Читать книгу Butler Parker Classic 37 – Kriminalroman - Günter Dönges - Страница 3
ОглавлениеParker und das »Mord-Phantom«
Roman von Günter Dönges
Paul Walton war mehr als zufrieden.
Schnaufend stieg er von dem schmalen und hohen Barhocker herunter und nickte dem Koch hinter dem Tresen des Schnellimbiß anerkennend zu. Dann ging er mit den schnellen, kleinen Schritten, wie sie korpulenten Personen eigen sind, hinaus zu seinem Wagen und setzte sich ans Steuer.
Er war eigentlich in zweifacher Hinsicht mehr als zufrieden.
Das eben servierte Steak hatte sich als überraschend zart, saftig und würzig erwiesen. Und das Auftragsbuch in seiner großen Ledertasche war genauso gut gefüllt wie jetzt sein Magen.
Paul Walton war Vertreter für Schnellkochtöpfe. Zwei Tage lang war er unterwegs gewesen. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Reisen hatte er diesmal seine Zunge kaum zu strapazieren brauchen. Die Auftragsbücher hatten sich fast von allein gefüllt.
Die lange Nachtfahrt zurück nach Chikago schreckte ihn nicht. Schließlich hatte er ein Radio an Bord. Und schließlich war da die innere Freude über die eingeholten Aufträge. Solch ein gutes Geschäft hatte er schon lange nicht mehr gemacht.
Nachdem Walton sich eine Zigarette angezündet hatte, steuerte er den Ford auf die Landstraße hinaus, schaltete hoch und ging dann auf Reisegeschwindigkeit. Die Nacht war zwar etwas dunstig, doch das machte ihm nichts aus.
Walton fuhr ohnehin niemals schnell. Dazu fühlte er sich zu alt. Er war immerhin bereits 53 Jahre und lag in einem Dauerkampf mit seinem leicht erhöhten Blutdruck.
Der Verkehr auf der gut ausgebauten Überlandstraße war gering. Nach 22 Uhr gingen die meisten Fahrer von der Straße. Walton setzte sich bequem in seinem Sitz zurecht und schaltete das Radio ein. Irgendein stadtnaher Sender brachte genau die richtige Musik für ihn. Leichter Swing, der den Ohren schmeichelte. Die eingeblendeten Reklamedurchsagen ließen sich verschmerzen. Sie waren immerhin witzig.
Walton überholte nacheinander einige Trucks und mußte plötzlich voll in die Bremsen steigen, als er hinter einer scharfen Biegung in eine überraschend dichte Nebelwand geriet. Für Bruchteile von Sekunden verlor er die Richtung, doch dann strahlten die Begrenzungspfähle am Straßenrand wie Katzenaugen auf. Walton fing den Wagen ab und brachte ihn wieder auf Kurs.
Langsam tastete er sich durch den dichten Nebel, der von einem nahen Bach aufstieg. Die Frontscheibe des Wagens beschlug. Er mußte die Wischer in Tätigkeit setzen. Die Swingmusik erwies sich jetzt als störend. Walton beugte sich vor und schaltete das Radio aus.
Genau in diesem Augenblick sah er vor sich im Nebel eine undeutliche Gestalt, die winkte.
Walton bremste den langsam rollenden Wagen noch weiter ab. Er kniff die Augen zusammen und war ungemein verblüfft. Dort vor ihm im wallenden Nebel stand ein Chirurg.
Der Mann trug das weiße randlose Käppchen der Chirurgen, den weißen, langen Operationsmantel und Gummihandschuhe. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Selbst die weiße Mundbinde war vorhanden.
Walton dachte sofort an einen Unfall, der sich dort irgendwo zugetragen haben mochte. Sicherheitshalber hielt er den Wagen an und kurbelte die Wagenscheibe an seiner Seite herunter.
»Kann ich helfen, Sir...?« rief er dem entgegeneilenden Chirurgen zu.
»Unfall...!« kam die prompte Antwort des Arztes. Die Stimme des schlanken, mittelgroßen Mannes klang gehetzt. »Unfall... Zusammenstoß.«
»Soll ich die Polizei alarmieren?« fragte Walton und stieg aus dem Wagen.
Der Chirurg stand inzwischen vor ihm.
Irgendwie sah dieser Mann in seiner Berufskleidung unheimlich und drohend aus. Und Walton bedauerte es fast, daß er angehalten hatte und ausgestiegen war.
Dennoch hatte Paul Walton nicht etwa Angst. Dazu hatte er in seinem Leben als Vertreter schon zuviel erlebt. Zudem führte er kaum Bargeld mit sich. Die täglichen Abrechnungen und Bargeldeinnahmen brachte er Tag für Tag zur Bank. Und jedes noch so kleine Nest verfügte über eine Bankfiliale. Daran war kein Mangel.
»Soll ich die Polizei informieren?« fragte Walton noch einmal. Es irritierte ihn, daß der Chirurg nicht antwortete. Das Gesicht des Mannes verschwand hinter der Mundmaske. Nur die schwarzen, großen Augen waren zu erkennen.
»Polizei...?« fragte der Chirurg gedehnt zurück.
»Natürlich. Hier muß doch abgesperrt werden«, sagte Walton. »Hinter mir kommen ein paar dicke Lastwagen!«
Sein Blick glitt hinüber auf die Gummihandschuhe des Arztes. Sie waren blutverschmiert.
»He, Mann, hören Sie doch... Hier muß abgesperrt werden«, wiederholte Paul Walton noch einmal.
Mehr vermochte er nicht mehr zu sagen. Er wollte noch entsetzt aufschreien, als die blutverschmierten Gummihandschuhe sich blitzschnell um seinen Hals legten. Doch dazu kam es nicht mehr. Wie Stahlklammern schnürten ihm die Finger die Luft ab. Dann verlor Walton sein Bewußtsein und sein Leben...!
*
Josuah Parker servierte das Dinner.
Unnahbar, in gestreifter Weste und dunkler Hose, stand er seitlich hinter seinem jungen Herrn und reichte ihm die vielen, kleinen, lukullischen Spezialitäten, die er in der Küche der gemeinsamen Dachgartenwohnung in der Lincoln Park Avenue zubereitet hatte.
