Читать книгу Der exzellente Butler Parker 25 – Kriminalroman - Günter Dönges - Страница 4
ОглавлениеAgatha Simpsons beeindruckende Fülle bebte vor Energie und Tatendrang. Josuah Parker hatte in ihrem Auftrag eine professionelle Videoausrüstung erstanden, und am Abend sollten die ersten Milieustudien entstehen. »Halten Sie hier, Mister Parker«, wies Mylady ihren Butler an. »Das ist eine hübsche Szene, die ich aufnehmen möchte.«
Drei leichtgeschürzte Damen, die im gelben Schein einer trüben Gaslaterne nach Freiern Ausschau hielten, blickten argwöhnisch herüber, als Parker sein altertümliches Vehikel am Straßenrand ausrollen ließ. Aus der halboffenen Tür der Spelunke »Zum Blauen Mond« drang laute Musik.
Ein Kameraobjektiv auf Mitglieder der Halb- und Unterwelt wirkte wie das rote Tuch auf den Stier. Parkers diesbezügliche Warnungen hatte die passionierte Detektivin aber lachend in den Wind geschlagen, denn für einen kleinen Zwischenfall war Mylady immer zu haben ...
»Ohne ein angemessenes Honorar dürften die Damen kaum bereit sein, sich von Mylady ablichten zu lassen«, gab der Butler zu bedenken, während er seiner fülligen Herrin diskret beim Aussteigen half.
»Unsinn! Das würde die Produktionskosten nur unnötig in die Höhe treiben, Mister Parker«, entgegnete Agatha Simpson, deren Reichtum ebenso sagenhaft war wie ihre Sparsamkeit. »Im übrigen werden es die Mädchen zweifellos als Ehre empfinden, in meinem Film auftreten zu dürfen.«
Zu Myladys maßloser Enttäuschung pfiffen die Damen vom horizontalen Gewerbe jedoch auf diese Ehre und wandten sich demonstrativ ab, sobald die Kamera zu surren begann.
Dafür wurde die Aufmerksamkeit der Regisseurin von vier Männern gefesselt, die aus der Tür der Spelunke traten. Kurz entschlossen schwenkte sie mit der Kamera hinüber und hielt fest, wie zwei von ihnen in einen weißen Ford Kombi stiegen, der vor dem »Blauen Mond« parkte. Die beiden anderen blieben auf den Eingangsstufen stehen und sahen dem davonfahrenden Wagen nach.
Es war purer Zufall, daß die Männer vor der Rückkehr in die Kneipe die filmende Lady gewahrten. Doch dieser Zufall hatte Konsequenzen, die über einen »hübschen, kleinen Zwischenfall« weit hinausgingen ...
Im Laufschritt kamen die Unbekannten über die Straße, und ihre Mienen signalisierten Absichten, die alles andere als freundlich waren.
Agatha Simpson dachte freilich nicht daran, sich durch die athletisch gebauten Gestalten irritieren zu lassen. Sie hatte die Kamera auf der Motorhaube von Parkers hochbeinigem Monstrum abgestützt und achtete streng darauf, die unfreiwilligen Darsteller nicht aus dem Sucher zu verlieren.
»Her mit der Kamera!« brüllte einer der Angreifer im Laufen.
»Schluß mit dem Unfug!« schrie der Begleiter.
Der Butler zeigte jedoch keinerlei Verständnis für das unhöflich geäußerte Verlangen und sorgte in seiner gelassenen Art dafür, daß weder Lady Agatha noch das teure Gerät Schaden nehmen konnten. Dazu benutzte er seinen schwarzen Universal-Regenschirm, den er stets am angewinkelten Unterarm trug.
Der erste der Männer, ein breitschultriger Mittvierziger mit aufgeschwemmtem Vollmondgesicht und fettigen, aschblonden Haarsträhnen, streckte gerade die Hand nach der Kamera aus, als ein eindeutig unangenehmer Druck in der Magengrube ihn unvermittelt zusammenfahren ließ.
Wie ein Degen hatte Parker dem Mann sein altväterlich gebundenes Regendach waagerecht entgegengestreckt. Eingehend massierte die bleigefütterte Spitze das sensible Verdauungsorgan des ungestümen Angreifers, der daraufhin spontan seine Pläne änderte.
Würgend und röchelnd knickte der Mondgesichtige in der Hüfte ein und legte eine Art Kosakentanz aufs Pflaster. Die nächtliche Darbietung war jedoch nur von kurzer Dauer und wirkte geradezu rührend in ihrer Unbeholfenheit. Blaß vor Anstrengung brach der ungeübte Tänzer die Show ab und legte sich winselnd der älteren Dame zu Füßen.
Sein Komplize, ein knapp dreißigjähriger Hüne mit buschigen Brauen und einem Prachtexemplar von Nase, ließ sich dadurch freilich nicht entmutigen. Mit wütendem Knurren wollte er Lady Simpson ans Leder, die noch immer unbeirrt weiterfilmte.
Da wurde es der resoluten Dame allerdings zu bunt.
»Sie stören, junger Mann!« grollte Mylady gereizt, ließ die Kamera sinken und holte gleichzeitig zu einer ihrer berüchtigten Ohrfeigen aus.
Der Angreifer gab nur einen Jaulton von sich, als Myladys muskulöse Rechte temperamentvoll seine Wange streichelte. Verdutzt taumelte er zurück und verdrehte fassungslos die Augen.
