Читать книгу Sibirien 1977 - 1978 - Ein DDR-Auslandskader erzählt - Günter Mosler - Страница 5
SO FING ES AN
ОглавлениеMan soll niemals nie sagen. Nach meinem Vietnameinsatz habe ich geschworen, das Häusliche nie mehr zu verlassen. Die Bilanz meines Vietnameinsatzes ist positiv. Über Genex konnten wir im April 1975 einen PKW Wartburg ohne Wartezeit käuflich erwerben, unser Wohnzimmer neu einrichten, Fernseher, exquisite Bekleidung und andere Dinge anschaffen.
Gut erholt, nach mehrwöchigem Urlaub, werde ich wieder beim VEB Bau- und Montagekombinat eingestellt und gehe meiner Aufgabe als Produktionsingenieur nach.
In einem sozialistischen, staatlichen Betrieb, muss alles tipptopp funktionieren. Deshalb gibt es zahlreiche Kontrollorgane im Baubetrieb, wie die technische Kontrolle, die staatliche Bauaufsicht, den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz, die Betriebsparteileitung, die Betriebsgewerkschaftsleitung, die Arbeiter- und Bauern-Inspektion. Dazu kommen betriebsübergeordnete Organe, örtliche Organe wie Kreisbauamt, Kreisgewerkschaft, Kreis- und Bezirksleitung der SED. Ein mächtiger bürokratischer Schwanz. Diese Kontrollorgane sind gut besetzt, natürlich auch gut bezahlt, dafür müssen die Genossen und Nichtgenossen von Zeit zu Zeit ihren Büroraum verlassen, um ihre „notwendige“ Existenz nachzuweisen. Einen Mangel auf einer Baustelle zu finden, bedarf dabei keiner großen Anstrengung.
Es gibt Tage, an denen sich ein Bauleiter nur mit Kontrolleuren beschäftigen muss, damit diesen die lange Zeit vergeht und sie dem Vorgesetzten ein Mängelprotokoll vorlegen können, um zu beweisen, wie notwendig ihre Kontrollen sind. Von Hilfe ist da keine Spur; zum Beispiel bei der Beschaffung von Baustraßenplatten, Baumaterialen und beim Transport oder Fachkräften. Die häufigste Antwort lautet: „Genosse, dafür sind wir nicht zuständig.“
Ein Rohrgraben kann hergestellt werden, wenn das Rohrmaterial da ist, sonst muss der gleiche Graben mehrmals ausgehoben werden, beispielsweise nach Niederschlägen. Und so war es. Von der Kreisleitung der SED wurde befohlen, den Entwässerungsgraben auszuheben. „Das Rohrmaterial wird kommen!“, haben die Genossen gesagt. Wir haben den Rohrgraben ausgeschachtet, aber die Rohre kamen und kamen nicht.
Wo Termindruck und Unterstützung notwendig waren, zeigte sich auch kein Genosse Kontrollorgan, um nicht mit irgendwelchen Mehrleistungen belästigt zu werden. Erst wenn die Ausbauarbeiten im Endstadium waren, erschienen nach und nach die lieben Genossen der Kreisleitung und vom Kreisbauamt mit einem Tross Statisten, um zu zeigen, wie prima alles lief. Natürlich, mit Unterstützung der Partei!
Nach Übergabe eines Bauvorhabens hieß es: Wir, die Partei, haben es geschafft! Versaut haben es die anderen. Dahinter stand der Slogan: „Und die Partei hat immer recht!“
Zufrieden mit meiner Tätigkeit bin ich nicht, oft wird die eigene Initiative schon im Keim erstickt. Aber irgendwie muss man sich dem Strom anpassen, dagegen anzuschwimmen ist gefährlich, schließlich habe ich Familie und möchte gut leben, ohne ins Visier zu geraten.
Die Sehnsucht nach einem neuen Auslandeinsatz wird immer stärker. Am 8. November 1976 bekomme ich einen Anruf vom Ministerium für Bauwesen, mit der Anfrage, ob ich für eine einjährige Aufgabe in Ust Ilimsk bereit sei. Meine Bedenkzeit beträgt sieben Tage.
Am Telefon möchte ich meine Unkenntnis, mit der Frage: „Wo liegt Ust Ilimsk?“, nicht offenlegen.
Die Anfrage verwirrt mich, ich überlege: Wo liegt Ust Ilimsk? Ich finde keine Antwort und fange an zu spinnen. Vielleicht auf den Bahamas, auf Hawaii, in der Karibik.
Der einjährige Auslandseinsatz hat einen Nachteil. Ich müsste allein reisen und bekomme wahrscheinlich Probleme mit meiner Familie. Tatsächlich: Meine Frau ist von meiner „fantastischen“ Neuigkeit nicht begeistert.
Ich suche im Weltatlas Städte mit Ust und finde Ust Ilimsk in der UdSSR. Ob das der Ort ist, den sie meinen? Mir kommen Zweifel auf. Von einem Ust Ilimsk habe ich noch nie gehört. Sibirien, Sibirien, nein, das kann nicht sein! Im Ministerium für Bauwesen anzufragen, wäre mir peinlich. Daher entscheide ich mich für einen Anruf im Konsulat der UdSSR in Leipzig, mit einer Notlüge: „Lieber Genosse, ich habe ein persönliches Anliegen. Meine Parteileitung hat mich beauftragt, bei der morgigen Parteiversammlung einen Vortrag über die Stadt Ust Ilimsk zu halten. Mein Informationsmaterial über diese Stadt ist nicht ausreichend, könntest du mir, lieber Genosse, am Telefon etwas über Ust Ilimsk sagen?“
Ich werde nicht richtig verstanden. Mein Gesprächspartner hakt auf Russisch nach: „Welche Stadt?“
Ich wiederhole: „Die Stadt Ust Ilimsk.“
Der liebe Genosse überlegt kurz und antwortet: „Ust Ilimsk ist eine junge Komsomolstadt an der Angara im Oblask (Gebiet) Irkutsk, Ostsibirien. Vor nicht so langer Zeit war das ein kleiner Ort – man kann sagen, ein Dorf, in dem früher Verbannte aus allen Teilen Russlands gelebt haben. Die armen Menschen haben sich vom Fischfang in der Angara ernährt. Nördlich von Bratsk, im Bereich der Ilmmündung in die Angara, begann 1974 der Bau des Ust-Ilimsker Stausees. mit einer Fläche von 1.875 Quadratkilometern und seit 1963 befindet sich das Ust-Ilimsker Wasserkraftwerk mit einer Kapazität von 4.320 Megawatt im Bau. Darüber hinaus wird seit 1975 das Ust-Ilimsker Zellulosekombinat – auch Holzverarbeitungskomplex genannt – gebaut. An diesem Vorhaben sind außer Baubrigaden aller Sowjetrepubliken auch internationale Baubrigaden sozialistischer Bruderländern beteiligt.“
Ich unterbreche ihn mit der Frage: „Genosse, welche Bruderländer sind bereits vor Ort?“
„Nach meinem Wissen, die VR Ungarn, die VR Bulgarien, es sollen eine Baubrigade aus der Deutschen Demokratischen Republik und eine aus der VR Polen folgen.“
Ich ahne das Schlimmste, mir wird schwarz vor Augen und ich sage: „Danke, Genosse.“
Nach dem Gespräch hole ich tief Luft. Ich bin froh, dass ich nicht nach meinem Namen und meiner Parteiorganisation gefragt wurde.
Was soll ich tun?
