Читать книгу Butler Parker 172 – Kriminalroman - Günter Dönges - Страница 3
Оглавление»Meine Wenigkeit möchte keineswegs verhehlen, Sir, daß sich eine gewisse Besorgnis aufbaut«, sagte Josuah Parker zu Mike Rander und Kathy Porter, die gerade das Haus der Lady Simpson in Shepherd’s Market betreten hatten, »Mylady geruhen, seit Stunden überfällig zu sein, um es mal so auszudrücken.«
»Überfällig, Parker?« fragte der Anwalt. Mike Rander, groß, lässig und an einen bekannten James-Bond-Darsteller erinnernd, blickte Josuah Parker erstaunt an.
»Mylady verließ vor vier Stunden das Haus, Sir, wollte aber bereits seit zwei Stunden wieder zurück sein.«
»Wohin ist sie denn gefahren?« erkundigte sich Kathy Porter. Sie war die Sekretärin und Gesellschafterin der Lady Agatha, eine Dreißigerin und attraktive Erscheinung.
»Mylady folgte einer Einladung nach Chelsea, Miß Porter« beantwortete Parker die Frage, »ein gewisser Mr. John M. Mullway hatte zu einer Galerieeröffnung eingeladen.«
»Wer, zum Teufel, ist John M. Mullway?« wollte der Anwalt wissen.
»Ein Galerist, Sir, der sogenannte moderne Kunst vermittelt und zu ausgesprochen horrenden Preisen verkauft.«
»Haben Sie dort schon angerufen, Mr. Parker?« fragte Kathy Porter.
»Insgesamt viermal«, lautete Parkers Antwort, »in allen Fällen wurde meiner Wenigkeit bedeutet, Mylady schicke sich gerade an, die Galerie zu verlassen.«
Josuah Parker, ein Mann undefinierbaren Alters, groß und mit der Andeutung eines leichten Bauchansatzes versehen, war der Prototyp des hochherrschaftlichen Butlers, wie man ihn eigentlich nur noch auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm zu sehen bekommt. Gemessenheit der Bewegung und Würde zeichneten ihn aus. Er verfügte über das glatte, undurchdringliche Gesicht eines professionellen Pokerspielers. Er war der Butler der Lady Agatha Simpson und ihr männlicher Schutzengel zugleich.
Parkers Brötchengeberin hielt sich für eine einmalige Kriminalistin und nutzte jede sich bietende Gelegenheit, mit verrückten Abenteuern zu imponieren. Ihre ungenierte Offenheit und Direktheit sorgten immer wieder dafür, daß zwielichtiges Gesindel und Gangster aller Kaliber sie attackierten. In solchen Fällen hielt Parker seine schützende Hand diskret über sie und mußte dazu immer tiefer in seine reichhaltige Trickkiste greifen.
»Sie wollte nicht, daß Sie sie begleiteten, Parker?« fragte Mike Rander.
»Mylady bestand darauf, allein zu gehen«, gab der Butler zurück.
»Man könnte ja vielleicht mal ’rüber nach Chelsea fahren«, schlug Kathy Porter vor.
»Ein Vorschlag, Miß Porter, den man nur begrüßen kann«, fand der Butler und nickte zustimmend.
»Es wird schon nichts passiert sein«, ließ der Anwalt sich vernehmen, »wir alle kennen doch Lady Simpson: Sie verplaudert sich halt gern. Aber einverstanden, setzen wir uns in den Wagen und schaukeln wir nach Chelsea. Es ist ja nur ein Katzensprung.«
Es dauerte einige Minuten, bis das Trio in Parkers hochbeinigem Monstrum Platz genommen hatte. Dabei handelte es sich um ein bereits recht betagt aussehendes, ehemaliges Londoner Taxi, das jedoch nichts anderes als eine raffinierte Trickkiste auf Rädern war. Der Wagen war nach Parkers eigenwilligen Vorstellungen umgebaut worden, was die Technik betraf. Es stellte vieles in den Schatten, was in phantasievollen Kriminalfilmen an Raffinesse dargeboten wurde.
Selbstverständlich saß Parker am Steuer. Er kannte sich in London mehr als gut aus und verzichtete auf die üblichen Durchgangsstraßen. Der Butler benutzte Seitenstraßen und umging so die neuralgischen Verkehrspunkte und die dort immer wieder aufkommenden Staus. Es dauerte knapp fünfzehn Minuten, bis er jene Straße erreichte, in der sich die Galerie des John M. Mullway befand.
»Ich weiß nicht, ob auch Sie’s sehen«, meinte der Anwalt, »aber die Galerie macht einen verdammt geschlossenen Eindruck.«
»Wenn Sie erlauben, Sir, möchte meine Wenigkeit sich Ihrem Eindruck anschließen«, ließ Josuah Parker sich vernehmen. Er hatte seinen Wagen gestoppt und stieg aus. Mike Rander und Kathy brauchten nur wenige Augenblicke, bis sie zusammen mit Parker die Tür der Galerie ansteuerten.
Diese Tür war nun tatsächlich verschlossen.
Hinter den Scheiben brannte kein Licht. Parker benutzte den Bambusgriff seines Universal-Regenschirms, um damit gegen den Türrahmen zu klopfen. Er wiederholte dies mehrere Male, doch es erfolgte keine Reaktion.
»Vielleicht ist gar nicht abgeschlossen«, sagte Mike Rander und zwinkerte Parker zu. Die beiden Männer verstanden sich sofort, und Parker griff in eine der vielen Westentaschen unter seinem schwarzen Zweireiher. Er holte ein Lederetui hervor und sichtete dann recht abenteuerlich gebogene Metallzungen und kleine Haken. Dies alles erinnerte an das Besteck eines passionierten Pfeifenrauchers. Der Butler entschied sich für eine flache, konisch zulaufende Metallzunge und näherte sich damit dem Türschloß.
»Das läuft ja wie geschmiert«, stellte Mike Rander fest und trat ein wenig zurück, damit Josuah Parker das Türschloß ungestört überprüfen konnte.
»Geht das nicht alles zu gut, Mike?« fragte Kathy Porter, worauf der Butler umgehend darauf verzichtete, die Metallzunge in das Türschloß zu schieben.
*
»Lieber Himmel, Parker, das war die perfekte Falle«, stelle der Anwalt eine Viertelstunde später fest. Er, Kathy Porter und Josuah Parker hatten einen anderen Weg gewählt, um die Räume der Galerie betreten zu können. Auf Parkers Vorschlag hin hatte man sich dem Haus von der Rückseite genähert und war dann durch den Keller ins Erdgeschoß gestiegen. Dabei hatte sich das kleine Patent-Besteck des Butlers voll und ganz bewährt. Kein Schloß hatte sich dagegen gesträubt, von Parker geöffnet zu werden.