Anwalt Mike Rander hatte sich längst an diese Zeremonie gewöhnt. Butler Parker war einfach nicht dazu zu bewegen, sich ebenfalls an den Tisch zu setzen. Für einen eingeschworenen Butler, wie er einer war, blieb es undenkbar, sich zwanglos an den Tisch der Herrschaft zu setzen.
Mike Rander hatte einen langen Arbeitstag hinter sich. Er war zur Zeit mit einem äußerst wichtigen Zivilprozeß beschäftigt. Nach dem Dinner wollte er sich in sein Arbeitszimmer zurückziehen und einen Schriftsatz auf Band diktieren.
Parker wußte von dieser Absicht. Er mißbilligte sie ungemein. Seiner Ansicht nach arbeitete Mike Rander zuviel, und das augenblickliche Leben verlief ohnehin zu eintönig. Parker fehlten die aufregenden, prickelnden Kriminalfälle.
Er servierte seinem jungen Herrn gerade den abschließenden Mokka, als das Telefon klingelte.
»Ich bin nicht zu Hause«, sagte Rander, als Parker zum Apparat ging, das auf einem Sideboard stand.
»Auch für Ihre Freunde nicht, Sir?« erkundigte sich Parker, bevor er den Hörer in die Hand nahm.
»Grundsätzlich nicht«, gab Mike Rander mit einer abwehrenden Handbewegung zurück.
Parker nickte würdevoll zurück, ohne sich von dem gereizt klingelnden Telefon nervös machen zu lassen. Dann hob er mit genau abgezirkelten Bewegungen den Hörer ab und meldete sich.
Mike Rander war in Gedanken bereits bei seinem Schriftsatz und drehte sich nicht zu seinem Butler um, der stocksteif, als habe er einen Ladestock verschluckt, vor dem Sideboard stand und den Anruf entgegennahm.
Ein Umdrehen hätte sich allerdings vielleicht für ihn gelohnt.
Parker, dessen Gesicht kaum eine Regung zeigte und eigentlich immer wie die undurchdringliche Maske eines erstklassigen Pokerspielers aussah, Parkers Antlitz zeigte diesmal so etwas wie Bewegung. Seine Gesichtshaut rötete sich. Seine eisgrauen Augen nahmen einen interessierten Ausdruck an.
Nach wenigen Minuten legte der Butler wieder auf und ging würdevoll wie ein Haushofmeister zum Tisch zurück.
»Anruf von Leutnant Madford«, meldete der Butler dann. »Er bedauert es ungemein, daß er Sie, Sir, nicht sprechen konnte.«
»Was liegt denn an?« erkundigte sich Rander desinteressiert.
»Leutnant Madford ist vor wenigen Minuten darüber verständigt worden, Sir, daß Steve Bradsen die Flucht aus der geschlossenen Abteilung der staatlichen Heilanstalt gelungen ist.«
»Wer ist geflüchtet?« Mike Rander setzte die Mokkatasse ab und sah seinen Butler verständnislos an.
»Steve Bradsen, Sir. Wenn Sie erlauben, rufe ich in Ihre Erinnerung zurück, daß Steve Bradsen...«
»Es hat bereits geklingelt«, sagte Rander, seinen Butler unterbrechend. »Bradsen... War das nicht dieser Gangsterboß, der wegen Mord vor Gericht stand und der mit Unzurechnungsfähigkeit an der Todesstrafe gerade noch so vorbeikam?«
»In der Tat, Sir! Der Richter erkannte seinerzeit auf lebenslängliche Einschließung. Steve Bradsen wurde daraufhin in die staatliche Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen.«
»Wo er wie lange blieb, Parker? Sie haben in diesen Dingen ein besseres Gedächtnis als ich.«
»Genau vier Jahre, Sir! Eben bis heute!«
»Schön, und weshalb rief Madford an?«
»Er fühlte sich verpflichtet, Sir, Sie und meine bescheidene Wenigkeit, dringend zu warnen!«
»Ach nee! Und warum?«
»Leutnant Madford, Sir, befürchtet, daß Bradsen sich rächen will, zumal er während der vier Jahre seines Aufenthalts in der Heilanstalt immer wieder intensiv davon gesprochen hat!«
»Na gut, wir werden also aufpassen«, meinte Anwalt Rander lächelnd, »aber wenn Sie mich fragen, Parker, dann hat dieser Bradsen jetzt andere Sorgen, als sich an uns zu rächen!«
»Sir, darf ich darauf hinweisen, daß immerhin Sie und meine bescheidene Wenigkeit der Anlaß dafür waren, daß Steve Bradsen seinerzeit verhaftet und verurteilt wurde?«
»Natürlich dürfen Sie, Parker. Aber wenn Sie mich fragen, dann macht Leutnant Madford sich unnötige Sorgen. Und Sie sich unnötige Hoffnungen, Parker. Mit einem interessanten Kriminalfall brauchen Sie erst gar nicht zu rechnen! Daraus wird nichts...!«
*
Norman Capty stand hinter der Ladentheke und addierte Zahlenkolonnen. Trotz der späten Stunde hatte er sein Geschäft noch nicht geschlossen. Mitternacht war gerade angebrochen, doch Captys Kunden liebten gerade diese Zeit. Sie bestanden zum größten Teil aus Männern, denen das Geld ausgegangen war. Captys Kunden erschienen dann ungeniert, um in seiner Pfandleihe Geld zu pumpen. Daß sie mehr oder weniger wertvolle Gegenstände als Pfand zurückließen, störte Capty nicht. Es störte ihn auch kaum, wenn diese Pfandstücke vielleicht aus einem frischen Diebstahl herrührten. Er besaß Erfahrung in solchen Dingen und wußte die Pfandstücke an den richtigen Mann zu bringen. Denn in der Regel wurden sie niemals wieder abgeholt.
Capty, ein schwerer, massiger Mann von fast 60 Jahren, sah kaum hoch, als die Ladentür aufgedrückt wurde. Er schloß seine Addition erst ab, bevor er auf blickte.
»Was soll’s denn sein?« fragte er und musterte den Kunden. Er sah einen mittelgroßen, schlanken Mann vor sich, der einen viel zu weiten Anzug trug. Dieser Mann hielt ein Päckchen unter dem Arm, das er jetzt auf die Ladentheke legte.
