besuchern sprechen Sie, junger Mann?« fragte Agatha Simpson und spielte bereits mit einer Plastikflasche, in der sich flüssiger Klebstoff befand.

»Entlassene Strafgefangene«, fuhr Corvey hastig fort. »Viele glauben, sie hätten einen Anspruch auf Hilfe. Und wenn wir ihnen dann nicht helfen können, werden sie aggressiv und drohen.«

»Ganz im Gegensatz zu mir, junger Mann«, antwortete die ältere Dame und warf einen kurzen, forschenden Blick auf den Sekretär des Büros. Er hechelte noch, hatte sich aber inzwischen leicht erholt. Er saß auf einem Stuhl an der Tür und massierte sich vorsichtig die Magenpartie.

»Mylady interessiert sich für einen Mister John Ronnars, der auch die ›Brille‹ genannt wird.«

»Mylady ...? Moment mal, sind Sie Lady Simpson? Diese Lady Simpson?!«

»Wer sonst, junger Mann?« Sie lächelte erstaunlich freundlich und zeigte sich durchaus geschmeichelt.

»Das konnte mein Mitarbeiter nicht wissen. Dann sind Sie Butler Parker, oder?«

»Meine Wenigkeit möchte dies keineswegs in Abrede stellen.«

»Wir hatten noch nie das Vergnügen.« Corvey bemühte sich um Verbindlichkeit.

»Ob das für Sie ein Vergnügen wird, muß sich erst noch erweisen«, warf die ältere Dame grollend ein. »Sie kennen also die ›Brille‹?«

»Nicht persönlich, wirklich nicht. Ich habe nur von ihr gehört, Mylady.«

»Sie haben sie nicht betreut?« Parkers linke Augenbraue steilte ansatzweise nach oben.

»Aber nein, Mister Parker.« Hale Corvey schüttelte den Kopf. »John brauchte doch mich nicht! Der hat seine eigene Organisation. Soviel man eben so weiß, verstehen Sie?«

»Man sagt Ihnen nach, Mister Corvey, daß Sie über Ihren Hilfsverein erstaunlich gute Kontakte zu den Häftlingen haben.«

»Alles im Rahmen der Gesetze, Mister Parker.«

»Ihren Klienten blieb unentdeckt, daß Mister John Ronnars seine Zelle ohne Erlaubnis verlassen wollte?«

»Zu mir ist da überhaupt nichts durchgesickert«, behauptete Corvey.

»Danach hat mich übrigens schon die Polizei gefragt. Nein, von seinem geplanten Ausbruch wußte ich nichts, noch nicht mal andeutungsweise.«

»Natürlich wußten Sie Bescheid, junger Mann«, herrschte die passionierte Detektivin ihn an. »Und wahrscheinlich wissen Sie sogar, wo diese ›Brille‹ sich momentan versteckt hält.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erklärte Corvey. »Ronnars würde ausgerechnet hierher zu mir kommen. Das sitzt einfach nicht drin. Sie wissen doch, über welche Organisation er verfügt. Er ist der absolute Boß und besitzt Möglichkeiten, die man sich einfach nicht vorstellen kann.«

»Mister John Ronnars ist also das, was man einen absoluten Boß zu nennen pflegt«, wiederholte Josuah Parker. »Wer gehört zu seinem engeren Kreis? Mylady würde einen entsprechenden Hinweis zu schätzen wissen.«

Hale Corvey hatte sich dem Butler zugewandt und sah nicht, wie Lady Agatha den flüssigen Klebstoff auf die Sitzfläche des Ledersessels drückte. Es handelte sich um jenes Sitzmöbel, das der Vereinsleiter vor einigen Minuten verlassen hatte.

»Ich hab’ keinen blassen Schimmer, wer Ronnars’ Stellvertreter sind«, erklärte Corvey. »Ich kann Ihnen da wirklich keinen Tip geben.«

»Und welche Person wäre dazu in der Lage, Mister Corvey?« fragte Parker.