»Meine Wenigkeit möchte keineswegs verhehlen, Sir, daß es sich um eine Sprengladung handeln könnte.« Parker deutete mit der Spitze seines Universal-Regenschirmes auf das Paket, das dicht unter dem Türschloß auf der Innenseite befestigt worden war. Zwei farbige Drähte führten von diesem kleinen Paket zum Türschloß.
»Wir sollten in die Luft gejagt werden«, ließ Kathy Porter sich vernehmen.
»Kompliment, Kathy«, meinte der Anwalt, »und woher kam Ihr Mißtrauen?«
»Reine Gefühlssache«, gab sie achselzuckend zurück, »ich fühlte mich förmlich dazu eingeladen, die Tür mit einem Nachschlüssel zu öffnen.«
Butler Parker untersuchte inzwischen das Paket, das kaum größer war als eine Zigarrenkiste. Nach kurzer Prüfung trat er zurück und blickte Kathy Porter und Mike Rander an.
»Man wird herzlichst willkommen geheißen«, meldete er, »das wenigstens drückt diese Aufschrift auf dem Päckchen aus.«
»Wie war das?« Rander beugte sich vor und überlas die wenigen Worte, die tatsächlich auf dem Päckchen standen. Kopfschüttelnd richtete der Anwalt sich wieder auf und blickte Kathy Porter an.
»Das verstehe, wer will«, meinte er dann, »hier will uns jemand mächtig auf den Arm nehmen.«
»Man könnte versuchen, das Paket zu öffnen«, schlug der Butler vor.
»Wollen wir nicht besser die Polizei verständigen?« fragte Kathy Porter.
»Meine bescheidenen Fähigkeiten werden sicher ausreichen, um die Ladung zu entschärfen«, ließ Josuah Parker sich vernehmen, »doch aus Gründen der Sicherheit empfiehlt es sich, vielleicht ein wenig in Deckung zu gehen.«
»Ich glaube, das Paket ist leer«, vermutete Kathy Porter und deutete auf die wenigen Worte auf dem Karton, »man scheint damit gerechnet zu haben, daß Mr. Parker eben nicht die Haustür benutzt.«
»Ein Hinweis, Miß Porter, den man nicht übergehen sollte«, antwortete Josuah Parker, »auf der anderen Seite könnten diese Worte dafür gedacht sein, eben so zu schlußfolgern, wie Sie es gerade taten. Mit anderen Worten, man könnte zu einem gewissen Leichtsinn einladen.«
»Welcher Knabe will uns da eigentlich hochnehmen oder sogar hochgehen lassen?« Rander zündete sich eine Zigarette an, während Parker seinen Universal-Regenschirm vom linken Unterarm hakte und gegen die Wand stellte. Anschließend machte er sich daran, das Paket zu entschärfen. Seiner bescheidenen Ansicht nach enthielt es Sprengstoff. Er war sich im klaren darüber, daß man es mit einer schlauen und hinterhältigen Person zu tun hatte. Flüchtig dachte er an Lady Agatha Simpson, doch dann konzentrierte er sich ganz auf seine Aufgabe.
Aus einer der vielen Westentaschen zog er ein Taschenmesser, dessen Schneide die eines Skalpells fast übertraf. Damit ritzte er den Karton vorsichtig an, schnitt noch vorsichtiger tiefer ein und hütete sich, Druck auf den Karton auszuüben.
»Nehmen Sie sich Zeit, Parker«, mahnte Mike Rander, der mit Kathy Porter in einen Nebenraum ausgewichen war, »für eine Himmelfahrt ist es immer zu früh ...«
»Sie können versichert sein, Sir, daß meine Wenigkeit Vorsicht walten lassen wird«, meinte Josuah Parker gemessen. Es war schon erstaunlich, daß sein Gesicht selbst in dieser Situation ausdruckslos blieb. Auf seiner Stirn war noch nicht mal die Andeutung einer Schweißperle zu bemerken. Mit ungewöhnlich vorsichtigen und geschmeidigen Fingern schnitt er weiter in die Kartonfläche und konnte schließlich ein Rechteck freilegen.
»Man sollte darauf hinweisen, daß das Paket tatsächlich eine Sprengstoffladung enthält«, meldete Parker, »meiner bescheidenen Schätzung nach dürfte die Ladung innerhalb der nächsten Minuten entschärft sein.«
Josuah Parker befaßte sich mit den beiden bunten Drähten, mit einer Taschenlampen-Batterie und einem dünnen Glasröhrchen, das mit Quecksilber gefüllt war und eine Art Kippschalter bildete. Anschließend präsentierte er Mike Rander und Kathy Porter, die wieder in den Vorraum zurückgetreten waren, die eigentliche Sprengladung. Sie bestand aus Plastiksprengstoff und hätte leicht ausgereicht, nicht nur die Tür zur Galerie in die Luft zu jagen.
»Da steckt ein Zettel«, sagte Kathy Porter, die einen Blick ins Innere des Päckchens geworfen hatte. Parker nickte, zog den Zettel hervor und überlas die wenigen, mit Schreibmaschine geschriebenen Worte.
Man gratulierte ihm zu seinem Erfolg. Mehr stand nicht auf dem Zettel!
*
»Wenn Sie erlauben, Sir, möchte meine Wenigkeit sich gewisse Sorgen machen, was Mylady betrifft«, sagte Josuah Parker. Das Trio hatte die Räume der Galerie verlassen und hielt sich in einem nahen Pub auf.
»Wenn Sie gestatten, schließe ich mich Ihrer Sorge an«, erwiderte Mike Rander und lächelte flüchtig, »und ich glaube, Miß Porter wird da mitziehen.«
»In der Galerie kann keine Ausstellung stattgefunden haben«, sagte die Gesellschafterin der älteren Dame, »wir haben schließlich alles genau durchsucht.«
»Demnach dürfte man Lady Simpson in eine Falle gelockt haben«, vermutete der Anwalt.
»Dem kann man nur beipflichten, Sir«, ließ Parker sich vernehmen, »und man scheute sich nicht, gleich an der Tür zur Galerie eine Sprengladung anzubringen.«
»Eine verdammt mysteriöse Geschichte, Parker.« Rander nickte nachdenklich. »Und dann dieser Zettel im Paket... Man scheint unsere Suche nach Lady Simpson zu einer Art Hindernisrennen machen zu wollen, wie?«
»Eine Bezeichnung, Sir, die man nur als trefflich bezeichnen kann«, sagte Josuah Parker, »hier dürfte es sich um diverse Prüfungen handeln, die man absolvieren muß.«
»Man kann doch wohl davon ausgehen, daß Lady Simpson entführt worden ist, nicht wahr?« fragte Kathy Porter eindringlich.
»Eine andere Deutung, Miß Porter, bietet sich im Augenblick nicht an«, beantwortete Josuah Parker die Frage, »früher oder später dürften Myladys Entführer sich mit Sicherheit melden.«
»Gab es in jüngster Zeit irgendwelche Drohungen?« fragte der Anwalt.
