Читать книгу Love Story 2200 - Günter Flohrs - Страница 5
Von Liebe weißt Du nichts
Оглавление>>Ich habe eine interessante Entdeckung gemacht, seitdem ich hier bin. Sie fiel mir auf, als ich versuchte, eure Spezies zu klassifizieren. Mir fiel auf, dass ihr keine richtigen Säugetiere seid. Jedes Säugetier auf diesem Planeten entwickelt instinktiv ein natürliches Gleichgewicht mit seiner Umgebung. Ihr Menschen tut dies nicht. Ihr zieht in ein Gebiet und vermehrt euch. Ihr vermehrt euch, bis alle natürlichen Ressourcen erschöpft sind. Der einzige Weg zu überleben ist die Ausbreitung in eine andere Gegend. Es gibt noch einen Organismus auf dem Planeten, der das gleiche Muster benutzt. Wissen Sie, welcher? Ein Virus. Der Mensch ist eine Krankheit. Das Geschwür des Planeten, eine Pest. Und wir sind das Heilmittel.<<
(Das Programm „Agent Smith“ (Hugo Weaving) im Film „Matrix“, während er den Rebellenführer Morpheus (Laurence Fishburne) verhört)
„Nordpol weg?“, kreischte im August 2000 die BILD-Zeitung. Hintergrund: Ein Forschungsschiff fand am geografischen Pol statt dickem Eis nur noch tiefes Wasser vor. Treibhauseffekt und Klimaschock – das waren für einen Tag die Schlagworte. Wirkliche Erklärungen gab es nicht. Leider wurde auch nie geklärt, ob der Nordpol nun wieder da ist.
200 Jahre später. Der Klimawandel hat die Welt, so, wie wir sie kennen, an den Eiern gepackt. Aus Berlin wurde Madrid, aus Madrid die Sahel-Zone und die originale Sahel-Zone ist mittlerweile komplett unbewohnbar.
Aus einigen ehemaligen, stolzen afrikanischen Wüstenstädten schauen aus weitläufigen Sanddünen noch die Spitzen der Minarette hervor. Die Szenerie erinnert an den Reschensee im westlichen Südtirol, italienisch Lago di Resia, einem Stausee, der in den 1950er Jahren entstand. Bei der Stauung der Etsch versanken das gesamte Dorf Graun und ein Großteil des Dorfes Reschen in den Fluten des Stausees, insgesamt 163 Häuser und 523 Hektar an fruchtbarem Kulturboden wurden überflutet. Heute zeugt nur noch der aus dem Reschensee ragende, mythisch wirkende Kirchturm vom versunkenen Alt-Graun. Jedenfalls wurden viele Muezzine arbeitslos und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Das Gegenstück zu dieser Ver-Wüstung waren und sind die ständig steigenden Meeresspiegel. Gigatonnenweise schmolz das Eis am Polarkreis, unzählige Gletscher kalbten in den letzten beiden Jahrhunderten, der Permafrostboden erwies sich als doch nicht so permanent, wie man glaubte, und riss in Alaska, Kanada und Sibirien klaffend auf. Auf Sylt, den Balearen, den Malediven, den Seychellen und in zig Küstenstädten weltweit wurde es unbequem. Die alten Männer, die auf Basthockern vor den Hafenkneipen hockten, mussten die Beine anziehen. Jared ficht das wenig an. Der 28-jährige Diplom-Geologe, der mittlerweile an seinem Doktor schnitzt, hockt vor einer Fabrikhalle auf einem Mauervorsprung, den die Arbeiterinnen in den warmen Monaten als Rückzugsort für ihre Pausen nutzen. Neben ihm steht ein Glas Wasser, es ist Juli und er sinniert: >>Wenn die Klima-Apostel zu Beginn dieses Jahrtausends Recht gehabt hätten, dann könnte hier gar kein Wasser im Glas sein. Dann wäre es von der Außentemperatur her hier mittlerweile so heiß, dass alles verdampfen würde.<< >>Du spinnst, Jared<<, zischelt die Springerin, >>niemand hätte früher so einen Quatsch behauptet.<< >>Doch. Der legendäre Physiker Stephen Hawking hat gesagt, dass ein tausendjähriger CO2-Anstieg die Oberfläche unseres Planeten zum Kochen bringen würde und die Menschen dann woanders Zuflucht suchen müssten.<< >>Hawking sagt mir noch was. Aber das war ein armer, kranker Mann.<< Jared nimmt einen Schluck Wasser aus seiner Flasche und spuckt ihn gleich wieder aus: >>Bah, seuchwarme Brühe.<< Er hat die Flasche erst am Anfang der zehnminütigen Pause aus dem Eisfach genommen. Das Thermometer klettert bereits auf über mörderische 50 Grad Celsius.
