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1.Begriffsklärungen

Bevor wir mit den Überlegungen zum Inhalt der Wissenschaftstheorie beginnen, sind Einigungen darüber notwendig, wie die Schlüsselbegriffe Wissenschaft und Sozialwissenschaft zu verstehen sind. Es ist anzunehmen, dass die Wissenschaftstheorie etwas über die Gegenstände dieser Begriffe aussagen will. Die Diskussion über Gegenstände setzt aber voraus, dass man sich über deren Begriff einig ist, weil man nur so sicher sein kann, über denselben Gegenstand zu sprechen.

1.1Wissenschaft

Zu Begriffsdefinitionen kann man auf verschiedene Weisen kommen,2 die alle ihre Berechtigung haben. Man kann die Begriffe apriorisch, gewissermaßen selbstherrlich festlegen. Das ist in der Wissenschaft häufig der Fall, auch in den Sozialwissenschaften. Max Weber drückte dieses Verfahren schon in der sprachlichen Fassung seiner Definitionen begrüßenswert deutlich aus, wenn er etwa Herrschaft definierte: »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.«3 Selbst wenn niemand sonst diese Definition teilt, kann sie in der Forschung als Maßstab benutzt werden, um herauszufinden, wie nahe oder fern ein untersuchter Gegenstand dieser Definition ist und wie er sich somit von ähnlichen Gegenständen unterscheidet. Die Qualität solcher Definitionen ist danach zu beurteilen, inwieweit sie sich in der weiteren Forschung als nützliches Instrument erweisen.

Gerade für empirische Sozialwissenschaften könnte ein zweites Verfahren angemessen sein: die empirische Ermittlung aller bisher für einen Begriff vorgeschlagenen Definitionen und die Entwicklung eines Verfahrens, mit dem eine Definition nach einem sinnvollen Maßstab ausgewählt wird. Das könnte z. B. die am häufigsten benutzte Definition sein oder die neueste, wenn man davon ausgeht, dass diese die Vorteile aller früheren enthält und alle Nachteile vermeidet; zu dieser Annahme hat man jedoch sehr selten Anlass. Es könnte auch die Definition sein, die nur solche Elemente enthält, die allen Definitionen gemeinsam sind, oder diejenige, welche die am meisten benutzten Elemente enthält. Solche Definitionsverfahren sind vor allem angemessen, wenn man einen Überblick über allgemeine Theorien bieten oder herrschende Richtungen ermitteln will.

Für eine Definition des Wissenschaftsbegriffs bietet sich gerade in den Sozialwissenschaften ein dritter Ansatz an: die Ermittlung der sozialen Funktion, des wirklichen Arbeitsbereichs also, oder der sozialen Rolle von Wissenschaft, d. h. der Erwartungen, die in der Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft gehegt werden. Einwandfrei wäre eine solche Begriffsbestimmung natürlich nur dann, wenn man ihren Inhalt mit empirischen Methoden feststellen würde. Das ist in hinreichendem Umfang bisher nicht gemacht worden und auch hier nicht zu leisten. Deshalb müssen wir uns mit einem Substitut bescheiden.

Dieser Empirieersatz läge möglicherweise in einem Vergleich, bei dem wir diejenigen Charakteristika, die bisher anerkannte Wissenschaften auszeichnen, den Merkmalen gegenüberstellen, welche Bereiche markieren, die sich nicht als Wissenschaften etablieren konnten. Aus den festgestellten Unterschieden könnte man dann – mit den dabei üblichen Unsicherheitsfaktoren – auf die sozial konstitutiven Kriterien für Wissenschaft schließen. Dieses Verfahren zeigt deutlich seine Zeitbedingtheit, die aber Folge der sozialen Natur dieses Wissenschaftsbegriffs ist.