»Keineswegs, Sir«, erwiderte der Butler, »Mylady beklagte sich sogar über mangelnde Betätigung.«
»Dann dürfte da jemand aus dem Nichts heraus tätig geworden sein«, redete Mike Rander weiter, »und ein gewöhnlicher Gangster kann das unmöglich sein.«
»In der Tat, Sir«, pflichtete Parker dem Anwalt bei, »um einen gewöhnlichen Anschlag kann es sich kaum handeln.«
»Hier will irgendeine Person beweisen, daß sie besser ist als Sie, Mr. Parker«, schaltete Kathy Porter sich ein, »so sehe ich es wenigstens. Hier will jemand Katz und Maus mit Ihnen spielen.«
»Was in der Vergangenheit wiederholt der Fall war, wenn man bescheiden daran erinnern darf«, antwortete der Butler.
»Es gibt eben immer wieder neue Versuche«, seufzte der Anwalt, »setzen wir darauf, daß Mylady noch nichts passiert ist.«
»Dies dürfte momentan kaum der Fall sein, Sir«, gab Josuah Parker zurück, »die mysteriöse Person hätte ja ohne weiteres schießen können, als man sich vor der Galerie befand.«
»Richtig«, sagte Rander und nickte langsam, »hier will es jemand verdammt spannend machen. Und dazu braucht er eine Lady Simpson, die noch mitspielen kann und muß.«
»Sollten wir nicht McWarden informieren?« tippte Kathy Porter an.
»Unser guter Chief-Superintendent«, sagte Mike Rander und lächelte flüchtig, »aber wirklich, Kathy, keine schlechte Idee. Wir sollten jede Möglichkeit nutzen, Lady Simpson aus der Patsche zu helfen.«
»Zumal Mylady dazu neigt, recht ungewöhnlich zu reagieren«, ließ Josuah Parker sich vernehmen, »diese Bemerkung sollte man tunlichst nicht als Kritik betrachten.«
»Sie haben es sogar noch sehr vornehm ausgedrückt.« Rander lächelte. »Machen wir uns doch nichts vor; wenn Lady Simpson sich in den Händen von Entführern befindet, liegt Zündstoff in der Luft. Sie weiß doch überhaupt nicht, was Gefahr ist.«
»Wir könnten umgehend zum Chief-Superintendent fahren«, erinnerte die Sekretärin und Gesellschafterin der älteren Dame, über deren Schicksal man sich gerade unterhielt. Bevor Parker dazu Stellung nehmen konnte, wurde sein Name vorn am Tresen gerufen. Der Butler erhob sich.
»Meiner Wenigkeit liegt es unendlich fern, den Propheten spielen zu wollen«, sagte er und lüftete die schwarze Melone, »aber nach Lage der Dinge will man wohl meine Wenigkeit mit der nächsten Aufgabe vertraut machen.«
Parker schritt würdevoll zum Tresen, wo der Telefonapparat sich befand.
»Was kann diesen Mann eigentlich aus der Ruhe bringen«, frage Mike Rander und schüttelte bewundernd den Kopf.
»Ich warte seit Jahren auf solch einen Moment«, bekannte Kathy Porter, »und wahrscheinlich werde ich noch viele weitere Jahre warten müssen, Mike.«
*
»Und was wurde am Telefon gesagt?« fragte Chief-Superintendent McWarden, der sich im Haus der Agatha Simpson in Shepherd’s Market eingefunden hatte. McWarden, etwa fünfundfünfzig, untersetzt, mit leichtem Bauch ausgestattet, erinnerte schon allein wegen seiner Basedow-Augen an eine stets leicht gereizte Bulldogge. Er leitete im Yard ein Sonderdezernat, das sich mit der Bekämpfung des organisierten Bandenverbrechens befaßte. McWarden war dem Innenministerium direkt unterstellt und genoß große Handlungsfreiheit.
McWarden war Butler Parker zutiefst verpflichtet, denn wenn er wieder mal im Zug einer Ermittlung nicht weiterkam, suchte und fand er die volle Unterstützung des Butlers. McWarden hatte Parker wiederholt angeboten, in den Polizei- oder Geheimdienst überzuwechseln, doch Parker hatte stets abgelehnt. Früher in Diensten Mike Randers und jetzt für Lady Simpson tätig, verfügte er über genau jene Freiheiten, die er schätzte.
»Hat sich da vielleicht der Entführer Myladys gemeldet?« fragte der Chief-Superintendent erneut.
»So sollte man in der Tat sagen, Sir«, erwiderte Parker, »es handelt sich um eine Stimme, die man durchaus als freundlich und gepflegt bezeichnen muß, Sir. Meiner Wenigkeit wurde mitgeteilt, Mylady wäre noch im Zustand des allgemeinen Wohlbefindens. Die erwähnte Stimme teilte ferner mit, man habe keine Einwände zu erheben, falls man die Polizei einzuschalten gedenke. In diesem Zusammenhang wurde Ihr Name erwähnt, Sir, was man als bemerkenswert registrieren sollte. Es wurde ferner darauf verwiesen, Mylady sei inzwischen ein wenig ungeduldig und warte dringend auf den Tag der Befreiung.«
»Es wurde nicht gesagt, wie man sie entführte?« erkundigte sich darauf McWarden.
»Darüber wurde kein Wort verloren, Sir«, bedauerte der Butler, »es wurde allerdings deutlich gemacht, der Galerist John M. Mullway habe mit Myladys Entführung nichts zu tun.«
»Das werden wir noch herausfinden«, meinte der Chief-Superintendent grimmig, »wir werden jeder Spur nachgehen. Wurde Ihnen eine neue Aufgabe zugeteilt, Mr. Parker?«
»Eben nicht, Sir«, erwiderte der Butler, »bevor meine Wenigkeit eine entsprechende Frage stellen konnte, wurde auf der Gegenseite aufgelegt.«
»Was ich eigenartig finde«, sagte Mike Rander, »offen gestanden, McWarden, damit hatte ich fest gerechnet.«
»Er will die Sache eben spannend machen«, urteilte Kathy Porter.
»Der Hinweis, Mr. John M. Mullway habe mit der Entführung nichts zu tun, dürfte bereits die neue Aufgabe sein, der man sich wohl unterziehen soll«, ließ Josuah Parker sich vernehmen.
»Wie kommen Sie denn darauf?« wunderte sich McWarden umgehend.
»Diesen Namen dürfte man nicht ohne Grund genannt haben, Sir.«
»Richtig«, bestätigte Mike Rander, »wir sollen auf eine ganz bestimmte Fährte gesetzt werden.«
»Die mit Schwierigkeiten aller Art gespickt sein wird«, vermutete Kathy Porter.