Der Geologe fährt fort: >>Der Treibhauseffekt ist im Prinzip sogar lebensnotwendig für uns – ohne ihn wäre unser Planet nur ein kugelförmiger Eisklotz. Ohne den Treibhauseffekt würde die mittlere Erdtemperatur nicht mehr + 15° Grad Celsius, sondern -18 Grad Celsius betragen, haben die Wissenschaftler bereits im 19. Jahrhundert herausgefunden.<<
Ein paar Meter entfernt steht eine Gruppe junger Damen. Sie hören zu, wirken aber dennoch desinteressiert. Jared zündet sich eine Winston-Zigarette an. Er ist in seinem Element: >>Bis 1940 gab es eine frühe Erwärmungsphase, danach stagnierten die Temperaturen bis in die 1970er Jahre, und seither gibt es einen neuen, bislang unaufhaltsamen Erwärmungstrend. Dass dieser Verlauf nicht exakt dem Verlauf des CO2 gleicht, bringe ich als Argument dafür vor, dass die Erwärmung nicht durch CO2 verursacht wird.<<
Eine der Ladys tritt hervor. Es ist Virginie, mit der er sich bereits in der Mensa bekannt gemacht hat. Sie bietet ihm die Stirn: >>Diese Argumentation ist einfach zu simpel. Es versteht sich von selbst, dass CO2 nicht der einzige Einflussfaktor auf das Klima ist, sondern dass der tatsächliche Klimaverlauf sich aus der Überlagerung mehrerer Faktoren ergibt.<<
Ihre Freundin Bianca stellt sich neben ihr auf. Sie sekundiert: >>Ich bin fest überzeugt, dass der derzeitige Klimawandel vom Menschen verursacht wird. Ich denke, dass mit über acht Milliarden Menschen auf der Erde der Klimawandel nicht mehr zu stoppen ist. Mit dem Bau von Windkrafträdern und Solarenergie-Anlagen ist es nicht getan. Ein Ausbau der Kernenergie wäre klimafreundlich. Nur, dann hast du den ganzen Atommüll, der den Ururururururururururururuenkeln von Greta Thunberg große Probleme bereiten wird. Wissenschaftler wollen herausgefunden haben, dass der Klimawandel schon mit dem Beginn der Zivilisation vor der Antike begonnen hat. Er hat sich in den letzten Jahrzehnten nur beschleunigt. Auch wenn es zynisch klingt: Die Politik muss sich nicht fragen, wie wir den Klimawandel stoppen (weil nicht zu stoppen), sondern wie wir den Klimawandel überleben. <<Das Pausen-Horn ertönt, unüberhörbar. Jared drückt seine Kippe aus und vermeldet eben noch mit surrendem Bariton: >>Machen wir uns nichts vor, “weltweite Erwärmung“ erzeugt doch die Illusion einer komfortablen, warmen Zukunft, die sehr attraktiv ist. Sind wir nicht eine ursprünglich tropische Spezies, die bis in den letzten Winkel des Globus vorgedrungen ist und lange die Kälte als größten Feind hatte? Von Anfang an haben wir Unbequemlichkeit, Krankheit und Tod mit Kälte assoziiert, Wärme aber mit allem Guten – Liebe, Komfort und Leben an sich.<< Von den Ferienjobberinnen ist nur noch die elegante, laszive Italo-Fee Stella übrig, die anderen sind bereits wieder im Fabrikgebäude verschwunden. Während sie an Jared vorbeigeht, nölt sie ihn zu: >>Und du – du bist doch auch nur ein widerwärtiger, aufgeblasener, egozentrischer … Wookie-Treiber!<<
Jared schluckt. Das Zitat aus „Krieg der Sterne“ schmerzt ihn. Aber er lässt sich nichts anmerken. Er presst >>Geht klar, Prinzessin Eia Popeia<< hervor und verschwindet dann mit dem Rest der Truppe im Fabrik-Moloch. Im Gegensatz zu den überwiegend weiblichen Ferienjobberinnen, die am Fließband arbeiten und nach sturen Regeln Scheinwerfer zusammenbasteln – zwei Drittel der Arbeitsvorgänge werden inzwischen von Robotern ausgeführt – hat er einen relativ lockeren Job in der Qualitätssicherung. Bewaffnet mit einem Laserstab, den er an kleinen Knubbeln an den Scheinwerfern für VW, Mercedes und BMW arretiert, und mit dem er an einer Leinwand den Lichtverlauf checkt, überprüft er die zufällig ausgewählten Teile, die ihm von der Nachtschicht in einer Gitterbox hingestellt wurden. Er führt diese Tätigkeit allein und eigenverantwortlich durch, niemand hält ihn mit einem Schwätzchen von der Arbeit ab, und niemand überprüft ihn. Der Job ist nicht überragend anspruchsvoll, aber immer noch zehn Mal besser, als am Band zu stehen und stupide Akkord-Arbeit zu verrichten. Er hat sich ein wenig mit der süßen Maus Jessica aus der Etikettendruckerei angefreundet. Da er am Wochenende immer wieder als Vinyl-DJ in altmodischen Clubs auflegt, druckte sie ihm 500 Etiketten mit der Aufschrift „DJ Jared – …….. bpm“, in die er für die jeweiligen Scheiben die Beats per minute eintragen kann. Mit solchen Aufklebern ist es einfacher, im Takt zu bleiben und perfekte Übergänge zu zaubern. Der 28-Jährige besitzt ein antikes Mischpult, „The Don“ aus der Intimidation-Reihe, mit dem sich leicht die Schläge pro Minute zählen lassen.