Wenn man nun untersucht, warum Physik und Geschichte seit Langem, Psychologie und Soziologie seit relativ Kurzem als Wissenschaften allgemein anerkannt sind, während Astrologie und Chirologie keinerlei erkennbare Chance haben, aus dem Stadium des Vorwissenschaftlichen herauszutreten, dann stellt man drei offensichtlich entscheidende Kriterien fest, die vermutlich auch maßgebend für die Anerkennung neuer Wissenschaften sind: Man erwartet eine eigene Theorie oder eine eigene Methode oder beides, und man stellt an das Ergebnis dieser beiden Elemente noch besondere Ansprüche, nämlich dass sie zu mehr Wissen führen. Daraus gewinnen wir als Begriffsbestimmung:

Definition »Wissenschaft«

Wissenschaft ist der Bereich menschlicher Tätigkeit, in dem mit dem Ziel gearbeitet wird, Wissen zu produzieren (Forschung) und zu systematisieren (Theorie).4

In dieser Definition gibt es keinen Hinweis auf die vielen Unterschiede zwischen den Wissenschaften. Das ist auch nicht nötig. Denn eine Definition (von lat. finis = Ende, Grenze) ist eine Abgrenzung ihres Gegenstandes von allen anderen Gegenständen, die nicht unter diesen Begriff fallen sollen. Hier ist also Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft abzugrenzen.

Das haben wir an dieser Stelle mit einer aristotelischen Definition versucht, einer von den zahlreichen Arten von Definitionen. Diese Definitionstechnik beginnt mit der Nennung eines Oberbegriffs (genus proximum; hier: Bereich menschlicher Tätigkeit), unter den auch andere Unterbegriffe, z. B. Handwerk, Medizin und Sozialarbeit, fallen. Dann werden die besonderen Merkmale des zu definierenden Begriffs angegeben (differentia specifica; hier: Produktion und Systematisierung von Wissen), die nur für die Wissenschaft zutreffen, nicht aber für die anderen Bereiche menschlicher Tätigkeit. Das schließt nicht aus, dass auch im Handwerk, in der Medizin oder bei der Sozialarbeit hin und wieder Wissen produziert oder systematisiert wird; viele Gelegenheitsentdeckungen sind ein Beispiel dafür – aber eben auch dafür, dass sie nur ein zufälliges Nebenprodukt einer an sich auf anderes gerichteten Tätigkeit waren. Ebenso wird durch die Definition nicht ausgeschlossen, dass auch Wissenschaftler neben forschen und theoretisieren noch etwas anderes tun, z. B. lehren5; aber das ist dann bei ihnen ein Nebenprodukt.

In unserer Wissenschaftsdefinition sind drei Elemente besonders problematisch. Sie sollen in den nächsten Abschnitten näher untersucht werden.

1.1.1Wissen

Stellt man sich auf Grund unserer Wissenschaftsdefinition die wissenschaftlichen Einrichtungen als Unternehmen mit Produktionsbetrieben und Lagerhallen vor, dann ist Wissen das Produkt oder Gut, das dort hergestellt und bereitgehalten wird. Unter Wissen soll verstanden werden:

Definition »Wissen«

Wissen ist ein menschlicher Bewusstseinszustand, in dem Aussagen über Gegenstände als sachlich begründet und intersubjektiv begründbar angesehen werden.

Mit anderen Bewusstseinszuständen – wie Meinen, Glauben, Annehmen, Vermuten – hat Wissen gemeinsam, dass es Aussagen über Gegenstände macht. Das können Gegenstände aller Art sein: körperliche Gegenstände, wie etwa Dieselmotoren, oder nur als gedankliches Konstrukt existierende, wie die Rolle eines Vereinsvorsitzenden; gegenwärtige Gegenstände, wie die politischen Konflikte in der Schweiz, vergangene Gegenstände, wie die Verhaltensmuster des aztekischen Adels, und zukünftige Gegenstände, wie die Zahl der Eheschließungen am Ende des Jahrhunderts. Prinzipiell unterscheidet sich die Wissenschaft hier nicht von den anderen Bewusstseinszuständen; ob nicht aber doch einzelne, jedoch nicht prinzipielle Einschränkungen nötig oder nützlich erscheinen, wird im Kapitel 1.1.2 erörtert.

Ebenso stimmen die Aussagen der Wissenschaft über Gegenstände mit den Aussagen überein, die als Meinung, Glauben usw. produziert werden, wenn wir die sprachliche Form der Aussage betrachten. Als Aussagen über einen Gegenstand wollen wir alle Sätze ansehen, die einen Gegenstand im eben skizzierten Sinne durch Angabe von Eigenschaften oder Verhaltensweisen charakterisieren, also einen Aussagesatz. Eine der schlichtesten Aussagen ist Thomas Hobbes’ Annahme über die Grundlage aller zwischenmenschlichen Konflikte und mancher sozialwissenschaftlicher Theorien darüber: »Homo homini lupus« (Der Mensch verhält sich gegenüber dem Menschen wie ein Wolf).6 Komplizierter und für die Wissenschaft wertvoller sind Wenn-dann- und Je-desto-Aussagen. In den Abschnitten über Theorien und Hypothesen wird das noch eingehender behandelt.