»Okay, ich schließe mich dieser Auffassung an«, sagte McWarden, »zum Teufel, wer mag dieser Gangster sein? Geld will er offensichtlich nicht haben, wie?«
»Bisher wurden keine diesbezüglichen Wünsche geäußert«, bestätigte der Butler, »möglicherweise werden zu einem späteren Zeitpunkt noch Forderungen in materieller Hinsicht erhoben.«
»Also gut, er soll seinen Willen haben.« McWarden, der längst unruhig vor dem großen Kamin hinund herwanderte, blieb jäh stehen. »Meine Leute werden sich umgehend mit diesem Mullway befassen. Lady Simpson dürfte ja nicht ohne Grund zu ihm gelockt worden sein. Wie war es eigentlich damit, Mr. Parker?«
»Mylady erhielten mit der gewohnten Morgenpost die Einladung zu einer Ausstellung«, entgegnete Josuah Parker, »Mr. John M. Mullway wollte demnach junge Londoner Künstler bekannt machen.«
»Aber wieso nahm sie diese Einladung an?« wunderte sich McWarden.
»Mr. John M. Mullway teilte auf dieser Einladung mit, die Gäste erwarte ein reichhaltig ausgestattetes Büfett mit Sekt und Kaviar.«
»Das sagt natürlich bereits alles«, gab der Chief-Superintendent zurück und lächelte wider Willen. Er kannte die Leidenschaft der passionierten Detektivin, die ungemein gern und gut aß. Und wenn sie dies zudem kostenlos tun konnte, war sie zu Einladungen leicht zu verführen.
Gewiß, Agatha Simpson war immens vermögend, doch sie konnte ungemein sparsam bis geizig sein. Auf der anderen Seite, aber war sie durchaus in der Lage, das Geld mit vollen Händen auszugeben, wenn sie sich mit einem Kriminalfall beschäftigte.
»Noch eine Frage am Rand«, bat McWarden nach einer kleinen Pause und wandte sich weiterhin an den Butler, »warum sind Sie nicht mit zu diesem Galeristen gegangen?«
»Mylady bestand darauf, allein zu gehen«, antwortete Josuah Parker.
»Weil Lady Simpson nicht an ihre Diät erinnert werden wollte«, erklärte Mike Rander. »Und Parker wäre die leibhaftige Mahnung gewesen.«
»So hätte Mylady meine bescheidene Anwesenheit zweifellos ausgelegt«, pflichtete der Butler dem Anwalt bei, »dennoch soll keineswegs verhehlt sein, daß man sich gewisse Vorwürfe macht. Meine Wenigkeit hätte wohl Mylady begleiten müssen.«
»Unsinn, Parker«, sagte Rander, »Sie hauen sie ja wieder heraus. Und wir werden Ihnen dabei helfen, so gut es geht.«
*
Parker befand sich allein im großen, altehrwürdigen Fachwerkhaus seiner Herrin.
Er hatte sich hinunter ins Souterrain begeben, wo sich seine privaten Räume befanden. Er verfügte hier über einen großen Wohnraum, über ein Schlafzimmer und eine kleine, kombüsenartige Küche. Neben Bad und Toilette verfügte Parker in diesen unteren Räumen noch zusätzlich über sein sogenanntes Labor, in dem er seine kleinen Überraschungen entwickelte und zusammenbaute. Er war ein begabter und geschickter Techniker, der bisher keine fremde Hilfe benötigt hatte.
Der Butler hatte sich einen Tee aufgebrüht, saß in einem der Ledersessel, ging mit sich zu Rate und rief aus seinem Gedächtnis alle jene Personen ab, die für eine Entführung vielleicht in Betracht kamen. Doch so sehr er sich auch bemühte, der rettende Einfall wollte sich nicht einstellen. In der Vergangenheit hatten Mylady und er schon viele Kriminelle gestellt, überführt und ins Gefängnis gebracht, es hatte viele Drohungen gegeben, und es waren viele Mordanschläge verübt worden, doch keiner dieser Gangster kam für ihn in Betracht. Er war sich völlig im klaren darüber, daß man es mit einer Person zu tun hatte, die eine ganz besondere Form der Rache genießen wollte. Hier wollte jemand tatsächlich mit ihm ein mörderisches Spiel spielen und besaß dazu ein Faustpfand in Händen, wie man es besser sich gar nicht vorstellen konnte.
Und dennoch: Parker hatte das vage Gefühl, daß diese mysteriöse Person ihn recht gut kennen mußte. Sie wollte sich mit ihm messen und fühlte sich ihm im vorhinein überlegen. Parker wußte sehr gut, daß die Reihe der Prüfungen gerade erst begonnen hatte.
Wie mochte es wohl Mylady ergehen?
Bei diesem Gedanken erhob sich der Butler und nahm eine Wanderung durch den Wohnraum auf. Er war allein, durfte sich also so etwas wie eine Gefühlsregung leisten. Er schätzte Lady Simpson sehr und schwor sich, alles zu tun, um Unheil von ihr abzuwenden.
Das Telefon läutete.
Parker hob ab, hatte sich sofort wieder unter Kontrolle und meldete sich.
Auf der Gegenseite war eine undeutliche Stimme zu hören, von der man nicht genau sagen könnte, ob sie einer Frau oder einem Mann gehörte.
»Ich kann Ihnen einen Tip verkaufen«, behauptete die Stimme eindringlich, »Sie wollen doch sicher wissen, was mit Ihrer Lady passiert ist, wie?«
»Sie erwecken einiges Interesse in meiner Wenigkeit«, erwiderte Josuah Parker gemessen.
»Was wollen Sie denn springen lassen?«
»Darf man erfahren, wie seriös Ihr sogenannter Tip ist?«
»Ich hab’ per Zufall was mitbekommen, was ich eigentlich nicht hätte sehen dürfen. Es geht da um Ihre Lady.«
»Dies sagten Sie bereits.« Parker gab sich zurückhaltend.
»Ich weiß, wo man sie versteckt hält.«
»Sie haben bestimmte Vorstellungen hinsichtlich des Kaufpreises, was die Information betrifft?«
»Sagen wir mal, so rund tausend Pfund. Das ist wirklich nicht zu viel, oder? Die Lady hat doch genug Zaster. Für die sind tausend Pfund doch nur ’ne Kleinigkeit.«
»Dann ist es geradezu bemerkenswert, daß Sie nicht mehr verlangen.«
»Ich will mich nicht verschlucken. Also, Parker, tausend Pfund in kleinen Scheinen, ist das klar? Sie treffen mich in einer Stunde am Piccadilly Circus. Ich mach’ mich dann schon rechtzeitig bemerkbar.«
»Meine Wenigkeit wird sich umgehend auf den Weg machen«, sagte Josuah Parker, »aber würden Sie freundlicherweise beschreiben, welche Dame Sie sahen, als Sie eine Entführung vermuteten?«
»Groß, stattlich und auch korpulent, aber ohne richtig dick zu sein. Sie wurde von zwei Leuten weggeschafft.«
»Und wann und wo fand diese Entführung statt, um auch diese Frage noch zu klären?«
»Vor ’ner Galerie in Chelsea«, lautete die Antwort, »ich hab’ sofort mitbekommen, daß da was faul war, aber ich hab’ mich nicht eingemischt.«
»Rechnen Sie mit meiner Wenigkeit«, sagte Butler Parker, legte dann auf und ... begab sich wenig später zu Bett. Vorher aber schaltete er das Telefon noch hinauf in die große Wohnhalle des Hauses.