»Ich brauche Geld«, sagte der Kunde. Seine Stimme klang etwas heiser, als habe er sich gerade frisch erkältet.
»Wer braucht das nicht?« seufzte Capty prompt. »Was haben Sie denn anzubieten?«
Während er sprach, überlegte er, wo er den Kunden schon einmal gesehen hatte. Der Mann im schlotternden Anzug war ihm bekannt. Capty wußte im Moment nur nicht, wo und wie er ihn einordnen sollte.
»Das hier!« sagte der Kunde, der Captys Antwort überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatte. Er löste das Einschlagpapier und wies auf zumindest ungewöhnliche Kleidungsstücke.
Es handelte sich um weiße Operationshosen, um einen weißen Operationskittel, um weiße Schuhe und um ein weißes Käppchen.
»Was soll n das sein?« fragte Capty und sah den Kunden überrascht an.
»Operationsanzug«, gab der Kunde lakonisch zurück. »Wieviel geben Sie, Capty?«
»Sie kennen mich?« fragte Capty zurück. Er wußte, daß sein Name nicht am Geschäft stand.
»Ungefähr«, antwortete der Kunde. »Also, wieviel rücken Sie raus?«
»Für diesen Plunder?« fragte Capty gereizt zurück. Irgendwie gefiel ihm der Mann jenseits der Theke nicht.
»Nagelneue Sachen«, meinte der Kunde, »sehen Sie mal, was hier in der Tasche steckt.«
Capty beging den Fehler, sich neugierig über den Tresen zu beugen. Er hätte es besser nicht getan, denn so konnte er dem Skalpell nicht mehr ausweichen, das der Kunde plötzlich in der Hand hielt.
Capty wollte schreien, doch dazu hatte er Bruchteile von Sekunden später einfach keine Luft mehr. Röchelnd fiel er zurück, schlug gegen die Zwischenbretter eines Regals und stürzte tot zu Boden.
Der Kunde im viel zu weiten Anzug ging überraschend gelassen zurück zur Tür, riegelte sie zu und drehte das Licht aus. Dann machte er sich daran, das reichhaltige Warenangebot des Pfandleihers zu besichtigen.
Der Kunde wußte genau, was er brauchte.
Interessiert ging er an den Regalen vorbei und sammelte verschiedene Gegenstände ein. Anschließend kleidete er sich im Lager um und entwickelte dabei nicht nur Geschmack, sondern auch äußerst praktischen Sinn.
Nach etwa einer halben Stunde hatte er, was er brauchte. Er packte eine Reisetasche aus Leder prall voll. Dann zündete er sich eine Zigarette an und leerte zusätzlich noch die Ladenkasse. Mit einem kleinen, altmodisch aussehenden Tresor in Captys Büro hielt er sich erst gar nicht auf. Er wußte, daß er ihn nicht knacken konnte.
Dann riegelte der seltsame Kunde und Mörder die Eingangstür auf und betrat die Straße. Ohne Nervosität zu zeigen, schlenderte er langsam die Straße hinunter und hielt auf die nächste Busstation zu.
Unterwegs überholte ihn ein Streifenwagen der Polizei, der langsam durch die Straße patrouillierte.
Der Mörder sah überhaupt nicht hin. Dieser Wagen interessierte ihn nicht. Angst vor einer Entdeckung schien er nicht zu haben. Zielsicher ging er weiter, bis er eine Telefonzelle in der Nähe der Busstation erreicht hatte.
Der Mörder zögerte einen Moment. Dann aber betrat er die Sprechzelle und blätterte im Telefonbuch, bis er eine bestimmte Nummer gefunden hatte. Er hob den Hörer ab, warf eine Münze in den Apparat und wählte die Nummer.
Auf der Gegenseite wurde nach einigen Sekunden abgehoben.
Eine sehr würdevolle und gemessene Männerstimme, baritonal gefärbt, meldete sich und fragte höflich nach den Wünschen des Anrufers.
Der Mörder verzichtete auf eine Antwort.
Er legte wieder auf und verließ die Telefonzelle. Sein Gesicht, das von den bunten Reklamelichtern angestrahlt wurde, wirkte in diesem Moment kalkweiß. Und in diesem kalkweißen Gesicht glühten dunkle, große Augen ...
»Wer hat angerufen?« erkundigte sich Mike Rander, nachdem der Butler aufgelegt hatte. »Etwa schon wieder Leutnant Madford?«
»Der Anrufer meldete sich nicht, sondern legte nach dem hergestellten Kontakt sofort wieder auf, Sir.«
»Falsch verbunden wahrscheinlich«, sagte Mike Rander und widmete sich wieder seinem Diktat. Er sah allerdings irritiert hoch, als Parker stumm und mahnend vor dem großen Arbeitstisch stehenblieb.
»Ist noch was?« fragte der junge Anwalt.
»Dieser gerade erfolgte Anruf, Sir, ließ mich das werden, was man stutzig nennt.«
»Ich sagte doch schon, irgendeine falsche Verbindung.«
»Durchaus möglich, Sir, das räume ich ohne weiteres ein. Es könnte sich aber auch um diesen Steve Bradsen gehandelt haben!«
»ich hab s geahnt, daß Sie auf diesen Gangster noch mal zu sprechen kommen«, meinte der Anwalt seufzend. »Also sagen Sie schon, was Sie auf dem Herzen haben!«
»Vielleicht wollte Mister Bradsen sich nur vergewissern, daß er Sie und meine bescheidene Wenigkeit zu Hause antrifft, Sir.«
»Okay, angenommen, das stimmt, Parker. Was wollen Sie dagegen tun?«
»Man könnte und müßte gewisse Vorkehrungen treffen, Sir.«
»Und wie sollen die aussehen, Parker?« Durch Mike Randers Stimme klang Ungeduld.
»Das weiß ich leider noch nicht, Sir. Aber wenn Sie erlauben, werde ich mir darüber einige Gedanken machen.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Parker!« Rander lächelte versöhnlich, »aber ich glaube nach wie vor, daß Sie auf dem Holzweg sind. Übrigens, seit wann befindet sich Bradsen denn auf freiem Fuß?«
»Seit etwa 22 Uhr, Sir. Zeit genug, um hierher nach Chikago zu gelangen.«
»Okay, kümmern Sie sich um die Vorkehrungen, ich um meinen Schriftsatz, Parker!«
Josuah Parker deutete eine kleine Verbeugung an und verließ das Arbeitszimmer seines jungen Herrn. An der Tür blieb er noch einmal kurz stehen und sah sich prüfend um.
