Читать книгу Der Schoppenfetzer und der tödliche Rausch - Günter Huth - Страница 9
ОглавлениеHinter Xaver Marschmann schloss sich langsam die automatische Eingangstür zum Bau D8 der Universitätsklinik Würzburg, in dem die Hautklinik untergebracht war. Marschmann atmete befreit die frühsommerliche Brise ein. Seit er hier vor vier Jahren an einem bösartigen Hauttumor operiert worden war, unterzog er sich vierteljährlich einer Nachsorgeuntersuchung. Jedes Mal folgte ein befreites Aufatmen, wenn die Diagnose für ihn, so wie heute wieder, positiv ausgefallen war. Der pensionierte Kriminalbeamte setzte seine Sonnenbrille auf und schlenderte über das Klinikgelände in Richtung seines Autos, das er ein ganzes Stück entfernt geparkt hatte. Marschmann musste insgeheim grinsen. Die Finger der Ärztin, die ihn untersucht hatte, waren trotz der sommerlichen Temperaturen eiskalt gewesen. Die Gute sollte vielleicht öfter mal zur Anregung ihres Kreislaufs einen Schoppen trinken, dachte er. Er nahm sich vor, ihr bei seinem nächsten Termin einen Bocksbeutel aus seinem Weinkeller mitzubringen.
Auf dem Weg zu seinem Auto kam Marschmann am öffentlichen Klinik-Café vorbei. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war noch früh am Vormittag, bis zum Stammtisch fast noch zwei Stunden Zeit. Marschmann entschied, sich zur Feier des erfreulichen Untersuchungsergebnisses einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu gönnen.
Weil er seit seiner Erkrankung direkte Sonneneinstrahlung möglichst mied, setzte er sich vor dem Café in eine schattige Ecke. Während er auf die Bedienung wartete, schob er seine Sonnenbrille auf die Stirn und studierte die Karte.
Es dauerte einen Augenblick, bis sich die Stimme so in sein Bewusstsein drängte, dass sie seine Kuchenfantasien verdrängte. Der ehemalige Kriminalbeamte stutzte, dann konzentrierte er sich. Diese Stimme! Niemals in seinem Leben würde er diese Stimme vergessen! Aber das konnte doch gar nicht sein! Der Mann, dem seiner Erinnerung nach diese Stimme gehörte, war seit Jahren tot!
Langsam hob er den Blick und spähte über den Rand der Kuchenkarte hinweg. Einige Meter von ihm entfernt erschienen zwei Männer. Der ältere der beiden saß in einem Rollstuhl. Sein geschientes Bein lag auf einer Fußauflage. Der Mann, dessen Stimme Xaver Marschmann so elektrisiert hatte, schob das Gefährt.
Die beiden entschieden sich für einen Tisch ein Stück entfernt. Der Begleiter des Rollstuhlfahrers setzte sich mit dem Rücken zu Marschmann. Marschmann konnte zwar nicht verstehen, worüber sie sich unterhielten, aber die Melodie der Stimme bohrte sich in seine Wahrnehmung und weckte eine höchst unangenehme Erinnerung. Wie es sich anhörte, sprachen die beiden Englisch.
In diesem Augenblick wurde die Terrasse von drei jungen Krankenschwestern aufgesucht, die sich zwischen Marschmann und den beiden Personen, die seine Aufmerksamkeit geweckt hatten, niederließen. Darüber hinaus wurde der Kriminalbeamte von der Bedienung, die ihn nach seinen Wünschen fragte, in seiner Konzentration gestört. Marschmann bestellte eine Tasse Kaffee. Den Kuchen verkniff er sich jetzt, weil er einsatzbereit bleiben wollte, falls die beiden die Terrasse wieder verließen. Als ihm die Bedienung kurz darauf den Kaffee servierte, zahlte er gleich.
Marschmann griff sich vom Nebentisch eine liegengebliebene Zeitung. Ein altes, aber probates Mittel der Tarnung bei der Observierung von Personen. Unbewusst war der pensionierte Kriminalbeamte wieder in die Rolle des Ermittlers geschlüpft.
Knapp zwanzig Minuten später rief der Mann mit der auffälligen Stimme die Bedienung, zahlte, erhob sich und fasste den Rollstuhl bei den Griffen. Marschmann wartete, bis sie die Terrasse verlassen hatten, dann setzte er seine Sonnenbrille auf und folgte ihnen in einiger Entfernung.