Er wollte nicht gestört werden.
*
Parker bereitete sich gerade das Frühstück, als das Telefon erneut sich meldete. Er hob ab, nannte seinen Namen, und prompt war die undeutliche Stimme zu vernehmen, die er bereits kannte.
»Hören Sie mal, Parker, sind Sie verrückt?« tönte es aus dem Hörer,
»Gibt es Ihrerseits Gründe für diese Annahme?« erkundigte sich der Butler.
»Ich hab’ auf Sie gewartet und dann angerufen, aber Sie haben überhaupt nicht reagiert und abgehoben. Mann, sind Sie nicht mehr an meinem Tip interessiert? Denken Sie etwa, ich wollte Ihnen was vormachen?«
»Entschuldigen Sie einen alten, müden und relativ verbrauchten Mann, der von der Müdigkeit übermannt wurde«, gab Parker gemessen zurück, »sind Sie möglicherweise an einem neuen Termin interessiert?«
»Der Tip ist inzwischen teurer geworden. Ich will jetzt fünftausend Pfund sehen.«
»Wann und wo kann man Sie nun treffen? Oder bleiben Sie nach wie vor beim Piccadilly Circus?«
»Es bleibt dabei. In einer Stunde will ich Sie da sehen, sonst ist das Geschäft geplatzt. Haben Sie mich verstanden?«
»Sie können meine Wenigkeit erwarten«, versprach der Butler, »nach dem Frühstück wird man sich auf den Weg machen.«
»Mann, Sie haben vielleicht ’ne Ruhe«, beschwerte sich die undeutliche Stimme fast, »es geht doch immerhin um Ihre Brötchengeberin, oder? Oder haben Sie kein Interesse an ihr?«
»Meine Wenigkeit bemüht sich, stündlich an Mylady zu denken«, versicherte der Butler der undeutlichen Stimme, »und im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten wird man alles tun, um Lady Simpson aus einer Lage zu befreien, die sicher peinlich sein dürfte.«
»Mann, Sie haben vielleicht Nerven«, wunderte sich die Stimme, »hoffentlich kommt Ihre Lady nie dahinter, wie sehr Sie sich für Sie abstrampeln.«
»Man wird meiner Wenigkeit niemals Illoyalität vorwerfen müssen. Gibt es sonst noch etwas, was besprochen werden müßte?«
»Das war’s bereits, Parker. Seien Sie pünktlich... Und keine miesen Tricks... Ich werde höllisch aufpassen.«
Auf der Gegenseite wurde aufgelegt. Josuah Parker setzte sich an den korrekt gedeckten Tisch in seinem Wohnraum und frühstückte. Zwischendurch griff er nach dem Telefon, wählte eine Nummer und nickte andeutungsweise, als ein gewisser Horace Pickett sich meldete.
»Parker«, sagte der Butler in seiner gelassen-höflichen Art, »Mr. Pickett, man kann nur hoffen, daß Sie sich nicht um diese frühe Morgenstunde gestört fühlen.«
»Überhaupt nicht, Mr. Parker, ich bin längst auf den Beinen.«
»Es hat den Anschein, als sei Lady Simpson entführt worden«, redete Josuah Parker weiter, »es dürfte sich um eines der üblichen Erpressungsmanöver handeln, wie sie in der Vergangenheit schon mehrfach versucht wurden.«
»Seit wann ist Lady Simpson denn verschwunden? Hat sie sich bereits gemeldet?«
»Mylady muß am späten Nachmittag des vergangenen Tages das Opfer zweier Kidnapper geworden sein, wie man mir glaubhaft versichern will. Bisher traf weder eine schriftliche noch mündliche Nachricht Lady Simpsons ein.«
»Haben Sie bereits die Polizei verständigt?« Die Stimme des Horace Pickett drückte Anteilnahme und echte Besorgnis aus.
»Man unterhielt sich bereits ausführlich mit Chief-Superintendent McWarden«, erwiderte Josuah Parker, »ich darf Ihnen versichern, Mr. Pickett, daß alle erforderlichen Schritte in die Wege geleitet wurden und werden.«
»Kann ich irgendwie helfen?«
»Könnte man Sie in etwa anderthalb Stunden in Soho treffen?«
»Aber selbstverständlich, von mir aus auch früher, Mr. Parker. Verfügen Sie über mich!«
»In anderthalb Stunden«, wiederholte der Butler, »es wäre erfreulich, wenn man Sie in der Carnaby Street sehen könnte, und zwar vor einer sogenannten Boutique, in der Silberwaren aller Art angeboten werden.«
»Ich glaube, ich weiß, welchen Laden Sie meinen, Mr. Parker«, antwortete Horace Pickett, »in anderthalb Stunden also. Ich werde pünktlich sein.«
Parker bedankte sich und legte dann auf.
Er ging davon aus, daß man die Telefonleitung angezapft hatte. Nicht weit von dem kleinen Platz entfernt, an dem Myladys Haus und die benachbarten Bauten standen, gab es seiner Erinnerung nach eine Art Knotenpunkt für die Telefonleitungen dieses Viertels. Da Parker den Gegner nicht unterschätzte, setzte er also voraus, daß diese Person selbstverständlich in Erfahrung bringen wollte, welche Telefongespräche man hier vom Haus aus führte.
Soho war von Piccadilly Circus nun wirklich nicht weit entfernt. Falls man also sein gerade geführtes Telefongespräch abgehört hatte, mußte man davon ausgehen, daß er vorher noch am vereinbarten Treffpunkt, eben am Piccadilly Circus erscheinen würde.
Josuah Parker beendete in aller Ruhe sein Frühstück, ging dann in sein Labor und versah sich hier mit einigen nützlichen Kleinigkeiten für eine mögliche hautnahe Auseinandersetzung mit Myladys Entführern. Dann streifte er sich seinen schwarzen Covercoat über den Zweireiher, vergewisserte sich, daß der schwarze Binder korrekt saß, setzte sich die Melone auf den Kopf und langte nach seinem Universal-Regenschirm. Er war bereit, sich mit dem Gegner auseinanderzusetzen.