»Ich kenne niemand«, schwindelte der Vereinsleiter, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Ich muß auf der ganzen Linie passen. Sie ahnen ja nicht, wie exklusiv die Organisation geleitet wird.«

»Sie dürfen wieder Platz nehmen, junger Mann«, empfahl die ältere Dame ihm und deutete auf den präparierten Sessel. »Sie haben offenbar weiche Knie bekommen.«

»Danke«, stöhnte der Vereinsleiter und setzte sich. Er zuckte mit einiger Verspätung zusammen, als die klebrige Flüssigkeit durch Hose und Unterwäsche Kontakt mit seiner Haut aufnahm, doch er hütete sich, den Sessel wieder zu verlassen. Er rutschte jedoch ausgesprochen unruhig auf dem Sitz herum.

»Noch eine letzte Frage, Mister Corvey«, schlug Josuah Parker vor. »Wer wurde von Ihnen in jenem Untersuchungsgefängnis unterstützt, das Mister Ronnars ohne Erlaubnis verließ?«

»Das kann und darf ich Ihnen nicht sagen«, meinte Corvey. »Das fällt... unter Datenschutz.«

»Sie werden es mir gleich sagen, junger Mann«, prophezeite die ältere Dame. »Aber ich sage Ihnen im voraus, daß ich keinen Druck auf Sie ausüben werde. So etwas liegt einer Lady Simpson fern!«

*

»Und Sie verzichteten auf jeden Druck, Mylady?« erkundigte sich Mike Rander eine Stunde später. Er und Kathy Porter hatten sich im Fachwerkhaus der ältere Dame in Shepherd’s Market eingefunden und wußten bereits von der ›Brille‹. In den Nachrichten war die spektakuläre Flucht ausgiebig erwähnt worden.

Mike Rander, groß, schlank und sportlich, trug eine graue Flanellhose und einen dunkelblauen Blazer. Er war Anwalt und verwaltete das immense Vermögen der Lady Agatha. Zur Seite stand ihm dabei Kathy Porter, die als Sekretärin und Gesellschafterin Agatha Simpsons fungierte, nach Randers Rückkehr aus den Staaten aber auch mit dem Anwalt zusammenarbeitete und häufig in dessen Kanzlei in der nahen Curzon Street zu sehen war.

»Ich weiß überhaupt nicht, was Druck ist, mein Junge«, beantwortete die Hausherrin die Frage. »Ich habe diesen Lümmel überredet, mir einen Hinweis zu geben. War es nicht so, Mister Parker?«

»Ansatzweise, Mylady.«

»Als dieses Subjekt mich natürlich beleidigte, mußte ich einige Ohrfeigen austeilen«, erinnerte sich die Lady und lächelte versonnen. »Dabei muß ich wohl rein zufällig nach meinen Hutnadeln gegriffen haben.«

»Sie wurden beleidigt, Mylady?« warf Kathy Porter ein. Sie war ebenfalls groß, schlank und eine gute Erscheinung.

»Weil ich zufällig etwas von diesem Klebstoff auf den Sessel verschüttet hatte«, erklärte die ältere Dame. »Er behauptete, ich hätte das absichtlich getan.«

»Mister Hale Corvey erinnerte an eine überdimensional große Fliege, Miß Porter, die an einem Fliegenfänger hing«, erläuterte der Butler in gewohnt höflicher Umschreibung. »Der Klebstoff muß eindeutig von bemerkenswerter Güte gewesen sein.«

»Und was machte dieser Typ aus dem Vorzimmer?« erkundigte sich Mike Rander amüsiert.

»Mylady bat ihn, auf Mister Corveys Schoß Platz zu nehmen«, berichtete Parker höflich-distanziert weiter. »Vorher sorgte Mylady allerdings noch für eine intensive Haftung, was Mister Corveys Knie betraf.«

»Moment mal, Sie haben Corveys Knie mit diesem Klebstoff bestrichen?« Rander grinste.