Der Unbekannte schluckte einige Male heftig und rieb wimmernd die roten Striemen, die Lady Agathas Finger hinterlassen hatten. Erst dann fand er die Sprache wieder.
»Die Kamera her!« zischte er und maß seine Peinigerin haßerfüllt. »Sie haben kein Recht, uns zu filmen.«
»Möglicherweise darf man Sie höflich darauf aufmerksam machen, daß Sie ein Recht am eigenen Bild nur beanspruchen können, wenn es sich um Aufnahmen handelt, die zur Veröffentlichung vorgesehen sind«, schaltete der Butler sich ein. »In diesem Fall handelt es sich jedoch um Studien, die Mylady keineswegs und mitnichten einem größeren Kreis zugänglich machen möchte.«
»Ist mir doch egal«, keifte der Geohrfeigte. »Wird’s bald?«
Mit einem routinierten Griff des Profis langte er in den Ausschnitt seiner Jacke. Doch Parker, der mit einer Zuspitzung gerechnet hatte, kam den feindseligen Absichten des Unbekannten zuvor und durchkreuzte sie nachhaltig.
Blitzschnell wie man’s ihm kaum zugetraut hätte, ließ er seinen schwarzen Universalschirm vom angewinkelten Unterarm senkrecht in die Höhe steigen und faßte mit ihn mit der schwarz behandschuhten Rechte an der Spitze. Anschließend erlaubte er dem bleigefüllten Bambusgriff, vernehmlich auf die Schädeldecke des Gegners zu pochen.
Den Mann mit der Adlernase irritierte diese Behandlung derart, daß er prompt den langläufigen Revolver zu Boden fallen ließ, den er aus seiner Schulterhalfter gezogen hatte. Sein Gesicht nahm augenblicklich die Farbe der Kreidefelsen von Dover an.
Der schmerzlich verzerrte Mund formte wilde Flüche, doch über die Lippen kamen nur blubbernde Laute, die vom heiserem Stöhnen unterbrochen wurden. Aber obwohl der Gangster auf schwankenden Beinen nur mühsam das Gleichgewicht halten konnte, gab er sich noch nicht geschlagen.
Mit gesenktem Kopf visierte er den Butler aus blutunterlaufenen Augen an und wollte im nächsten Moment mit bloßen Fäusten auf die schwarz gekleidete Gestalt losgehen. Mitten im Angriff verließen ihn jedoch die Kräfte.
Heftiges Zittern durchlief den Körper des Mannes, während seine Knie langsam nachgaben. Japsend sackte er in sich zusammen und streckte sich zu einem Nickerchen auf dem Straßenpflaster aus.
»Wer auf künstlerischem Gebiet seinen Weg machen will, darf mit Neidern und Störenfrieden nicht zimperlich umgehen, Mister Parker«, belehrte die Lady ihren Butler, ohne die friedlich schlummernden Gestalten zu ihren Füßen eines Blickes zu würdigen.
»Darf man davon ausgehen, daß Mylady noch weitere Drehorte anzufahren gedenken?« erkundigte sich Parker.
»Ich denke, für heute reicht es, Mister Parker«, entschied die ältere Dame. »Ich werde jetzt in mein Studio zurückkehren, um das Material auszuwerten.«
»Wie Mylady meinen«, erwiderte der Butler mit einer angedeuteten Verbeugung und half seiner Herrin in den Fond des Wagens.
Die drei leichtgeschürzten Damen, die die handfesten Meinungsverschiedenheiten aus sicherer Entfernung verfolgt hatten, standen wie angewurzelt unter der Laterne. Sie überquerten erst zögernd die Straße, als Parkers hochbeiniges Monstrum schon um die nächste Ecke bog.
*
Aus der nächsten Arbeit im Studio war nichts geworden. Lady Simpson hatte den Buttler zwar angewiesen, ihr noch den sogenannten Kreislaufbeschleuniger in Form eines erlesenen Kognaks hinaufzubringen, aber das hochprozentige »Medikament« hatte eher als Kreislaufbremser gewirkt.
Jedenfalls dröhnten Parker, als er eine Stunde später nach seiner Herrin sehen wollte, Geräusche entgegen, die ihn unwillkürlich an ein Sägewerk denken ließen. In würdevoller Haltung stieg er die geschwungene Freitreppe hinauf, die Myladys großzügige Wohnhalle mit ihren privaten Gemächern im Obergeschoß verband, und schritt weiter durch das Studio.
Der mit allen Raffinessen ausgestattete Raum war verwaist. Offenbar hatte sich die ältere Dame derart hingebungsvoll der Therapie ihres Kreislaufes gewidmet, daß sie nicht mal dazu gekommen war, die Kassette aus der Kamera zu nehmen.
Parker stellte die Kognakflasche und den Schwenker auf ein silbernes Tablett, ehe er den kleinen Handgriff nachholte. Anschließend schaltete er das Abspielgerät ein und spulte die Kassette bis zum Anfang zurück.
Als er zehn Minuten später das Licht im Studio löschte und mit dem Tablett in der Hand die Küche ansteuerte, hatte er das Band zweimal hintereinander aufmerksam studiert. An zwei oder drei Stellen hatte er das Bild angehalten, um jedes Detail erfassen zu können.
Er hatte sich natürlich Gedanken gemacht, und als er seinen Wohnraum im Souterrain betrat, war ihm schon klar gewesen, daß wieder mal turbulente Tage ins Haus standen ...
Gerade holte er die knusprige Hirschkalbpastete aus dem Backofen, die Lady sich zum Frühstück gewünscht hatte.