Das breite, niedrige Fenster des Penthouse ging auf den Michigansee hinaus. Und von dort drohte gewiß keine Gefahr. Das Penthouse befand sich ja immerhin auf dem Dachgarten eines massigen Bürohauses, dessen obere Etage von Mike Rander als Anwaltsbüro eingerichtet worden war.
Unter diesem Büro gab es Dutzende von Firmen. Nachtsüber war der riesige Block so gut wie leer.
Parker schloß leise die Tür hinter sich und betrat die große Wohndiele. Von hier aus zweigten die einzelnen Räume ab. Das Penthouse, praktisch ein sehr geräumiger, einstöckiger Bungalow auf dem Dach des Bürohauses, enthielt zwei getrennte Wohnteile. In dem einen Teil wohnte Mike Rander, im zweiten Teil hatte Parker sich wohnlich eingerichtet. In seinem Trakt befand sich auch seine Bastelstube, wie Mike Rander dieses laborähnlich eingerichtete Arbeitszimmer nannte. In dieser erstklassig eingerichteten Werkstatt befaßte der Butler sich mit seinen mehr als originellen Experimenten, die alle darauf hinausliefen, den Gangstern das Leben besonders schwer zu machen.
Parker holte sich ein starkes Fernglas, das für die Nacht eingerichtet war. Damit bewaffnet trat er hinaus auf den großen Dachgarten und suchte die nähere Umgebung ab.
Tief unter ihm, auf der Lincoln Park Avenue, brandete der Verkehr, der selbst um diese Zeit niemals einschlief. Jenseits der Avenue türmten sich die Hochhäuser der riesigen Stadt auf, die sich gegen den Widerschein der eingeschalteten Reklamen und Beleuchtung wie Schattenrisse abhoben.
Drohte von dort irgendeine Gefahr?
Parker nahm seine Ermittlungen sehr genau.
Er wanderte auf dem Dachgarten umher und versuchte sich in die Gedankenwelt jenes Mr. Steve Bradsen zu versetzen. Er fragte sich, wie er als Bradsen handeln würde. Welche Möglichkeiten boten sich ihm dann, möglichst risikolos zu töten?
Plötzlich blieb der Butler stehen.
Mit bloßem Auge kaum zu erkennen, stand jenseits der breiten Avenue ein schlanker, turmhoher Baukran, dessen Ausleger über einem im Bau befindlichen Parkhochhaus stand.
Parker taxierte die Entfernung. Vom Dachgarten bis hinüber zum Baukran mochten es hundert Meter sein. Das kleine Krähennest, in dem tagsüber der Kranführer saß, befand sich ungefähr auf der Höhe des Dachgartens.
War es möglich, daß Bradsen sich dort etwa eingenistet hatte? Mit einem guten Gewehr war die Distanz zwischen Dachgarten und Kran gut zu überbrücken. Im Grunde war es sogar eine Kleinigkeit, wenn man ein Zielfernrohr benutzte.
Parker nahm das schwere Nachtglas hoch und suchte das Stahlfiligran des schlanken Krans genau ab. Von unten führte eine Steigeleiter hinauf in das Krähennest. Ein schwindelfreier Mensch konnte sich auf dieser Steigeleiter mühelos bewegen.
Parkers Nachtglas suchte das Krähennest besonders eingehend ab. Erleichtert ließ Parker dann das Glas wieder sinken. Die verglaste Kanzel des Krans war leer.
Anschließend wanderte der Butler durch das Penthouse und suchte nach besonders gefährdeten und neuralgischen Punkten. Nach wenigen Minuten hatte er sie gefunden. Vom Kran aus waren die Küche, das Badezimmer, die Wohndiele und der Ankleideraum Mike Randers einzusehen. Da der Butler die Gewohnheiten seines jungen Herrn besonders gut kannte, traf er also seine Vorkehrungen.
Er schraubte sämtliche Glühbirnen in diesen betreffenden Räumen so weit heraus, daß sie beim Betätigen der Schalter nicht mehr aufglühten. Mike Rander pflegte besonders verschwenderisch mit dem Licht umzugehen und hielt kaum etwas von sichthindernden Vorhängen. Bisher war das auch nicht notwendig gewesen, denn die Räume der Dachgartenwohnung konnten normalerweise kaum eingesehen werden.
Nach diesen Sicherheitsvorkehrungen verschwand der Butler in seiner »Bastelstube« und öffnete dort den Waffenschrank, der fast die ganze Länge des Zimmers einnahm. Fein säuberlich aufgereiht, bot sich dem Auge ein Waffenarsenal, um das ihn ein Waffenhändler mit einiger Sicherheit beneidet hätte. Parker entschied sich nach einigem Suchen für einen Remington-Repetierer, Kaliber 22. Er trug diese Kugelbüchse, die selbstverständlich mit einem handlichen Zielfernrohr versehen war, hinüber in die Küche und schob das Fenster hoch. Bei einem eventuellen Zwischenfall wollte er keine Zeit verlieren.
Danach sorgte er dafür, daß dem Mörder auch ein Ziel zur Verfügung stand.
Parker brauchte in seiner erstklassig eingerichteten Werkstatt nicht lange nach den Einzelheiten zu suchen. Er montierte ein leichtes Holzgestell in der Form eines Kreuzes. Darüber zog er einen Kittel. Mittels einiger Putzlappen formte er dann so etwas wie einen Kopf. Dieses ausgeputzte Gestell trug er hinüber in den Baderaum und baute es hart vor dem Fenster auf, dessen Scheibe aus verständlichen Gründen aus Milchglas bestand. Anschließend drehte er eine der Glühbirnen wieder so weit ein, daß sie vom elektrischen Strom erfaßt und erhellt werden konnte.
Nun kam alles darauf an, ob der Mörder das tat, womit der Butler fest rechnete.
Mike Rander kam gähnend aus seinem Arbeitszimmer und steuerte den Baderaum an. Schon nach wenigen Schritten blieb er überrascht stehen.
»Was tun Sie denn hier, Parker?« fragte er. Er sah seinen Butler ratlos an. Josuah Parker stand vor der Tür zum Baderaum und schien so etwas wie Wache zu halten.