Mein Gott, soll ich wirklich nach Sibirien, in das ewige Eis, wo Tausende von Menschen ihr Leben gelassen haben? Erzählungen ehemaliger deutscher Kriegsgefangener in Sibirien werden wach, eisiger Wind blies durch die Außenwände, im Freien wurden Gesichter mit Eis und Schnee bedeckt, erfrorene Finger und Zehen mussten amputiert werde. Kälte und Hunger machten die Kriegsgefangenen zu Gerippen. Ich erinnere mich auch an Erzählungen meines Vaters, über seine dreijährigen schmerzhaften Erfahrungen im Winter, als deutscher Internierter in Russland.
Verflucht noch mal, dort soll ich hin? Nein, ich sage lieber ab. Aber wie soll ich das begründen? „Was soll ich tun?“, frage ich mich ständig.
Lenin hat ein Büchlein mit dem Titel „Was tun“ geschrieben, aber ich bin zu faul, das zu lesen. Vielleicht steht dort die spektakuläre Antwort auf meine Frage?
Es gibt keine Begründung zur Absage, was den Aufbau des Sozialismus in der DDR oder den des Kommunismus in der UdSSR betrifft. Den Schwanz einziehen und die Kurve kratzen, das geht nicht, es wäre das Ende einer gut bezahlten und interessanten Tätigkeit im Ausland.
Die Genossen vom Ministerium für Bauwesen würden sagen: „Ach, schaut mal, der feine Pinkel aus Zeitz möchte gern in ein kapitalistisches Land reisen und nicht in die Schmiede des Kommunismus. Dann lassen wir ihn lieber zu Hause. Eine Delegierung zur Bezirksparteischulung wird ihm guttun.“
Dummerweise fragen mich meine lieben Kollegen und Genossen ständig, wann ich wieder in die Tropen fliege. So eine Frage zu beantworten, fällt mir schwer. Ich raffe mich auf und sage: „Freunde oder Genossen, unsere Partei hat immer recht, jede Entscheidung unserer Partei ist reiflich durchdacht, demzufolge ist auch die Linie unserer Partei immer die richtige. Auch ich muss bis zur richtigen Entscheidung warten, aber denkt ja nicht, dass ich nur in den Tropen oder in einem kapitalistischen Land wie in der BRD arbeiten möchte. Nein, auch die ruhmreiche Sowjetunion oder ein anderes sozialistisches Bruderland wäre für mich von großem Interesse, ja, ich würde das sogar als eine hohe Auszeichnung betrachten.“
Nun ja, nicht bei allen Kollegen oder Genossen stoße ich mit meiner Meinung auf volles Verständnis.
So beiläufig sagt Walter: „Dann melde dich doch zur Erdgasbautrasse, wenn du das Bedürfnis hast, zu den Russen zu gehen!“
In ruhiger Art antworte ich: „Walter, du bist nicht auf Linie, du weißt nicht, wie das bei mir läuft, ich kann mich nicht so einfach zur Trasse melden, ich werden von oben zum Auslandseinsatz delegiert.“
Verblüfft und mit offenem Mund schaut mich Walter an und fragt: „Sag mal, seit wann bist du gläubig?“
Darauf meine Antwort: „Walter, wenn ich sage von oben, da hat das mit dem christlichen Glauben nichts zu tun, nur mit der Kombinatsleitung und dem Ministerium für Bauwesen. Die steuern meinen Auslandseinsatz.“
„Also bist du doch was Besseres, wenn du von dort, wie du sagtest, Delegierungen bekommst?“ Das Gesicht meines Gesprächspartners nimmt plötzlich ernsthafte Gesichtszüge an, er beugt sich zu mir, schaut nach rechts und links und sagt: „Günter, vielleicht schicken sie dich auch in den Westen? Solltest du mal in die BRD reisen, dann bitte ich dich, meine Tante Emilie zu besuchen, um ihr Grüße auszurichten, und sag ihr, sie soll dir, natürlich für mich, D-Mark geben, damit ich mir einen Trabi kaufen kann.“
Ich antworte: „Walter, du kannst doch deine liebe Tante Emilie in einem Brief darum bitten oder noch besser, sie kann dir einen Trabi – sogar in Sonderausführung – über Genex kaufen.“
„Nein, nein“, protestiert Walter und sagt: „Briefe mit Geld verschwinden.“ Walter wird ruhig, nachdenklich, kommt sehr nah an mich heran und flüstert mir fast ins Ohr: „Nein, das geht nicht, keiner darf wissen, dass ich Beziehungen in den Westen habe.“
„Warum nicht?“, frage ich.
„Weil mein Sohn zur Volkspolizei gehen will, seine Eltern müssen eine reine Weste haben. Günter, du bist ein prima Kumpel, sag niemandem, dass ich eine Tante im Westen habe, sonst müsste mein Junge sein Geld im Tiefbau verdienen, er ist nicht intelligent genug.“
„Walter, hab keine Angst, mir ist das scheißegal, wo du deine reichen Tanten hast.“
„Nein, sie ist nicht reich, sie bekommt Rente vom verstorbenen Onkel, sie selbst hat nie gearbeitet“, sagt er.
„Warum hat deine Tante Emilie nicht gearbeitet, war sie krank?“, frage ich.
„Ach, Günter, frag nicht so viel. Ich weiß nur, dass meine Verwandtschaft im Westen die weisen Buchstaben KKK pflegen.“
Ich frage: „Was bedeuten die Buchstaben?“
Darauf mein Gegenüber: „Nun, ja: Küche, Kinder, Kirche.“
Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, nur ein Unfall oder eine Krankheit könnten mich vor Sibirien retten, aber das möchte ich auch nicht. So entscheide ich mich, abzuwarten. „Die Zeit heilt alle Wunden“, sagt ein altes Sprichwort.
Nach sechs Tagen Bedenkzeit, also einen Tag vor dem Terminablauf, rufe ich das Ministerium für Bauwesen an und bekunde mit gewaltigem Herzklopfen meine Bereitschaft für den Auslandseinsatz in Ust Ilimsk.
Ich frage: „Wann soll es denn losgehen und welche Aufgaben stehen mir bevor?“
Die Antwort lautet: „Weitere Informationen erhältst du vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend.“
Und plötzlich sehe ich schwarz. „Verflucht noch mal, was soll der Scheiß mit dem Zentralrat der FDJ? Ich bin fast 43 Jahre alt, Genosse und kein Pimpf oder FDJler, was soll die Geheimniskrämerei?“, kommt es nach dem Anruf aus mir herausgeschossen. „Vielleicht sollte ich doch den ganzen Mist in die Ecke schmeißen, zu Hause bleiben und alles andere vergessen“, überlege ich.
In Vietnam habe ich mir vorgenommen, nicht mehr im Ausland zu arbeiten. Meinen beruflichen Aufgaben als Produktionsingenieur gehe ich weiter nach, setze mich mit Mitarbeitern, Vorgesetzten, Vertragspartnern auseinander, so, wie das im alltäglichen Bauproduktionsablauf läuft.
Tage und Wochen vergehen im gleichen Rhythmus und keine neuen Informationen erreichen mich. Die ständigen Fragen meiner Arbeitkollegen: „Wann fährst du nun nach Sibirien?“, hören nicht auf. Die Ungewissheit belastet mich innerlich sehr, meine Perspektive schwebt im Dunkeln, meiner Familie möchte ich doch was bieten. Wir haben keine lieben reichen Verwandten im Westen, die uns von Zeit zu Zeit ein Paket mit Klamotten oder Kaffee schicken. Eine arme Tante habe ich, im Altersheim im Westen; jedes Mal beim Ausfüllen der Ausreiseformulare verschweige ich sie und befürchte, erwischt zu werden. Über Umwege halten wir Kontakt zu ihr, manchmal fällt was ab. Vor sechs Jahren, als sie noch gehen konnte, haben wir uns sogar in Prag getroffen.