An der nächsten Straßenecke blieben die beiden Männer stehen. Marschmann stellte sich in den Eingangsbereich der hier angrenzenden Kinderklinik und tat so, als studierte er einen Aushang. Die beiden Männer wechselten noch einige Worte. Im nächsten Augenblick wandte sich der Mann im Rollstuhl ab und trieb sein Gefährt mit den Händen in Richtung Uni-Zentrum. Der Typ, der Marschmanns Interesse geweckt hatte, blickte kurz hinterher, dann drehte er sich um und marschierte den gleichen Weg wieder zurück. Der ehemalige Polizeibeamte beeilte sich, den Eingangsbereich der Kinderklinik zu betreten, damit er nicht gesehen wurde. Als der Mann vorbei war, verließ Marschmann seine Deckung und folgte ihm. Wie es aussah, hatte der Mann sein Auto auf dem gleichen Parkplatz abgestellt wie er.
Marschmann sollte Recht behalten. Zehn Minuten später beobachtete er, wie der Verfolgte auf dem Parkplatz der Kopfklinik in ein schwarzes Fahrzeug gehobener Klasse stieg, wo er sofort anfing zu telefonieren. Dies gab Marschmann die Möglichkeit, schnell sein Auto zu erreichen, sich hinter das Steuer zu schwingen und den Motor zu starten. Angespannt wartete er darauf, dass der Bursche losfuhr. Tatsächlich schob sich der Wagen im nächsten Moment aus der Parklücke und rollte vom Platz. Marschmann wartete mit der Verfolgung, bis der schwarze Wagen in Richtung Zinklesweg abbog, dann fädelte er sich hinter ihm in den fließenden Verkehr ein. Als er ihm über den Lindleshang in Richtung Versbacher Straße folgte, achtete er sorgfältig darauf, dass sich zwei andere Fahrzeuge zwischen ihm und dem Verfolgten befanden.
Diese Stimme, die bei ihm alle Alarmglocken hatte schrillen lassen, war eine Stimme aus seiner Vergangenheit. Ereignisse tauchten schlagartig wieder aus seiner Erinnerung auf. Zwanzig Jahre oder mehr waren seitdem vergangen. Die Stimme hatte einem Drogenboss gehört, in dessen Organisation das Landeskriminalamt Marschmann unter dem Decknamen Werner Grossmann als verdeckten Ermittler eingeschleust hatte.
Ercan Yülan, genannt „der Lächler“, hatte damals in Hessen und dem angrenzenden Bayern ein weit verzweigtes, bestens organisiertes Händlernetz für harte Drogen aufgebaut. Yülan war intelligent, skrupellos und für die Ermittlungsbehörden glitschig wie ein Aal. Obwohl die Landeskriminalämter beider Bundesländer hinter ihm her gewesen waren, war es den Polizeibehörden lange Zeit nicht gelungen, dem Lächler eine Straftat nachzuweisen. Jahrelang hatten die Ermittler nicht einmal gewusst, wie Yülan aussah. Die Mitglieder seiner Organisation, kleinere Dealer, die hin und wieder verhaftet worden waren, gaben vor, ihn nicht zu kennen, oder waren nicht bereit gewesen, gegen ihren Boss auszusagen. Es ging das Gerücht, Yülan würde jeden, den er des Verrats verdächtigte, gnadenlos beseitigen lassen. Er hatte den Ruf, Exekutionen von Verrätern persönlich beizuwohnen. Das Letzte, was die Opfer angeblich vor ihrem Tod sahen, war sein Lächeln.
Deshalb hatten die Ermittlungsbehörden ein unverbrauchtes Gesicht benötigt, einen unbekannten Beamten, der noch niemals gegen Yülans Organisation eingesetzt worden war. Xaver Marschmann, der in dieser Zeit in der oberbayerischen Drogenszene ermittelt hatte, war dem LKA geeignet erschienen. Marschmann war unverheiratet und ungebunden. Er verfügte über die Unabhängigkeit, die erforderlich war, um für unbestimmte Zeit das gefährliche Leben als Undercoveragent in der Drogenszene zu führen.
