Читать книгу Butler Parker 185 – Kriminalroman - Günter Dönges - Страница 3
ОглавлениеDurch die unheimliche Landschaft bewegte sich eine Gestalt, die an einen Horrorfilm erinnerte. Sie war groß, schwer und massig, bewegte sich mit der Grazie eines Büffels und hielt konsequent auf eine Weggabelung zu, in die die schmale Landstraße y-förmig mündete. Diese Gestalt trug einen weiten, bis zu den Fußknöcheln reichenden Umhang, der im leichten Nachtwind flatterte.
An der Gabelung angekommen, befaßte sich diese Gestalt umgehend mit einem Wegweiser, der inmitten dichter Büsche und Sträucher stand. Auf einem der beiden Schilder war die Richtung nach Donovan-Castle angegeben, auf dem zweiten Schild befand sich der Hinweis auf das Hochmoor. Und zwar mit der deutlichen und großen Warnung: Achtung, Brücke unpassierbar!
Die kohlenschaufelgroßen Hände der Gestalt zogen mit erstaunlicher Leichtigkeit das Wegeschild aus dem Boden und warfen es in hohem Bogen ins Gelände. Dann huschte die Gestalt über die Kreuzung und griff nach dem Absperrbalken, der auf zwei Böcken lagerte. Dieser Balken sperrte den Weg ins Moor und zur unpassierbaren Brücke noch zusätzlich ab.
Die Gestalt transportierte den Querbalken samt den beiden Bocken auf den Weg in Richtung Donovan-Castle. Der Weg zur Todesfahrt ins Hochmoor und zur unpassierbaren Brücke war frei, jetzt brauchte nur noch ein Auto zu kommen.
Die massige und große Gestalt schien auf dieses Auto zu warten.
Sie verschwand im dichten Gebüsch und beobachtete die schmale Landstraße. Die beiden aufgeschreckten Käuzchen, die ihre Schreie eingestellt hatten, begannen jetzt wieder mit der Produktion ihrer unheimlichen Rufe und untermalten damit das Blubbern einiger in der Nähe aufsteigender Sumpfblasen.
Es war wirklich eine Nacht, nach der sich jeder Regisseur eines einschlägigen Films die Finger geleckt hätte, zumal jetzt weit in der Ferne zwei Autoscheinwerfer aufglühten, die an die Augen eines vorsintflutlichen Ungeheuers erinnerten.
*
Longless saß am Steuer des kleinen Sportwagens und tastete sich mit dem an sich schnellen Wagen im Tempo einer fußkranken Schnecke durch den Nebel.
»Wir sollten aussteigen und zu Fuß gehen«, sagte Killer Cleveland ungeduldig.
»Warum denn?« wollte Killer-Lehrling Longless wissen.
»Weil wir dann schneller vorankommen«, mäkelte Cleveland aufgebracht, »soll das hier mit uns nachtfüllend werden? Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir von Parker noch glatt eingeholt.«
»Sicherheit ist die Mutter der Porzellankiste«, sagte Longless, der Mann, der wie ein überernährtes Riesenbaby aussah. »Das ist doch deine Devise Clevie!«
»Aber erst, seitdem ich mit dir zusammen bin«, gab Cleveland zurück. Er war mittelgroß, schlank und hatte dunkelblondes Haar, das leger in seine Stirn hing. Er sah keineswegs wie ein Profi-Killer aus, was sich in der Vergangenheit schon sehr oft für ihn ausgezahlt hatte. Cleveland war vom Syndikat in den Staaten hierher nach England geschickt worden, um Parker und Rander zu erledigen.
Longless Vater hatte ihm diesen Job übertragen und ihm seinen einzigen Sohn mitgegeben. Nach Jahren eines süßen Lebens auf verschiedenen Universitäten sollte Longless junior nun endlich in die Fußstapfen seines Vaters treten und ebenfalls ein geachtetes Mitglied des Syndikats werden.
Diese Kombination hatte sich bisher als nicht besonders gut und erfolgreich erwiesen. Longless zeichnete sich durch eine erstaunliche Schusseligkeit aus, die bereits auf den Lehrmeister Cleveland deutlich abgefärbt hatte.
Longless junior trat plötzlich derart hart auf die Bremse, daß Cleveland jäh nach vorn geschleudert wurde und mit der Stirn gegen die Windschutzscheibe knallte.
»I wo«, schnaufte Cleveland und faßte nach der schmerzenden Stelle an der Stirn, »die Windschutzscheibe ist ja noch heil. Du hast doch die Karte im Kopf, Junge. Wohin müssen wir jetzt?«
»Nach rechts«, sagte Longless, »das heißt, es kann auch nach links sein!«
»Nach links«, sagte Cleveland und zwang sich zur Ruhe. Sein Begleiter war immerhin der Sprößling des Syndikat-Chefs, da mußte man sich schon zusammennehmen, »siehst du nicht die Absperrung?«
»Tatsächlich!« Longless preßte seine Nase gegen die Windschutzscheibe.
»Also, fahr weiter!« Cleveland zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück.
»Clevie, da hängt ein Schild am Querbalken!«
»Laß es hängen, fahr weiter!«
»Da steht drauf, daß die Brücke unpassierbar ist!«
»Ist ja gut und schön«, meinte Cleveland und verdrehte die Augen, »laß die Brücke …«
»Ich hab ja nur gedacht, daß …«
»Überanstreng dich bloß nicht! Wie war das!?« Cleveland begriff mit einiger Spätzündung, richtete sich auf und zog die Handbremse ruckartig an.
Der kleine Sportwagen mit dem Steckverdeck blieb hart stehen. Und diesmal knallte Longless junior mit der Stirn gegen die nahe Windschutzscheibe, wobei der Motor starb.