»Natürlich, mein Junge, ich war zutiefst beleidigt worden und wollte zudem nicht weiter gestört werden.«

»Und dann mußte sich der Sekretär auf diesen beleimten Schoß setzen?« Rander tauschte einen Blick mit Kathy Porter, die ebenfalls schmunzelte.

»Allerdings«, bestätigte die Hausherrin, die einen zufriedenen Eindruck machte. »Es war ein Bild für Götter, Mike. Die beiden Lümmel machten allerdings einen recht unglücklichen Eindruck.«

»Die betreffenden Personen sind möglicherweise selbst jetzt noch innig miteinander verhaftet«, ließ Josuah Parker sich vernehmen. »Während Mylady die Männer kontrollierte, konnte meine Wenigkeit sich mit einigen Geschäftsinterna befassen.«

»Sie wissen also jetzt, wen dieser Verein im Untersuchungsgefängnis betreute?«

»In der Tat, Sir, man stolperte förmlich über gewisse Angaben, die sich in einem Stahlschrank befanden. Es handelt sich um zwei Personen, die auf ihren Prozeß warten.«

»Bekannte Leute, Parker?« Mike Rander ging diskreterweise auf den erwähnten Stahlschrank nicht weiter ein.

»Es handelt sich um die Herren Herb Caldoni und Willi Pandelton, Sir, die nach meinem bescheidenen Wissen zu einer Bande gehören, die sich auf Diebstahl spezialisiert hat. Sie wurden im Zusammenhang mit einem Einbruch in ein Pelzlager im Hafen festgenommen und gleichsam auf frischer Tat ertappt.«

»Und wer leitet diese Bande, Parker?«

»Ein gewisser Mister Dave Braddock, Sir, wie meine Wenigkeit inzwischen in Erfahrung bringen konnte.«

»Sie sind auf der falschen Spur, Mister Parker«, räsonierte die ältere Dame und schüttelte den Kopf. »Sie lassen sich wieder mal ablenken. Was haben diese Kriminellen mit meinem neuen Fall zu tun?«

»Möglicherweise weiß Mister Braddock mehr über die ›Brille‹, Mylady, als die Polizei bisher in Erfahrung bringen konnte. In diesem Zusammenhang sollte man an die Stellvertreter Mister Ronnars denken.«

»Nun ja, ich werde Ihnen den Gefallen tun und auch diese Spur verfolgen«, kündigte die Detektivin großzügig an. »Aber ich sage Ihnen gleich, daß damit natürlich wieder mal wertvolle Zeit vertan wird. Sie werden noch an meine Worte denken.«

*

Der Mann erinnerte, was seine Maße betraf, an einen Kleiderschrank. Er bewachte den Eingang zu einem privaten Filmclub, der in den Kellerräumen eines ehemaligen Lagerschuppens untergebracht war. Als er Lady Agatha und Butler Parker erspähte, konnte er sich ein törichtes Grinsen nicht verkneifen.

»Was wollt ihr denn hier?« fragte er durchaus gutmütig. »Ich wette, ihr habt euch doch glatt verlaufen.«

»Nach der Ankündigung vorn an der Straße soll hier eine kinematographische Vorführung stattfinden«, antwortete Parker, der seine schwarze Melone lüftete.

»Ein was ...?« Der Breitschultrige staunte nur.

»Ein Film, junger Mann«, übersetzte Lady Agatha gefährlich freundlich. »Ich werde mir diesen W. C. Fields-Streifen ansehen, denn ich liebe diesen Komiker.«

»Der Film ... fällt heute aus«, behauptete der große und massige Mann.

»Sind Sie völlig sicher?« meinte Parker. »Meine Wenigkeit sah vor kurzem einige Herrschaften, die diesen Filmclub anstandslos betraten.«

»Hier is’ heute ’ne Vorstandssitzung«, lautete die nächste Erklärung.