»Sie haben doch hoffentlich daran gedacht, daß ich heute und morgen strenge Diät halten will, Mister Parker?« fragte die Hausherrin, während sie den Kristallkelch mit Hummercocktail auslöffelte, den der Butler zum Auftakt serviert hatte.
»Darf man Myladys Äußerung so verstehen, daß Mylady von dem Genuß der Pastete abzusehen wünschen«? erkundigte sich Parker.
»Ein Häppchen werde ich probieren, Mister Parker«, entschied Agatha Simpson, nachdem sie einige Sekunden mit sich gerungen hatte. »Außerdem ist Wild ja ausgesprochen mager und setzt nicht an.«
»Eine Feststellung, der man keinesfalls widersprechen möchte, Mylady«, ließ der Buttler sich vernehmen, während er eine ansehnliche Scheibe vorlegte. Anschließend trat er in seiner unnachahmlichen Art einen halben Schritt zurück.
Die ältere Dame war bei geräucherten Fasanenbrüstchen angelangt und hatte nur noch eine opulente Käseplatte vor sich, als die Haustürglocke läutete.
»Das ist wirklich ärgerlich«, ereiferte sich die Hausherrin und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß das Porzellan klirrte. »Kann ich denn nicht mal einen bescheidenen Imbiß zu mir nehmen, ohne daß Mister McWarden unangemeldet hereinschneit und mir mit seinen Blicken förmlich die Bissen vom Teller zieht?«
»Falls Mylady keine Ein wände erheben, würde man sich zur Tür begeben und nachsehen, wer Einlaß begehrt«, bot Parker gelassen an.
»Wer sollte es denn sonst sein – außer McWarden?« fauchte die passionierte Detektivin. »Sagen Sie ihm, daß ich ihn erst heute nachmittag empfangen werde, Mister Parker.«
»Myladys Wünsche sind meiner Wenigkeit immer Richtschnur«, versicherte der Butler und begab sich gemessenen Schrittes in Richtung Diele. Chief-Superintendent McWarden hatte in der Tat schon oft das Pech, gerade dann hereinzuplatzen, wenn Lady Simpson zu Tisch saß. Jedesmal hatte sie ihn ihren Unmut deutlich spüren lassen. Aber der einflußreiche Yard-Beamte, der unmittelbar dem Innenminister unterstellt war und eine Spezialabteilung zur Bekämpfung des organisierten Bandenwesens leitete, war zum Glück nicht nachtragend.
Jedenfalls ließ sich McWarden regelmäßig im Hause Simpson sehen. Oft galten seine Besuche aber weniger der Hausherrin als Josuah Parker, dessen ausgewogenes und fachkundiges Urteil er seit Jahren schätzte. Dafür ertrug er Myladys boshafte Sticheleien mehr oder weniger gelassen.
Woher Myladys Angst rührte, McWarden könnte ihr den letzten Bissen und das letzte Glas vor dem Mund wegschnappen, hätte Parker noch nicht ergründet. Er wußte nur, daß seine Herrin dem Chief-Superintendenten mit diesem Verdacht Unrecht tat. Aber das behielt er – höflich wie er war – für sich.
Diesmal waren Lady Agathas Befürchtungen aber doppelt grundlos. Es war nämlich gar nicht McWarden.
»Man erlaubt sich, einen ausgesprochenen angenehmen Morgen zu wünschen, Miß Porter und Mister Rander«, sagte der Butler, während er die Besucher einließ, »Ist Mylady sehr beschäftigt, oder können wir eine Viertelstunde hereinkommen, Parker?« erkundigte sich Mike Rander.
»Mylady ist gerade damit befaßt, strenge Diät zu halten, Sir«, teilte Parker mit. »Deshalb wurde man angewiesen, Mister McWarden auf keinen Fall einzulassen. Ihr Besuch dürfte Mylady jedoch uneingeschränkt genehm sein, falls man sich nicht gründlich täuscht«
»Wir werden Mylady schon nichts wegessen«, schmunzelte Rander, der die kleinen Sorgen der Detektivin seit Jahren kannte.
Der blendend aussehende Anwalt, dessen sportliche Erscheinung an einen prominenten James-Bond-Darsteller erinnerte, betrieb in der nahegelegenen Curzon Street eine Kanzlei. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Lady Simpsons schwer zu bezifferndes Vermögen zu verwalten.
Seine Begleiterin, die attraktive Kathy Porter, nahm im Haus Simpson die Aufgaben einer Gesellschafterin wahr und erledigte nebenher Lady Agathas Korrespondenz. Die zierliche junge Dame mit den leicht mandelförmig geschnittenen Augen und dem Kastanienschimmer im dunklen Haar hatte lange Zeit die Künste fernöstlicher Selbstverteidigung studiert und konnte sich blitzschnell in eine reißende Pantherkatze verwandeln, die zudringlichen Gangstern die Krallen zeigte.
»Schön, daß ihr kommt«, strahlte die Hausherrin, als sie die Besucher hereinkommen sah. »Ich muß euch unbedingt die Szenen zeigen, die ich gestern abend gedreht habe.«
»Sie sind unter die Filmemacher gegangen, Mylady?« vergewisserte sich Rander.
»Das Drehbuch, an dem ich arbeite, wird mit Sicherheit Furore machen, mein lieber Junge«, nickte die ältere Dame. »Gestern abend habe ich mit den ersten Milieustudien begonnen.«
»Das ist bestimmt eine interessante Abwechslung, die Ihnen Spaß macht, Mylady«, vermutete Kathy Porter.