Privat ist die Stimmung nicht die beste, meine Frau Helene und meine Tochter Halina streiken, beide wollen sich nicht damit abfinden, dass ich wieder auf Reisen gehe. Dazu noch nach Sibirien! Mein Argument: „Dann können wir wieder bei Genex schöne Klamotten und vieles anderes kaufen oder eine schöne Reise ins sozialistisches Ausland machen“, ändert die Stimmungslage nicht.
Halina muckt auf und fragt: „Vati, warum kümmerst du dich nicht um eine Delegierung in die BRD? Du sagst, ihr habt Baustellen in Westberlin und in München, da könntest du dich für die BRD bewerben. Das wäre schön, da hätten wir D-Mark zum Einkauf im Intershop und du wärst jedes Wochenende zu Hause.“
„Töchterchen, du bist sehr taktlos, wenn ich mich für die BRD bewerbe, weißt du, wo ich landen würde?“
„Nein, Vati“, antwortet mein Töchterchen.
„Kindchen, in Ballenstedt im Kreis Quedlinburg in der Bezirksparteischule. Und dann wäre wirklich Schluss mit dem Genexeinkauf. Meine Aufgabe wäre es, von einer Parteiversammlung zur anderen zu trotteln, wie ein Missionar, die Genossen am Kurs der Partei zu halten oder sogar unverbesserliche Genossen auf Kurs zu bringen. Fast jeden Tag wäre ich sehr spät zu Hause – und das auf wackeligen Füßen mit einer Alkohol-Fahne.“
Am 22. November 1976 erhalte ich einen Reiseauftrag, dringend zum Zentralrat der Freien Deutschen Jugend nach Berlin, Lindenallee zu kommen und in der Abteilung Arbeiterjugend vorstellig zu werden.
„Was will der Zentralrat der FDJ von mir? In meinem Alter kann man mich als Freund der Jugend, aber nicht als FDJler bezeichnen“, fluche ich im Inneren.
Im Zentralrat der FDJ in Berlin werde ich vom Genossen Rolf K. empfangen und zwei Jugendfreunden vorgestellt: Jochen K. (27) und Wolfgang P. (26). Rolf kommt gleich zur Sache: „Es liegt ein Beschluss des Zentralkomitees der SED vom August 1976 vor, in dem gesagt wird, die DDR delegiere fünfzig Jugendfreunde – Baufacharbeiter – für ein Jahr auf die Internationale Jugendbaustelle nach Ust Ilimsk in die UdSSR, zum Mitwirken beim Aufbau eines Zellulosekombinates. Dieses Kombinat soll nach der Fertigstellung unter anderem Zellulose für die Papierindustrie aller sozialistischen Länder produzieren. Das Ministerium für Bauwesen hat euch zu uns delegiert, damit wir gemeinsam diesen Einsatz organisieren und durchführen. Ihr seid die Ersten dieser Jugendbrigade mit folgender Aufgabe: Günter, als Brigadeleiter, verantwortlich für den gesamten fachlichen und organisatorischen Ablauf; Jochen, Stellvertreter, verantwortlich für den Bauablauf; Wolfgang, Stellvertreter, verantwortlich für den sozialpolitischen Bereich wie Unterkunft, Verpflegung, Freizeitgestaltung.“
Jochen und Wolfgang haben ein sehr enges Verhältnis zur Sowjetunion, beherrschen perfekt die russische Sprache, studierten dort fünf Jahre lang Architektur, beide kennen die Lebensweise und Mentalität der Sowjetbürger aus eigener Erfahrung. Prima!
„Meine russischen Sprachkenntnisse sind bescheiden, vermischt mit meinem guten Polnisch werde ich mich anfangs auch verständigen können“, sage ich und frage: „Welche internationalen Jugendbrigaden befinden sich bereits in Ust Ilimsk?“
Rolf antwortet: „Dreihundert Jugendfreunde aus der VR Ungarn, hundert Jugendfreunde aus der VR Bulgarien und weitere aus anderen sozialistischen Ländern werden folgen.“
Ich hake nach: „Warum sind wir nur mit fünfzig Jugendfreunden an diesem wichtigen Bauvorhaben beteiligt?“
Rolf sagt: „Die DDR ist an diesem Bauvorhaben bereits mit 40.000 Tonnen Stahlkonstruktion für Hallen und drei Stahlbauingenieuren beteiligt. Das ZK der KPdSU hat sich dennoch an unser ZK der SED mit der Bitte, eine Jugendbauarbeiter-Brigade zum Vorhaben zu entsenden, gewandt. In der nächsten Woche fliegen wir vier nach Moskau zum Zentralkomitee des Leninischen Komsomol, dann nach Bratsk zum Baukombinat ‘Bratskestroj’ und zur Baustelle nach Ust Ilimsk. Günter, deine Aufgabe wird es sein, zu entscheiden, ob wir in der Lage sind, das angebotene Teilobjekt mit fünfzig Jugendfreunden in einem Jahr zu realisieren.“
Von da an habe ich an zwei Fronten zu kämpfen. Ich muss meine Familie vom neuen Einsatz überzeugen und meine Vorbereitung zum Einsatz bewerkstelligen. Für die Dienstreise in die UdSSR muss ich unbedingt einen umfangreichen Fragespiegel ausarbeiten, auf die Durchführung von Bauarbeiten unter ostsibirischer Kälte bezogen.
In der DDR ruhen Bauarbeiten schon bei minus zehn Grad Celsius, demzufolge müssen sowjetische Bauingenieure wissenschaftliche Technologien für Bauarbeiten unter extremen Wetterbedingungen haben.
Walter Ulbricht hat stets betont: „Liebe Landsleute, von der Sowjetunion lernen heißt Siegen lernen.“ Ich bin gespannt, welche Erfahrungen ich mitbringen werde.
Meine ersten Notizen zum Fragespiegel zeichne ich noch während der Eisenbahnfahrt nach Zeitz. Wie wird bei sibirischer Kälte Beton hergestellt, transportiert, eingebaut, nachbehandelt? Der Zuschlag Kies, Sand transportiert? Putzmörtel sowie Wand- und Deckenputz hergestellt? Eine Baugrube ausgehoben? Wo liegt die Frostgrenze? Wie werden Fundamente auf gefrorenem Boden lokalisiert?
Helene und Halina sind sehr traurig, beide nehmen zur Kenntnis, dass mein zweiter Auslandeinsatz in greifbarer Nähe steht.
Meine Tochter sagt: „Vati, solltest du tatsächlich in Sibirien arbeiten, dann möchte ich einen weißen Zwergpudel! Einverstanden?“
„Natürlich bekommst du einen Zwergpudel, kannst schon nach einem Hündchen Ausschau halten, mein liebes Töchterchen“, sage ich zu Halina.
In meinem Baubetrieb versuche ich, an Fachliteratur zum Thema „Bauarbeiten unter strengen winterlichen Bedingungen“ heranzukommen, und nehme Kontakt zum Baustofflabor, zur staatlichen Bauaufsicht, zur technischen Kontrolle und zu Kollegen, die in der Sowjetunion Bauwesen studiert haben, auf. Ihre Antworten, wie „Vielleicht … Bestimmt … Die haben Erfahrungen, das ist ein großes Land“, sagen mir nichts. Keiner kann mir erklären, wie man in Sibirien Baumaßnahmen durchführt, wo die Temperaturen deutlich unter denen in Mitteleuropa sind. Alle sind der Überzeugung, eine derartige Winterbautechnologie müsse existieren, wenn in Sibirien gewaltige Bauwerke wie Staudämme, Wasserkraftwerke, Zellulosekombinate und ganze Städte gebaut werden, obwohl die Temperaturen weit unter dreißig Grad Celsius liegen. Zeitungsberichten zufolge fallen Temperaturen in der Gegend von Bratsk und Irkutsk nicht selten unter minus fünfzig Grad Celsius.