Unterschiede zwischen Wissen und anderen Bewusstseinszuständen können also, sofern sie grundsätzlich sein sollen, nur in ihrer Begründetheit und Begründbarkeit liegen. Die Besonderheiten des Wissens liegen dabei in Folgendem:

Sachlich begründet ist ein Bewusstseinszustand, wenn die Aussagen über den Gegenstand aus der Sache kommen, also aus dem Gegenstand. Hier besteht die Verbindung zu dem Schlagwort von der wissenschaftlichen Objektivität: Der Gegenstand ist das Objekt, und nur aus diesem, nicht etwa aus dem Forscher, sollen die Aussagen über das Objekt bzw. über den Gegenstand kommen, wenn sie objektiv sein sollen. Wissen kommt nur aus der Erforschung des Gegenstandes, nicht aus dem Reden über den Gegenstand. Das wissenschaftstheoretische Problem besteht darin, welche sachliche Begründung einer entgegenstehenden, ebenfalls sachlichen Begründung die Existenzberechtigung nehmen kann. Denn leider ist es bei der Schwierigkeit wissenschaftlicher Probleme nicht so, dass von zwei Begründungen die eine stets »unsachlich« ist; vielmehr geht es meistens darum, dass über die jeweilige Begründungskraft von Begründungen zu entscheiden ist, denen man ausnahmslos die Herkunft aus der Sache nicht absprechen kann. Diese Entscheidung ist eines der Hauptprobleme wissenschaftstheoretischer Überlegungen. So kann es beispielsweise sein, dass eine Untersuchung die Ursache A für ein Phänomen herausfindet, eine andere die Ursache B. Davon muss nicht eine notwendig falsch sein. Vielmehr könnte es sein, dass A unter bestimmten Randbedingungen die Ursache ist, B unter anderen Randbedingungen.

Daraus folgt, dass Wissen auch intersubjektiv begründbar sein muss. Wäre es das nicht, gäbe es sachliche Begründetheit bestenfalls im subjektiven Bereich des einzelnen Produzenten von Wissen. Schon bei der Mitteilung von Wissen im Kollegenkreis – und die Kommunikation von Wissen wird immer unumgänglicher, weil Universalgelehrte seit mehreren Jahrhunderten unmöglich sind – wäre man ohne intersubjektive Begründbarkeit doch wieder auf blinde Autoritätsgläubigkeit, Zugrundelegen unüberprüfbarer Annahmen usw. angewiesen. Die Wissenschaft hat sich erst dann so exponential entwickelt, als sachliche Begründetheit und intersubjektive Begründbarkeit ihre Maximen wurden. Insofern sind beide Gesichtspunkte aufeinander bezogen und in der Regel gemeinsam zu sehen.

Hier ist einer der Berührungspunkte zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik, genauer: zwischen dem wissenschaftstheoretischen Konzept von Wissen und dem wissenschaftsethischen Prinzip von Wahrheit. Wahrheit ist der höchste Wert in der Wertordnung der Wissenschaftler (deshalb ist das Abschreiben in Dissertationen disqualifizierend, nicht wegen der Verletzung irgendwelcher Zitierregeln). Ihre letzte Frage lautet immer: Ist es so, wie es unmittelbar scheint, oder ist es nach methodisch strenger Untersuchung anders? Auch hier sind sachliche Begründetheit und intersubjektive Begründbarkeit gefragt.

Schon aus diesen wenigen Überlegungen ist zu erkennen, dass die Bereiche von Wissen und anderen Bewusstseinszuständen und damit von Wissenschaft und anderen Tätigkeiten nicht ein für alle Mal reinlich zu scheiden sind. Nicht alle Argumente, die für oder gegen einen Satz über einen Gegenstand gebracht werden können, stehen so eindeutig auf verschiedenen Stufen, dass stets eine unumstrittene Entscheidung über die Richtung des Fortschritts möglich ist. Vielmehr ist die Anerkennung von Wissen und damit eine Scheidung von Nichtwissen im Sinne von Meinen usw. zu einem guten Teil von Geisteshaltungen, von Zeitströmungen, auch von Einsichtsvermögen und Informiertheit der Diskussionspartner, insbesondere aber vom Basiskonsens in der Gemeinschaft der Wissenschaftler (scientific community) und der Gesamtgesellschaft (society at large) abhängig, so dass wir erkennen müssen: Nicht nur die Sozialwissenschaften7, sondern alle Wissenschaften sind von hochsozialer Natur!