»Einerseits schon, Kindchen«, stimmte Agatha Simpson zu. »Aber es ist auch sehr anstrengend, weil wieder mal die ganze Verantwortung auf meinen Schultern ruht. Ich bin Produzent, Regisseur und Kameramann in einer Person.«
»Und die Darsteller?« wollte der Anwalt wissen.
»Alles waschechte Mitglieder der Londoner Szene, mein Junge«, lautete die Auskunft.
»Und die machen tatsächlich mit, Mylady?« wunderte sich die attraktive Kathy.
»Nicht immer freiwillig, Kindchen«, räumte die passionierte Detektivin ein. »Aber als Künstlerin muß ich eben auf Authentizität bestehen.«
»Da würde ich mich an Ihrer Stelle aber auf Ärger gefaßt machen, Mylady«, warf Rander ein.
»Den hat es auch schon gegeben«, teilte Mylady mit stolzgeschwellter Brust mit. »Aber ich habe den Rüpeln, die mir die Kamera entreißen wollten, natürlich die passende Antwort erteilt, wie ihr euch denken könnt.«
»Was waren das denn für Szenen, die Sie gedreht haben, Mylady?« erkundigte sich Kathy Porter.
»Ihr dürft den Streifen gleich selbst sehen«, wich Agatha Simpson einer konkreten Antwort aus. »Ich habe zwar die ganze Nacht im Studio verbracht um das Material auszuwerten, aber ich denke, ich werde mir die Aufnahmen auch noch mal ansehen.«
*
»Natürlich ist das Material noch nicht perfekt geschnitten«, schickte die Hausherrin voraus, während Parker die Jalousien im Studio herabließ.
Mike Rander und Kathy Porter saßen vor dem überdimensionalen Bildschirm, den der Butler erst kürzlich hatte installieren lassen, und waren gespannt. Ebenso gespannt wie Mylady, die sich aber redlich mühte, ihre Neugier nicht zu zeigen.
Trotz der trüben Beleuchtung hatte die lichtstarke Kamera technisch einwandfreie Bilder geliefert, wie sich schon bei der ersten Einstellung zeigte.
»Ein schöner Rücken kann auch entzücken«, kommentierte der Anwalt, als die drei Gunstgewerblerinnen auftauchten. Nun eine von ihnen blickte kurz über die Schulter hinweg zur Kamera und – streckte die Zunge heraus.
»Frechheit!« empörte sich Agatha Simpson. »Das verwahrloste Frauenzimmer kann natürlich nicht einschätzen, welche Ehre es bedeutet, in meinem Film auftreten zu dürfen. Andere würden sich darum reißen.«
Im selben Augenblick machte die Kamera einen schwindelerregenden Schwenk nach links, und der Eingang der Spelunke zum »Blauen Mond« kam ins Bild. Gerade öffnete ein hochaufgeschossener Mann von wenig mehr als zwanzig Jahren die Fahrertür des weißen Ford Kombi und glitt hinter das Lenkrad.
Ein schätzungsweise fünfzigjähriger Herr mit graumeliertem Haar, dessen gediegene Eleganz auf einen erfolgreichen Geschäftsmann schließen ließ, nahm gleich darauf auf dem Beifahrersitz Platz.
Die Bilder des davonfahrenden Wagens waren so gestochen scharf, daß nicht nur das Kennzeichen zweifelsfrei abzulesen war. Auch die Kartons, mit denen die Ladefläche bis zum Dach vollgestopft war, konnten die Betrachter deutlich erkennen.
Der nächste rasante Schwenk brachte die beiden Männer ins Bild, die vor dem Eingang der Kneipe zurückgeblieben waren. Fasziniert verfolgten Mike Rander und Kathy Porter, wie die breitschultrigen Gestalten wütend auf die Kamera stürmten.
Gleich darauf wurde im Vordergrund eine Hand sichtbar, die den größten Teil des Bildes verdeckte. Sekunden später brach die turbulente Bildfolge unvermittelt ab.
»Bei den ungehobelten Burschen handelte es sich natürlich um Zuhälter«, verriet die passionierte Detektivin, während Parker die Kassette zurückspulte. »Die Lümmel kochten vor Wut, weil ich kurz vorher ihre Mädchen gefilmt hatte.«
»Durchaus denkbar«, merkte der Anwalt an. »Andererseits könnte man auch auf die Idee kommen, daß mit dem weißen Ford irgendwas nicht stimmt.«
»... daß mit dem Wagen Diebesgut abtransportiert wurde«, ergänzte Kathy Porter.
»Eine Vermutung, der auch meine bescheidene Wenigkeit sich ausdrücklich anschließen möchte«, schaltete Parker sich ein.
»Selbstverständlich«, meinte umgehend auch Lady Agatha. »Mir war das schon auf den ersten Blick klar.«
»Worum es sich bei der heißen Waren wohl handeln könnte?« rätselte Myladys attraktive Gesellschafterin.
»Das herauszufinden, ist überhaupt kein Problem, Kindchen«, erwiderte die Hausherrin. »Nicht ohne Grund habe ich das Kennzeichen des Wagens im Film festgehalten.«
»Das dürfte aber mit ziemlicher Sicherheit gefälscht sein, falls der Ford wirklich zum Abtransport von Diebesgut benutzt wurde«, gab Rander zu bedenken.