Die Winterbautechnologie ist das eine Problem für mich, aber wie können sich Bauarbeiter auf der Baustelle bei solchen Temperaturen bewegen? Meine große Hoffnung sind Antworten auf meinen Fragespiegel in Ust Ilimsk, dann werden meine Bedenken ausgeräumt und meinen Arbeitskollegen kann ich berichten, wie bei niedrigen Temperaturen gebaut wird.
Es ist der 5. Dezember 1976, wir reisen nach Moskau. Rolf als Delegationsleiter, Jochen, Wolfgang und ich sind Delegationsmitglieder. Bis zum Tag der Verhandlungen in Moskau bin ich davon ausgegangen, wenn sowjetische Genossen um irgendetwas bitten, fügen wir uns bedienungslos. Unter DDR-Bürgern oder Genossen wird gemunkelt, wenn die Sowjets pfeifen, springen wir wie Häftlinge zum Morgenappell. Unsere Verhandlungsdirektive lautet: „Der sowjetischen Bitte kommen wir mit einer fünfzig Mann starken Jugendkomplexbaubrigade für ein Jahr nach, ein Objekt soll uns übertragen werden, das in zwölf Monaten zu realisieren ist. Keine weiteren Zugeständnisse sind zulässig. Falls die sowjetische Seite ernsthafte Bedenken haben sollte, ist der Rückflug nach Berlin anzutreten.“
Ich traue meinen Ohren nicht, als Rolf uns diese Direktive während des Fluges nach Moskau vorträgt. Nanu, was soll das? Fühlt sich unser Rolf als Vertreter des Zentralrates der FDJ wirklich stark genug, sowjetischen Genossen Paroli zu bieten? Ist unsere Dienstreise nach Bratsk und Ust Ilimsk so stark gefährdet?
Im Transitraum werden wir bevorzugt abgefertigt, ein Vertreter des Leninischen Komsomol – Genosse W. W. Guckow – nimmt uns in Empfang, anschließend fahren wir zum Zentralkomitee der Jugendorganisation. Im Moskauer Hotelrestaurant werden wir vom Genossen Igor N. Schtschelokow, dem Genossen Michael B. Ostawfiew und anderen begrüßt. Hungrig sind wir auch schon, die Spannung wird immer größer. Mit so vielen Genossen haben wir mit unserem schmalen Angebot nicht gerechnet. Mit unserer zukünftigen Funktion werden wir allen Genossen vorgestellt. Meinen Vornamen muss ich stets wiederholen. Die meisten sagen nach meiner Wiederholung: „Ach, Günter, schön, Günter ist der Kommandeur der DDR-Brigade.“ Ich lache freundlich und denke, abwarten, ob das überhaupt zustandekommt. „Wer zuletzt lacht, lacht am besten“, sagt ein altes Sprichwort.
Genosse Schtschelokow: „Wir freuen uns, dass das ZK der SED unserer Bitte nachkommt und dem Beispiel der Bulgaren und Ungarn folgen wird, um in nächster Zeit eine große DDR-Jugendbrigade zum Bauvorhaben nach Ust Ilimsk zu delegieren.“
Bei diesen Worten zucken wir vier leicht zusammen.
Rolf dankt für den herzlichen Empfang und setzt gleich fort: „Der Zentralrat der FDJ ist beauftragt worden, der Bitte unserer sowjetischen Genossen nachzukommen und eine FDJ-Jugend-Komplex-Baubrigade mit fünfzig Baufacharbeitern für ein Jahr nach Ust Ilimsk zu entsenden. Demzufolge bitten wir, uns eine Aufgabe zu übertragen, die in diesem Zeitraum realisiert werden kann.“
Nach Preisgabe unseres Angebotes ist meine innere Spannung am Höhepunkt, unsere Augen bewegen sich zu den Vertretern des ZK des Komsomol. Jochen und Wolfgang übersetzten fast simultan, einer Russisch, der andere Deutsch. Allen dreien ist der Auftritt gelungen, jetzt heißt es, mit Spannung auf die Gegenreaktion zu warten.
Nach kurzem Schweigen konsultieren sich unsere sowjetischen Freunde untereinander, machen Notizen, es herrscht weiter freundliche Stimmung, aber mit einem spürbar bedrückenden Hintergrund.
Genosse Igor N. Schtschelokow bedankt sich für Rolfs Ausführungen, schlägt eine Pause vor und lädt zum Essen ein. Ein Tischnachbar gibt dem Bedienungspersonal ein Zeichen zum Servieren. Kellnerinnen und Kellner sind sofort da, servieren fleißig, was eine russische Küche zu bieten hat. Der Tisch ist blitzschnell voll beladen. Gläser werden mit russischem Wodka gefüllt, ein Trinkspruch wird angemeldet und von einem anderen gesprochen. Das Sto-Gramm-Gläschen Wodka soll unseren Appetit stärken und allen Kraft für eine erfolgreiche Verhandlung verleihen.
Dann wird „Na zdorov’ye!“ gerufen – Prost, auf die Gesundheit, zum Wohl – alle erheben sich gut gelaunt, die Gläser werden angestoßen und mit kurzer Handanhebung vollständig geleert. Wir vier nippen am Glas, was den kritischen Augen unserer Gastgeber nicht entgeht und sofort protestieren die Tischnachbarn, die Trink-Zurückhaltung aufzugeben. Im Endeffekt einigen wir uns, das Glas nach dem Essen zu leeren.
Genosse Igor N. Schtschelokow bittet die Anwesenden, sich mit einem kräftigen russischen Menü zu stärken, betont, die Mittagszeit sei längst vorbei, wir aber sind hungrig.
Gestärkt setzen wir anschließend unsere Arbeit fort.
Genosse Igor N. Schtschelokow ergreift das Wort und lenkt sofort seine Worte auf die geringe Anzahl unserer DDR-Jugendbrigade und die kurze Einsatzdauer, gibt dabei Beispiele der ungarischen und der bulgarischen Jugendbrigade, die mit dreihundert und mit hundert Personen für mehrere Jahre am Vorhaben in Ust Ilimsk vertreten sind. Er bittet darum, unsere Entscheidung noch einmal zu überdenken, hier oder in Berlin.
Nach längerer Diskussion wird unser Angebot mit der Bitte, doch im Laufe des Einsatzjahres unsere Jugendbaubrigade aufzustocken, angenommen.
Nach dem offiziellen Teil werden lockere Unterhaltungen geführt, als zukünftige FDJ-Brigadeleitung stellen wir uns näher vor, Jochen und Wolfgang in perfektem Russisch, ich versuche es auch, flechte aber polnische Vokabeln ein. Als zukünftige FDJ-Brigadeleitung werden wir akzeptiert, Jochen und Wolfgang als ehemalige Studenten in der Sowjetunion und Jungarchitekten, ich mit meinen praktischen- und Auslandserfahrungen in Polen und Vietnam.
Das Servieren nimmt kein Ende, ein „Na zdorov’ye!“ folgt dem anderen, die Trinksprüche werden immer länger und amüsanter.
Gegen 16:00 Uhr fahren wir in Begleitung vom Genossen W. W. Guckow zum Flughafen „Wnukowo“, von wo aus wir mit einer TU-154 in Richtung Bratsk fliegen werden.
Der Flug dauert zirka vier Stunden, so die Ankündigung. Stewardessen servieren Speisen und Getränke, das Sitzen stampft die verdaute Nahrung im Körper, mein Magen hat zu tun.