Marschmann war mit seinem Einsatz einverstanden gewesen. Er bekam eine passende Legende und einen entsprechenden Lebenslauf geschneidert, der ihn in der Szene vertrauenswürdig erscheinen ließ. Nach dieser Vita hatte er gerade eine vierjährige Freiheitsstrafe wegen Drogenhandels abgesessen und befand sich auf Bewährung auf freiem Fuß. Da das LKA den Verdacht hatte, dass sich irgendwo in Würzburg ein Drogenlabor befand, zog Marschmann in die Mainmetropole. Sein Bewährungshelfer vermittelte ihm über die Stadtverwaltung auf dem Heuchelhof eine Sozialwohnung. Marschmann suchte nach einem Job, denn er brauchte dringend Geld. Da er laut dieses neuen Lebenslaufs früher einmal gekellnert hatte, bekam er in einer Würzburger Bar einen Job als Barkeeper. Dort entwickelten sich schnell Kontakte zu einschlägigen Kreisen. Immer wieder deutete er bei passender Gelegenheit an, dass er wieder aktiv mitmischen wollte, weil er Geld benötigte. Eines Tages wurde er in der Bar von einem Typen angesprochen, der ihm anbot, kleinere Kurierdienste zu verrichten.
Dem LKA war klar: Marschmann musste, um von der Organisation anerkannt zu werden, kleinere Straftaten begehen.
Zunächst wurde er von seinem Verbindungsmann nur als Drogenkurier in Franken eingesetzt, später auch zwischen Bayern und Hessen. Aus den Gesamtumständen schloss er, dass der Stoff in Unterfranken hergestellt wurde. Der Verdacht, dass Würzburg Produktionsstätte sein könnte, erhärtete sich. Als Marschmann allerdings auch nach drei Monaten noch keinen Schritt weitergekommen war, beschloss die Ermittlungsgruppe im Landeskriminalamt, ihre Strategie zu ändern. Marschmann alias Grossmann musste der Spitze der Organisation irgendwie positiv auffallen, damit er aufsteigen konnte. Beim nächsten Transport von Würzburg nach Frankfurt plante man eine Aktion. Auf dem letzten Parkplatz vor der hessischen Grenze wollte man einen Kontrollpunkt einrichten und eine groß angelegte Drogenrazzia durchführen. Marschmanns Aufgabe sollte es sein, die Kontrolle zu durchbrechen und erfolgreich vor der Polizei zu flüchten. Diese Aktion, so glaubte man im LKA, würde ausreichen, um sich der Spitze der Organisation zu empfehlen.
Doch es kam anders. Als Marschmann an diesem Tag in Würzburg losfahren wollte, glitt im letzten Augenblick ein Mann auf den Beifahrersitz. Marschmann warf ihm einen überraschten Seitenblick zu. Es handelte sich eindeutig um einen Türken.
„Fahr los!“, sagte der Unbekannte knapp, während er sich anschnallte. „Ich bin Ercan Yülan und werde dich ein Stück begleiten. Los, Grossmann, gib Gas, ich habe es eilig!“ Auffordernd sah er Marschmann an, dabei lächelte er.
Verdammt, das war Yülan, der Boss, persönlich, schoss es Marschmann durch den Kopf. Aber was hatte der Mann für eine Stimme! Marschmann hatte erhebliche Mühe, sich sein Erstaunen über deren extrem hohen Klang nicht anmerken zu lassen. Was seine Stimmbänder erzeugten, war reinstes Falsett! Diese hohen Töne standen im krassen Gegensatz zur Figur des Mannes. Yülan war sicher über einsneunzig groß, kräftig und durchtrainiert. Unter dem linken Ärmel seines teuren Jacketts war eine eindeutige Ausbeulung zu erkennen. Der Typ war bewaffnet!
„Verdammt, Grossmann, jetzt mach schon! Oder hast du ein Problem?“ Seine Augen bekamen einen harten Glanz, als er Marschmanns Zögern bemerkte. Das Lächeln blieb dabei jedoch in seinem Gesicht wie eingemeißelt stehen.
Marschmann wusste natürlich, wie Yülan in der Organisation genannt wurde. Er riss sich zusammen, ignorierte die Stimme und das Lächeln und startete den Motor. Viel mehr beschäftigte ihn die Frage, wieso sich der Boss, der sich, wie er wusste, normalerweise immer im Hintergrund hielt, in sein Fahrzeug gesetzt hatte. War etwa seine Tarnung aufgeflogen? Marschmann merkte, wie seine Handflächen feucht wurden. War er jetzt womöglich auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung?