»Ich erlaube mir, Sir, auf Sie zu warten.«
»Auf mich? Trauen Sie mir nicht zu, daß ich allein ins Badezimmer komme?«
»Es ist wegen des Lichtes, Sir!«
»Was ist denn damit?«
»Ich habe mir erlaubt, einen Besucher ins Badezimmer einzulassen.«
»Was hat denn der mit dem Licht zu tun, Parker?« Mike Rander schüttelte sanft verweisend den Kopf.
»Dieser Besucher, Sir, wird sich in dem Augenblick gegen die Milchglasscheibe abheben, in dem das Licht eingeschaltet wird.«
»Klar, ist anzunehmen«, sagte Mike Rander, der seinen Butler immer weniger verstand. »Und wo ist die Pointe?«
»Ich hoffe, Sir, daß auf diesen Besucher dann geschossen wird.«
»Von wem denn, zum Henker?« Mike Rander wurde langsam ärgerlich.
»Von Mister Steve Bradsen, Sir!«
»Jetzt geht mir endlich ein Licht auf«, meinte der junge Anwalt und lachte leise. »Sie rechnen ja mit einem Überfall... Machen Sie sich keine unnötigen Hoffnungen, Parker... Diesmal ist die Phantasie mit Ihnen durchgegangen.«
»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Sir?«
»Lassen Sie erst mal hören, was Sie wollen. Ich lasse mich gerade von Ihnen nicht gern festlegen. Dabei erlebt man zu viele Überraschungen.«
»Könnten Sie nicht das Licht im Baderaum einschalten, Sir, gleichzeitig aber darauf verzichten, das Zimmer weiter zu betreten?«
»Was versprechen Sie sich denn davon, Parker?«
»Ihre Unversehrtheit, Sir! Ich würde es ungemein bedauern, wenn Sie beschossen und sogar getroffen würden. Ich bitte Sie sehr um diesen kleinen Gefallen.«
Mike Rander sah seinen Butler einen Moment lang nachdenklich an, dann nickte er.
»In Ordnung«, meinte er dann, »aber warum tun Sie’s nicht, Parker?«
»Weil ich meinen Posten in der Küche beziehen möchte, Sir!«
»Also schön...!« Mike Rander seufzte ergeben. »Gehen Sie also rüber in die Küche! Lassen wir uns überraschen!«
Josuah Parker verschwand auf leisen Sohlen. Mike Rander nahm die Klinke des Badezimmers in die Hand und wartete einen Moment, bis Parker seiner Schätzung nach die Küche erreicht hatte.
Dann öffnete er die Tür und schaltete das Licht ein. Gleichzeitig zuckte er etwas zurück. Warum er es tat, hätte er noch nicht einmal sagen können. Möglicherweise hatten ihn die Andeutungen seines Butlers vorsichtig werden lassen.
Diese Vorsicht zahlte sich aber aus!
Sekunden nach dem Öffnen der Tür zersplitterte die Milchglasscheibe des Badezimmers. Gleichzeitig fetzte das Geschoß quer durch den Raum und bohrte sich in den hölzernen Türrahmen.
Kleine Holzsplitter regneten und sirrten durch die Luft. Ein schwerer Gegenstand drüben im Badezimmer fiel zu Boden.
Rander fand erst jetzt Zeit, sich zurückzuwerfen, so schnell ging alles.
Er wunderte sich kaum noch darüber, daß von der Küche aus ein Schuß abgefeuert wurde.
Rander lief hinüber in die dunkle, kleine Küche. Parker stand vor dem geöffneten Fenster und hielt die Remington schußbereit hoch.
»Bradsen?« rief Mike Rander leise.
»In der Tat, Sir!«
Parker hatte kaum ausgesprochen, als ein zweites Projektil das Penthouse erreichte. Jetzt suchte es sich seinen Weg quer durch die Küche und landete in einem Hängeschrank, in dem Geschirr aufgestapelt war.
Der Erfolg war überwältigend.
Das Geschirr löste sich in große Scherben auf, die durch die Wucht des Treffers durcheinanderwirbelten.
»Ich möchte vorschlagen, Sir, daß Sie sich in Deckung begeben«, rief der Butler vom Fenster her. »Mister Bradsen scheint ein erstklassiger Schütze zu sein!«
Dann feuerte der Butler zurück.
Anschließend wandte er sich zu Rander um und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Für einen Treffer kann ich leider nicht garantieren«, sagte er dann. »In der vergangenen halben Stunde ist leichter Nebel aufgekommen, der die Treffsicherheit rapide herabsetzt!«
Rander trat vorsichtig ans Fenster und sah hinaus.
Parker hatte nicht übertrieben.
Nebelschwaden, die vom nahen Michigansee herüberkamen, kletterten an den Hochhäusern und Wolkenkratzern hoch. Von Sicht konnte überhaupt keine Rede mehr sein. Mike Rander fragte sich insgeheim, worauf sein Butler überhaupt geschossen haben mochte.
»Mein Ziel war dort der Kran, Sir, der leider im Nebel verschwunden ist«, sagte Parker, als habe er die Gedanken seines jungen Herrn erraten.
»Sie glauben, Bradsen hat sich dort oben versteckt?« fragte Rander und hielt verzweifelt nach dem Kran Ausschau, von dem Parker gesprochen hatte.
»Hatte, Sir, hatte! Meiner bescheidenen Ansicht nach dürfte Mister Bradsen sich inzwischen zurückgezogen haben.«
»Um auf die nächste, bessere Gelegenheit zu warten, wie?«
»Leider, Sir, leider! Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird Mister Bradsen nach einer besseren Möglichkeit suchen.«
»Demnach haben Sie also doch die richtige Nase gehabt«, räumte Mike Rander ein.