»Wissen Sie, was das ist?« Agatha Simpson schlug ein völlig neues Thema an und zeigte ihm eine ihrer veritablen Hutnadeln. Das Exemplar in ihrer Hand erinnerte an einen kleinen Bratspieß.

»Was soll denn das sein?« fragte der Mann neugierig und wich unwillkürlich zurück.

»Es ist eine Hutnadel«, erläuterte Parker in seiner bekannt höflichen Art. »Und das hier ist ein Sprühfläschchen. Sie leiden nicht zufällig unter Schnupfen?«

Der Mann beugte sich vor, um den kleinen Sprühzylinder besser betrachten zu können. Dabei wandte er Mylady leichtsinnigerweise den Rücken und damit natürlich auch dessen Verlängerung zu.

Agatha Simpson nutzte die Gelegenheit, um die Spitze ihrer Hutnadel in die linke Gesäßhälfte des Mannes zu jagen, der daraufhin wie unter einem elektrischen Schlag zusammenzuckte und vergaß, daß Parker ihm bereits eine Spray-Dosis verabreicht hatte.

Der Mann wußte nicht, was er zuerst tun sollte. Er litt nicht nur unter dem Schmerz im Gesäß, er schnappte auch verzweifelt nach Luft und hatte Tränen in den Augen. Er wurde weich in den stämmigen Beinen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die nackte Ziegelwand. Um unter das Jackett zu langen, reichten die Kräfte nicht mehr aus.

»Entspannen Sie sich«, schlug Parker ihm vor. »Lehnen Sie sich nicht gegen Müdigkeit auf.«

»Entspannen Sie sich«, schlug auch Lady Agatha vor und ... setzte dem Mann ihren Glücksbringer auf die Brust. Dabei handelte es sich um das bekannte Hufeisen, das von einem Brauereipferd stammte. Dieser sogenannte Glücksbringer befand sich im perlenbestickten Pompadour der älteren Dame und wirkte im wahrsten Sinn des Wortes niederschmetternd.

Der Kleiderschrank-Typ produzierte einen tiefen Seufzer, sackte zu Boden und lächelte dann babyhaftglücklich. Er schloß die Augen und versuchte sich an einigen Schnarchtönen.

»Sie sehen wieder mal, Mister Parker, daß die Argumente stimmen müssen«, dozierte die ältere Dame freundlich-belehrend. »Man darf es nie zu Mißverständnissen kommen lassen.«

*

Josuah Parker hatte keine Bedenken, den mächtigen Burschen zurückzulassen. Der Spray, mit dem er den Türsteher ausgiebig angesprüht hatte, war eine raffinierte Mischung aus Lachgas und anderen Ingredienzen, die für eine plötzliche Erschlaffung der Muskeln und ein heiteres Wohlbefinden sorgte.

Nach einschlägigen Erfahrungen, die Parker mit diesem Präparat gemacht hatte, würde der ›Kleiderschrank‹ gut und gern fünfzehn bis zwanzig Minuten träumen.

Lady Agatha hatte ihre majestätische Fülle bereits energisch in Bewegung gesetzt und marschierte zu einer Doppeltür, die sie schwungvoll aufdrückte. Dann aber blieb sie überrascht stehen und blickte in einen schmalen, langgestreckten Raum, der wie ein Kino eingerichtet war.

Die Leinwand war nicht zu übersehen. Es gab vorn einige Sitzreihen, dann logenähnliche Nischen mit Polsterecken und Sesseln. Dieser Clubraum allerdings war leer.

»Sie haben sich bestimmt eine falsche Adresse aufschwatzen lassen«, mokierte sie sich und wandte sich an Parker, der ihr gefolgt war.