»Wie war das mit der Brücke? Unpassierbar?«
»Sag ich doch die ganze Zeit, Clevie.«
»Da bin ich doch direkt animiert, Junge … ’ne unpassierbare Brücke … Wie für uns bestellt.«
»Für Parker und Rander! Und das hab ich sagen wollen!«
»Hinterher kann das jeder behaupten. Fahr zurück! Wir bauen den Querbalken um.«
»Und lassen Parker und Rander auf die kaputte Brücke sausen!«
»Du sagst es, Junge. Wir sparen Nerven und Munition. Nun mach schon endlich!«
Longless junior setzte den Sportwagen die wenigen Meter zurück. Er und Cleveland stiegen aus und trugen den Querbalken samt den beiden Böcken zurück zur linken Straßenabzweigung. Sie verwendeten sehr viel Sorgfalt darauf, den Querbalken richtig zu dekorieren. Sie sperrten völlig ungewollt ausgerechnet jene Abbiegung, die hinaus ins Moor und auf die brüchige Brücke führte, und bügelten ungewollt den Fehler aus, den die massige, unheimliche Gestalt vor knapp fünf Minuten erst absichtlich begangen hatte.
»Und jetzt ab durch die Mitte, Junge«, sagte Cleveland zufrieden nach getaner Arbeit. »Wir gehen da hinten im Nebel in Deckung. Und wenn’s gekracht hat, sehen wir mal in aller Ruhe nach, was von Parker und Rander übriggeblieben ist!«
*
»Josuah Parker saß am Steuer seines hochbeinigen Monstrums und näherte sich in langsamer Fahrt der Kreuzung, die von den beiden Dauerkillern Cleveland und Longless vor knapp zehn Minuten geräumt worden war.
Im Fond des Wagens hatte Anwalt Rander Platz genommen. Die gesenkte Trennscheibe zwischen dem Fahrersitz und dem Wagenfond ermöglichte eine unbeschwerte Unterhaltung.
»Was wir Vorhaben, Parker, ist die Unhöflichkeit in Potenz«, stellte Mike Rander fest. »Um diese Zeit macht man keinen Besuch mehr.«
»Die Herren von Donovan-Castle, Sir, werden Verständnis haben, zumal die Fahrtverzögerung durch einen längeren Verkehrsstau bedingt war.«
»Warten wir’s ab, Parker. Fragt sich, ob auch der Henker von Donovan-Castle Verständnis aufbringen wird.«
»Sie glauben nach wie vor nicht an diese Geistererscheinung, Sir?«
»Geschenkt, Parker, ich kenne das Zitat. Ich wette mit Ihnen, daß sich auf Donovan-Castle irgendein Bursche einen Spaß daraus macht, als Henker aufzutreten.«
»In der Tat, Sir! Aber dieser Spaß, wie Sie es auszudrücken belieben, dürfte etwas zu weit gehen. Das Schloßgespenst soll recht gewalttätig sein.«
»Das hat Sir James allerdings nachdrücklich behauptet«, bestätigte Mike Rander, »und der Mann machte einen sehr kühlen und kritischen Eindruck auf mich.«
»Sie lernten Sir James im Club kennen, Sir?«
»Richtig, Parker. Er muß irgendwie von unseren bisherigen Abenteuern gehört haben und bat mich, zu ihm aufs Schloß zu kommen. Er fürchtet um sein Leben.«
»Eine erfreuliche Clubbegegnung, Sir.«
»Kann ich mir vorstellen, Parker. Sie wittern natürlich wieder einen Kriminalfall. Aber damit wir uns richtig verstehen, sobald sich herausstellt, daß wir es mit einer Gaunerei zu tun haben, werden wir die Polizei verständigen.«
»Ich werde mir erlauben, Sir, Sie daran zu erinnern«, behauptete der Butler mit würdevoller Stimme. »Darf ich übrigens bemerken, daß wir das Schloß in Schätzungsweise fünfzehn Minuten erreichen werden?«
»Wieso? Seit wann haben Sie Radar im Wagen? Ich kann weit und breit nichts von einem Schloß sehen.«
»Wir nähern uns einer Straßengabelung, Sir. Nach meiner Erinnerung und dem einschlägigen Kartenstudium beginnt von dieser Gabelung aus die letzte Wegstrecke.«
Im Licht der Autoscheinwerfer war die Straßengabelung zu sehen, die die beiden Killer Cleveland und Longless bereits hinter sich gelassen hatten.
Parker vermißte kein Hinweisschild, zumal die Straßensperre eine deutliche Sprache redete. Der Weg nach links war versperrt, also blieb nur der Weg nach rechts offen. Ohne zu zögern, steuerte der Butler seinen hochbeinigen Wagen in die richtige Abbiegung, die hinauf zum Schloß führte.
Weder er noch Mike Rander ahnten, wie ungewollt vorsorglich ihre Dauerschatten für sie gearbeitet hatten.
Longless war etwas schneller geworden.
Die innere Freude, den Auftrag bald erfüllt zu haben, drückte seinen Fuß fester auf das Gaspedal. Der kleine Sportwagen tat einen gehörigen Sprung nach vorn und hopste durch die Schlaglöcher und Pfützen. Er hielt auf eine kleine Steigung zu, die die Auffahrt zu einer Holzbrücke war, die man aus diesem Blickwinkel heraus allerdings noch nicht erkennen konnte.
Es war die Brücke, die das Schild als einsturzwillig bezeichnet hatte.
»Wohin willst du eigentlich?« wunderte sich Cleveland.
»Nur noch bis hinter den Hügel«, erwiderte Longless junior, »dann sind wir in Deckung.«
»Okay«, meinte Cleveland und räkelte sich zufrieden in seinem Sitz zurecht, »dann brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen. Der Genickbruch kommt bestimmt.«
Longless gab dem Sportwagen zusätzlich die Sporen und donnerte über die Auffahrt hinauf auf die Brücke, die tatsächlich einen mehr als morschen und brüchigen Eindruck machte.