»Möglicherweise, Sir«, antwortete Parker in seiner bescheidenen Art. »Ich bedauere es ungemein, daß der Ausbruch Steve Bradsens sich nun doch zu einem Kriminalfall entwickelt hat.«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab, Parker«, sagte Mike Rander und verbiß sich ein Schmunzeln. »Wie ich Sie kenne, sind Sie mit der Entwicklung der Dinge sogar sehr zufrieden, oder?«
*
»Im Gegensatz zu Ihnen, Parker, bin ich überhaupt nicht zufrieden«, sagte Leutnant Madford eine halbe Stunde später. Der Kriminalist, ein drahtiger, schmaler, energiegeladener Mann von etwa vierzig Jahren, stand im Baderaum der Dachgartenwohnung und sah sich den Einschuß im Türrahmen an. »Unterschätzen Sie bloß nicht diesen Bradsen! Wir wissen bereits einiges über seine Flucht!«
»Und das wäre?« Mike Rander sah den Polizeioffizier erwartungsvoll an.
»Kurz nach seinem Ausbruch aus der Heilanstalt brachte er einen Vertreter namens Paul Walton um. Anschließend flüchtete er in dessen Wagen weiter und tauchte hier in der Stadt auf.«
»Sie haben seine Spur aufgenommen?« fragte Rander hoffnungsvoll.
»Eine verdammt blutige Spur«, gab Leutnant Madford zurück. »Er brachte nämlich einen Pfandleiher um. Norman Capty hieß der Mann. In dessen Pfandleihe hinterließ er den Chirurgenanzug, mit dem er aus der Heilanstalt flüchtete.«
»Und dann die Schüsse dort vom Kran her«, meinte Anwalt Rander. »Ohne Parkers Mißtrauen hätte Bradsen mich bestimmt erwischt. Er muß ein erstklassiger Schütze sein.«
»Worauf Sie sich verlassen können.« Madford nickte bedeutungsvoll. »Vor seiner Verhaftung war Bradsen auf diesem Gebiet so etwas wie eine Kanone. Selbst seine eigenen Leute zitterten vor ihm.«
»Darf ich höflichst fragen, ob der Baukran bereits nach Spuren untersucht wird, Sir?« fragte Josuah Parker, sich an Madford wendend.
»Natürlich, Parker. Aber eines weiß ich bereits jetzt, getroffen haben Sie Bradsen nicht!«
»Der leidige Nebel«, murmelte der Butler beschämt. »Es mag auch an meinem Alter liegen. Ein müder und verbrauchter Mann wie ich befindet sich eben nicht mehr auf der Höhe seiner Kräfte und Möglichkeiten.«
»Untertreiben Sie ruhig weiter, Parker, mich können Sie nicht täuschen«, erwiderte Madford und grinste unwillkürlich. »Sie werden Ihr ganzes Können brauchen. Ein Mann wie Bradsen wird niemals aufgeben. Er weiß, daß Sie ihn ins Gefängnis gebracht haben. Dafür wird er sich blutig rächen wollen. Wenn Sie von mir einen Rat annehmen wollen, dann treten Sie möglichst schnell einen Urlaub an. Machen Sie sich ein paar schöne Tage und kommen Sie erst wieder zurück, wenn wir Bradsen erwischt haben. Das gilt übrigens auch für Sie, Rander!«
»Ein verlockender Gedanke«, sagte Parker.
»Den Sie natürlich nicht in die Tat umsetzen werden, wie?« Leutnant Madford sah Parker kopfschüttelnd an. »Ich ahne schon, daß Sie den Fehdehandschuh aufgenommen haben! Sie wollen Bradsen erwischen, nicht wahr?«
»In der Tat, Sir! Darf ich Ihnen in diesem Zusammenhang einige Fragen stellen?«
»Klar, schießen Sie los!« Madford und Mike Rander gingen zusammen mit Parker hinüber in den großen Wohnraum und nahmen in den tiefen, bequemen Sesseln Platz.
»Wo drückt Sie der Schuh, Parker?« fragte Madford dann interessiert.
»Ist Mister Steve Bradsen wirklich geisteskrank?« lautete Parkers erste Frage.
»Damit kommen Sie sofort zum Kern der Sache«, gab Leutnant Madford zurück und richtete sich auf. »Damals, vor vier Jahren, als er vor Gericht stand, nun ja, da hat er wahrscheinlich mit einem Trick gearbeitet. Er wußte, daß der elektrische Stuhl auf ihn wartete, denn seine Schuld stand einwandfrei fest. Ich bin sicher, daß er damals also simulierte und die Fachärzte hereinlegte. Dann folgten allerdings die vier langen Jahre in der geschlossenen Anstalt. Sie können sich vorstellen, wie es da zugeht und mit welchen Männern er tagtäglich zusammen war. Sehr gut möglich, daß er während dieser vier Jahre tatsächlich krank wurde.«
»Weiß man inzwischen, wie Steve Bradsen entkommen konnte?« fragte Josuah Parker weiter.
»Eine brutale und scheußliche Geschichte«, berichtete Madford und zündete sich eine Zigarette an. »Er fiel seinen Wärter an... schlug ihn zusammen und ermordete schließlich den Stationsarzt, der gerade Visite machte. Er zog sich dessen Kleider über und nahm die Sperrschlüssel an sich. Damit kam er heraus! Wenn Sie mich fragen, so hat er das alles sehr zielbewußt und eiskalt erledigt.«
»Was wissen Sie von Bradsens damaliger Gang, Sir?« lautete Parkers dritte Frage.
»Bradsen machte in Erpressung«, zählte Leutnant Madford weiter auf.
»Seine Gang war erstklassig organisiert. Er verkaufte so eine Art Schutzbriefe an Gewerbetreibende. Sie mußten für diese Schutzbriefe monatliche Zahlungen leisten. Sie kennen die Masche ja. Wer nicht mitmachte, fand sich sehr bald im Krankenhaus wieder. In diesem Zusammenhang konnte man Bradsen zwei Morde nachweisen. Die hätten ihn auf den elektrischen Stuhl gebracht. Die Beweise waren eindeutig.«
»Wurde Steve Bradsen seinerzeit verraten, Sir?«
»Stimmt haargenau, Parker. Einer seiner engsten Kumpane stieg aus und verpfiff den Boß. Er tat das natürlich nicht freiwillig. Man hatte ihn unter Mordanklage gestellt. Vor dem Schuldspruch fiel der Mann um und sagte gegen Bradsen aus. Wir holten ihn aus seinem Bungalow drüben am See. Ich weiß es noch wie heute. Bradsen machte sich zuerst lustig über uns. Er konnte sich nicht vorstellen, daß einer seiner engsten Mitarbeiter gegen ihn ausgesagt haben könnte. Dann aber, als er merkte, wie es um ihn stand, drehte er vor Wut fast durch. Und damals schwor er schon Rache.«
»Darf man höflich fragen, Sir, wer dieser enge Mitarbeiter war?«
»Ein gewisser Jeff Odgen. Nach dem Prozeß tauchte er unter. Fraglich, ob er überhaupt noch hier in der Stadt wohnt.«
»Und was wurde aus den übrigen Bandenmitgliedern, Sir?«
»Sie tauchten schleunigst weg, Parker! Die Gang fiel auseinander.«
»Sind Ihnen Namen und Aufenthaltsorte jener ehemaligen Bandenmitglieder bekannt, Sir?« wollte Parker wissen.