Stella führt die LED-Lampen passgenau in die Gehäuse ein und verschraubt diese dann. Ein Vorgang, der nicht so ohne weiteres von einem Robotnik ausgeführt werden kann. Sie muss ihre Stimme erheben, um über das Band hinweg mit Bianca kommunizieren können, die ihr gegenüber sitzt. Die Springerin ist gerade nicht in der Nähe, deswegen können sie in Ruhe plauschen.
>>Sei ehrlich, was hältst du von unserem eifrigen Klimawandel-Leugner? Anscheinend vernascht er ja junge Arbeiterinnen nachts im Zehnerpack …<<, erkundigt sich Bianca.
Stella, furztrocken: >>Du meinst diesen aufgeblasenen Wookie-Treiber? Nun, am Ende wird er die Prinzessin bekommen. Ich werde es nicht sein.<<
>>Er treibt es angeblich immer die halbe Nacht mit seinen Schäflein. „Mister Boombastic“ nennen sie ihn.<<
Der Meister nähert sich den Damen. Ganz still taucht er immer urplötzlich aus der Versenkung auf. Als Stella und Bianca ihn bemerken, halten sie sofort ihre Gosch. Der Meister entscheidet darüber, ob sie in dieser Schicht einen Deppen-Job oder einen Ultra-Deppen-Job bekommen.
>>Ich bitte um mehr Konzentration bei der Sache<<, führt er aus, nachdem er die letzten Sätze ihres Dialogs noch mitbekommen hat; >>bitte erhöhen Sie Ihre Schlagzahl, damit wir in dieser Schicht noch den Akkord erreichen.<< Die Summe der montierten Teile wird am Ende des Fließbands mit roten Leuchtziffern angezeigt. Liegt der Wert unterhalb des vierstelligen Bereichs, haben die Springerin und der Meister schlechte Laune. Die Springerin heißt so, weil sie in allen Arbeitsgängen firm ist und schnell einspringen kann, wenn sich an einem Arbeitsplatz die noch nicht montierten Teile stapeln.
Jared unterliegt beileibe nicht dem Akkord-Druck und kann es sich erlauben, während seiner Arbeitszeit auch mal in aller Ruhe abschiffen zu gehen. Er verrichtet sein kleines Geschäft auf der Firmentoilette und liest in aller Ruhe die Klosprüche an der Wand, wie immer. Einer ist neu: >>Lass die Finger von unserer Stella. Was weißt denn du von Liebe? Von Liebe weißt du nichts.<<
Jared, schon von zu Hause aus leicht paranoid, bezieht diesen neuen Spruch sofort auf sich. Er ist schon ein paar Mal mit Stella aneinander gerempelt und hat beobachtet, dass sie ab und zu einen verächtlichen Zug um die Mundwinkel herum aufweist, wenn sie mit ihm spricht. Um ehrlich zu sein: Dieser verächtliche Zug erregt ihn jedes Mal. Er packt seinen Schwanz wieder ein und blickt hinüber zu dem Griechen, der ebenfalls an der Pissrinne steht. >>Was guckst Du?<<, fährt der Hellene ihn forsch an. Grußlos verlässt Jared das Pissoir. Lass die Finger … der Spruch geht ihm nicht aus dem Kopf. Wer könnte ihn dahin gepinselt haben? Und warum?