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Erinnerungen

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Ich stand am Bahnsteig, um in die City zu fahren. Mein Büro war so in zwanzig Minuten zu erreichen. Mit dem Auto in der Rush-Hour würde ich dagegen eine Stunde brauchen.

Neben mir stand eine Frau, die sich nach ihrer Tochter umdrehte. »Margarete, komm schon, der Zug fährt sonst ohne uns!«

»Ich komme!«

Manchmal reichen Kleinigkeiten, um einen an Dinge zu erinnern, die lange zurück liegen. Oder fast vergessen sind. Die Kleine weckte bei mir Erinnerungen an Goethes Faust.

Das wohl populärste Werk des deutschen Dichters hatten wir im zwölften Jahrgang gelesen, neunzehnhundertneunundneunzig, seinem zweihundertfünfzigsten Geburtsjahr. Ich hatte mich damals sehr für dieses mehr als umfangreiche Werk begeistert und konnte auch Jahre später noch ganze Passagen auswendig. Da ich sowohl ein gutes Zahlen- wie auch Namengedächtnis hatte, hatte ich mir auch so manchen Namen gemerkt, und Margarete, Faust’s Gretchen, ließ Assoziationen in mir aufkommen: Die Gretchenfrage!

Eine gerade in unserer Zeit mal wieder mehr als aktuelle Frage: »Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?«

Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass ich die letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte, merkte dies jedoch umgehend, denn die Umstehenden sahen mich einigermaßen verwirrt an. Noch bevor ich die Situation aufklären konnte, hielt die S-Bahn vor meiner Nase.

Ich stieg ein.

Und auf dem Weg in die Stadt rezitierte ich den weiteren Text, den Dialog zwischen Margarete und Faust, diesmal in Gedanken:

»Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?

Du bist ein herzlich guter Mann,

Allein, ich glaub’, du hältst nicht viel davon.«

Die Religion! Tja, wer hätte sich nicht schon einmal damit beschäftigt? Zu Beginn des Gymnasiums war es eines der Schulfächer, doch später tauchte es im Stundenplan nicht mehr auf. Erst in der Oberstufe konnte man es wieder wählen, alternativ wurde jedoch Philosophie angeboten. Die meisten, so auch wir vier, nahmen Philosophie, Religion galt als uncool, als spießig. Erst im Laufe der letzten Jahre hatte ich festgestellt, wie wenig wir eigentlich über dieses Thema wussten.

Da wir in relativer Nachbarschaft wohnten, hatte ich mich mit Patrick in den letzten Jahren immer mal wieder darüber ausgetauscht. Wir hatten festgestellt, dass es wirklich viele Religionen und Glaubensrichtungen gab, und ebenfalls sehr viele Anhänger. Doch wir hatten uns nie zu erklären vermocht, wieso.

Wir hatten sogar einige wahrlich nicht dünne Religionsdokumente gelesen und miteinander verglichen.

Und was bedeutete eigentlich Religion? Nun, dies hatten Patrick und ich bereits vor einigen Jahren herausgefunden. Religare bedeutet verbinden, also ist mit Religion gemeint, die Verbindung zur göttlichen oder geistigen Welt herzustellen, die Wiederverbindung mit der geistigen Welt zu suchen. Wir hatten recherchiert, dass die meisten Religionen einen Verkünder oder Begründer hatten, und dass es sich im Grunde um dieselben Dinge handelt, wie uns heutzutage die Wissenschaft versucht näherzubringen, nämlich um Welterklärungs- und Lebensbewältigungssysteme.

Des Weiteren war uns aufgefallen, dass die biblischen Figuren auch im Koran erwähnt werden, ebenso hatten wir Parallelen zwischen Buddhismus und Christentum gefunden, doch was letzten Endes zählte, war die Tatsache, dass wir uns mit keiner Schöpfungsgeschichte so richtig anfreunden konnten. Denn alle liefen in letzter Konsequenz darauf hinaus, dass Gott den Menschen gemacht hatte, und ganz lapidar hatte der mitunter recht emotional veranlagte Patrick gefragt: »Wo war er während des Zwanzigsten Jahrhunderts? Während der Weltkriege? Während des Holocausts? Und wo ist er jetzt? Warum lässt er derartige Dinge geschehen, wie wir sie jeden Tag in den Medien verfolgen können? Was bringt Religion der Gesellschaft? Und was dem Einzelnen? Macht sie glücklicher, reicher, gesünder? Oder ist sie nur ein Instrument zur Ablenkung, so wie für andere Leute Fußball?«

Da sprach der Geschichtslehrer, und er fragte zurecht, was er seinen Schülern erzählen sollte, wenn sie ihn mit derartigen Fragen konfrontierten.

Doch auf der anderen Seite kam uns Goethe in den Sinn. Wenn ein so großer Geist sich so intensiv mit Religion befasst und diese Thematik in seinen Werken verarbeitet, musste unbedingt irgendetwas daran sein! Vielleicht waren wir damals einfach noch zu jung, um es genau zu verstehen.

Es war klar. Bevor ich mich mit den anderen traf, musste ich mich etwas intensiver mit diesem Thema auseinandersetzen, welches wir bei unseren früheren Gesprächen wirklich arg vernachlässigt hatten, obwohl uns die Religionen wie Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus oder Hinduismus quasi täglich begleiten. Auch die Lehren eines Zarathustra, eines Konfuzius und eines Lao-Tse finden sich im Alltag wieder. Es scheint ein schier unüberschaubares Gebiet zu sein. Ergo würde es nicht beim Klamottenkauf am nächsten Tag bleiben. Ich würde mich mit diesem Thema noch einmal ernsthaft auseinandersetzen und definitiv auch einige Bücher lesen müssen.