»Mister Dave Braddock dürfte sich in Nebenräumen aufhalten, Mylady«, gab der Butler zurück und übernahm die weitere Führung. »Dieser Vorführraum dient sicher nur der Tarnung.«

Parker sollte sich nicht geirrt haben.

Er führte seine Herrin über eine Seitentreppe zur Bühne, näherte sich der linken Hälfte der großen Leinwand und warf einen Blick hinter sie. Genau in der Mitte dort führte eine Treppe wieder nach unten. Im Staub hinter der Wand war eine Art Trampelpfad auszumachen.

Agatha Simpson wollte gerade losmarschieren, als von der Mitteltreppe her ein deutliches Husten zu vernehmen war. Wenig später tauchte ein Mann auf, der rauchte und erneut hustete. Er hatte keine Ahnung, daß er beobachtet wurde.

Parker und Mylady hatten sich in Deckung begeben. Als der Mann sie passierte, langte der Butler mit dem bleigefüllten Bambusgriff seines Regenschirmes kurz und gezielt zu.

Danach hustete der Mann nicht mehr.

Parker trat die Zigarette aus, die der Getroffene verloren hatte, und durchsuchte ihn nach Waffen. Er fand ein Klappmesser, das er in die staubige Dunkelheit der Nebenbühne warf. Es landete relativ weich und verursachte so gut wie kein Geräusch.

Mit wenigen Handgriffen fesselte Parker den Mann mit seinem bewährten, nylonverstärkten Packband. Anschließend verabreichte er ihm noch eine Dosis aus der Spraydose.

»Wie lange soll ich denn noch warten?« räsonierte Lady Agatha, die wieder mal höchst ungeduldig war. Natürlich sprach sie nicht besonders leise.

»Mylady werden in wenigen Augenblicken den erwarteten Kontakt mit Mister Braddock aufnehmen können«, versprach der Butler. Er hatte es eilig, die ältere Dame über die hintere Mitteltreppe in einen Korridor zu führen, denn er erblickte eine geöffnete Tür, aus der Rauchschwaden drangen.

»Was ist denn noch, Harry?« rief eine dunkle, verärgerte Stimme. »Schon wieder was vergessen?«

»Keineswegs und mitnichten«, antwortete der Butler, der bereits in der Türumrahmung stand. Er hielt seinen Schirm hoch und war bereit, einen Blasrohrpfeil abzuschießen.

»Wer, zum Teufel sind Sie denn?« fragte ein vierschrötig aussehender Mann, der etwa vierzig Jahre zählte.

»Mister Dave Braddock?« wollte Parker wissen.

»Braddock.« Der Vierschrötige mit dem kantigen Kopf und dem kurzen Haar nickte knapp und stand auf. Dabei schob er sich wie zufällig an einen kleinen Turm heran, der von einigen Ablagekörben gebildet wurde. Seine Absicht war für den Butler aber dennoch unverkennbar. Dave Braddock bemühte sich um eine Waffe, die dort liegen mußte.

»Falls Sie die Absicht hegen, nach einer Waffe zu greifen, Mister Braddock, sollten Sie tunlichst davon Abstand nehmen«, warnte der Butler ihn höflich und ... schickte umgehend einen Pfeil auf die kurze Luftreise. Er stammte aus dem Schirmstock, der als Blasrohr diente und seine Energie aus einer Patrone bezog, die mit komprimierter Kohlensäure gefüllt war.

Braddock zuckte zusammen und starrte ungläubig auf den bunt gefiederten Pfeil, der kaum länger war als eine normale Stricknadel. Darüber vergaß der Mann seine ursprüngliche Absicht.

»Wer nicht hören will, junger Mann, der muß eben fühlen«, ließ Lady Agatha sich genußvoll vernehmen. »Gehen Sie davon aus, daß dieser Pfeil vergiftet ist.«

»Sind Sie verrückt?!« Braddock setzte sich und hatte sich längst verfärbt, was seine Gesichtsfarbe betraf. Er wagte nicht, den Pfeil aus dem Unterarm zu ziehen.