Gegen 3:30 Uhr Ortszeit landen wir in Bratsk und ich werde schon auf der Gangway zum ersten Mal mit sibirischem Winter bei minus 25 Grad Celsius konfrontiert. Die Luft ist eisig und trocken, der Wind bläst uns entgegen und schon nach kurzer Zeit merke ich, dass die Kälte durch meine europäische warme Bekleidung dringt.
In der Halle werden wir vom Genossen F. L. Kagan, dem stellvertretenden Generaldirektor vom Baukombinat „Bratskestroj“, empfangen und freundlich begrüßt. Genosse F. L. Kagan ist – wie alle anderen im Terminal – in Wattehose, Pelzjacke, Filzstiefel und Pelzmütze gekleidet und hat eine gerötete Nase. Ein Zeichen der Kälte – oder …? Die Kälte macht vor keinem Halt, die Menschen im Terminal bewegen Beine und Hände. Ich friere auch, lasse es mir aber nicht anmerken. Rolf wiederholt ständig: „Ist das saukalt!“
Mit einem Kleinbus fahren wir zum Hotel, dem Gästehaus von „Bratskestroj“ am nahegelegenen Bratsker Morie – ein Stausee, genannt Bratsker Meer –, beziehen unsere zwei Zweibettzimmer; Jochen und Wolfgang und Rolf und ich. Zum Schlafen sind wir nicht aufgelegt, der nächtliche Morgen ist vom Mond hell erleuchtet, unzählige Sterne glitzern am Himmel, wir stehen auf dem Balkon und schauen weit auf das Meer. In der Ferne flimmern vereinzelt Lichter, irgendwas bewegt sich dort von Zeit zu Zeit. Es ist nicht zu glauben, vor unseren Augen liegt der Stausee von Bratsk. Wir beschließen, nach draußen zu gehen, um unsere Neugier zu stillen. Aus dem Handgepäck entnehmen wir unsere warmen Pullover und Jacken, ziehen sie über, verlassen das Hotelgebäude und betreten den frostigen Boden, der bei jedem Schritt unter unseren Schuhsohlen klirrt.
Es sind Eisangler, die auf dem Eimer oder Hocker vor einem Eisloch sitzen, daneben die Ausbeute und eine leuchtende Öllampe, in der ungeschützten Hand die Anglerschnur. Wir beobachten mehrere vermummte Angler, die mit ungeschützten Händen ihre Beute aus dem eisigen Wasser ziehen. Zwei Eisangler bedienen sich aus einer Wodkaflasche, reichen uns das feurige Getränk wie alte Kameraden, bitten, einen Schluck zu nehmen, das lindert die Kälte, übersetzt Wolfgang. Wir danken freundlich fürs Angebot. Im Vollmond und völlig durchfroren eilen wir zum Hotel zurück, um ein heißes Duschbad zu nehmen und vielleicht ein wenig zu schlafen.
Um 10:30 Uhr werden wir zur Besprechung mit Vertretern der Direktion von „Bratskestroj“ im Hotelrestaurant erwartet. Genosse F. L. Kagan begrüßt uns im Speisesaal, fragt, ob wir gut geschlafen haben, was wir natürlich einstimmig bejahen. Den anwesenden Genossen werden wir mit Vornamen, Nachnamen und zukünftiger Funktion vorgestellt.
Gästehaus
Ich gewinne zunehmend den Eindruck, dass unser Einsatz in Sibirien perfekt ist, doch damit kann ich mich noch nicht abfinden. Je zielgerichteter das Vorhaben besprochen wird, desto mehr Zweifel kommen in mir auf, was meine Fähigkeiten in Bezug auf das Bauen in sibirischer Kälte betrifft.
„Ohne ausreichende Winterbauerfahrungen soll ich Verantwortung übernehmen, die auf zentraler Partei- und Regierungsebene in Medien bewertet wird?“ Eine innere Stimme flüstert mir zu: „Günter, mutest du dir das wirklich zu? Überleg es dir gut, bevor du tief fällst, wie ein nasser Sack. – Was werden Helene und Halina dazu sagen? – Deine lieben Arbeitskollegen werden es rechtzeitig aus Presseberichten erfahren, denn die Medien werden gackern: Die sowjetischen Genossen haben den DDR-Brigadeleiter aus Sibirien verjagt.“ Mein Kopf brummt, meine Unentschlossenheit quält mich und immer die Frage: Was tun? Verflucht noch mal. Ich bereue es, das weise Büchlein Lenins „Was tun?“ nicht gelesen zu haben. Zu Parteiversammlungen empfiehlt man uns Genossen stets diese politische Lektüre, aber wir haben nie Zeit, der Empfehlung nachzukommen.
Wir nehmen am gut gedeckten Frühstückstisch Platz. Eine kräftige Suppe mit Sahne verfeinert, Weißbrot, Butter, hartgekochte und Spiegeleier, verschiedene Wurst- und Käsesorten, süße Sahne, die ich gerne trinke, obwohl ich weiß, welche Folgen diese Köstlichkeit bei mir nach sich zieht, Kaffee, Tee und Mineralwasser. Das ständige Sitzen stoppt die verdaute Nahrung. Mein Bauch wird immer dicker, mein Unwohlsein größer.
Im Laufe des zwangslosen Tischgespräches beobachte ich einen Tischgast, der mit wasserähnlicher Flüssigkeit andauernd Tassen füllt. Er bedient sich dabei einer Teekanne. Die netten Tischgenossen werden immer fröhlicher und gesprächiger.
In seiner Tischrede dankt Genosse Kagan für die Bereitschaft, am Ust-Ilimsker Bauvorhaben mitzuwirken, bedauert allerdings, dass nur fünfzig Brigademitglieder für zwölf Monate anreisen werden, und bittet uns, im Laufe des Jahres das Angebot zu überdenken.
Abschließend informiert Genosse Kagan: „Wir fahren mit einem Kleinbus nach Ust Ilimsk zur Baustelle.“ Kagan drängt zur Eile. Ein „Na zdorov’ye!“ folgt, keinem entgeht unsere Trink-Zurückhaltung. „So nicht!“, sind Stimmen zu hören, andere Gäste bitten uns, die Gläser vollständig auszutrinken, manche sagen, es wäre sonst eine Beleidigung des Gastgebers. Wir einigen uns, in drei Zügen die Gläser zu leeren.
Im Stillen sage ich: „Günter, bleib ruhig, morgen, in Ust Ilimsk, entscheidet sich, ob du dieser Aufgabe gewachsen bist, dein Fragespiegel steht dir beratend zu Seite.“ Meine innere Spannung steigt wie ein Thermometer, mein Hosengurt spannt, der Wodka hält mich wach.
Starker Frost bläst ins Gesicht, der Himmel ist blau, Schnee und Eis bedecken das Umfeld, Passanten sind in Wattehosen, dicke Pelzjacken und Pelzmützen eingehüllt und tragen Filzstiefel. Ein Hund mit eingezogenem Schwanz, von der Kälte getrieben, läuft geduckt an uns vorbei. Da kommen die Genossen F. L. Kagan, G. A. Jurifijew und W. W. Guckow im Eilschritt und werden beim Anblick des besetzten Busses stutzig. Es gibt eine laute Diskussion, aus der Übersetzung geht hervor, dass die fröhliche Gesellschaft die DDR-Delegation nach Ust Ilimsk begleiten möchte. Unter starkem Druck von Kagan verlassen alle, bis auf den Kraftfahrer, den Kleinbus, ein wankender Genosse schläft und muss gestützt und herausgetragen werden.