Die Straßenbahn hielt. Ich stieg aus und strebte im Pulk dem Ausgang zu. Zu meiner Linken sah ich die Mutter und ihre Tochter, Margarete.

Im Stillen dankte ich ihr für die Anregung. Was wäre der Mensch ohne die Fähigkeit, Assoziationen zu entwickeln? Oder Erinnerungen zu haben?

*

Als ich am Abend mit der S-Bahn nach Hause fuhr, freute ich mich schon auf die nächsten Ereignisse. Doch ein anderer Gast hatte nicht so gute Laune. Er telefonierte ungeniert laut.

»Das nächste Mal, wenn meine Sekretärin mir ein Hotel bucht, sehe ich mir das ganz genau an! Und wenn das wieder so eine Katastrophe ist, dann wird sie entlassen!«

Hier projizierte offenbar jemand seine Probleme oder seine eigene Unfähigkeit auf jemand anderen.

»Soll er es doch selber machen«, dachte ich. »Dann würde er schon eines nach seinem Geschmack bekommen.«

Die S-Bahn hielt, ich stieg aus. Zwischen der Haltestelle und meiner Wohnung kam ich an einem Supermarkt vorbei, in dem ich schnell den wöchentlichen Einkauf erledigte. Der Begriff Lebensmittel löste wieder eine Assoziation aus.

»Was für ein sinniger Begriff«, dachte ich, »denn ohne diese Nahrungsmittel könnten wir eben nicht leben.« Bevor ich zu sehr ins Grübeln kommen konnte, holte mich mein Handy zurück in die Gegenwart. Jil, eine Freundin aus Studienzeiten, mit der ich seit Jahren gut befreundet war. Wir joggten regelmäßig abends durch den Stadtpark. Nur momentan war Pause, sie hatte sich den Fuß verknackst.

»Hi, Jil!«

»Hey, Sportskanone! Wie geht es dir?«

»Oh danke, ich kann nicht klagen. Und dir? Was macht dein Fuß?«

»Ist wieder besser, der Doc meint, ich kann in zwei Wochen wieder problemlos laufen. Dann bin ich wieder dabei!«

»Okay, freut mich zu hören.«

»Unsere wöchentlichen Jogging-Abende fehlen mir auch schon, ich werde teilweise richtig aggressiv. Und das wegen der nichtigsten Anlässe!«

»Na hoppla, du und aggressiv? Das kann ich ja kaum glauben.«

»Doch doch, frag Nina, die hatte schon Angst um ihre Uhr, die sie von ihrem Freund geschenkt bekommen hat. Du weisst ja, dass sie es mit der Zeit nicht so hat, und zu Hause nimmt sie die Uhr immer ab und legt sie irgendwohin. Meist auf den Tisch in der Küche, wo ich sie dann finde. Und manchmal stört dieses kleine Ding mit dem Tick-Tack einfach! Verrückt, oder?«

»Es geht so. Aber Zeit ist nunmal für alle da«, kommentierte ich trocken.

Jil lachte laut auf. »Stimmt! Ja, und vor drei Tagen hätte ich das gute Stück fast aus dem Fenster geschmissen, konnte mich erst im letzten Moment noch zusammen reißen.«

»Da hat die Uhr aber Glück gehabt, aus dem siebten Stock zu fallen, ist der Lebensdauer bestimmt nicht sehr zuträglich. Und der WG-Freundschaft hat die rechtzeitige Besinnung sicherlich auch nicht geschadet.«

»In der Tat, ich glaube, Nina wäre ziemlich sauer gewesen. Nein, wenn ich genau überlege, wäre sie total ausgerastet. Die Uhr bedeutet ihr mehr als nur ein Zeitmessgerät.«

»Verständlich.«

»Ja, ich glaube zwischen den beiden ist es was Ernstes, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie zu ihm zieht.«

»Naja, mit Ende zwanzig kann man ja auch schon mal die WG verlassen.«

»Das sagst du so, und was mache ich dann? WG alleine ist doch doof!«

»Und es trifft den Kern der Sache nicht mehr wirklich. Wohngemeinschaft bezieht definitionsgemäß mehrere mit ein.«

Sie lachte wieder. »Das stimmt, na, ich werde mal sehen. Hauptsache ich kann bald wieder laufen, und seit ich weiß, dass ein Ende absehbar ist, geht’s mir auch wieder besser.«

»Weniger aggressiv und so?«

»Yes.«

»Na prima, dann können wir ja bald wieder die Schuhe schnüren und zusammen ein paar Runden drehen.«

»Sehr richtig. Muss mich aber erstmal wieder langsam rantasten, habe fast keine Kondition mehr.«

»Na, das wird schon wieder, bist ja noch in einem guten Alter.«

»Blödmann!« Es klang hart, doch ich konnte ihr freches Grinsen förmlich sehen.

»Ich komm darauf zurück. Beim nächsten Lauf«, erwiderte ich trocken.

»Ja ...», dehnte sie. «Du ..., ich sehe gerade ..., ich muss los. Wir hören uns ja?«

»Okay, mach’s gut und bis bald!«

»Danke, du auch. Bye!«

Abi 2000 - 10 Jahre später

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