»Mister Parker wird das schon klären«, meinte die ältere Dame unbeeindruckt »Um solche Details kann eine Kriminalistin sich nicht auch noch kümmern.«
»Interessant wäre auch zu erfahren, wer der graumelierte Gentleman ist«, meinte der Anwalt. »Wie ein kleiner Ganove wirkt der Mann ja nicht gerade.«
»Ein Eindruck, den man nur bestätigen kann, Sir«, pflichtete der Butler Mike Rander bei. »Falls man nicht sehr irrt, dürfte der Genannte eine Art Schlüsselposition einnehmen.«
»Darauf wollte ich Sie im Moment aufmerksam machen, Mister Parker«, behauptete Agatha Simpson eilig. »An was für eine Schlüsselposition denke ich dabei?«
»Falls es gelänge, Näheres über Person und Gewerbe des graumelierten Herrn in Erfahrung zu bringen«, erläuterte Parker, »dürfte auch die Erklärung auf der Hand liegen, warum die beiden anderen Herren so außerordentlich aggressiv auf Myladys Aufnahmetätigkeit reagierten.«
»Wie ich die Sache sehe, ist im Augenblick nur auf dem Umweg über die Kneipe an den Mann heranzukommen«, sagte der Anwalt. »Oder haben Sie an eine andere Möglichkeit gedacht, Parker?«
»Gegebenenfalls könnte es sich als sinnvoll erweisen, dem ehrenwerten Mister Pickett das Band vorzuspielen, Sir«, gab der Butler zur Antwort. »Grundsätzlich sollte man nicht ausschließen, daß er den Unbekannten kennt.«
Bei Horace Pickett handelte es sich um einen ehemaligen Taschendieb, der aber auf den Pfaden des Gesetzes wandelte, seit Parker ihm in einer brenzligen Situation das Leben gerettet hatte. Seitdem rechnete Pickett es sich als Ehre an, für die passionierte Detektivin und ihren Butler tätig werden zu dürfen. Seine intimen Kenntnisse der Londoner Unterwelt hatten sich schon oft bewährt.
»Gute Idee, Parker«, stimmte Rander zu. »Falls Pickett den Mann wirklich kennt, könnte dies zeitraubende und möglicherweise sogar gefährliche Umwege ersparen.«
»Alles sieht so aus, als hätten Sie durch Zufall mal wieder in ein Wespennest gestochen, Mylady«, meinte Kathy Porter, bevor die Besucher sich verabschiedeten.
»Zufall?« gab Agatha Simpson leicht eingeschnappt zurück. »Das hat nichts mit Zufall zu tun, Kindchen. Das ist mein untrüglicher Instinkt. Ich brauche nur einen Schritt vor die Tür zu tun – schon gerate ich mit der Unterwelt aneinander.«
»Eine Feststellung, die man nur mit allem Nachdruck unterstreichen kann, Mylady«, merkte Parker an und lenkte seine Schritte in Richtung verglastem Vorflur, um die Besucher hinauszulassen.
*
In gemächlichem Tempo bog Josuah Parker in eine düstere Seitenstraße und stellte sein hochbeiniges Monstrum ab.
Das schwarze, eckige Gefährt hatte früher mal als Taxi gedient. Inzwischen hatte es sich jedoch zu einer von Freund und Feind respektierten »Trickkiste auf Rädern« gemausert. Zu den Neuerungen, die der Butler dem schwerfällig wirkenden Vehikel verordnet hatte, zählten ein bulliger Rennmotor und diverse technische Raffinessen, die der Abwehr von Verfolgern dienten.
Parkers Chronometer zeigte kurz nach elf Uhr, als er das Fahrzeug verließ und sich zu Fuß auf den Weg machte.
Am Nachmittag hatte Horace Pickett sich in Myladys Studio das Videoband aufmerksam angesehen. Aber auf Parkers Fragen schüttelte der etwa 60jährige Mann, der seine frühere Tätigkeit mit Eigentumsumverteiler angab, weil er stets nur nach den Brieftaschen betuchter Zeitgenossen gegriffen hatte, bedauernd den Kopf.
Auch Pickett hatte den graumelierten Herrn im eleganten Maßanzug noch nie gesehen. Dennoch tippte er sofort auf ein hochkarätiges Mitglied der Londoner Unterwelt.
Daraufhin hatte der Butler sich entschlossen, dem »Blauen Mond« einen abendlichen Informationsbesuch abzustatten, während Mylady es vorzog, die Produktionsplanung für ihren Film voranzutreiben. Das hatte sie jedenfalls nachdrücklich versichert, als Parker ihr vor dem Verlassen des Hauses noch die gewünschten hochprozentigen Stärkungsmittel ins Studio hinaufbrachte.
Auf kleinen Umwegen hatte der Butler inzwischen die Straße erreicht, wo der »Blaue Mond« lag. Im Schutz der Dunkelheit spähte er um die Ecke. Die Spelunke lag in etwa 200 Meter Entfernung. Daß der weiße Ford Kombi heute abend nicht vor der Tür parkte, überraschte ihn keineswegs. Auch sonst war auf den ersten Blick nichts Verdächtiges zu entdecken.
An die junge Frau, die auf halbem Weg zur Kneipe unter einer Laterne stand und gelangweilt ein glitzerndes Täschchen schwenkte, erinnerte er sich noch vom Vorabend her. Es handelte sich um die rothaarige Schöne, die ihr Mißfallen über Myladys Filmaufnahmen besonders deutlich zum Ausdruck gebracht hatte.