1.1.2Forschung

Der Forschung hatten wir in unserer Wissenschaftsdefinition die Aufgabe der Wissensproduktion zugewiesen. Was in der Theorie systematisiert werden soll, hat die Forschung vorab zu liefern, nämlich Wissen. Deshalb muss die Forschung nach den Gesichtspunkten arbeiten, die wir im Kapitel 1.1.1 als maßgeblich für das Wissen beschrieben haben. Wir erhalten damit als genaueren Forschungsbegriff:

Definition »Forschung«

Forschung ist eine Tätigkeit, die darauf zielt, neues Wissen zu erarbeiten, indem der Forschungsgegenstand mit Methoden untersucht wird, die das Ergebnis sachlich begründet und intersubjektiv begründbar machen.

Damit soll nicht behauptet werden, dass nur die Forschung neues Wissen produzieren könne. Das ist vielmehr auch durch das möglich, was man im Deutschen einen Einfall, im Italienischen trovato und im Englischen inspiration nennt, und was genau eine zufällige Eingabe von außen bedeutet. Im Französischen heißt es »ça me vient à l’esprit«; dazu passt die Erzählung über den Chemiker August Kekulé, ihm sei die Ringstruktur des Benzols im Traum erschienen. Ebenso kann man »Neues« durch eine Entdeckung (discovery/découverte) hervorbringen, indem man Vorhandenes, aber Verstecktes ans Licht zieht. Nur reichen zufällig Neues und wiedergefundenes Altes nicht aus, um die Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft nach Neuem zu befriedigen. Um das systematisch erledigen zu können, haben wir die Forschung und sonst gar nichts.

Allerdings sind es nicht Überlegungen zur sozialen Kosten-Nutzen-Rechnung, die uns in erster Linie zur strengen Methodik beim Forschen zwingen. Wären genügend Personal, Zeit, Geld und Material vorhanden, könnte man Bereiche, Themen, Gegenstände, Instrumentarien und Ansätze der Forschung mit rein aleatorischen, d. h. zufälligen Verfahren festlegen. Das würde dem Forscher vielleicht endlich die von mancher Seite stereotyp gebrachten Vorwürfe der Auftraggeberhörigkeit oder des Eigeninteresses ersparen.

Aber auch in diesem utopischen Forscherparadies müsste der Zufall durch Systematik abgelöst werden, sobald es um die eigentliche Wissensproduktion geht. Denn wenn das Ergebnis aus dem Gegenstand heraus begründet und gegenüber anderen Forschern begründbar sein soll, muss es mit solchen Methoden gewonnen worden sein, die jeder andere Forscher anwenden kann. Nur so lässt sich feststellen, ob die Ergebnisse dann gleich sind. Auf einzelne Aspekte werden wir später eingehen, an dieser Stelle bleibt es bei dem Hinweis, der anregen soll, über einzelne Konsequenzen für die Forschungspraxis nachzudenken, etwa über den Mindestumfang der Mitteilungen über die Untersuchungsanordnung oder über die Zeitgebundenheit von Untersuchungsgegenständen. Diese ist ein Problem für die Sozialwissenschaften, das die Naturwissenschaften nicht im Entferntesten so zu lösen haben.

1.1.3Theorie

In unserer Wissenschaftsdefinition in Kapitel 1.1 hatten wir für die Theorie die Funktion vorgesehen, Wissen zu systematisieren. Wissen in seiner einfachsten Form kann in einem Satz gespeichert werden, der nichts anderes enthält als die Grundelemente eines Aussagesatzes. Damit können wir uns aber nicht begnügen. Komplexere Wissenszusammenhänge werden daher in einer Theorie formuliert, unter der verstanden werden soll:

Definition »Theorie«

Eine Theorie ist ein System von Sätzen mit Seinsaussagen über Wirklichkeit, das durch die sprachliche Zuordnung sachliche Zusammenhänge wiedergibt.