»Komisch«, stellte Longless fest, »hier ist auch ’ne Brücke, Clevie!«
»Warum auch nicht«, erwiderte Cleveland gelassen und fühlte sich im gleichen Moment aus dem Schalensitz gehoben. Er hatte das untrügliche Gefühl, daß der Sitz samt dazugehörigem Wagen unter ihm wegsackte und ihn in der Luft hängen ließ.
Longless junior hatte ein ähnliches Gefühl, doch da er sich am Steuerrad festhielt, senkte er sich mit dem nach unten abrutschenden Wagen, der wie ein Expreßlift in die Tiefe sauste.
Noch in der Luft hängend, hörte Cleveland ein Brechen und Lärmen, als würde ein mittlerer Wald abgeholzt. Dann flog auch er senkrecht nach unten und knallte mit dem Gesäß zurück in den Schalensitz des Sportwagens, der inzwischen im aufspritzenden Moorwasser landete.
Der Sportwagen hielt sich nur einen kurzen Moment auf dem Wasser, schlug dann leck und ging auf Tauchstation.
»Hufe …!« gurgelte Longless, dessen Mund sich mit Wasser füllte.
»Idiot!« hustete Cleveland, bevor er Wasser spuckte. Er drückte sich aus dem Sportwagen und merkte zu seiner Erleichterung, daß der Bach, den die Brücke überspannte, nicht tief war. Er konnte stehen, wenngleich er auch bis zu den Knien einsank.
Er schaute sich nach seinem Schützling Longless um.
Longless befand sich noch unter Wasser, erschien jetzt aber und klammerte sich in panischer Angst an seinen Lehrherrn Cleveland.
»Ich … Ich ertrinke … Hiiilfe!« gurgelte er.
»Irgendwann mal, aber nicht jetzt und hier«, stellte Cleveland fest und klopfte auf Longless’ Finger, die sein Oberhemd ruinierten. »Los, komm!«
»Longless tappte wie blind los und erreichte das rettende Ufer. Hier ließ er sich erschöpft auf den weichen Boden fallen. Cleveland folgte wesentlich langsamer und maß seinen Schützling mit mörderischen Blicken. Als er das Ufer erreicht hatte, trat sein Fuß auf ein Schild, das von der Brücke heruntergerissen worden war. Auf diesem stand die deutliche Warnung: Achtung, Einsturzgefahr!
Cleveland nahm dieses Schild hoch und ging damit hinüber zu Longless, der sich gerade aufgerichtet hatte und das Moorwasser aus dem linken Ohr herauslaufen ließ.
»Sieh mal, was ich hier habe«, sagte Cleveland und präsentierte Longless die Schriftzeichen.
»Ein Schild!« erwiderte Longless irritiert.
»Und was steht drauf?« verlangte Cleveland zu wissen.
»Achtung, Einsturzgefahr«, las Longless junior.
»Eben«, sagte Cleveland lakonisch und knallte ihm das Schild unsanft auf den Kopf.
*
Donovan-Castle stammte aus dem Mittelalter und sah dementsprechend aus. Es gab eine Vielzahl von Türmchen, Erkern und Schornsteinen. Das burgähnlich ausgebaute Schloß machte einen finsteren, abweisenden Eindruck. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt dadurch, daß nur hinter einem der vielen Fenster ein schwaches Licht brannte.
Parker hielt sein hochbeiniges Monstrum vor dem Schloßportal an und ließ seinen jungen Herrn aussteigen.
»Wenn Sie gestatten, Sir, werde ich unsere Ankunft bemerkbar machen.«
Parker überholte Rander, der bereits hinauf zur Tür ging, und passierte unmittelbar vor dem Eingang eine Ritterrüstung, die als eine Art Wache links am Türbogen stand. Parkers schwarz behandschuhte Hand griff nach dem großen Türklopfer und ließ ihn gegen die Eisenklappe fallen.
Hinter der Tür war daraufhin ein dumpfes Dröhnen zu hören.
»Ein ausgesprochen herzlicher Empfang«, stellte Rander ironisch fest, als sich nichts rührte.
»Vielleicht sollte man sich ein wenig deutlicher bemerkbar machen, Sir.« Parker setzte den Türklopfer erneut in Bewegung. Diesmal schien hinter der schweren, massigen Tür ein Kanonenschuß abgefeuert worden zu sein.
»Jetzt müßten aber eigentlich die Ehrenjungfrauen nur so herausstürmen«, sagte Rander, »sind Sie sicher, Parker, daß wir vor dem richtigen Schloß stehen?«
»Mit letzter Sicherheit«, antwortete der Butler und spielte erneut mit dem Türklopfer. Plötzlich dröhnte ein zweiter Kanonenschuß, der beinahe Tote aufgeweckt hätte.
»Die Tür wird wahrscheinlich noch gebraucht«, sagte Rander warnend zu seinem Butler. Weder er noch Josuah Parker achteten auf die Ritterrüstung, die links im Türbogen stand. Sie hielten sie verständlicherweise für leer, was aber keineswegs der Fall war.
Im Spalt des kaum geöffneten Visiers glühten plötzlich zwei Augen, die einem Geist zu gehören schienen. Dann hob sich die linke Hand der Rüstung, leise und langsam wie in Zeitlupe. Die Bewegung wurde schneller. Plötzlich donnerte die eisengepanzerte Hand des Ritters derart hart gegen das Türblatt, daß die Tür aufschwang.
»Vielen Dank«, sagte Rander, der noch gar nicht begriffen hatte, und nickte der Ritterrüstung freundlich zu. Dann allerdings, nach Verklingen der Schrecksekunde, wandte er sich noch mal zur Rüstung um, die sich gerade in Bewegung setzte und davonmarschierte.