»Falls Sie sich nicht zu nachhaltig und zu stürmisch bewegen, Mister Braddock, dürften Ihre Überlebenschancen recht zufriedenstellend sein«, versicherte Parker dem Boß der Diebesbande. »Übrigens mit Ihrer gütigen Erlaubnis!«

Parker war an den Schreibtisch herangetreten und faßte hinter den kleinen Turm aus Ablagekörben. Seine schwarz behandschuhten Finger ergriffen eine Pistole, die umgehend in einer der Taschen seines Covercoats verschwand.

»Vergiftet?« fragte Braddock mit einiger Verspätung. Seine Stimme klang heiser.

»Sie können davon ausgehen, daß bestimmte Hospitäler hier in London über die entsprechenden Gegengifte verfügen«, sagte Parker. »Sie sollten sich also keine unnötigen Sorgen machen.«

»Schnell, rufen Sie an«, brüllte Braddock. »Ich kratz’ sonst ab. Mir wird schon schlecht.«

»Man wird Ihnen umgehend helfen, Mister Braddock«, erwiderte Parker. »Aber vorher sollten Sie sich vielleicht noch zu Mister John Ronnars äußern, der Ihnen ja nicht unbekannt sein dürfte.«

»Der is’ abgehauen, haben die Nachrichten gebracht«, gab Braddock zurück. »Mann, ziehen Sie mir diesen verdammten Pfeil raus! Ich spür’ bereits das Gift.«

»Wo könnte man ihn oder seine Stellvertreter finden, Mister Braddock?« fragte Parker ohne jede Hast weiter.

»Hat sein Gesicht nicht bereits eine gelbe Farbe angenommen?« frage Mylady interessiert dazwischen. Sie hatte ihre Stielbrille aufgeklappt und betrachtete Braddocks Gesicht durch die Lorgnette. »Oder ist das mehr grün, Mister Parker?«

»Könnte man sich vielleicht auf türkis einigen, Mylady?« gab der Butler zurück.

»Aber nein«, widersprach Agatha Simpson energisch. »Es ist wohl doch ein fahles Gelb.«

»Wo Ronnars steckt, weiß kein Mensch«, rief der Bandenboß hastig dazwischen. »Halten Sie sich an Ron Turner!«

»Der sicher unter einer bestimmten Adresse zu erreichen ist, Mister Braddock.«

Der Vierschrötige nannte sie umgehend und verlangte dann erneut nach einem Hospital.

»Nehmen Sie das hier«, gab Parker zurück und reichte ihm auf der flachen Hand eine Tablette. »Sie ist das ganz spezielle Gegengift, Mister Braddock. Aber Sie sollten sich nach der Einnahme wenigstens für fünfzehn Minuten so gut wie nicht bewegen.«

»Zwanzig Minuten sind besser«, fügte die ältere Dame sachkundig hinzu.

Braddock griff ungemein langsam nach der Tablette und schob sie sich in den Mund. Er merkte nicht, daß wahre Schweißbäche über sein Gesicht rannen.

*

»Was haben Sie diesem Subjekt eigentlich verabreicht, Mister Parker?« fragte Agatha Simpson, nachdem sie im Fond von Parkers Wagen Platz genommen hatte.