*
Der Butler stürzte sich mit seinem hochbeinigen Monstrum in das dichte Verkehrsgewühl der Innenstadt. Ihm kam zustatten, daß sein Wagen mal ein Londoner Taxi war. Modelle dieser Art waren, wenn auch etwas abgewandelt, in einer Vielzahl auf den Straßen zu sehen. Während der Fahrt in Richtung Piccadilly Circus blickte er immer wieder in den Rückspiegel und suchte nach etwaigen Verfolgern. Er wunderte sich keineswegs darüber, daß solche nicht auszumachen waren. Man erwartete ihn mit Sicherheit am Circus, um ihn dort dann auszuschalten. Was man genau plante und mit ihm vorhatte, wußte er natürlich nicht, doch er rechnete mit Schüssen aus dem Hinterhalt oder mit Messerstichen, die ihn jedoch wohl kaum tödlich verwunden sollten. Seiner Schätzung nach wollte die Person ihm nur beweisen, wie machtvoll sie war. Wenn es sich um ein Katz- und Maus-Spiel handelte, würde die mysteriöse Person, die sich als Katze betrachtete, ihn sicher kaum sofort töten wollen.
Es war eine Kleinigkeit für den Butler, den Verkehrsstrom zu verlassen. Er wischte mit seinem hochbeinigen Monstrum in eine enge Seitenstraße und steuerte seinen Wagen dann durch ein Gewirr von Gassen, bis er sicher sein konnte, jeden noch so gekonnten Verfolger abgehängt zu haben. Er ließ seinen Wagen auf dem Hinterhof einer Musikalienhandlung stehen, ging gemessen zu Fuß weiter und benutzte einige Pubs und Warenhäuser, um seine Spuren endgültig zu verwischen. Ihm kam es darauf an, weit vor der mit Horace Pickett vereinbarten Zeit in der Carnaby Street zu sein.
Als er sie erreichte, schritt er an der Boutique vorüber, die Silberschmuck anbot, wechselte in ein Gebäude hinüber, in dem sich einige Musikverlage befanden, und bezog im Treppenhaus Posten. Er befragte seine unförmige Zwiebeluhr, nachdem er den Sprungdeckel hatte aufspringen lassen, und faßte sich in Geduld. Es blieb noch viel Zeit. Inzwischen machte man sich am Piccadilly Circus sicher bereit, ihn angemessen zu empfangen.
Vom Fenster des Treppenhauses aus konnte er die Boutique überblicken. Parker kümmerte sich nicht um die jungen Leute, die das Treppenhaus bevölkerten. Sie trugen mehr als nur saloppe Kleidung und sahen manchmal sogar recht abenteuerlich aus, ließen ihn jedoch in Ruhe. Hin und wieder wurde Parker zwar interessiert gemustert, doch Fragen stellte man nicht.
Es dauerte vielleicht eine halbe Stunde, als sich unten auf der Straße etwas tat, was ihm nicht ganz regulär erschien. Zwei Männer, jeder von ihnen etwa fünfunddreißig Jahre alt, stiegen aus einem Taxi und bauten sich in der Nähe der Boutique auf. Einer von ihnen benahm sich derart unauffällig, daß er bereits schon wieder auffiel. Er entfaltete eine Zeitung und gab seinem dringenden Verlangen nach, die neuesten Nachrichten zu studieren. Hin und wieder senkte er die Zeitung und blickte kurz zu seinem Partner hinüber, der sich inzwischen um die Auslagen der vielen kleinen Geschäfte kümmerte.
Damit war für Parker erst mal erwiesen, daß die Telefonleitung in Shepherd’s Market angezapft worden war. Die Gegenseite hatte sein Gespräch mit Horace Pickett abgehört und entsprechende Vorkehrungen getroffen. Falls er am Piccadilly Circus nicht getroffen wurde, wollte man ihn dann hier abfangen und ihm die verordnete Lektion erteilen.
Butler Parker griff in die Innentasche seines Covercoats und holte seine zusammenlegbare Gabelschleuder hervor. Er klappte sie auseinander, fixierte beide Hälften und langte in einer seiner Westentaschen dann nach einem Spezialgeschoß. Er wählte eine hart gebrannte Tonmurmel, legte sie in die Lederschlaufe der sogenannten Zwille und öffnete das Fenster des Treppenabsatzes, auf dem er Position bezogen hatte. Wenige Sekunden später zischte das seltsame Geschoß quer über die Straße, senkte sich und traf unfehlbar den Mann, der die Auslagen der Geschäfte besichtigte.
Er fand noch nicht mal Zeit, nach dem Genick zu langen. Wie vom Blitz getroffen, sackte der Mann in sich zusammen und breitete sich auf dem Gehweg aus. Es dauerte nur noch zusätzliche Sekunden, bis einige Passanten sich um ihn bemühten.
Der Zeitungsleser neben dem Hydranten war aufmerksam geworden, faltete das Blatt hastig zusammen und lief dann zu der Menschenansammlung. Er hatte sie noch nicht erreicht, als Parker die Treppe hinabstieg und das Haus verließ. Er überquerte die Straße und mischte sich unter die hilfsbereiten und neugierigen Menschen. Geschickt schob er sich an den ehemaligen Zeitungsleser heran und... hatte keine Mühe, ihn heimlich zu beschenken.
Er bedachte ihn mit einem völlig normal aussehenden Kugelschreiber, den er dem Mann, mit der Fingerfertigkeit eines professionellen Taschendiebes, vorn in die Ziertuchtasche gleiten ließ. Parker wandte sich ab und lustwandelte gemessen die Straße hinunter.
*
Josuah Parker saß in seinem hochbeinigen Monstrum und näherte sich der Carnaby Street.
Schon von weitem sah er, daß dort inzwischen vor der bewußten Boutique ein Krankenwagen eingetroffen war. Parker hielt, beobachtete die Szene und bekam gerade noch mit, daß die beiden Männer ein Taxi bestiegen. Der Rettungswagen setzte sich schon wieder in Bewegung und fuhr ohne Patienten weiter. Er war sicher von Anwohnern alarmiert worden, doch der von der Tonmurmel Getroffene hatte sich geweigert, liegend weggeschafft zu werden.
Parker folgte dem Taxi, schaltete das Radio ein und betätigte einen versteckt angebrachten Schalter unter dem Armaturenbrett. Daraufhin war ein feiner Piepton zu vernehmen, der ihm genau sagte, wo sich der momentane Träger des Kugelschreibers befand. In diesem Schreibgerät, das aus seinem Labor stammte, befand sich ein kleiner, sehr leistungsstarker Sender.
Am Trafalgar Square stiegen die beiden Männer aus dem Taxi und mischten sich unter das Fußvolk. Sie waren hier innerhalb weniger Augenblicke völlig verschwunden, was Parker aber nicht sonderlich bedauerte. Er setzte auf den Miniatursender im Kugelschreiber, suchte und fand einen Parkplatz für seinen Wagen, öffnete das Handschuhfach und holte eine Art Hörgerät hervor. Er befestigte den Clip an seinem rechten Ohr und nahm den kleinen Empfänger in die rechte, schwarz behandschuhte Hand.