»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte der Anwalt und schluckte betreten. »Haben Sie das mitbekommen, Parker?«
»Ich will gestehen, Sir, daß ich das bin, was man gemeinhin beeindruckt nennt«, sagte der Butler und starrte der Rüstung nach, die auf einen Erkervorsprung des Herrenhauses zumarschierte und dann dahinter verschwand.
»Immerhin, erstklassiger Service«, sagte Rander ironisch anerkennend. »Wer hier lebt, braucht wahrscheinlich keine Krimis mehr zu lesen.«
*
»Ich glaube, du bist irgendwie sauer auf mich«, sagte Longless junior und entfernte die Reste des Warnschildes von seinem Kopf.
»So was wie dich müßte man ausstellen«, konstatierte Cleveland kopfschüttelnd, »was machen wir jetzt? Der Schlitten ist längst auf Tauchstation.«
»Da muß uns einer einen Streich gespielt haben«, stellte Longless junior fest. »Wieso war die Straße hier nicht gesperrt!«
»Denk doch mal an Parker«, schlug Cleveland vor, »dem traue ich so was doch glatt zu, Junge. Komm jetzt, erinnern wir uns mal daran, daß wir Füße haben!«
»Bis zum Schloß kann’s aber nicht weit sein«, tröstete Longless junior seinen Lehrherrn.
»Möglich, aber da lassen wir uns vorerst nicht sehen, Junge. Parker soll annehmen, daß wir die Kurve gekratzt haben!«
»Und was kratzen wir tatsächlich?«
»Uns den Dreck von der Fassade«, antwortete Cleveland. »So, wie wir aussehen, können wir uns oben im Schloß nicht sehen lassen.«
Longless folgte seinem Chef hinauf zum Weg und rutschte dabei aus.
Instinktiv warf er sich nach vorn, griff nach den Beinen des hochsteigenden Cleveland und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht. Cleveland ruderte einen Moment lang verzweifelt mit den Armen in der Luft herum und landete im aufklatschenden Moder.
Als er sich erhob, sah er seinen Lehrling Longless aus dreckverschmierten Augen nachdenklich an.
»Such mal mit«, meinte er dann.
»Wonach?«
»Nach ’nem Knüppel«, gab Cleveland zurück, »so was brauchst du jetzt nämlich auf deinem hirnverbrannten Schädel, du Trottel!«
*
»Tut mir leid, falls Bennie Sie erschreckt haben sollte«, sagte Sir James, »aber ich kann Ihnen versichern, daß der Junge vollkommen harmlos ist. Er ist auf jeden Fall nicht das Gespenst, das hier sein Unwesen treibt!«
Rander und Parker befanden sich in einer großen Schloßhalle, deren Steinboden mit Teppichen ausgelegt war. Beherrschend in ihr war ein mächtiger Kamin. Einige Spitzbogentüren führten in diverse Nebenräume. Eine breite Treppe schwang sich hinauf zu einer Galerie. In der Halle gab es Sitzgruppen, eine Eßecke und sehr viele Rüstungen und Waffensammlungen. Dieser Raum entsprach in seinen Ausmaßen und seiner Ausstattung genau dem, was man sich unter einer Schloßhalle vorstellt. Ein Filmarchitekt hätte ihn nicht wirkungsvoller herrichten können.
»Wer ist Bennie?« erkundigte sich Rander bei seinem Gastgeber, den er in einem Londoner Club kennengelernt hatte.
»Der Sohn unserer Haushälterin. Etwas schwachsinnig, aber ein guter Junge. Er könnte keiner Fliege etwas antun.«
»Wäre in seiner Rüstung auch ziemlich schwierig«, meinte der Anwalt lächelnd.
»Bennie lebt in einer Märchenwelt der Ritter und Ungeheuer«, entschuldigte Sir James den großen Jungen, »ich werde natürlich dafür sorgen, daß er Sie nicht mehr belästigt.«
Sir James bat Rander hinüber zur Sitzgruppe vor dem Kamin und reichte ihm einen Drink. Dabei sah er etwas irritiert zu Josuah Parker hinüber, der steif und irgendwie abweisend hinter dem Sessel seines jungen Herrn Stellung bezogen hatte.
Sir James war etwa 50 Jahre alt, groß und hager. Er trug einen Smoking, der ihm ein wenig zu weit war. Das Gesicht des Gastgebers erinnerte irgendwie an ein leicht beleidigtes Pferd. Haar und Oberlippenbart waren grau.
»Vergessen wir Bennie. Kommen wir zu Ihrem Problem«, sagte der Anwalt.
»Wie? Ja, richtig …« Sir James war irritiert und sah zu Parker hinüber. Dessen Gegenwart schien nicht in sein Weltbild zu passen.
»Mister Parker ist mein engster Mitarbeiter«, stellte Mike Rander sofort klar und richtig.
»Äh, ach so.« Sir James nickte dem Butler jetzt reserviert zu, »wollen Sie sich, äh, setzen?«
»Ich ziehe es vor, stehenzubleiben«, antwortete der Butler steif, »Bennie kommt Ihrer Ansicht nach also nicht als Schloßgespenst in Betracht, Sir?«
»Ausgeschlossen, ich sagte ja schon, er wird Sie nicht mehr belästigen.«
»Was sich, wie ich unterstellen darf, im Fall einer anderen Erscheinung nicht einrichten läßt!?«
»Richtig! Ich meine den Henker von Donovan-Castle. Sie ahnen ja nicht, wie froh ich bin, daß Sie meine Einladung angenommen haben.« Sir James hatte sich Rander zugewandt und nahm einen Schluck aus seinem Glas, »diese Geschichte macht mich nervös. Dieser Henker hat hier im Haus eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit geschaffen.«
»Hoffentlich hat der Henker nicht gerade eine Betriebspause eingelegt«, meinte Rander.