In würdevoller Haltung, die fast so wirkte, als hätte er einen Ladestock verschluckt, setzte Parker sich in Bewegung. Vielleicht erübrigte sich – vorerst jedenfalls – ein Besuch im »Blauen Mond«, wenn es ihm gelang, der jungen Frau Einzelheiten über den weißen Ford zu entlocken. Daß sie mehr darüber wissen mußte als er selbst, stand außer Zweifel.
Leise summte die Rothaarige eine Schlagermelodie vor sich hin, während der schwarz gekleidete Butler lautlos näherkam. Mit einem spitzen Schrei fuhr sie auf dem Absatz herum, als Parker durch diskretes Räuspern auf sich aufmerksam machte.
»Ach, Sie sind das«, sagte sie erleichtert, als sie erkannte, wer da knapp außerhalb des Lichtkegels der Laterne stand. »Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«
»Man bittet in aller Form um Nachsicht«, erwiderte der Butler mit einer angedeuteten Verbeugung. »Es lag keineswegs im Bestreben meiner Wenigkeit, Sie zu erschrecken, Miß ...«
»Flint. Polly Flint«, stellte die etwa Dreißigjährige sich vor. Sie blitzte mit kokettem Augenaufschlag und schüttelte die feuerroten Locken, ehe sie zögernd eine Frage stellte: »Sie wollen doch nicht etwa ...?«
In seinen dezent gestreiften Beinkleidern, mit schwarzem Covercoat und Melone, den altväterlich gebundenen Schirm am angewinkelten Unterarm, machte ihr Gegenüber auf sie den Eindruck eines hochherrschaftlichen Butlers aus längst vergangenen Zeiten. Daß der alterslos wirkende Parker mit einschlägigen Wünschen zu ihr kam, schien Polly Flint unwahrscheinlich. Aber die Erfahrung hatte sie gelehrt, auch das unmöglich Erscheinende für möglich zu halten.
»Keineswegs und mitnichten, Miß Flint«, entgegnete der Butler, ohne aus der Dunkelheit zu treten. »Man ist weit davon entfernt, jene Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, die Ihre Kunden von Ihnen erwarten. Hingegen würde man gern um ein kurzes Gespräch bitten, falls es genehm ist.«
»Handelt es sich um gestern abend?« wollte die rothaarige Polly wissen. Ihr offenes Lächeln war verflogen und hatte einem mißtrauischen Zug Platz gemacht.
»Es häufen sich da einige Fragen, die man Ihnen vorlegen möchte, Miß Flint«, bestätigte Parker.
Die junge Frau zögerte einen Moment. Sie warf dann einen argwöhnischen Blick in Richtung Kneipe, bevor sie rasch aus dem Lichtkegel der Laterne trat und den Butler in einen stockdunklen Torweg zog.
»Sie sind vielleicht ein komischer Kauz!« kicherte Polly. »Eigentlich sollte ich mich überhaupt nicht mit Ihnen einlassen. Aber wie Sie gestern abend John und Jerry fertiggemacht haben, hat mir einfach imponiert. Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut.«
»Man tat nur seine Pflicht, Miß Flint«, wehrte Parker bescheiden ab. »Darf man im übrigen gleich die Frage anschließen, ob Sie nähere Einzelheiten über die soeben kurz erwähnten Herren mitteilen können?«
»John Aycken ist der Blonde mit dem breiten Gesicht«, gab Polly Flint bereitwillig Auskunft. »Ihm gehört der ›Blaue Mond‹. Aber sonst weiß ich kaum etwas über ihn.«
»Und der zweite Herr?« hakte der Butler nach.
»Er heißt Jerry Hooper«, verriet die rothaarige Schöne. »Ich arbeite schon seit drei Jahren für ihn und kann mich eigentlich nicht beklagen. Aber wenn ein Mädchen aus der Reihe tanzt, kennt er keinen Pardon.«
»Darf man die Hoffnung äußern, daß Sie auch über Fahrer und Beifahrer des weißen Ford Kombi Auskunft geben können, der gestern abend vor dem ›Blauen Mond‹ parkte?« bohrte Parker weiter.
»Die habe ich gestern auch zum zweiten Mal gesehen«, beantwortete Polly die Frage. »Aber mit dem Wagen – das fand ich schon merkwürdig.«
»Darf man um einen Hinweis bitten, wie Sie diese Äußerung verstanden wissen möchten, Miß Flint?«
»Ein paar Minuten, bevor Sie hier auftauchten, kamen Jerry und ein Mann, den ich nur flüchtig vom Sehen kenne, mit dem weißen Wagen am ›Blauen Mond‹ an«, berichtete die junge Frau. »Beide gingen in die Kneipe, und gleich darauf kamen die anderen zwei Männer heraus und fuhren mit dem Wagen weg.«
»Sehen Sie sich möglicherweise in der Lage, eine Vermutung zu äußern, womit das fragliche Fahrzeug beladen war, Miß Flint?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Polly. »Wirklich nicht. Außerdem haben ich Ihnen schon zu viel erzählt. Was glauben Sie, was ich für Ärger kriege, wenn das jemand erfährt.«
»Selbstverständlich wird man Ihre Angaben mit äußerster Diskretion behandeln, Miß Flint«, versprach der Butler. Er bot der jungen Frau eine Banknote an, die sie blitzschnell in ihrem tiefen Dekolleté verschwinden ließ. »Im übrigen dankt man für die freundliche Auskunft und wünscht noch eine möglichst angenehme Nacht.«
»Halt!« hielt Polly Flint ihn noch zurück. »Ich habe Ihnen meinen Namen gesagt und Dinge erzählt, die mich Kopf und Kragen kosten können. Jetzt müssen Sie aber auch sagen, wer Sie sind.«
»Josuah Parker ist mein Name. Butler in den Diensten Lady Simpsons«, holte Parker die versäumte Vorstellung nach.