»Mister Braddock nahm eine Magentablette ein, Mylady, die sich durch Bitterstoffe auszeichnet«, erwiderte der Butler. »Sie ist völlig harmlos, erweckt jedoch den Anschein, hilfreich zu sein.«

»Also ich hätte ihm solch eine Tablette nicht gegeben«, mokierte sich Lady Simpson umgehend. »Aber Sie sind einfach zu gutmütig, Mister Parker. Daran werden Sie noch arbeiten müssen.«

»Meine Wenigkeit wird sich unentwegt bemühen, Mylady«, versprach Josuah Parker. »Mister Braddock wird sich aber in jedem Fall um Mylady sehr intensiv kümmern.«

»Sie meinen, daß er mir nachstellen wird?«

»Mit letzter Sicherheit, Mylady. Sein Selbstwertgefühl dürfte empfindlich verletzt worden sein.«

»Hat er nun gelogen oder nicht, was diesen Brillenträger angeht?«

»Sein Hinweis auf einen Mister Ron Turner dürfte in jedem Fall sehr interessant sein, Mylady. Man hat die Möglichkeit, die beiden Herren gegeneinander auszuspielen.«

»Um solche Finessen kümmere ich mich nicht, Mister Parker«, entschied sie. »Ich bin immer für den direkten Weg. Ich fahre jetzt zu diesem Stellvertreter?«

»Er könnte inzwischen bereits von Mister Braddock verständigt worden sein, Mylady.«

»Dieses Risiko nehme ich auf mich. Ist es noch weit?«

»Es handelt sich nur noch um wenige Minuten, Mylady«, versicherte der Butler. »Mister Turner wohnt ebenfalls hier in den Docklands. Laut Mister Braddock geht er dem Beruf eines Versicherungsagenten nach.«

»Und dagegen schreitet die Polizei nicht ein?« wunderte sich die ältere Dame.

»Mister Ron Turner dürfte ungemein pünktlich und auch sehr korrekt die anfallenden Steuern entrichten, Mylady«, erklärte der Butler. »Gangster dieser Größenordnung schützen stets einen ordentlichen Beruf vor.«

»Ich werde diesem Subjekt die Maske vom Gesicht reißen, Mister Parker«, kündigte Lady Agatha energisch an. »Fallen Sie mir also nicht in die Arme, falls ich etwas unangenehm werden sollte.«

»Mylady können sich auf meine Wenigkeit fest verlassen«, versprach Josuah Parker, der das Temperament seiner Herrin nur zu gut kannte. Er hütete sich, sein doppeldeutiges Versprechen näher zu erläutern.

»Wie ist diese ›Brille‹ denn eigentlich entkommen?« Die Detektivin wechselte das Thema.

»Einzelheiten dazu waren noch nicht in Erfahrung zu bringen, Mylady. Wahrscheinlich hält die Polizei vorerst noch die Details dieser Flucht zurück.«

»Sie hüllt sich in Schweigen, weil sie nichts weiß«, behauptete Lady Agatha. »Man kennt das ja, Mister Parker. Der gute McWarden ist doch wieder mal völlig überfordert.«

Parker verzichtete auf einen Kommentar. Er hatte inzwischen die Straße erreicht, in der Ron Turners Büro sich befand. Nach wenigen Minuten hielt er vor einem ehemaligen Laden, in dem früher Obst aller Art verkauft worden sein mußte. Ein entsprechendes Schild über dem Eingang war noch nicht entfernt worden.

Es gab nur einen kleinen Hinweis auf Versicherungen. In der verglasten Eingangstür, die von innen mit einem Rollo gegen Durchsicht geschützt wurde, fand sich ein kleines Pappschild mit Ron Turners Namen. Darunter wurden Versicherungen aller Art angeboten.

»Hoffentlich hat er auch an sich gedacht«, meinte die ältere Dame, als sie vor der Tür stand. »Er wird eine gute Krankenversicherung brauchen, falls er mich beleidigt.«

*

Ron Turner entpuppte sich als ein fünfundvierzigjähriger, schlanker Mann mit schmalem Gesicht, wasserblauen Augen und dünnem Mund. Er saß hinter einem Schreibtisch und telefonierte gerade, als Mylady und Parker sein improvisiertes Büro betraten.

Als der Mann die beiden Besucher erblickte, beendete er jäh das Gespräch, legte auf und erhob sich.