Bei Heidingsfeld fuhren sie auf die A 3 und Marschmann alias Grossmann gab Gas. Auf der Fahrt bis Marktheidenfeld sprach Yülan kein Wort. Marschmann hatte den Eindruck, dass er tief in Gedanken versunken war. Die Anspannung des verdeckten Ermittlers stieg fast ins Unerträgliche. Wenn Yülan bei der Kontrolle mit im Auto saß, würde der ganze Plan auffliegen. Marschmanns Schusswaffe war mit Platzpatronen geladen, so dass er schießen konnte, ohne jemanden zu verletzen. Von den kontrollierenden Beamten waren drei bestimmt, die ebenfalls mit Platzpatronen auf den flüchtigen Grossmann schießen sollten. Marschmann war klar, dass Yülan im Ernstfall von seiner scharfen Waffe Gebrauch machen würde. Für die völlig überraschten Kollegen bestand Lebensgefahr! Marschmann musste den Einsatz unbedingt stoppen! Er beschloss, bei der Raststätte Spessart einen kurzen Stopp einzulegen. Ihm war klar, dass sein Boss etwas dagegen haben würde. Die Hohlräume seines Fahrzeugs waren mit Heroin vollgestopft, das für den Frankfurter Markt bestimmt war. Mit so einer brisanten Fracht machte man normalerweise keine Pause.
„Es tut mir leid, Herr Yülan“, begann Marschmann wenige Kilometer vor der Raststätte und verzog das Gesicht, „aber ich muss mal dringend zur Toilette.“
Der Lächler sah seinen Fahrer mit zusammengekniffenen Augen an. „Was soll der Unsinn? Du kannst mit dem Zeug im Wagen nicht anhalten.“
„Ich weiß“, gab Marschmann zurück, „aber ich habe gestern Sushi gegessen und ich fürchte, ich habe das Zeug nicht richtig vertragen. Jedenfalls habe ich echte Verdauungsprobleme.“
Yülan gab ein Knurren von sich. „Okay, dann fahr den nächsten Parkplatz an. Ich werde hier im Wagen bleiben.“
„In ein paar Minuten sind wir an der Raststätte Spessart“, erklärte Grossmann erleichtert.
„Keine Raststätte!“ Das Fauchen seiner Stimme strafte sein Lächeln Lügen. „Nimm den nächsten Parkplatz, dort gibt es auch eine Toilette.“
Marschmann fluchte innerlich. „Hoffentlich halte ich noch so lange durch“, stöhnte er mit verkniffener Miene und drückte das Gaspedal weiter durch.
Yülan holte ein Handy aus seinem Jackett. Er wählte eine Nummer und sprach einige Sätze in türkischer Sprache in das Telefon. Danach steckte er das Telefon wieder ein. Marschmann hatte kein Wort verstanden.
Dank der hohen Geschwindigkeit passierten sie zehn Minuten später den Rastplatz Spessart. Um sein dringendes Bedürfnis zu demonstrieren, gab Marschmann hin und wieder ein gepresstes Schnaufen von sich. Es dauerte fast zwanzig Minuten, ehe das erlösende Schild auftauchte, das auf einen Parkplatz in zwei Kilometern Entfernung hinwies. Yülan deutete nur wortlos darauf.
Auf dem Platz, dicht beim WC, stand lediglich eine große Limousine. Etwas entfernt stand ein Camper, dessen Insassen auf einer Bank saßen und aßen. Dahinter parkte ein Geländewagen mit Anhänger. Der Fahrer war nicht zu sehen. Sonst war der Parkplatz leer. Grossmann fuhr bis dicht vor das Toilettenhaus, dann machte er den Motor aus und sprang aus dem Fahrzeug.
„Halt! Dein Handy!“, rief Yülan und hielt ihm auffordernd die Hand hin.
„Ich verstehe nicht?“, erwiderte Grossmann.
„Reine Vorsichtsmaßnahme“, lächelte Yülan.
Marschmann stieß innerlich einen Fluch aus, griff in die Tasche und reichte dem Türken hastig sein Mobiltelefon. Yülan war wirklich extrem misstrauisch. Dann wandte er sich ab und eilte zur Toilette.