Er hatte keine Bedenken, gegenüber der jungen Frau seine Identität zu lüften. Selbst wenn sie gegenüber ihrem Arbeitgeber verriet, wer sie um Informationen angegangen hatte, konnte ihm das mir recht sein.
Möglich, daß die Gangster sich auf diese Weise aus der Reserve locken ließen und in Shepherd’s Market auftauchten, um die belastende Videokassette in ihren Besitz zu bringen. Dann würde man weitersehen ...
»Lady Simpson?« wiederholte Polly Flint nahezu ehrfürchtig. »Das war Lady Simpson gestern abend? Die berühmte Privatdetektivin?«
»Sie sagen es, Miß Flint«, bestätigte der Butler, ehe er lautlos in der Dunkelheit davonschritt.
Nachdenklich setzte Polly Flint einen Fuß vor den anderen und kehrte langsam an ihren Platz unter der Laterne zurück. Ein eisiger Schrecken durchfuhr die junge Frau, als Jerry Hooper wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand.
»War das nicht der Kerl von gestern abend?« fragte er lauernd. »Was hattet ihr zwei denn unter dem dunklen Torbogen zu besprechen?«
*
Josuah Parker hatte gerade mit den ersten Vorbereitungen für Myladys Frühstück begonnen, als ein Summton ihn aufmerken ließ. Die rote Signallampe über der Küchentür blinkte.
Jemand hatte die Infrarotlichtschranke durchschritten, die Lady Simpsons Anwesen gegen unangemeldete Besucher abschirmte.
Der Butler nahm die Pfanne vom Herd, die er eben aufgesetzt hatte, und stieg ohne Hast die Stufen zum Erdgeschoß hinauf. Als er die Diele erreichte, standen die Ankömmlinge schon vor der Haustür und drückten auf den Klingelknopf.
»Guten Morgen«, grüßte der ältere der beiden Männer freundlich, als Parker die Tür öffnete. »Wir kommen vom Gaswerk, müssen Ihren Zähler ablesen und die Anschlüsse kontrollieren.«
Der angebliche Gasmann war an die Fünfzig, breitschultrig und untersetzt. Um seine wuchtige Kinnlade sprossen graue Bartstoppeln. Bekleidet war er – wie sein Kollege – mit einem blauen Arbeitskittel.
Der zweite, wesentlich jüngere Mann schleppte eine Werkzeugkiste von ansehnlichem Gewicht. Er trug eine Nickelbrille mit starken Minusgläsern, die seine kleinen, rotgeränderten Augen noch winziger erscheinen ließ.
»Darf man die Herren bitten zu folgen?« sagte Parker mit einer angedeuteten Verbeugung. »Der Gaszähler befindet sich im Souterrain, falls der Hinweis erlaubt ist.«
Etwas mühsam drängten sich die Besucher durch die Tür, die der Butler nur halb geöffnet hatte. Dabei entging ihnen völlig, daß Parker blitzschnell in ihre Jacken griff und die wohlgefüllten Schulterhalfter leerte. Dabei hatte er eine Fertigkeit entwickelt, die selbst Horace Pickett in Erstaunen versetzte.
»So, jetzt wollen wir mal zur Sache kommen«, grunzte der Stoppelbärtige und verzog den Mund zu hämischem Grinsen, während sein Kollege den Werkzeugkasten krachend auf einen zierlichen Rosenholztisch setzte.
»Möglicherweise darf man die Frage äußern, welche ›Sache‹ Sie zu meinen belieben«, erwiderte der Butler ruhig. Gleichzeitig hob er wie beiläufig den Werkzeugkasten vom Tisch und ließ ihn aus Versehen auf die Füße des Brillenträgers plumpsen.
Mit langgezogenem Jaulton meldete der junge Mann, der offensichtlich unter Hühneraugen litt, die Ankunft des stählernen Kastens. Wimmernd hüpfte er von einem Bein aufs andere und massierte seine malträtierten Zehen.
»Was soll der Quatsch?« knurrte der Ältere. »Können Sie nicht aufpassen?«
»Reiß dich zusammen, Bill!« zischte er, an seinen Begleiter gewandt.
»Man bittet, das kleine Versehen zu entschuldigen«, sagte Parker mit unbewegter Miene. »Möglicherweise sollten Sie Ihren jüngeren Kollegen anhalten, während der Arbeit Sicherheitsschuhe mit Stahlkappen zu tragen, falls man diesen wohlgemeinten Rat erteilen darf.«
»Wir wissen schon selber, was wir zu tun und zu lassen haben«, reagierte der Stoppelbärtige wütend. »Wo ist die Kassette?«
»Wie meinen die Herren?« stellte der Butler sich ahnungslos.
»Die Kassette!« fauchte der falsche Gasableser. »Mann, sind Sie schwerhörig?«
»Bisher war man der unmaßgeblichen Meinung, die Herren wären gekommen, um den Gaszähler abzulesen«, entgegnete der Butler, während das breite Gesicht seines Gegenübers die Farbe einer Vollreifen Tomate annahm.