»Ich kann Ihren Spott durchaus verstehen«, gab Sir James zurück, »wer in unserem aufgeklärten Zeitalter glaubt schon an Geister und Gespenster? Aber ich kann Ihnen versichern, daß dieser Henker existiert und mich bereits in zwei Fällen angegriffen und verletzt hat!«
»Sie sind nach wie vor sicher, Sir, daß es sich nicht um Bennie gehandelt haben kann?« erkundigte sich Josuah Parker.
»Vollkommen sicher«, gab Sir James entschieden zurück, »dazu hängt Bennie viel zu sehr an mir. Er dürfte mir gegenüber fast so etwas wie eine hündische Treue empfinden.«
»Aber Sie haben einen bestimmten Verdacht?« schaltete der Anwalt sich jetzt ein.
Sir James wollte antworten, doch eine andere Stimme mischte sich in diesem Augenblick fröhlich-ironisch ein. Sie kam von der Treppe her, die hinauf zur Galerie führte.
»Und ob er einen Verdacht hat, meine Herren!« sagte diese Stimme. Rander und Parker drehten sich zur Treppe, auf der ein schlanker, etwa dreißigjähriger Mann zu sehen war, der ebenfalls einen Smoking trug. Er machte einen unbeschwerten Eindruck. Er kam lässig über die Stufen nach unten, erreichte die Halle, deutete eine leichte Verbeugung an und näherte sich der Sitzgruppe vor dem Kamin.
»Sag deinen Gästen doch, James, daß du mich für den Henker hältst. Genier dich nur nicht!«
»Hallo!« meinte Rander reserviert-belustigt.
»Ich bin Arthur, das schwarze Schaf der Familie«, stellte sich der junge Mann vor. »Sie also sind der Spezialist für verwickelte Kriminalfälle?«
»Rander«, stellte der Anwalt sich vor. »Das ist mein Butler. Mister Parker.«
»Sie wollen unser Hausgespenst hochnehmen, meine Herren!? Da wünsche ich Ihnen aber viel Vergnügen. Und noch mehr Glück! Mir ist dieser Henker leider noch nie über den Weg gelaufen. Erstaunlich, nicht wahr?«
In die peinliche Stille hinein erklang von einer der Spitzbogentüren her ein seltsames, unheimliches und scharrendes Geräusch.
Sir James sprang auf und trat hinter den schweren Sessel, als suche er dort Schutz.
Sir James, der sich gerade eine Zigarette anzünden wollte, hielt in seiner Bewegung inne. Er sah ebenfalls zur Tür hinüber und verzichtete auf eine ironische Bemerkung, die von ihm jetzt eigentlich fällig gewesen wäre.
Parker löste wie zufällig seinen Regenschirm, der bisher noch vom linken Unterarm herunterhing, und Mike Rander fühlte nach seiner kurzläufigen 38er, der sich in der Schulterhalfter befand.
Das Scharren hinter der bewußten Tür wurde noch deutlicher, dann senkte sich die schwere, schmiedeeiserne Türklinke.
Zentimeterweise, fast quälend langsam.
»Der Henker«, flüsterte Sir James. Seine Stimme war heiser.
»Der Tee«, meldete die schwarz gekleidete Frau, die jetzt die Tür aufdrückte und mit einem gefüllten Tablett hereintrat.
*
Die beiden Killer des Syndikats befanden sich zu dieser Zeit in einem Zimmer des Gasthofes und warteten auf die Rückkehr ihrer trockenen Kleidung.
Longless junior saß in seinem Bett und nippte an einem doppelten Whisky.
Cleveland, in eine Wolldecke gehüllt, wanderte durchs Zimmer und dozierte. Er hatte bereits zwei doppelte Whisky in sich.
»Junge, das ist doch wie ’n falsches As im Ärmel«, meinte er begeistert, »ich hab der alten Lady da unten im Lokal die Würmer aus dem Riechorgan gezogen. Ich weiß jetzt Bescheid!«
»Ich auch!« gab Longless junior zurück. »Dieser Job ist nichts für mich. Ich will zurück nach Hause …«
»Zu Daddy, wie?« regte sich Cleveland auf, »damit er dich ungespitzt in den Boden rammt, oder? Der nimmt dich erst dann mit offenen Armen auf, wenn du ein richtiger Killer geworden bist. Immer hübsch daran denken, Junge.«
Cleveland baute sich neben Longless’ Bett auf.
»Und ich schwöre dir, daß ich aus dir einen Mann mache. Dein Daddy kann sich gratulieren, daß du bei mir in die Lehre gehst.«
»Ich bin völlig unbegabt, Clevie.«
»Da möchte ich nicht widersprechen«, erwiderte Cleveland, »aber ich werd’s schon reinbringen. Aber zurück zum Thema! Parker und Rander sitzen diesmal genau im Fadenkreuz. Pannen ausgeschlossen!«
»Und wie soll das diesmal über die Bühne gehen?« erkundigte sich Longless junior vorsichtig.
»Als Solo für zwei Gespenster«, antwortete Cleveland, »ein drittes soll oben im Schloß rumhuschen. Irgendsoein Henker. Ein Schloßgespenst!«
»Schloßgespenst!?« Longless rutschte etwas tiefer in sein Bett.
»Das schmeckt mir aber gar nicht, Clevie.«
»Der Appetit kommt beim Essen, Junge. Stell mal deine Ohren in den Wind! Wir perforieren Rander und Parker – und dann ab die Post, zurück zu Daddy in die Staaten.«
»Mir geht ein Licht auf«, behauptete Longless junior und setzte sich wieder höher.
»Ich ahnte es fast«, sagte Cleveland.
»Die Polente wird glauben, Rander und Parker wären von diesem Schloßgespenst hochgenommen worden!« Longless strahlte seinen Lehrherrn an.
»Deine Erbanlagen kommen durch«, freute sich Cleveland sichtlich.