Die Zusammenhänge, die in einer Theorie zwischen den Sätzen hergestellt werden, können sehr verschieden sein. Es kann um die Parallelisierung von Ereignissen, die Angabe von Phasen oder Stufen eines Prozesses, um Bedingungen oder Konsequenzen gehen, um nur einiges zu nennen. Das höchste Ziel wohl jeder wissenschaftlichen Theorie ist die Darstellung von Kausalzusammenhängen. Erst die Kenntnis dieser Kausalzusammenhänge macht den Forschungsgegenstand manipulierbar im Sinne einer zielbewussten Veränderung.

Sozialwissenschaftler wie Naturwissenschaftler setzen sich daher die Erforschung von Kausalverbindungen als höchstes, wenn auch keineswegs einziges Ziel. Diese Art von Forschung ist damit größte Chance, aber auch größte Gefahr jeder Wissenschaft. Derartige Zusammenhänge zwischen Einzelerkenntnissen lassen sich nicht anders darstellen als eben in einer Theorie. Und nur eine Theorie kann den wissenschaftlichen Beitrag zu einer Praxisveränderung liefern.

Damit sind wir beim Verhältnis von Theorie und Praxis. In der öffentlichen Diskussion wird dieses Verhältnis meistens so gesehen, wie es Kant in seiner berühmten Streitschrift zitiert: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.«8 Nach dem hier vorgestellten Theoriebegriff für die empirischen Sozialwissenschaften muss man eher den Satz des Psychologen Kurt Lewin für richtig halten: »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.«9

1.2Empirische Sozialwissenschaft

Was im Kapitel 1.1 zum Wissenschaftsbegriff gesagt wurde, muss uneingeschränkt auch für die empirischen Sozialwissenschaften zutreffen, wenn sie im beschriebenen Sinn als Wissenschaften gelten wollen. »Wissenschaft« ist der Oberbegriff, so dass alle seine Merkmale in jeder Sozialwissenschaft anwendbar sein müssen. Von anderen Wissenschaften, also ebenfalls konkreten Unterbegriffen von »Wissenschaft«, können und/oder müssen Sozialwissenschaften sich aber in zweierlei Hinsicht unterscheiden.

Eine erste Besonderheit könnte aus dem Gegenstand der Sozialwissenschaften kommen, also aus der Tatsache, dass die Sozialwissenschaften die Gesellschaft erforschen. Ein häufiger Ansatz zur Unterscheidung von Wissenschaften geht davon aus, dass jede Wissenschaft eigene Gegenstände und/oder Methoden habe. Daraus leiten wir die Überlegung ab, dass bestimmte Gegenstände auch bestimmte Methoden verlangen bzw. ausschließen. So brauchen die Sozialwissenschaften Methoden, mit denen sie die Selbstdeutungen ihres Gegenstandes ermitteln können; die Geologen können darauf besten Gewissens verzichten. Andererseits können Sozialwissenschaftler keine Methoden benutzen, durch die ihr Gegenstand vernichtet oder auch nur wesentlich verändert wird. Müssten sich die Ingenieurwissenschaften damit begnügen, was sie zerstörungsfreie Prüfverfahren nennen, hätten sie sicherlich noch viel engere Grenzen ihres Wissens. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik haben hier wieder einen Berührungspunkt. Wer sich zu verdeckter, teilnehmender Beobachtung in eine Selbsthilfegruppe jugendlicher Drogenabhängiger einschleicht und die Ursache der Therapieerfolge im missionarisch-religiösen Eifer eines Meinungsführers genau herauspräpariert, hat sich damit einen viel beachteten Aufsatz und der Wissenschaft vielleicht eine wichtige Erkenntnis verschafft; ob diese aber sozial – und wir hatten Wissenschaft von ihrer sozialen Aufgabe her definiert! – gerechtfertigt ist, wenn wegen dieser Erkenntnis die Gruppe zerbricht, ist eine andere Frage. Schließlich ist in der Gesellschaft vieles auch bei schonendsten Forschungsmethoden auf natürliche Weise vergänglich und nicht unveränderlich, beliebig reproduzierbar oder nach Wunsch herstellbar wie bei vielen Objekten der Physik oder Chemie. Unter den Naturwissenschaften leiden bisher vor allem die Biologie und zunehmend die Geowissenschaften unter ähnlichen Erkenntnisgrenzen wie die Sozialwissenschaften.