»Natürlich. Wir kümmern uns immer wieder um sie. Schon aus Gründen der Sicherheit! Nach unseren Ermittlungen sind die ehemaligen Bandenmitglieder aber in mehr oder weniger bürgerliche Berufe zurückgekehrt. Sagen wir, nach außen hin. Oder noch vorsichtiger, sie haben sich bisher nicht mehr erwischen lassen. Sie kennen doch das Sprichwort von der Katze, die das mausen nicht mehr lassen kann, oder?«
»Darf ich um eine vollständige Liste der seinerzeitigen Bandenmitglieder bitten, Sir?«
»Natürlich, die können Sie haben, Parker. Aber ich warne Sie noch einmal, halten Sie sich zurück! Bradsen ist kein normaler Gangster mehr. Er ist geisteskrank! Diese Leute kann man nicht mehr mit normalen Maßstäben messen.«
»Das meine ich auch«, pflichtete Anwalt Rander ihm bei. »Dieser Bradsen scheint nur an seine Rache zu denken. Sonst hätte er erst gar nicht versucht, vom Baukran aus zu schießen. Wir sollten uns Madfords Vorschlag noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen, Parker. Falls wir aus Chikago für einige Zeit verschwinden, hat das mit Feigheit überhaupt nichts zu tun.«
»Da wir unterstellen können, Sir, daß Mister Bradsen ausschließlich nur an seine Rache denkt, dürfte es nicht sehr schwer sein, ihm eine entsprechende Falle zu stellen.«
»Sie wollen sich wieder einmal als Köder anbieten, nicht wahr?«
»In der Tat, Sir! Man müßte Bradsen derart beschäftigen, daß er sich ausschließlich für ein einziges Ziel interessiert.«
»Das Sie dann sein wollen, oder?« Leutnant Madford sah den Butler kopfschüttelnd an. »Schneiden Sie sich nur nicht in die Finger, Parker! Ich bin nicht scharf darauf, für Sie einen Kranz kaufen zu müssen...!«
*
Steve Bradsen wußte natürlich längst, daß er nicht getroffen hatte.
Er stand noch unter dem Schock, den er auf dem Baukran davongetragen hatte. Mit einer prompten Beantwortung seines Schusses hatte er auf keinen Fall gerechnet. Er glaubte noch das zornige Pfeifen zu hören, als der Schuß vom Dachgarten aus haarscharf an seinem Gesicht vorbeigezischt war.
Bradsen war nach seiner Panne schleunigst vom Kran geflüchtet und hielt sich jetzt in einer kleinen Bierkneipe der Scott Street auf. Den gestohlenen Wagen hatte er unterwegs einfach stehen lassen. Er brauchte ihn hier in der Stadt nicht mehr.
Still und unauffällig saß er an dem langen Tresen und nippte an seinem Bier. Um ihn herum standen oder saßen mittelmäßig gekleidete Männer, die meist schon einen über den Durst getrunken hatten. Der Lärm wurde von Minute zu Minute lauter.
Bradsen hörte ihn nicht. Immer wieder dachte er an die Panne und an die beiden Schüsse, die auf ihn abgefeuert worden waren. Er konnte sich leicht vorstellen, wer geschossen hatte, Er wußte noch sehr gut, wem er seinerzeit die Verhaftung zu verdanken hatte.
Seine Gedanken kreisten um einen gewissen Butler Parker. Er haßte diesen Mann glühend. Vier lange Jahre hatte er immer wieder an Josuah Parker denken müssen. An den Mann, der ihm damals ein Bein gestellt hatte. Und diesen Butler Parker wollte er aus dem Weg räumen! So schnell wie möglich!
Und jetzt schon nicht mehr innerhalb eines Sekundenbruchteils. Jetzt schon nicht mehr durch einen gezielten Schuß. Damit ging doch alles viel zu schnell! Nein, dieser Parker mußte erst einmal durch alle Höllen gehen, bevor er starb. Bradsen verfügte über sehr viel Phantasie. Er malte sich aus, wie und womit er den Butler stundenlang quälen konnte...
Parker sollte vor ihm auf den Knien liegen und winseln. Er sollte um sein Leben bitten und betteln, sollte schreien und immer wieder um Gnade flehen. Und das stundenlang... Immer wieder. Er sollte flehen, winseln und schreien...
Bradsen schreckte hoch.
Der Barkeeper hinter dem Tresen zog ihm das noch zu einem Drittel gefüllte Glas weg und sah ihn auffordernd an.
»Noch ‘ne Füllung?« fragte der stämmige Mann mit dem roten Gesicht.
»N-nein«, erwiderte Bradsen schnell und rutschte vom Barhocker herunter.
»Dann eben nicht, mein Junge«, meinte der Barkeeper. »Dann wird’s aber Zeit, daß Sie Platz machen! Ich habe hier keinen Wartesaal aufgezogen, wetten?«
In Bradsen kroch die kalte Wut hoch. Seine Augen verengten sich. Er konnte es nicht ertragen, daß man ihn geringschätzig behandelte. Das hatte er sich vier Jahre lang Tag für Tag gefallen lassen müssen.
Seine Fäuste ballten sich. Er dachte an den 38er, den er in die Innentasche seines Jacketts geschoben hatte. Diese Waffe stammte aus der Pfandleihe.
»Ist was?« fragte der Barkeeper und wischte mit dem feuchten, schmuddeligen Lappen über den Tresen. Er sah Bradsen scharf an. Er fühlte wohl instinktiv, daß er es nicht mit einem durchschnittlichen, normalen Nachtschwärmer zu tun hatte.