»Aber das wird nicht klappen«, fügte Longless junior hinzu und rutschte wieder tiefer ins Bett.
»Wieso nicht?«
»Wie kommen wir in den Bau rein?«
»Das sind doch kleine Fische«, meinte Cleveland, »laß mich mal machen! Für so etwas war ich schon immer Spezialist. Wir werden … Was ist denn?«
Er brach irritiert seinen Satz ab und starrte auf Longless, der mit ausgestrecktem Zeigefinger hinüber zum bleiverglasten Fenster deutete. Dabei ließ Longless sich noch tiefer ins Bett rutschen.
Cleveland schluckte und riß sich zusammen.
Ihm war wirklich entgangen, daß das Fenster sich langsam öffnete. Wie von fremder Hand.
Cleveland hechtete in diesem Moment aufs Bett und langte im Anflug bereits nach der schallgedämpften Waffe. Er erwies sich mit dieser Geistesgegenwart als echter Vollprofi, der instinktiv und richtig reagierte.
Er hatte allerdings etwas Pech, denn das Bettgestell war diesem wilden Hechtsprung nicht gewachsen.
Es gab einen lauten Krach, Holz barst und splitterte, und dann verschwand der Vollprofi unter den Betttrümmern und dem Oberbett. Während er noch mit dem Hindernis wütend kämpfte und sich bemühte, wieder an die Oberfläche zu kommen, erschien auf dem Fensterbrett eine schwarze Katze, die sich vertrauensvoll miauend umschaute und dann auf das Bett von Longless sprang, der unter der Decke bereits verschwunden war.
Longless spürte das Gewicht auf seiner Brust und schrie wie am Spieß.
Er sprang augenblicklich hoch und in die falsche Richtung. Dabei stieß er dummerweise mit Cleveland zusammen, der sich seinerseits endlich befreit hatte. Die Köpfe der Killer krachten dumpf zusammen, wonach die beiden Spezialisten benommen zurücksackten. Cleveland in seine Trümmer, Longless darüber.
Es dauerte etwa eine Minute, bis sie sich voneinander befreit hatten.
»Du Pflaume!« sagte Cleveland und verdrehte die Augen. »So was wie dich müßte man aus dem Verkehr ziehen.«
»Ich hab doch deutlich was auf meiner Brust gespürt«, erklärte Longless junior. »Ehrlich!«
»Miauuu …« machte die kleine, schwarze Katze und rieb sich an Longless’ Bein.
Womit er nicht gerechnet hatte.
Longless stöhnte auf und befand sich Bruchteile von Sekunden später auf den Armen von Cleveland, der ihn völlig überrascht ansah, um ihn dann allerdings gnadenlos zu Boden fallen zu lassen.
»Wenn wir das hinter uns haben, brauch ich ’nen Psychiater«, sagte Cleveland dann und hätte um ein Haar aufgeschluchzt.
*
»Ihr Zimmer, Sir«, sagte Mrs. Bannister, »ich wünsche eine gute Nacht!«
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, meinte Rander lächelnd, »wo haben Sie Mister Parker untergebracht?«
»Dort, Sir!« Mrs. Bannister zeigte auf die Tür, die den langen, düsteren Korridor nach hinten abgrenzte. Mrs. Bannister, eine große, hagere, unheimlich aussehende Gestalt in schwarzer Kleidung, hielt einen Kerzenleuchter in der Hand, deren Flammen im Lufthauch zitterten und schwankten.
Das Gesicht der Hausbesorgerin schien aus Holz geschnitzt. Die Zeit, vielleicht auch die Sorge um ihren Sohn Bennie hatte tiefe Falten eingegraben. Diese Frau mußte viel erlebt haben.
»Einen Augenblick noch, Misses Bannister«, stoppte Rander die Frau, die jetzt Weggehen wollte, »gibt es hier oben kein elektrisches Licht?«
»Nur im Erdgeschoß«, war die Antwort, »aber auch dort nur hin und wieder. Die Zuleitung zum Schloß funktioniert oft nicht.«
»Im Gegensatz zum Schloßgespenst, Madam?« schaltete Josuah Parker sich ein. »Darf man fragen, ob Sie bereits den Vorzug hatten, dieses Gespenst zu sehen?«
»Die Sünden der Väter werden sich an ihren Kindern rächen«, orakelte Mrs. Bannister abweisend, wandte Rander und Parker den Rücken zu und marschierte stramm und noch steifer als Parker zurück zur Galerie.
»Misses Bannister!« rief Rander ihr nach. Sie blieb stehen und sah sich um. Sie hatte den Kerzenleuchter auf einer Truhe im Korridor zurückgelassen. Das Licht schuf auf diesem faltigen und knochigen Gesicht unheimliche Schatten und Muster.
»Sie redeten gerade von Kindern, Misses Bannister. Wo steckt eigentlich Ihr Sohn Bennie?«
»Er lebt in seiner eigenen Welt«, gab sie zurück.
»Das Musterbeispiel einer präzisen Antwort«, stellte Rander ironisch fest, »vielen Dank. Misses Bannister! Sorgen Sie dafür, daß er diese eigene Welt nicht unnötig verläßt, sonst könnte es Ärger geben!«
Mrs. Bannister musterte den Anwalt mit einem kalten, fast abschätzenden Blick. Dann war der Butler an der Reihe, der diesen Blick ebenso erwiderte. Sofort drehte sich die unheimliche Dame um und ging endgültig.
»Kommen Sie, Parker«, sagte Rander, »für eine Zigarettenlänge sollten wir uns noch unterhalten. Diese Dame muß ich erst verdauen!«
Parker drückte die Tür zu Mike Randers Zimmer auf.