»Wir wollen die Kassette haben, die Ihre Chefin vorgestern abend vor dem ›Blauen Mond‹ aufgenommen hat«, preßte der Wortführer des Duos zähneknirschend hervor. »Wenn Sie uns nicht verstehen wollen, müssen wir eine deutlichere Sprache sprechen,«
Unvermittelt griff der Mann in den Ausschnitt seines blauen Arbeitskittels und ... machte ein maßlos verdutztes Gesicht. Irritiert faßte er noch mal nach, doch die langläufige Automatic, mit der er seine Forderung hatte unterstreichen wollen, blieb unauffindbar.
Seinem bebrillten Kollegen erging es nicht anders.
Die Besucher wechselten einen schnellen Blick, ehe sie sich mit bloßen Fäusten auf Parker stürzten. Der Butler, der mit einer Verschärfung des Gesprächsklimas gerechnet hatte, kam ihren unfreundlichen Absichten jedoch zuvor und erstickte sie im Keim.
Ehe die Angreifer sich versahen, hielt er den schwarzen Universal-Regenschirm in der Hand, der griffbereit im Schirmständer gesteckt hatte. Dicht über dem Boden beschrieb der bleigefütterte Bambusgriff einen flachen Halbkreis.
Der Stoppelbärtige schrie überrascht auf, als der gebogene Griff sich unwiderstehlich um seine Knöchel legte und ihm buchstäblich die Beine unter dem Leib wegriß. Spontan versuchte er es mit einem Gleitflug, der aber zwangsläufig an den allseits bekannten Gesetzen der Schwerkraft scheiterte.
Ein dumpfes Klatschen wurde hörbar, als der Ganove mit ausgebreiteten Armen vor Parkers Füßen auf dem Teppich landete. Fast gleichzeitig ertönte ein metallisches Scheppern. Der Bruchpilot hatte seinen massigen Schädel dazu benutzt, die störende Werkzeugkiste aus der Einflugschneise zu räumen.
Der Brillenträger war wie angewurzelt stehengeblieben und hatte die mißglückte Darbietung mit weit aufgerissenem Mund und fassungslosen Blicken verfolgt. Danach besann er sich jedoch wieder auf sein Vorhaben und warf sich mit einem gekonnten Hechtsprung in Parkers Richtung.
Überrascht registrierte der ungestüme Angreifer, wie sein Gegenüber sich im selben Moment tief verneigte. Der wahre Sinn dieser höflichen Geste wurde ihm jedoch erst bewußt, als der stahlgefütterte Rand von Parkers schwarzem Bowler nachhaltig seine Magengrube massierte.
Mit einem pfeifenden Geräusch, das an eine altersschwache Dampflok erinnerte, gab der Mann schlagartig alle Atemluft von sich. Röchelnd blieb er wie ein nasses Handtuch über der Schulter des Butlers hängen. Nur seine Brille flog noch ein Stück weiter und zerschellte an der Wand.
*
»Was soll dieses infernalische Getöse im Morgengrauen, Mister Parker?« grollte das sonore Organ der Hausherrin von der Galerie herab.
Im Morgenmantel aus dunkelrotem Samt, bestickte Pantoffeln an den bloßen Füßen, stand Agatha Simpson am Kopfende der geschwungenen Freitreppe und war sichtlich ungehalten. Ihre Haare, die sie zu einem straffen Knoten zu ordnen pflegte, umflossen in wirren Strähnen ihre breiten Schultern. Ihre Augen versprühten zornige Blitze.
Obwohl Agatha Simpson die Sechzig überschritten hatte, war sie immer noch eine eindrucksvolle Erscheinung. Hinzu kam, daß sie ihre Auftritte mit dem Pathos einer Bühnenheroine zu gestalten wußte.
»Man bedauert zutiefst, Myladys Ruhe gestört zu haben«, versicherte der Butler höflich. »Aber ...«
»Papperlapapp!« unterbrach die Hausherrin. »Ich habe natürlich nicht geschlafen, sondern die ganze Nacht an der Auswertung meiner Videoaufnahmen gearbeitet, Mister Parker.«
»Eben diese Aufnahmen dürften es gewesen sein, die die störende Geräuschentwicklung auslösten, Mylady«, teilte Parker mit.
»Wie habe ich das zu verstehen, Mister Parker?« fragte die ältere Dame irritiert.
»Zwei Herren, deren Umgangsformen meine bescheidene Wenigkeit nur als rüde bezeichnen kann, wurden vor wenigen Minuten vorstellig und forderten die Herausgabe der Videokassette«, gab der Butler zur Antwort. »Man war so frei, die Genannten von der Unbotmäßigkeit ihres Verlangens zu überzeugen. Dabei erwiesen sich gewisse Nebenwirkungen akustischer Art als unvermeidlich, falls der Hinweis erlaubt ist.«
»Entsprechendes habe ich mir natürlich schon gedacht, Mister Parker«, erwiderte die passionierte Detektivin. »Wer hat mir die Lümmel denn schon am frühen Morgen auf den Hals geschickt?«
»Die Herren wurden von einer vorübergehenden Unpäßlichkeit befallen, so daß eine Befragung momentan keinerlei verwertbare Ergebnisse zeitigen dürfte, Mylady«, teilte Parker mit.
»Dann werde ich die Schurken nach dem Frühstück einer eingehenden Vernehmung unterziehen«, entschied Lady Agatha und zog sich wieder in ihre privaten Gemächer zurück, um die unterbrochene Morgentoilette zu vollenden.