Bradsen schüttelte den Kopf.
Er fraß die Wut in sich hinein und zahlte. Es kostete ihn Überwindung, die Waffe in der Innentasche seines Jacketts zu lassen. Am liebsten hätte er sie gezogen und den Barkeeper niedergeschossen.
»Schwirr endlich ab, Mann, und hypnotisier mich nicht«, meinte der Barkeeper und lachte rauh. Er ahnte nicht, daß er sich in Lebensgefahr befand.
Bradsen preßte die Lippen aufeinander und ging. An der Tür drehte er sich noch einmal zum Tresen um und musterte den Barkeeper, der ihn inzwischen längst vergessen hatte. Er prägte sich dessen Gesicht genau ein und schwor, diesen Mann früher oder später zur Rechenschaft zu ziehen.
Einen Steve Bradsen beleidigte man nicht mehr ungestraft! Diese Zeiten waren seit seiner Flucht aus der Heilanstalt endgültig vorbei...
Auf der Straße sah er sich suchend um.
Wohin um diese Zeit? In irgendein Hotel? Auf der Straße durfte er nicht mehr lange bleiben. Dann bestand die Gefahr, daß ihn eine Streife anhielt und unbequeme Fragen stellte.
Unwillkürlich sah er hinüber zum Lincoln Park. Am liebsten wäre er dorthin zurückgegangen und hätte sich weiter mit Parker befaßt. Aber das war im Augenblick nicht möglich.
Man hält mich für verrückt, sagte er sich und kicherte unwillkürlich amüsiert, die alle halten mich für verrückt. Aber die sollen sich auch alle noch wundern. Denen werde ich bald zeigen, wie normal ich bin. Die werden noch Augen machen...
Steve Bradsen ging langsam die Straße hinunter und sah angestrengt zu Boden, als habe er etwas verloren, was er jetzt suchen mußte. Und dann fiel ihm plötzlich ein Name ein.
Abrupt blieb er stehen und schüttelte erstaunt den Kopf. Er wunderte sich, daß ihm dieser Name erst jetzt einfiel. Dieser Name verkörperte für ihn Wärme, Blondheit, Geborgenheit und sattes Lachen.
Bradsen wußte nun, wo er die Nacht verbringen konnte...!
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»Nun geben Sie schon zu, Parker, daß Sie auf dem Holzweg sind«, sagte Mike Rander zwei Tage später. Sein Butler servierte ihm das Dinner und bewegte sich mit der selbstverständlichen Würde eines geborenen Aristokraten.
»Wie darf ich Ihren Hinweis interpretieren?« erkundigte sich Parker höflich und reichte seinem jungen Herrn das Dessert.
»Na, denken Sie doch mal an Bradsen«, antwortete Mike Rander und schmunzelte. »Wie vom Erdboden verschwunden. Er rührt sich nicht mehr. Wenn Sie mich fragen, hat er vom ersten Feuergefecht gründlich die Nase voll.«
»Sind Sie sicher, Sir?« fragte Parker, ohne seine Stimme zu erheben.
»Glauben Sie etwa noch immer daran, daß er sich an uns rächen will?« staunte der Anwalt.
»Ich erlaube mir, Sir, dessen sogar äußerst sicher zu sein«, antwortete der Butler höflich, aber bestimmt. »Ein Mann wie Bradsen weiß zu warten.«
»Ein Verrückter wie er kann sich nicht mehr kontrollieren«, behauptete Anwalt Rander. »Er wird blindlings auf sein Ziel zusteuern. Beispiele für solch eine Haltung gibt es doch genug.«
»Sir, darf ich in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß weder Sie noch meine bescheidene Wenigkeit genau wissen, an welcher Krankheit Mister Bradsen leidet.«
»Stimmt!« Mike Rander sah seinen Butler verblüfft an. »Darüber haben wir uns mit Leutnant Madford nicht unterhalten. Aber das läßt sich ja nachholen.«
»Gewiß, Sir. Könnte man nicht den behandelnden Arzt in der Heilanstalt aufsuchen und mit ihm sprechen? Falls Sie zeitlich gebunden sind, würde ich selbstverständlich allein fahren. Weit ist es ja erfreulicherweise nicht.«
»Ein guter Vorschlag, Parker. Ich habe morgen einen wichtigen Termin!«
»Vor Gericht, Sir?«
»Natürlich... Pünktlich um 10 Uhr beginnt die Verhandlung.«
»Darf ich mir erlauben, Sie sehr dringend zu warnen?«
»Sie glauben, Bradsen könnte im Gericht auftauchen und auf mich schießen?«
»Diese Möglichkeit besteht durchaus, Sir!«
»Natürlich besteht sie«, sagte Rander. Seine Stimme klang leise und nachdenklich. Er stand auf und sah seinen Butler fragend an. »Was, zum Henker, kann ich aber gegen einen heimtückischen Schuß tun? Falls er überhaupt auf mich abgefeuert wird.«
»Ich rate in solchen und ähnlichen Fällen immer zu einer kugelsicheren Nylonweste, Sir.«
»Könnte vielleicht nicht schaden, wenn ich mir so ein Ding umbinde«, sagte Rander und nickte. »Aber warum hat Bradsen sich seit Tagen nicht mehr gerührt? Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Vielleicht, Sir! Steve Bradsen möchte Sie und meine bescheidene Wenigkeit in Sicherheit wiegen. Doch bin ich nach wie vor davon überzeugt, daß er nur auf eine günstige Gelegenheit lauert.«
»Zu dumm, daß einem die Hände gebunden sind«, sagte Rander ärgerlich.
»Ich habe es nicht besonders gern, wenn man uns in die Verteidigung zurückdrängt.«
»Ich werde mir die Freiheit nehmen, Sir, das sehr bald zu ändern«, sagte Parker. »Ich habe bereits Kontakt zum Büro Leutnant Madfords aufgenommen und von dort sehr interessante Hinweise bekommen. Ich hoffe, daß Sie sich auszahlen werden!«
»Falls Bradsen überhaupt noch in der Stadt ist«, sagte Rander und lächelte schon wieder optimistisch. »Vielleicht machen wir uns zu viele Gedanken. Vielleicht hat er sich längst abgesetzt!«
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Parker wollte genau wissen, ob seine Vorsicht übertrieben war oder nicht.