Kaum hatte er eine der Kabinen hinter sich verriegelt, als er auch schon ein zweites Handy aus der Tasche zog. Das Mobiltelefon, das er dem Drogenboss übergeben hatte, war präpariert. Es befanden sich nur harmlose Kontakte darauf, die jederzeit einer Überprüfung durch die Organisation standhalten würden. Er schrieb hastig eine kurze SMS, mit der er den Einsatz abblies, und sandte sie an eine Kontaktnummer, die nur er kannte und die nur ihm zur Verfügung stand. Er steckte das Telefon wieder ein. Einer inneren Eingebung folgend, zog er seine Pistole aus dem Schulterholster. Es handelte sich hierbei natürlich nicht um eine Dienstwaffe, sondern um eine unregistrierte Beretta, Kaliber 9 mm Parabellum, vom Frankfurter Schwarzmarkt. Die Spezialisten vom LKA hatten sie ihm aus dem hauseigenen Waffenarsenal besorgt. Er entfernte das Magazin mit den Platzpatronen und führte das Reservemagazin mit der scharfen Munition ein. Gerade als das Magazin im Griffstück einrastete, hörte er Schritte. Dem Klang nach handelte es sich um mehrere Personen.
„Hey, Grossmann, komm raus!“, hörte er da auch schon die tiefe Stimme eines Mannes. Die Stimme kannte er nicht. Er hörte, wie die Türen neben ihm der Reihe nach ruckartig geöffnet wurden. Hart knallten die Türgriffe gegen die dünnen Seitenwände der Kabinen. Wie es aussah, hatte Yülan unterwegs Verstärkung angefordert, nachdem klar war, welchen Parkplatz sie ansteuern würden. Damit stand für Marschmann aber auch fest, dass er aufgeflogen war. Jetzt ging es für ihn nur noch darum, seine Haut zu retten. Sein Blick irrte in der engen Kabine umher. Das war eine schier ausweglose Situation!
„Schieb deine Knarre unter der Tür durch und komm heraus!“, forderte der Mann erneut. „Ansonsten werden wir durch die Tür schießen! Ich zähle bis drei …“
Marschmann zweifelte keine Sekunde an der Ernsthaftigkeit dieser Drohung. Während der Typ zu zählen begann, stieg Marschmann blitzschnell auf die Kloschüssel. Vom oberen Rand der Kabine bis zur Decke waren es ungefähr 25 Zentimeter Luft – das musste reichen. Marschmann schob seine Waffe in den Hosenbund, dann stellte er sich mit dem Rücken gegen die eine Seitenwand, griff nach oben, hielt sich am oberen Kabinenrand fest, drückte seinen Rücken gegen die Wand und marschierte mit den Sohlen seiner Turnschuhe an der gegenüberliegenden Wand empor, so dass er Sekunden später knapp unter der Decke zwischen den beiden Kabinenwänden eingeklemmt war. Er zog seine Waffe. Gerade rechtzeitig, denn der Typ vor der Tür war bei drei angekommen.
„Du hast es nicht anders gewollt!“, schrie er, gleichzeitig wurde der Raum der Autobahntoilette von den ohrenbetäubenden Explosionen mehrerer Schüsse erfüllt. Die Projektile schlugen scheppernd in die Metallarmaturen der Toilette ein. Eine Sekunde später wurde die Tür von Grossmanns Kabine eingetreten und zwei Männer in sprungbereiter Haltung starrten verblüfft mit vorgehaltenen Pistolen in die scheinbar leere Kabine.
Marschmann verlor keine Zeit. Ehe Yülans Männer kapierten, was Sache war, gab der verdeckte Ermittler von oben zwei gezielte Schüsse auf sie ab. In beiden Fällen traf er die Schulter der Männer. Ihre Hände fielen kraftlos nach unten. Das Schmerzgebrüll der beiden hallte von den Toilettenwänden wider. Die Wucht der Einschläge schleuderte sie gegen die Toilettenwand, an der sie langsam in eine sitzende Haltung rutschten. Ehe sich die Männer von ihrem Schock erholen konnten, löste sich Marschmann aus seiner eingeklemmten Haltung und stieg herunter. Dabei ließ er die beiden keine Sekunde aus den Augen.
„Waffen wegschieben!“, fauchte der verdeckte Ermittler sie an. Sein Herz raste wie verrückt. Das Adrenalin pochte in seinen Adern. Als die beiden nicht reagierten, sondern ihn nur hasserfüllt anstarrten, hob er seine Pistole.