Sie befanden sich in einem großen und hohen Raum, dessen Wände aus dicken Bruchsteinquadern gebildet wurden. Es gab ein riesiges Baldachin-Bett, in dem eine halbe Kompanie Platz gehabt hätte, einen wuchtigen, reich verzierten Schrank, einige Truhen und Teppiche. Es gab vor allen Dingen auch hier die obligaten antiken Waffen an den Wänden. Licht spendeten zwei Leuchter mit je sechs dicken Wachskerzen.
»In einer stillen Gruft kann’s kaum gemütlicher sein«, sagte Rander, als sein Butler die Tür schloß.
»Bei Tag muß die Aussicht auf das Hochmoor ungemein reizvoll sein«, stellte Parker fest, der eines der beiden gotischen Fenster öffnete. Er beugte sich etwas vor, um die Hauswand betrachten zu können.
Etwa einen Meter unterhalb der Fenster gab es ein schmales Band, auf dem sich zur Not stehen ließ. Dieses Reliefband zog sich über die ganze Hauswand und verband alle Fenster miteinander, eine Tatsache, die Parker sich beiläufig merkte.
»Sehr solides Mauerwerk«, stellte der Butler als nächstes fest. Er pochte mit der Faust gegen die dicken Steinquader und schritt auf diese Art und Weise alle erreichbaren Wandpartien ab.
»Suchen Sie vielleicht zufällig nach einem verborgenen Schatz?« erkundigte sich der Anwalt.
»Schlösser dieser Art verfügen meist über Geheimgänge, Sir«, vermeldete Parker.
»Wie schön daran zu denken, wenn man einschläft, Parker. Haben Sie was entdeckt?«
»Diese Wände hier scheinen massiv zu sein, Sir.«
»Schemen …«
»Mit letzter Sicherheit läßt sich so etwas nicht feststellen, Sir, dazu müßte man Stichproben machen.«
»Sie machen mich langsam, aber ganz sicher wahnsinnig.«
»Oh, dies war auf keinen Fall meine Absicht, Sir.«
»Reden wir lieber von dieser Gespenstergeschichte, Parker. Was halten Sie davon?«
»Ein äußerst glücklicher Umstand, Sir, daß Sie Sir James in London trafen.«
»Natürlich, Sie wittern wieder mal einen fulminanten Kriminalfall, nicht wahr?«
»Dies, Sir, wird die nähere Zukunft lehren. Interessant in diesem Zusammenhang dürfte das sichtbare Spannungsverhältnis sein, das zwischen Sir James und Sir Arthur zu herrschen scheint.«
»Schon peinlich deutlich, Parker. Die beiden Brüder mögen sich offensichtlich nicht.«
»Wenn ich steigern darf, Sir, so würde ich sagen, sie hassen sich.«
»Wahrscheinlich, Parker, aber das dürfte mit dem Schloßgespenst nichts zu tun haben. Glauben Sie wirklich, es würde sich die Nacht um die Ohren schlagen? Wir werden ein paar hübsche Tage hier auf Donovan-Castle haben und dann ergebnislos, aber ausgeruht zurück nach London fahren. Und ich habe nichts dagegen!«
*
Mike Rander hätte wahrscheinlich wesentlich anders gesprochen, wenn er in den langen, düsteren Korridor gesehen hätte. Und Parkers Vermutung, es müsse Geheimgänge geben, hätte sich als richtig herausgestellt.
Solch ein Geheimgang existierte!
Ein Stück Mauer neben einer Truhe schwenkte gerade unhörbar zur Seite und gab den Blick frei in einen engen Durchlaß. Aus dieser Geheimtür kam eine Gestalt, die an einen wirren Alptraum erinnerte. Sie war übergroß, trug einen weitfallenden, mittelalterlichen Radmantel, auf dem Blutspuren zu erkennen waren, und eine spitze Kapuze, wie sie von Henkern des Mittelalters bevorzugt wurden. Die Beine steckten in Stiefeln, die plump und übergroß wirkten.
Die Krönung dieser Erscheinung aber war das schwere, übergroße Henkerbeil in den Armen. Die Gestalt hielt zielsicher auf jene Tür zu, hinter der sich Rander und Josuah Parker aufhielten.
Die Bewegungen dieser Erscheinung waren drohend und wirkten unabänderlich. Sie waren wie das Schicksal, das sich nicht mehr ändern ließ.
*
»Zieh die Oberbetten ab«, sagte Cleveland entschlossen.
»Jetzt schon? Wir haben die Laken ja noch nicht mal gebraucht«, wunderte sich Longless junior.
»Bring mich bloß nicht auf die Palme«, schnaufte Cleveland, »wir brauchen Kostüme, klar?«
»Findet unten ’ne Party statt?« freute sich Longless spontan und riß weit seine kleinen Augen auf. Sie befanden sich in einem rosigen Babygesicht, das mütterliche Instinkte auslöste. Longless junior war tatsächlich ein Riesenbaby, das allerdings über erstaunliche Körperkräfte verfügte, wenn es notwendig wurde.
Cleveland hingegen war mittelgroß, wirkte gegen Longless aber fast schmal und hilfsbedürftig. Er sah aus wie ein großer, netter, legerer Junge, dem man den Killer auf keinen Fall abnimmt.
»Klar findet ’ne Party statt«, sagte Cleveland geduldig, »aber nicht unten in der Pinte, sondern oben auf dem Schloß. Und wir werden uns den Sonderpreis holen …«
»Sonderpreis, Clevie!?«
»Als Schloßgespenst«, präzisierte Cleveland, »dazu brauchen wir die Laken. Hast du schon mal ’n Geist gesehen ohne weißen, wallenden Kittel?«
»Mensch, Clevie, du bist einsame Klasse«, lobte Longless, »das muß ich unbedingt mal Daddy schreiben.«
»Du kannst ihm das schon übermorgen sagen, Junge. Dann sind wir nämlich wieder in Chikago und kassieren unsere Prämie.«
Longless befaßte sich mit den Oberbetten und Laken, während Cleveland seine Schußwaffe und den dazugehörigen Schalldämpfer prüfte. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er sah sich außerstande, noch länger mit Longless zusammen zu sein. Der Junge war zwar, rein menschlich gesehen, ein netter Trottel, doch als Partner in diesem gefährlichen Job war er ein glatter Versager, ohne jede Veranlagung.