Nachdem er das Gerät eingeschaltet hatte, hörte er einen feinen Piepton, der ihm sagte, daß er die Sendesignale des Kugelschreibers noch relativ gut empfing.
Diese Signale wurden schnell lauter. Parker hatte die Richtung genommen, die die beiden Männer gewählt hatten. Von Schritt zu Schritt wurden die Signale deutlicher und erreichten schließlich ein Maximum. Parker befand sich vor einem Restaurant, dessen Spezialitäten Steaks waren. Der Butler konnte sich kaum vorstellen, daß die beiden Männer ausgerechnet jetzt das dringende Bedürfnis hatten, Steaks zu essen. Wahrscheinlich wollten sie von diesem Restaurant aus nur anrufen.
Er sollte sich nicht getäuscht haben...
Nach wenigen Minuten tauchten die Männer wieder auf. Butler Parker hatte Deckung hinter einem Kiosk genommen und war gespannt, was die beiden unternehmen würden. Sie waren zum Straßenrand gegangen und schienen hier zu warten. Sie redeten wenig miteinander, und der Mann, dessen Genick Parker mit der Tonmurmel bedacht hatte, griff immer wieder nach der sicher noch schmerzenden Stelle und machte einen irritierten Eindruck. Wahrscheinlich rätselte er noch immer darüber, was ihn da wohl getroffen und außer Gefecht gesetzt hatte.
Nach knapp zehn Minuten tauchte ein Auto auf. Es handelte sich um einen Ford, der nur solange hielt, bis die beiden Männer eingestiegen waren. Parker prägte sich das Kennzeichen ein und schritt dann gemessen zurück zu seinem Privatwagen. Mehr war im Augenblick nicht zu tun. Selbst wenn sein Fahrzeug in der Nähe gewesen wäre, hätte er auf eine Verfolgung verzichtet. Die Gefahr, dabei entdeckt zu werden, war einfach zu groß.
Er ignorierte den vereinbarten Treff am Piccadilly Circus, fuhr zurück in die Carnaby Street und stieß hier auf Horace Pickett, der sich vor der Boutique aufgebaut hatte und bereits auf Parker wartete.
Pickett, ein ehemaliger Taschendieb, war ein großer, fast schlanker Sechziger, der wie ein pensionierter Offizier aussah. Er befand sich bereits seit Jahren auf dem Pfad der Tugend, nachdem der Butler ihm mal das Leben gerettet hatte. Seit dieser Zeit machte er sich eine Ehre daraus, Josuah Parker und Lady Simpson zu dienen. Er verfügte noch immer über erstklassige Beziehungen zu bestimmten Leuten in London und erwies sich als unschätzbare Hilfe.
Horace Pickett stieg in das hochbeinige Monstrum und nahm im Fond des Wagens Platz. Er schaute in den Rückspiegel, wo sein Blick sich mit dem des Butlers traf.
»Vorab, Mr. Pickett, gilt Ihnen mein Gruß«, sagte Parker, »dann sollten Sie wissen, daß Myladys Telefon aller Wahrscheinlichkeit nach angezapft wurde. Dies geschah offensichtlich im Zusammenhang mit Myladys Entführung, die seit den späten Nachmittagsstunden des gestrigen Tages zu beklagen ist.«
»Guter Gott, Mr. Parker«, erwiderte Horace Pickett, »wissen Sie schon, von wem Lady Simpson gekidnappt worden ist?«
»Dies entzieht sich noch momentan meiner Kenntnis«, redete Josuah Parker weiter, »aber nach Lage der Dinge dürfte man es mit einer Person zu tun haben, die man nur als professionell bezeichnen kann.«
»Verfügen Sie über mich, Mr. Parker«, bat Horace Pickett, »ich werde Tag und Nacht für Lady Simpson und für Sie da sein.«
»Das Angebot Ihrer uneingeschränkten Mitarbeit wird dankbar zur Kenntnis genommen«, lautete Parkers Antwort, »es geht im Augenblick um den Besitzer eines Wagens, dessen Name man in der nächsten halben Stunde in Erfahrungen bringen wird. Dieser Mann, Mr. Pickett, sollte tunlichst diskret überwacht werden.«
»Ist hier in der Carnaby Street nichts mehr zu erledigen?« erkundigte sich der ehemalige Eigentumsverteiler.
»Dies hat sich bereits erledigt«, meinte der Butler, »und damit dürfte man auf der Gegenseite eine gewisse Irritation ausgelöst haben.«
»Hoffentlich ist Mylady nichts passiert«, sorgte sich Pickett.
»Dies steht zu hoffen«, gab Josuah Parker gemessen zurück, »meine Wenigkeit setzt allerdings auf die physische Robustheit Myladys, um es mal so direkt auszudrücken.«
*
Lady Agatha Simpson war verärgert.
Der Tee, den man ihr gebracht hatte, war dünn und lauwarm, die Kekse waren hart und das Bett zu kurz. Zudem hatte sie Kopfschmerzen und fühlte sich zerschlagen. Sie war erst vor einer Viertelstunde aufgewacht und hatte noch keine Zeit gefunden, den Raum zu inspizieren, in dem sie sich befand.
Unter der Decke brannte eine nackte Glühbirne, die sich durch Lichtschwäche auszeichnete. Fenster gab es nicht. Auf dem Boden lag ein zerschlissener Teppich, die Tür bestand aus frisch lackiertem Eisenblech. Es roch ein wenig dumpf in dem niedrigen Raum, der vielleicht sechs bis acht Quadratmeter zu bieten hatte.
Die Einrichtung war mehr als spärlich. Es gab das zu kurze Bett, einen Tisch und einen Stuhl. Hinter einem schmalen Schrank gab es eine Tür, die nach ihrer Deutung in einen Waschraum führte.
Lady Agatha saß auf der Bettkante und vermißte ihren perlenbestickten Pompadour. Ihr eigenwilliger Hut allerdings lag auf dem Stuhl, doch man hatte die beiden Hutnadeln entfernt. Sie wollte gerade wieder nach der Teetasse greifen, als ein Schlüssel ins Schloß der Tür geschoben wurde. Danach, das hörte sie deutlich, sperrte man zwei Riegel auf. Lady Agatha richtete sich steil auf.
Die Tür öffnete sich. Eine große, stämmige Frau in weißem Kittel betrat den Raum.
»Was soll das alles?« grollte die ältere Dame. »Rechnen Sie etwa mit einem Lösegeld? Da werden Sie sich gewaltig täuschen, ich bin schließlich eine Frau, die jeden Penny in der Hand umdrehen muß.«
»Wir wissen sehr genau, wie vermögend sie sind, Lady Simpson«, antwortete die etwa fünfundvierzigjährige Frau, »aber es geht nicht um Geld.«
»Sondern? Wollen Sie mich etwa umbringen?« Die Gekidnappte lächelte mühsam, aber verächtlich.