„Die nächsten Schüsse gehen in die Knie!“
Einer der Typen, der dem Eingang am entferntesten saß, schleuderte seine Schusswaffe ein Stück von sich. Als Marschmann den anderen Mann mit einer auffordernden Bewegung seines Pistolenlaufes ermahnte, dem Beispiel seines Kumpels zu folgen, bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Türrahmen des Eingangs. Es war nur ein Schatten, aber Marschmann ließ sich auf ein Knie fallen, drückte sich gegen eine Kabinenwand und richtete seine Waffe auf den Eingang – in letzter Sekunde, denn Yülan hechtete an der Tür vorbei, wobei er dreimal in den Raum feuerte. Marschmann gab in das Pistolenfeuer hinein zwei Schüsse ab, dann sprang er auf. Schnell suchte er Deckung an der Wand neben dem Eingang. Mit gehetztem Blick musterte er die beiden Kerle am Boden. Der in der Nähe der Tür war offenbar durch Yülans Schüsse am Kopf getroffen worden. Blutüberströmt lag er auf der Seite. Die Pistole war ihm aus der Hand geglitten.
Der andere hob zum Zeichen seiner Kapitulation seinen unverletzten Arm. Schnell sprang Marschmann vor, schnappte sich die beiden Pistolen und ging in seine Deckung zurück. Er steckte die Magazine der Pistolen in die Jackentasche und repetierte die im Lauf verbliebene Patrone heraus, dann warf er die beiden Waffen schnell in eine der Toilettenschüsseln. Hastig spähte Marschmann mit schussbereiter Waffe um den Türrahmen herum. Er konnte Yülan nirgendwo entdecken. Mit einem Satz sprang er auf den Rasen vor dem WC-Gebäude und rollte sich ab. Schussbereit kam er auf die Knie. Jetzt konnte er den Drogenboss sehen. Offenbar hatte ihm einer von seinen hingeworfenen Schüssen getroffen. Jedenfalls schleppte sich Yülan mit gebeugtem Oberkörper in Richtung der schwarzen Limousine. Vermutlich war es das Fahrzeug, mit dem die beiden Typen gekommen waren. Als der Drogenboss den Wagen erreichte, zerrte er heftig an der Tür. Das Auto war verschlossen.
„Stehen bleiben! Polizei!“, gab sich Marschmann jetzt zu erkennen. „Waffe weg!“ Er warf einen Blick hinüber zu den anderen Fahrzeugen. Die Insassen waren nicht zu sehen. Offenbar hatten sie Reißaus genommen.
Yülan drehte sich um und gab einen ungezielten Schuss in Marschmanns Richtung ab. Dabei konnte Marschmann sehen, dass sein Jackett im Bereich der Brust blutdurchtränkt war. Yülan drehte sich um und hastete nun auf den Wagen zu, mit dem er und Marschmann gekommen waren. Der Ermittler wusste, dass dieser nicht abgeschlossen war. Er erwog einen Schuss auf einen der Reifen, um den Mann zu stoppen. In diesem Augenblick sah der Polizist, wie das Wohnmobil mit aufheulendem Motor seinen Standplatz verließ und der Fahrer mit Vollgas in Richtung Autobahn raste.
Marschmann ließ seine Waffe sinken. Er fuhr genau in seine Schussbahn. Die Gefahr, unbeteiligte Menschen zu gefährden, war zu groß.
Yülan nutzte den Moment, schob sich hinter das Steuer des Kurierfahrzeugs und gab Gas.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte Marschmann und steckte die Waffe in den Gürtel. Dabei bemerkte er an seinem linken Arm ein unangenehmes Brennen. Sein Ärmel war blutig, er war getroffen worden! Da sein Arm noch voll funktionierte, konnte die Verletzung nicht so schlimm sein. Er tippte auf einen Streifschuss.
Marschmann zog sein Handy heraus und wählte die Geheimnummer. Hastig schilderte er die Situation und bat um Verstärkung sowie einen Notarzt.
Zwanzig Minuten verstrichen, dann landeten die ersten Einsatzkräfte mit einem Hubschrauber auf dem Parkplatz. Zwei kurz darauf mit Mannschaftsbussen eintreffende SEK-Kommandos sperrten den Parkplatz ab. Der Notarzt und ein Rettungsfahrzeug trafen wenig später ein. Der Mann, den Yülan getroffen hatte, war bereits seinen Kopfverletzungen erlegen. Der andere wurde ärztlich versorgt und dann festgenommen. Während Marschmann sich vom Notarzt den Streifschuss verbinden ließ, berichtete er der Einsatzleitung den Ablauf des Geschehens. Dann eilte er zum Hubschrauber, der aufstieg, um Yülans Verfolgung aufzunehmen. Die Fahndung am Boden wurde ebenfalls aus der Luft koordiniert.