Eine zweite Besonderheit könnte aus der Bestimmung kommen, dass die Sozialwissenschaften empirisch sein sollen. Hatte ihr Gegenstand sie eben vornehmlich gegen die Naturwissenschaften abgegrenzt, so stimmen sie hier mit ihnen überein; Naturwissenschaften sind stets empirisch. Die Sozialwissenschaften setzen sich mit dem Adjektiv »empirisch« gegenüber den Wissenschaften ab, die sich selbst als nicht empirisch bezeichnen oder bei denen Empirie schwer vorstellbar ist. Wenn Theologen den Sinn der Weltuntergangsprophetie oder Literaturwissenschaftler die Absicht des Dichters des Hildebrandsliedes darstellen wollen, so ist das empirisch nicht möglich. Empirisch arbeiten heißt: die Theorie an der Wirklichkeit überprüfen; dahinter steht die bereits aufgestellte Definition der Theorie als ein System von Sätzen mit Seinsaussagen über Wirklichkeit. Dann muss sich die Richtigkeit einer Theorie in der erfahrungsmäßigen Konfrontation mit der Wirklichkeit erweisen. Dazu muss der Gegenstand »wirklich« sein können. Die gegenwärtige Gesellschaft ist es; eine vergangene ist es in eingeschränktem Sinn, weil viele notwendige Daten nicht mehr beschafft werden können; eine zukünftige Gesellschaft ist jetzt nicht überprüfbar, weil es über sie zur Zeit genauso wenige Daten gibt wie über die Schlacht bei Hermagedon.

Der Vorteil einer empirischen Wissenschaft beruht auf methodologischen Gründen. Eine empirische Wissenschaft kann eine andere Art von Wahrheit bieten als rein gedankliche, dann meist »theoretisch« genannte Aussagen. Gedankliche Aussagen können auf zweierlei Weise zu dem Urteil führen, sie seien »wahr«. Erstens könnte jemand sie für wahr halten, weil sie ihm plausibel erscheinen. Das mag daran liegen, dass er Ähnliches selbst erlebt oder schon gelesen oder gehört hat; vielleicht denkt er auch nur so ähnlich wie der »Forscher«. Das wäre ein Urteil über die materielle Wahrheit der Aussage, also ein Urteil über die Wahrheit des Inhalts der Aussage. Aber diese Aussage wäre nur subjektiv wahr. Nur weil dieser Mensch diese Erfahrung gemacht hat, diese Vorinformation besitzt oder diese Denkstrukturen hat, erscheint ihm die Aussage plausibel. Wer diese Voraussetzungen nicht aufweisen kann, findet auch diese Aussage nicht plausibel. Zweitens könnte man eine Aussage für wahr halten, weil sie logisch ist, d. h. in einem denkregelmäßigen Zusammenhang mit einer anderen Aussage steht, die bereits als wahr gilt. Das wäre zwar ein Urteil über objektive Wahrheit, weil die Konkordanz mit Denkregeln nicht nur auf Grund der Erfahrungen eines bestimmten Menschen festgestellt werden kann. Aber es wäre auch nur eine formelle Wahrheit, weil Logik nie über die Richtigkeit von Inhalten einer Aussage, sondern nur über die Zulässigkeit unter formellen Gesichtspunkten entscheidet. Theoretische Arbeit kann also nur subjektiv-materielle oder objektiv-formelle Wahrheit liefern.