Seitdem Cleveland mit Longness Naivität ansteckend wirkte. Cleveland spürte, daß er sich seit Tagen weit unter seiner normalen Form befand.
Aber das sollte sich jetzt nachdrücklich ändern.
Cleveland wollte sich nicht mehr ablenken lassen. Oben im Schloß warteten die Opfer auf ihn, Opfer, die sein mehr als angeschlagenes Selbstbewußtsein wieder aufrichten sollten.
*
»Ich erlaube mir, Sir, Ihnen eine ausgesprochen gute Nacht zu wünschen«, verabschiedete sich Josuah Parker von seinem Herrn, verbeugte sich knapp, aber sehr höflich und schritt dann gemessen zur Tür.
»Gute Nacht, Parker«, meinte der Anwalt lächelnd, »und sollte sich das Schloßgespenst zeigen, dann kommen Sie ruhig bei mir vorbei. Ich werde Ihnen dann … Moment, was war das!?«
Die Frage war nicht unberechtigt.
In Randers Worte hinein war das dumpfe Dröhnen eines gewaltigen Schlages zu hören, der die schwere Tür im Rahmen erzittern ließ. Parker, schon fast an der Tür, blieb stehen und sah sich nach Rander um.
»Wenn Sie gestatten, Sir, werde ich mich sofort vergewissern«, sagte Parker dann, »es scheint sich um eine ungemein nachdrückliche Form des Anklopfens gehalten zu haben!«
Er ging schnell auf die Tür zu, trat etwas zur Seite und klinkte sie dann auf. Sie schwang zur Seite und gab den Blick frei auf ein riesiges Henkerbeil, dessen Schneide tief im Türholz steckte.
»Falls mich nicht alles täuscht, Sir, dürfte es sich hier um den immerhin ungewöhnlichen und origienellen Gruß des Schloßgespenstes handeln.«
Während Parker noch redete, faßte er nach dem Stiel und versuchte die Axt aus dem Türholz zu ziehen. Es gelang ihm nur sehr mühsam. Parker mußte sehr viel Kraft aufwenden.
»Dieses Gespenst, Sir, muß offensichtlich über erstaunliche physische Kräfte verfügen«, stellte der Butler dazu fest. Er hatte es inzwischen geschafft und das überdimensional große Beil aus dem Holz gezogen. Er reichte es seinem jungen Herrn.
»Bennie …!?« fragte Rander spontan und nachdenklich zugleich.
»Diese Möglichkeit sollte man keineswegs ausschließen«, antwortete Josuah Parker. »Was allein die Körperkräfte anbelangt, Sir, dürfte diese Vermutung zur Sicherheit werden lassen …«
»Oder vielleicht Sir Arthur, der sich einen Jux gemacht hat?«
»Auch in diesem Fall möchte ich nicht widersprechen«, antwortete Parker. »Sportlich dürften beide Schloßherren sein, wie ich am Rande feststellen möchte …«
Parker hatte seinen Satz noch nicht ganz beendet, als er erneut unterbrochen wurde.
Durch den langen und düsteren Korridor, der wieder völlig normal und harmlos aussah, erklang ein langgezogener, gellender Schrei, der durchaus geeignet war, das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
Parker und Rander sahen sich betroffen an.
»Beeilung, Parker«, stieß Mike Rander hervor, »unser Typ wird verlangt!«
*
Dieser gellende Schrei war nicht nur von Rander und Parker gehört worden.
Longless hatte ihn ebenfalls gehört und war sofort sicherheitshalber in die Knie gegangen.
Womit Cleveland, der knapp hinter ihm war, natürlich nicht gerechnet hatte. Er stolperte über Longless und schlug der Länge nach zu Boden. Er landete in einem sperrigen Strauch und war äußerst schlechter Laune, als er sich wieder erhob.
»Hast du gehört?« fragte Longless junior, als Cleveland wieder neben ihm stand und sich einige Zweige aus dem Hemdkragen zupfte.
»Ich hab ja keine Bohnen in den Ohren«, schnaufte Cleveland gereizt.
»War richtig unheimlich«, stellte Longless weiter fest, »im Schloß muß was passiert sein.«
»Du hast wieder mal sagenhaft schnell geschaltet«, sagte Cleveland mißmutig, »los, weiter!«
»Ins Schloß?«
»Hast du ’nen besseren Vorschlag?«
»Wir könnten vielleicht wieder zurück ins Dorf, Clevie …«
»Und Parker und Rander?«
»Die sind vielleicht schon hops gegangen, Clevie, wie!« Longless sah seinen Lehrmeister aus kleinen, hoffnungsfrohen Augen an.
»Möglich, aber das will ich selbst sehen«, antwortete Cleveland in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, »komm, weiter, Longie!«
Sie huschten näher ans Haus heran und bauten sich neben einem Fenster, das zur großen Wohnhalle gehörte, auf. In den bleiverglasten Scheiben gab es ein Stück mit Normalglas, durch das man in die große Schloßhalle hineinsehen konnte. Cleveland orientierte sich, während Longless junior wachsam und nervös das Gefühl hatte von tückischen Augen beobachtet zu werden.
*
»Wo bleibt denn das Verbandszeug«, fragte Sir Arthur scharf und ungeduldig. Er kümmerte sich um seinen älteren Bruder, der wie ein Häufchen Unglück auf einer Stufe saß und sich die linke Schulter hielt. Dann wandte er sich an Rander, der seitlich neben ihm stand. »Was sagen Sie denn dazu, Mister Rander?«