Es ist 14:00 Uhr geworden, eine Strecke von über zweihundert Kilometern liegt vor uns. Wir sind sieben Delegationsmitglieder: F. L. Kagan, W. W. Guckow und G. A. Jurifijew – Kaderverantwortlicher bei Bratskestroj –, Rolf, Jochen, Wolfgang und Günter.
Bratsk ist eine junge Stadt. An der Straße stehen lange, neue Wohnblöcke mit fünf und mehr Etagen, Kaufhäuser und Schulen, im Hintergrund das Wasserkraftwerk, der Staudamm, das bereits fertiggestellte Zellulosewerk mit einer großen Rohholzlagerfläche und viele Industrieanlagen.
Die Fernverkehrsstraße nach Ust Ilimsk ist breit, schnurgerade, auffallend ohne Schlaglöcher, lange Abschnitte sind eben, wie auf einem stillen See. Genossen Kagan begründet diesen Zustand: „Die Straße bis Ust Ilimsk wurde vom Straßenbaumeister Frost nur für die Winterzeit gebaut, im Sommer sieht es anders aus.“
Links und rechts der Straße stehen, oft in dichten Abständen, Gedenkstätten aus Stein, Tafeln, Lenkrädern und kleinen Autoteilen, die an Unfälle im Straßenverkehr mit tödlichem Ausgang erinnern sollen und Kraftfahrer zur Einhaltung der Straßenverkehrsordnung ermahnen sollen.
Fernverkehrsstraße Bratsk – Ust Ilimsk im Winter
Kagan berichtet: „Ermüdungserscheinungen auf dieser eintönigen Strecke, überhöhte Geschwindigkeit und Alkohol sind die häufigsten Ursachen der Verkehrsunfälle.“
Links und rechts der Straße ist nur Taiga zu sehen, aber kein Betrieb. Erst nach über einer Stunde Fahrt kommt uns ein LKW entgegen. Die Fahrt ermüdet tatsächlich, durch die immer gleiche und verschneite Landschaft. Überall nur Bäume. In Kilometerabständen stehen Hinweisschilder am Straßenrand, mit der Aufschrift: „Woditiel, prowier tormosa“ („Kraftfahrer, betätige die Bremse“).
Wir legen eine Pause ein. Der Kraftfahrer eilt zum Wald, bringt kleine Äste, tunkt einen Lappen in Diesel ein, zündet ihn an und so ist die Feuerstätte mit dunklen Rauchschwaden mitten auf der Fahrbahn. Hände und Füße flattern über dem Feuer, Raucher verpesten zusätzlich die sibirische Luft, Jochen und Wolfgang üben Kniebeuge, Rolf und ich schließen uns an. Wir bewegen unsere Füße, die nicht ausreichend geschützt sind. Unsere Begleiter frieren auch, gehen neben der Feuerstätte auf und ab, diskutieren und lachen. Ich fühle mich kugelrund, es drückt und zwickt überall, meinen Mitstreitern geht es auch so.
Die Fahrt wird fortgesetzt. Es wird immer dunkler, es gibt keinen Gegenverkehr mehr. Der Himmel ist wolkenlos, die ersten Himmelskörper glitzern, es ist sehr frostig und windig, man schätzt unter minus dreißig Grad Celsius.
Wir nähern uns dem Ziel, der Stadt Ust Ilimsk. Rechts und links der Fahrbahn ist immer noch die Taiga, doch vor uns sind die ersten Lichter. Die Stadt ist hell beleuchtet, weit entfernt sind die Staumauer und das Wasserkraftwerk. Wir fahren an Neubaublöcken vorbei und immer betonen unsere Begleiter: Ust Ilimsk ist eine junge Stadt von Komsomol-Brigaden erbaut. Wir sehen Menschen auf dem Fußweg in Pelz- und Wattejacken gehüllt, Gesichter sind nicht zu erkennen.
Das ist Ust Ilimsk!
Unser Kleinbus hält auf einer Anhöhe vor einem mehrstöckigen Block. Wir steigen aus. Genosse Kagan erklärt, das sei ein Wohnheim, in dem auch die ungarische Jugendbrigade untergebracht sei, im nächsten Block wohnen bulgarische Jugendfreunde.
Erschöpft, ermüdet, fast erfroren, mit einem Gefühl des Unwohlseins im Bauch, aber neugierig betreten wir das Gebäude. Beim Portier werden wir gemeldet und gehen in eine obere Etagen zu den ungarischen Jugendfreunden. In der vierten Etage begrüßt uns Laszlo Papp, der Stellvertreter des ungarischen Brigadeleiters, und ein Rundgang durch die Räume folgt. Wir sehen Wohnunterkünfte, Gemeinschaftsräume und einen geschmückten Kulturraum. Unser Gesprächspartner erzählt freimütig und ausführlich über den Tagesablauf seiner Brigade.
In manchen Zimmern sehe ich ungarische Jugendfreunde in Damengesellschaft, im Klubraum wird gelesen oder Schach gespielt. Obwohl es draußen sehr kalt ist, ist es im Wohnheim recht warm. Die Bewohner sind leicht gekleidet und machen einen zufriedenen Eindruck auf mich. Meine Meinung von einer Jugendbrigade muss ich korrigieren. Bis dahin glaubte ich, Jugendfreunden im Alter zwischen 18 und maximal 25 Jahren zu begegnen. Es sind jedoch Männer im besten Alter, sogar 40-jährige, aber auch jüngere.
Mein Unwohlsein durch das Völlegefühl wird immer größer, mir ist zum Erbrechen, ich wünsche mir einen Stuhlgang und sage zu mir selbst: „Günter, du musst doch völlig verstopft sein.“
Genosse Kagan drängt zur Weiterfahrt, es ist nach 22:00 Uhr Ortzeit, wir müssen zum Hotel, denn das Abendessen wartet. „Oh, mein Gott, schon wieder Essen“, protestiert eine innere Stimme, eine andere antwortet zärtlich: „Aber dein Magen ist leer, es gibt wieder süße Sahne.“
Im Hotelrestaurant werden wir erwartet. Der 1. Sekretär des örtlichen Komsomol, Genosse L. K. Schagin und andere Genossen kommen uns entgegen.
Wir werden vorgestellt und wie in Moskau und Bratsk heißt es: „Wie? Ach, Günter ist dein Name, schön, Günter ist der Kommandeur der DDR-Brigade.“ Und auch diesmal erfasst mich ein schauderndes Gefühl.
Der Tisch ist mit kulinarischen Genüssen aus der russischen Küche gedeckt, wir werden gebeten, Platz zu nehmen, meine Augen strahlen wie Leuchtkörper über den kulinarischen Köstlichkeiten.
Die Begrüßungsansprache hält Genosse Schagin, der davon ausgeht, Günter, Jochen und Wolfgang bleiben in Ust Ilimsk, der Rest der DDR-Jugendbrigade komme in den nächsten Tagen nach.
Rolf bedankt sich für den Empfang und biegt sofort das Missverständnis gerade. Er wiederholt ausführlich unser Angebot zum Einsatz auf der Baustelle des Zellulosekombinats.
Zwischenzeitlich füllt ein Kellner die Gläser mit Wodka, Genosse Schagin wünscht uns im Trinkspruch einen angenehmen Aufenthalt sowie eine baldige Ankunft der DDR-Jugendbrigade in Ust Ilimsk und bittet, das Glas zu erheben. „Na zdorov’ye!“, wird gerufen, die Gläser werden gehoben, doch bei uns nur andeutungsweise, was erneut zu Protesten führt.
Wir essen und essen, alles ist lecker, ich leere Gläser mit süßer Sahne. Das bevorzugte Betäubungsmittel am kulinarisch gedeckten Tisch ist die Fressgier. Sie stumpft die Sinne ab und vernebelt die Vernunft eines Menschen, der noch vor kurzem Besserung versprach.