Wenig später entdeckten sie vom Helikopter aus den verfolgten Wagen abseits der Autobahn am Rande eines Dorfes. Ein Blick in die Karte sagte ihnen, dass es sich um Rettersheim im Landkreis Main-Spessart handelte. Das Fahrzeug war verlassen, von Yülan keine Spur. Die Einsatzleitung koordinierte die Suche am Boden und beorderte Einsatzkräfte nach Rettersheim. Das Kommando wurde an die Bodenkräfte übergeben. Die Einsatzleitung flog nach Würzburg zurück, wo sich Marschmann einer Untersuchung im Krankenhaus unterzog. Nach einer Auffrischung seines Tetanusschutzes konnte er endlich nach Hause und sich ausruhen.
Yülan wurde, wie später im Polizeibericht nachzulesen war, noch am selben Tag in der Scheune der Gastwirtschaft Zum Stern in Rettersheim tot aufgefunden und, wie man ihm sagte, ins Institut für Rechtsmedizin der Uni Würzburg gebracht.
Xaver Marschmann beobachtete, dass der Mann, nachdem er ein Stück auf dem Stadtring gefahren war, in die Rottendorfer Straße stadteinwärts abbog. Zügig fuhr er durch die Theaterstraße und kam schließlich über Textor- und Bahnhofstraße zum Röntgenring, den er Richtung Friedensbrücke befuhr. Für einen Moment hatte der Verfolger den Eindruck, als würde der Mann während der Fahrt telefonieren. Kurz vor der Brücke bog er in die Pleichertorstraße ab. Marschmann runzelte die Stirn. Bei Dunkelgelb rutschte er gerade noch über die Kreuzung und konnte daher sehen, dass das Fahrzeug tatsächlich in der Tiefgarage des Congress-Centrums verschwand. Marschmann rollte langsam an der Einfahrt der Tiefgarage vorbei. So wie es aussah, war der Mann im Maritim-Hotel abgestiegen.
Xaver Marschmann wischte sich über die Stirn. Die Vergangenheit stand vor seinem geistigen Auge, als wäre alles erst gestern passiert. Konnte es sein, dass dieser Typ die gleiche Stimmlage hatte wie der Lächler? Eine Stimme, die so unverwechselbar war, dass es schon ein gewaltiger Zufall gewesen wäre, einem Menschen zu begegnen, dessen Stimme genauso klang. Marschmann glaubte nicht an Zufälle.
Seine Vorgesetzten hatten ihm damals erklärt, Yülan wäre an den Folgen der Schussverletzung, die er ihm beigebracht hatte, gestorben. Wie aber konnte der Mann dann hier quietschvergnügt in den Straßen von Würzburg herumlaufen? Gewiss, er hatte ein ganz anderes Gesicht, war auch deutlich korpulenter, aber die Körpergröße kam hin, soweit Marschmann dies aufgrund der kurzen Begegnung beurteilen konnte.
Xaver Marschmann beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Da waren ihm einige Herrschaften aus der dienstlichen Vergangenheit ein paar Erklärungen schuldig. Im Augenblick konnte er nichts mehr tun. Die nächsten Schritte wollten wohlüberlegt sein. Er gab Gas und fuhr weiter am Mainkai entlang.
Dabei entging seiner Aufmerksamkeit, dass ein anderes Fahrzeug die Tiefgarage unter dem CCW verließ und ihm folgte. Wenig später hatte er einen Parkplatz in der Marktgarage gefunden. Sein Verfolger parkte ein paar Stellplätze entfernt. Von hier aus war es für Marschmann nur ein Katzensprung zum Maulaffenbäck. Er war sehr spät dran. Aber es reichte noch, sich auf den Schock hin einen ordentlichen Schoppen zu gönnen.
Auf dem Weg zur Stammweinstube der Schoppenfetzer war er so in seine Gedanken vertieft, dass er kaum auf seine Umgebung achtete und so auch den Mann nicht bemerkte, der ihm in einiger Entfernung folgte, bis in den Maulaffenbäck hinein. Der Verfolger nahm zwei Tische weiter Platz und bestellte bei der Bedienung eine Weinschorle. Dann lehnte er sich zurück und versuchte möglichst viel von dem Gespräch am Stammtisch mitzubekommen.