Das Bestreben einer empirischen Wissenschaft geht dahin, auch objektivmaterielle Wahrheit zu bieten. Das ist für die Sozialwissenschaften ein besonders wichtiges Ziel, weil sie – wie etwa Chemie und Biologie, aber im Gegensatz zur Mathematik, die keine materiellen Gegenstände hat – nur über Gegenstände forschen, die in einem allerdings sehr weiten Sinn materiell sind. Bei Gruppen, Kasten und Familien ist das leicht vorstellbar; aber auch soziales Handeln, Sozialisation und ähnliche beobachtbare Prozesse und selbst solche gedanklichen Konstrukte wie Rollen und Verhaltensmuster sind in diesem Sinn materiell, weil sich ihre Existenz durch Untersuchung ihrer Wirksamkeit in Bewusstsein und Verhalten nachweisen lässt. Im Vergleich dazu sind manche Gegenstände der Geisteswissenschaften in einem viel handfesteren Sinn materiell: als Denkmäler, gesprochene Worte, geschriebene Romane und Partituren. Aber bei ihnen interessiert weniger ihre »objektive« Seite, ihre regelmäßige sichtbare Struktur. Sie werden eher auf ihre subjektiven Absichten, Verwendungen, Interpretationen und Wirkungen befragt. Wo es dagegen in gesellschaftsbezogene Fragestellungen übergeht – etwa Verbreitung des Schülerjargons, Zusammenhänge zwischen Vorliebe für bestimmte Literatur und bestimmte Formen zwischenmenschlichen Verhaltens oder schichtenspezifische Unterschiede beim Konzertbesuch –, geht es zumeist auch schon von der Sprach- und Musikwissenschaft in eine spezielle Sozialwissenschaft hinüber, weil hier nur empirisch zu klärende Sachverhalte das Thema sind.

Alles in allem muss also die Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften darauf Rücksicht nehmen, dass ihre Gegenstände erstens historisch (= zeitgebunden) und oft kulturspezifisch sowie zweitens zumeist selbst handlungs- und selbstdeutungsfähig sind. Darin besteht der Unterschied zur Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, mit denen die Sozialwissenschaften aber den grundsätzlich empirischen Ansatz gemeinsam haben. Dieser unterscheidet sie von den Geisteswissenschaften.

1.3Wissenschaftstheorie

Man könnte versucht sein, für die Festlegung des Begriffs der Wissenschaftstheorie von dem in Kapitel 1.1.3 aufgestellten Theoriebegriff auszugehen. Es ist jedoch fraglich, ob das ein sachlich gerechtfertigter Oberbegriff ist. Denn der allgemeine Theoriebegriff hat Wissensaussagen zum Gegenstand, wenngleich auf oft relativ hypothetischem Niveau.

In der Wissenschaftstheorie kann es aber kaum um Wissen in dem Sinn gehen, wie in Kapitel 1.1.1 dargelegt. Vielmehr ergibt sich aus dem bisher Gesagten als Ziel der Wissenschaftstheorie eher die Suche nach einem Konsens darüber, wie Wissenschaft betrieben werden solle, wann etwas als wissenschaftlich haltbar gelten solle, womit etwas wissenschaftlich geklärt werden solle. Es geht also um Aufstellung und Anerkennung von Regeln. Solche Regeln können auch in Satzsystemen zusammengefasst werden. Aber diese Sätze enthalten nicht Seinsaussagen, sondern Sollensaussagen. Sie stellen nicht Wirklichkeit dar, sondern Forderungen, Normen; sie beschreiben nicht, sondern sie gebieten oder verbieten. Deshalb sind Regeln, Normen, Gesetze und Ähnliches niemals ein geeigneter Gegenstand für empirische Überprüfung, so wie wir es vom Wissen verlangten. Man kann zwar empirisch überprüfen, ob das Gebot (= Norm) »Du sollst nicht stehlen« von einer Mehrheit bejaht wird oder nicht, in welchem Maße es befolgt wird und unter welchen Umständen es besonders häufig nicht befolgt wird – aber sein Inhalt, die Norm als solche, ist nicht überprüfbar. Denn die Norm sagt nicht, was ist; sie sagt, was sein soll: Überprüfbar sind aber nur Seins- und nicht Sollensaussagen.

Die Wissenschaftstheorie besteht indessen in ihrem Kern aus Sollensaussagen, wie z. B. »Wissenschaftliche Ergebnisse sollen intersubjektiv überprüfbar sein«. Die Bezeichnung als Wissenschaftstheorie ist deshalb sehr unpassend, weil es sich nicht um eine Theorie im üblichen Sinne handelt. Da sie im Wesentlichen eine normative Disziplin ist10, wäre ihre Bezeichnung als Wissenschaftslehre besser, wie sie in der Philosophie häufiger benutzt wird. Im Englischen heißt das Gebiet ganz zutreffend philosophy of science, im Französischen allerdings théorie de la science oder gar théorie scientifique. Hier wird wegen des allgemein eingebürgerten Sprachgebrauchs der Begriff »Wissenschaftstheorie« weiterhin benutzt, ungeachtet der Zweideutigkeit des Begriffs.