»Es geht um Ihren Butler, Lady Simpson«, sagte die Stämmige, »wir geben ihm die Chance, Sie zu befreien.«
»Wer ist wir?« Lady Agathas an sich schon baritonal gefärbte Stimme klang noch dunkler.
»Das werden Sie noch rechtzeitig erfahren, Lady Simpson«, gab die Frau zurück, »aber wie gesagt, es geht um Mr. Parker. Er soll beweisen, ob er tatsächlich so gut ist, wie allgemein behauptet wird.«
»Er ist begabt«, meinte die passionierte Detektivin, »aber wahrscheinlich überschätzen Sie ihn, junge Frau.«
»Das wäre dumm für Sie, Mylady«, sagte die Stämmige und lächelte kühl, »falls er seine Prüfungen nicht besteht, müssen auch Sie sterben.«
»Was soll der Unsinn?« raunzte die ältere Dame. »Von welchen Prüfungen reden Sie eigentlich? Und wie haben Sie mich gekidnappt? Ich verlange dazu einige Erklärungen.«
»Später vielleicht«, erwiderte die Wärterin, »wenn Sie sich ruhig verhalten, wird Ihnen vorerst nichts passieren.«
»Und falls nicht?« grollte Agatha Simpson gereizt.
»Falls Sie Ärger machen, werden wir Sie unter Drogen setzen und ruhig stellen«, drohte die Stämmige.
»Haben Sie mich etwa entführt?« fragte Lady Agatha.
»Aber nein«, lautete die Antwort, »es waren Mitglieder der Todesmeute, wie sie genannt wird.«
»Todesmeute? Das klingt ziemlich größenwahnsinnig«, fand die ältere Dame, »und was den Tee betrifft, wünsche ich ihn in Zukunft wesentlich stärker und heißer, merken Sie sich das!«
»Ihnen werden wir schon noch Bescheidenheit beibringen«, kam die höhnische Antwort, »Sie werden noch ganz klein werden ...«
»Sie können von Glück sagen, daß ich mich noch etwas schwach fühle«, schickte Agatha Simpson voraus, »sonst würde ich Ihnen jetzt ein paar Ohrfeigen verabreichen.«
»Ich warte nur darauf, daß Sie es versuchen werden«, entgegnete die Stämmige, »hoffentlich trauen Sie sich, Lady. Enttäuschen Sie mich nicht.«
Lady Agatha wäre am liebsten aufgestanden, doch sie fühlte, daß ihre Kräfte dazu noch nicht ausreichten. Tatenlos mußte sie zusehen, wie die Frau den fensterlosen Raum wieder verließ, kurz darauf wurde auch noch das Licht ausgeschaltet.
Lady Agatha ärgerte sich daraufhin noch intensiver.
*
»Der erwähnte Ford, Mr. Pickett, gehört einem gewissen Lester Faradin«, sagte Josuah Parker, als er wieder in seinen Wagen stieg, in dem der ehemalige Taschendieb zurückgeblieben war. Parker hatte von einer Telefonzelle aus das Büro des Chief-Superintendenten angerufen und ihn um Hilfe gebeten. McWarden hatte sofort reagiert und Parker den Namen des Wagenbesitzers mitgeteilt, ein Vorgang, der nur wenige Minuten gedauert hatte.
»Lester Faradin?« Pickett wiederholte den Namen nachdenklich, »ich möchte wetten, diesen Namen schon mal gehört zu haben, Mr. Parker.«
»Sie sollten Ihr Erinnerungsvermögen noch zusätzlich aktivieren«, bat Josuah Parker, während er anfuhr.
»Lester Faradin, Lester Faradin ...« wiederholte Pickett den Namen leise und fast beschwörend, »natürlich, Mr. Parker, es hat bei mir geklickt! Ich weiß jetzt, wer das ist.«
»Meine Wenigkeit geht davon aus, daß Sie mich umgehend ins Bild setzen werden.«
»Lester Faradin ist ein gerissener Hund, der sich mit Erpressung beschäftigt. Er hat sich auf kleine Leute spezialisiert, die Eiscafés und Pizzerias betreiben.«
»Sie sprechen von sogenannten Schutzgeldern?«
»Natürlich, Mr. Parker. Eine große Nummer ist Faradin nicht, aber eben gerissen.«
»Gehört er einem größeren kriminellen Verband an?«
»Nur indirekt«, berichtete Pickett weiter, »er hat sich ein Viertel gemietet und kann da frei ›arbeiten‹.«
»Kann man davon ausgehen, daß der Vermieter die Mafia ist?«
»So eine Art Mafia, Mr. Parker. Sein Viertel liegt drüben in Lambeth.«
»Die Adresse des besagten Lester Faradin ist Ihnen bekannt?«
»Faradin wohnt in der Nähe von Waterloo Station und hat da einen Wäscheverleih für Rollhandtücher.«
»Sie sprechen jetzt von jenen Handtüchern, die man in Waschräumen zu finden pflegt?«
»Die meine ich, Mr. Parker. Das sind diese Dinger, die nie richtig funktionieren.«
»Falls Sie einverstanden sind, wird meine Wenigkeit Sie in die Nähe dieser Firma bringen, Mr. Pickett.«
»Keine Frage, Mr. Parker, ich werde seinen Laden genau beobachten. Muß ich auf besondere Dinge achten?«
»Sie können sich beiläufig mit meiner Person befassen, Mr. Pickett. Ich habe nämlich die Absicht, diesem Mr. Faradin einen Besuch abzustatten. Noch dürfte man dort nicht bemerkt haben, daß man einen Miniatursender mitgebracht hat.«
»Nehmen Sie diesen Faradin nicht auf die leichte Schulter«, warnte Horace Pickett eindringlich, »er beschäftigt knochenharte Schläger. Wie gesagt, er macht in Erpressung und Schutzgeld. Da braucht er handfeste Kerle.«
»Man wird sich mit ihnen auseinanderzusetzen wissen, Mr. Pickett.« Parker deutete eine knappe Verbeugung an und lenkte sein hochbeiniges Monstrum auf dem schnellsten Weg über die nächste Themsebrücke. Er wollte möglichst umgehend bei Faradin erscheinen und diesem Gangster seine Aufwartung machen.
Er rechnete nicht damit, daß Lester Faradin der Entführer der Lady Simpson war, doch vielleicht war es möglich, einige Informationen von diesem Mann zu bekommen. Er schien von der mysteriösen Person ja immerhin engagiert worden zu sein. Ohne Grund hatte ein Wagen, der ihm gehörte, ja wohl kaum die beiden Männer aufgenommen, die in der Carnaby Street auf ihn gewartet hatten.
Horace Pickett kannte sich gut aus. Als man in die Nähe der Straße kam, in der Lester Faradin wohnte, wies er den Butler genau ein, stieg aus und war nach wenigen Augenblicken bereits in einem Schnellrestaurant verschwunden.