Es ist Mitternacht, wir verabschieden uns und gehen vollgefressen auf unsere Zimmer. Ich habe Kopfschmerzen, meine Augen und meine Glieder sind schwach, ich fühle mich kugelrund und elend, hoffe, am nächsten Tag geht es mir besser.
Am nächsten Morgen verspüre ich auch kein Anzeichen zum Stuhlgang. Wir treffen uns, wo wir uns in der Nacht verabschiedet haben, am gedeckten Frühstückstisch. Und was mache ich, trotz guten Vorsatzes? Ich esse und trinke – auch süße Sahne. Ich nehme mir ernsthaft vor, wenn bis Mittag nichts geschieht, hole ich medizinischen Rat ein.
Nach dem Frühstück – diesmal ohne „Na zdorov’ye!“ – fahren wir zur Baustellendirektion. Ich fühle mich unwohl, völlig entkräftet, aufgedunsen und unkonzentriert.
Der heutige Tag ist der entscheidende, ich bin für die Auswahl eines geeigneten Bauobjektes verantwortlich, fünfzig Jugendfreunde sollen das Bauvorhaben in einem Jahr fertigstellen. Außerdem steht mein umfangreicher Fragespiegel auf dem Programm. Oh Gott, oh Gott, mir geht’s nicht gut. Wie stehe ich das durch?
Baustellendirektion
Wir werden herzlich begrüßt. und wieder folgt der Hinweis: „Ach, Günter ist dein Name, schön, Günter ist der Kommandeur der DDR-Brigade.“ Diesmal bekomme ich kein Schaudern, dafür zittrige Beine.
Sofort kommen wir zur Sache. Für sieben Bauprojekte liegen Baupläne auf mehreren Tischen ausgebreitet. Die Baudirektion ist vom Angebot bereits informiert. Einige Mitarbeiter stehen uns beratend zur Seite. Die Spannung wächst in mir, die Konzentration – trotz körperlicher Schwäche – nimmt zu. Ein Projektblatt folgt dem anderen.
Während der Konzentration erfasst mich plötzlich der langersehnte Wunsch, ein Klo aufzusuchen, der Zeitpunkt ist unpassend. Oh Gott, die Bewegung wird immer willkürlicher, wie der Druck einer Lava vor dem Vulkanausbruch! Was tun? Einfach wegrennen? Nein, es wäre taktlos, aber taktlos wäre es auch, hier in diesem Raum zu explodieren. Mit angeschwollenen Augen schaue ich ratlos zu Jochen und Wolfgang, flehe sie an und bitte um eine kurze Pause.
Im Sekretariat frage ich auf Russisch nach einer Toilette.
„Draußen finden Sie eine“, bekomme ich zu hören.
Ich renne wie ein Besessener, kneife meine Arschbacken zusammen, es sind etwa zehn Meter bis zum Plumpsklo. Hinter mir höre ich ein Wettlaufen, Rolf, Jochen, Wolfgang – mit dem gleichen Problem behaftet – laufen mir nach, ich höre treibende Rufe. Unterwegs befreie ich mich bereits vom Hosengurt, kurz vor dem Eingang fallen meine Hosen herunter, ich stolpere an der Schwelle, noch ein Augenblick und ich sitze auf dem allerhöchsten Thron. Sekunden später bin ich der glücklichste Mensch, nicht nur in Ust Ilimsk.
Vor dem Plumpsklo endet der Wettlauf meiner lieben Freunde. Und nun muss ich mir das laute Stöhnen des Trios anhören. Es klingt wie menschliches Leiden in einer Folterkammer. Jetzt kann ich lachen, bin befreit von den Qualen, atme tief durch und beende die Sitzung, schaue rechts und links nach Toilettenpapier, finde nur säuberlich zugeschnittenes Zeitungspapier der „Prawda“ und ungewollt reinige ich mein Hinterteil mit Breschnews Abbildung.
Erleichtert vom Ballast, setzen wir unsere Arbeit fort, studieren Leistungsverzeichnisse, Materialzusammenstellungen, schauen Details an und diskutieren länger als vor der Pause. Wir entscheiden uns für Teilobjekte der Abwasserreinigungsanlage, an denen wenige Ausbauleistungen auszuführen sind.
Die Mitarbeiter der technischen Abteilung sind sehr nett und entgegenkommend, es gibt absolut keine Überheblichkeit, keine Arroganz, keine Aufdringlichkeit. Sie betrachten uns als herzliche Freunde und freuen sich auf die baldige Zusammenarbeit.
Bratskjestroj – und wir sind damit zufrieden.
Jetzt folgt die Baustellenrundfahrt mit dem Hauptingenieur der Großbaustelle, Genosse J. P. Pietruchno. Meinen Fragespiegel halte ich bereit, während der Fahrt werde ich um Antworten bitten. Genosse Pietruchno gibt einen ausführlichen Überblick über das Bauvorhaben Holzverarbeitungskomplex: „Neben der Sowjetunion und der DDR haben sich Polen, Rumänien, Bulgarien und Ungarn dem gemeinsamen Unternehmen angeschlossen. Die DDR liefert bereits 40.000 Tonnen Stahlkonstruktionen, über weitere Lieferungen verhandeln wir, aus denen eine 890 Meter lange Produktionshalle montiert wird. Unter ihrem Dach, mit teilweise über hundert Metern Höhe unübersehbar, werden sich die wesentlichen Prozesse der Zellulosegewinnung abspielen. Die Konstruktionen aus der DDR, aus dem VEB Metallleichtbaukombinat, weisen eine einwandfreie Qualität auf, wir sind sehr zufrieden. Die Beratungsingenieure Alfred S., Herbert S. und Hans E. sind hochqualifizierte Ingenieure und leisten gute Arbeit“, sagt unser Gesprächspartner.
„Wie viele Bauarbeiter sind an diesem Bauvorhaben beteiligt?“, fragt Wolfgang.
Darauf Genosse Pietruchno: „Wir haben hier momentan zirka 6.000 Menschen verschiedener Nationalitäten, darunter hundert Kraftfahrer aus Bulgarien und dreihundert Baufacharbeiter aus Ungarn.“
Jochen stellt fest: „Die Taiga wird abgeholzt, es werden jährlich sechs Millionen Kubikmeter Holz gefällt, das ist eine fast astronomische Menge. Das ökologische Gleichgewicht wird somit gewaltig gestört.“
„Nein, nein, Jochen. Ich weiß, was Sie fragen wollen“, unterbricht Jewgeni Pietruchno schnell und antwortet: „Unsere Nachfahren sollen nicht vor einer Wüste stehen, wie sich das gegenwärtig im brasilianischen Urwald vollzieht, wo Millionen von Quadratkilometern abgeholzt werden, den Einheimischen die Lebensgrundlage entzogen und das ökologische Gleichgewicht zertört wird. Nein, Jochen, die Taiga mit unzähligen Lärchen, Fichten, Kiefern, Tannen, aber auch unzählige Birken und anderem Gewächs soll im Radius von vierzig Kilometern abgeholzt werden, eine Aufforstung folgt sofort. Das gewonnene Holz wird unverzüglich verarbeitet. Laut unseren Berechnungen geht man davon aus, wenn der Radius sich schließt, stehen ausgewachsene neue Bäume zum Abholzen bereit. Auf kein Fall wird das ökologische Gleichgewicht gestört.“
Unser Kleinbus bewegt sich langsam, alle schweigen nach den interessanten Ausführungen.