»Lady Agatha Simpson, Butler Parker«, stellte der Butler vor. »Kann man davon ausgehen, daß Sie gerade von Mister Braddock angerufen und vorgewarnt wurden?«

»Braddock? Wie kommen Sie denn darauf? Wer sollte das sein?« Turner gab sich ahnungslos und schüttelte sicherheitshalber noch den Kopf.

»Mister Braddock war so freundlich, Ihren Namen im Zusammenhang mit einer Person zu nennen, die man in gewissen Kreisen die ›Brille‹ zu nennen pflegt.«

»Und wer ist das schon wieder?« Turner tat wirklich zu irritiert und übertrieb eindeutig.

War dieses Telefonat nur vorgetäuscht worden, um Mylady und ihn in Sicherheit zu wiegen? Die Fahrt hierher hatte etwa fünfzehn Minuten gedauert. Sollte Braddock erst jetzt angerufen haben? Hatte er sich an die Frist gehalten, die Parker ihm eingeräumt hatte?

Josuah Parker hatte sich schnell orientiert. Rechts hinter dem Schreibtisch gab es eine glatte Tür, die geschlossen war. Als der Butler sie in Augenschein nahm, meldete sich seine innere Alarmanlage. Gefahr lag in der Luft. Ron Turner wußte längst Bescheid, er hatte mit diesem Besuch gerechnet und bereits seine speziellen Vorbereitungen getroffen.

Butler Parker, der vor dem Schreibtisch stand, reagierte verblüffend. Er langte gezielt nach einem Lineal aus Holz, ignorierte Ron Turners erstaunten Blick und war mit wenigen Schritten bereits vor der hinteren Tür.

Er bückte sich und ... schob das Lineal unter den Türspalt, richtete sich wieder auf und trieb es dann mit dem bleigefüllten Bambusgriff des Schirmes tiefer in den Spalt, bis es festsaß.

*

»Was machen Sie denn da?« fragte Ron Turner, der unruhig geworden war.

»Wie Sie sehen, klemmte meine Wenigkeit ein Lineal unter die Tür«, beantwortete Parker korrekt die an ihn gestellte Frage. »Dadurch wird es so gut wie unmöglich, die erwähnte Tür blitzschnell aufzudrücken.«

»Wer... wer sollte die schon blitzschnell aufdrücken?« lautete die nächste Frage des Versicherungsagenten.

»Möglicherweise wartende Mitarbeiter, Mister Turner«, setzte Parker ihm geduldig und höflich auseinander. »Aber zurück zur ›Brille‹, wenn Sie erlauben.«

»Ich kenne keine ›Brille‹, Mann«, brauste Turner auf, »... und ich kenne auch keinen Braddock.«

»Ich werde dieses Thema jetzt mit Ihnen vertiefen«, schickte die ältere Dame voraus. Sie war bereits ungeduldig geworden und klatschte ihren perlenbestickten Pompadour auf die Schreibtischplatte.

Das darin befindliche Hufeisen sorgte für einige Unordnung. Ein Aschenbecher hüpfte hoch und fiel zu Boden. Büroklammern spritzten auseinander und legten sich auf die Hemdbrust des Spezialisten in Sachen Versicherung. Zusätzlich kippte noch eine Blumenvase um, deren trüber Inhalt sich über die Hose Ron Turners ergoß.

Er sprang zurück, doch er hatte den intensiven Wasserguß bereits abbekommen.

»Sind Sie verrückt?« brüllte er Mylady an.

»Ich fühle mich beleidigt«, stellte Agatha Simpson gefährlich ruhig fest und ... verabreichte Turner eine ihrer gefürchteten Ohrfeigen. Der Mann, der laut Braddock ein Stellvertreter der ›Brille‹ sein sollte, suchte mit der linken Gesichtshälfte innigen Kontakt mit der Wand und fand ihn umgehend. Anschließend knickte Ron Turner in den Knien ein.

Der exzellente Butler Parker 28 – Kriminalroman

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