Alle weiteren Überlegungen basieren auf der folgenden Vorstellung von Wissenschaftstheorie:

Definition »Wissenschaftstheorie«

Eine Wissenschaftstheorie ist ein System von Sätzen mit Sollensaussagen, die angeben, unter welchen Bedingungen eine Wissensaussage als wissenschaftlich anerkannt werden soll.

Damit erweist sich – und das ist fast das einzige Unbestrittene in der Wissenschaftstheorie –, dass Wissenschaftstheorie eine Meta»theorie« ist,11 d. h. eine »Theorie« über Theorien. Sie erklärt also Wissenschaft selbst zu ihrem Gegenstand. Hierbei könnte sie eine echte Theorie sein, wenn sie Aussagen darüber machte, was in einer Wissenschaft wirklich getrieben wird; das ließe sich durchaus als Wissensaussage = Seinsaussage empirisch überprüfen. Soweit die Wissenschaftstheorie aber nur Regeln für die Gültigkeit von Wissensaussagen aufstellt, müssen wir stets die Anführungszeichen bei -theorie mitdenken.

Daraus folgt, dass wir hier nichts treiben werden, was nach dem Kriterium richtig oder falsch beurteilt werden kann; wir treiben hier nicht Wissenschaft, sondern Wissenschaftspropädeutik. Eine wissenschaftstheoretische ist keine wissenschaftliche Behauptung, die falsifiziert oder verifiziert werden kann. Vielmehr ist sie die Propagierung einer Regel oder eines Beurteilungsmaßstabes in der Hoffnung, dass möglichst viele Mitglieder der Wissenschaftlergemeinde sie/ihn anerkennen und ihr/ ihm damit Geltung verschaffen. In der Wissenschaftstheorie geht es also nicht um die empirische Feststellung der Wissenschaftspraxis (das geschieht eher in der Wissenschaftssoziologie), sondern um Empfehlungen für diese Praxis. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Meinungen auf diesem Gebiet sehr zahlreich sind und in dieser Einführung nur in gelegentlichen Verweisen wiedergegeben werden können.

2 Wesentlich eingehender Breuer, S. 105–120. Vgl. auch Kornmeier, S. 4/5 m. w. N.

3 Weber, S. 38. Weitere Beispiele für Definitionsansätze bei Herzog, S. 29–31.

4 Mancher mag in der Definition schon die Lehre vermisst haben. Lehre ist aber nur nützlich zur Heranbildung der nächsten Wissenschaftlergeneration und evtl. zur Ausbildung von Berufstätigen, die wissenschaftliche Ergebnisse verwenden sollen oder müssen, ohne sie selbst produzieren zu müssen oder zu können. Das Postulat der »Einheit von Lehre und Forschung« ist daher wohl als Versuch zur betriebswirtschaftlichen Optimierung des Ausbildungswesens anzusehen, aber keine notwendige Konsequenz aus dem Wissenschaftsbegriff, für den Lehre keineswegs konstitutiv ist, schon weil es sie auch außerhalb der Wissenschaft gibt.

5 Reine Lehranstalten wären nach dieser Definition also keine wissenschaftlichen Einrichtungen, wohl aber reine Forschungsanstalten wie die Institute der Max-Planck-Gesellschaft oder des Centre National de Recherche Scientifique.

6 Hobbes, S. 69. Das Zitat geht zurück auf eine Komödie des Titus Maccius Plautus. Im Übrigen ist die behauptete Verhaltensweise der Wölfe biologisch falsch. Der Wolf ist zwar ein Raubtier, lebt in Freiheit aber in Rudeln sehr geordnet und daher friedlich.

7 Vgl. in einem noch weiteren Sinn Breuer, S. 50–64.

8 Kant a. a. O., der diesen Spruch nicht bejaht, der aber, zeitbedingt, auch einen anderen Theoriebegriff hat als den hier vorgestellten.

9 Lewin, S. 169.

10 Die Zeit: Das Lexikon in 20 Bänden, Bd. 16, Hamburg: Zeitverlag 2005, S. 317: »Teilgebiet der zeitgenössischen theoretischen Philosophie, mithin eine normative Disziplin.« Vgl. die Unterscheidung von deskriptiver und normativer Wissenschaftstheorie bei Haase, S. 916.

11 Esser/Klenovits/Zehnpfennig, Bd. I, S. 12.

Empirische Sozialforschung

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