Ich sehe, wie Bauarbeiter Beton schaufeln, Bretter und Bohlen transportieren, wie Kraftfahrzeuge Beton in offenen Wannen transportieren, wir fahren an Betonmischanlagen vorbei, die voller Dampf sind, Lastenkrane bewegen Betonteile auf höhere Ebenen und das alles im Monat Dezember bei Frost von minus dreißig Grad Celsius. Bei uns in der DDR wäre das undenkbar.
Jetzt ist für mich die Zeit gekommen, ich bin selbstsicher geworden und erlaube mir, die schweigsame Stille mit der ersten Frage aus meinem Fragespiegel, in zuvor eingeübtem Russisch, zu unterbrechen: „Genosse Pietruchno. Aus den Betonmischanlagen dampft es so stark, dass man im Umkreis der Anlage nichts sehen kann, der Beton wird in offenen LKW-Wannen transportiert und in Schalungen eingebaut. Wie wird der Beton bei diesen frostigen Temperaturen hergestellt?“
„Was?“, fragt mein Gesprächspartner und ich wiederhole meine Frage in der Annahme, ich habe mich unverständlich ausgedrückt.
Er horcht aufmerksam zu und ohne zu überlegen kommt prompt die Antwort: „Wie im europäischen Teil der Sowjetunion.“ Ohne meinen verblüfften Gesichtsausdruck zu beachten, setzt Pietruchno seine Ausführungen zur Standortbebauung und Gesamttechnologie fort.
Nun interessieren mich seine Ausführungen weniger, ich strenge mich an, die nächsten Fragen aus meinem Fragespiegel genauer, überlegter ins Russische zu übersetzen.
Nach längerem Schweigen nehme ich einen zweiten Anlauf mit Fragen zum Beton- und Zuschlagtransport, zur Zuschlaggewinnung, zum Betoneinbau und zur Betonnachbehandlung. Und wieder kommen Antworten mit freundlichem Akzent: „Wie im europäischen Teil der Sowjetunion.“
Mein Gott, verarscht er mich oder sagt er die Wahrheit?, frage ich mich. Auch Jochen und Wolfgang sind verblüfft. Weitere Fragen aus meinem umfangreichen Fragespiegel stelle ich nicht mehr. Ich verhalte mich ruhig, bin innerlich aufgewühlt, gekränkt, denke nach und komme zum Entschluss: Günter, du bleibst bei Helene und Halina zu Hause in Zeitz, basta!
Die weiteren Ausführungen unseres lieben Genossen Jewgeni P. Pietruchno interessieren mich nicht mehr, gedanklich bin ich abwesend, alles geht mir am Arsch vorbei.
Wir halten neben einer Betonmischanlage und steigen aus, die Kälte erfasst mich. Die Bauarbeiter sind warm gekleidet, Bärte und Augenbrauen mit frostigem Reif bedeckt, aus ihren Nasenlöchern tropft es, die Hälse sind eingezogen, die Zigaretten haften zwischen den Lippen, als wären sie angefroren.
„Mein Gott, Günter, wie sollen deine Jungs hier Bauleistungen vollbringen, um Teile einer Abwasserreinigungsanlage zu bauen?“
Ich sehe auch hier keine Jugendlichen, alle Bauarbeiter sind im reifen Alter. Oder sind das doch Jugendliche, die in der rauen sibirischen Kälte vorzeitig alt geworden sind?
Meine Entscheidung ist doch richtig, ich bleibe zu Hause bei Helene und Halina. Wie das Klingeln in der Kirche klirrt bei jedem Schritt der Frost unter den Schuhsohlen. Wir frieren. In der Betonmischanlage sehe ich keine Besonderheiten, die auf eine für mich neue Winterbaubetontechnologie schließen ließen.
Nein, das kann ich nicht verantworten, unter diesen Bedingungen eine so wichtige Aufgabe zu übernehmen, die auf zentraler Staats- und Parteiebene kontrolliert wird, nein, nein, nein. Trotz meines Entschlusses, muss ich eine Winterbautechnologie ausfindig machen, für meine Arbeitskollegen in der Heimat, denn sie werden danach fragen.
Ich nehme mir vor, im Hotel offen mit Rolf über meine Abdankung von der Funktion als Leiter der DDR-Jugendbrigade zu reden. Diese Aufgabe ist eine Selbstverstümmelung, ich falle wie ein Stein in den Brunnen und komme nie wieder hoch.
„Wie sieht der Sommer in diesem Gebiet aus?“, fragt Wolfgang.
„Der Sommer ist sehr kurz. Starke Fröste halten sich von Anfang Oktober bis Ende April oder Anfang Mai. Die Monate Mai, Juni, Juli sind die schönsten Sommermonate, im Juni und im Juli herrscht tropische Hitze, plus vierzig Grad Cesius sind keine Seltenheit. Die Monate April und August sind Übergangsmonate mit Tauwetter, Regen, Matsch oder erstem Schnee. In dieser Zeit sind die Baustraßen schlecht passierbar. Aber unser Baumeister Frost ist wachsam, wartet, schlägt zu und wir haben wieder freie Straßen und Wege“, antwortet schmunzelnd unser Begleiter.
Ich rede mit keinem, wirke verschlossen, was unserem Begleiter nicht entgeht. So stellt mir Pietruchno die Frage: „Genosse, Leiter der DDR-Brigade, Günter! Wie ist Ihr Eindruck von der Baustelle Holzverarbeitungskomplex?“
Ich zucke zusammen, wenn ich mit meiner zukünftigen Funktionsbezeichnung angesprochen werde, und antworte: „Genosse Pietruchno, ich habe hohe Achtung vor den Bauarbeitern, Meistern, Bauleitern und allen anderen Mitarbeitern, die den Mut aufbringen, unter solch schwierigen klimatischen Bedingungen zu arbeiten. Grandiose Bauwerke sind in Bratsk, Ust Ilimsk und anderen sibirischen Städten entstanden und ich frage mich stets, welche Winterbautechnologie die Genossen anwenden. Welches Geheimnis steckt dahinter? Für mich ist das auch nach der Baustellenrundfahrt noch immer ein Rätsel.“
„Günter, es läuft ganz einfach: Probleme gibt es überall, man muss sie nur lösen können“, antwortet mein Gesprächspartner ganz gelassen, schaut mich freundlich an, berührt meine Schulter und fügt hinzu: „Günter, es wird schon werden.“
Im Hotelrestaurant werden wir bereits erwartet. Der Tisch ist reichlich gedeckt. In seiner Begrüßungsansprache dankt Genosse Rotkin für unsere Bereitschaft, am Objekt Verantwortung zu übernehmen, erwähnt die Bedeutung des Vorhabens für die sozialistische Staatengemeinschaft, lobt die vorbildliche Leistung aller Jugendbrigaden, bittet, Brüdergrüße an die Genossen in der Heimat auszurichten, und schlägt vor, das Glas Wodka auf die Freundschaft zwischen der UdSSR und der DDR zu trinken. Die Gesichter hellen sich auf, alle stehen mit vollem Glas in der Hand und es wird angestoßen, „Na zdorov’ye!“ gesagt und getrunken.
Wir – die vier Hauptakteure – trinken symbolisch, nur mit Lippenberührung, was unseren Tischnachbarn nicht entgeht. Vom hinteren Teil des Tisches ruft Gendi Iwanowitsch: „Genosse Rolf, Gjunter, Jochen und Wolfgang, bitte trinkt mit uns, nehmt euch kein Bespiel an einigen Mitgliedern eurer Zentralen SED-Parteiführung, sie sagen nur am Anfang eines Trinkgelages: Nein, nein, wir trinken nicht!, und nippen nur, später liegen sie betrunken unterm Tisch und schreien: Gießt noch einen Wodka ein.“
Gendi Iwanowitsch wird zur Ordnung gerufen. „Das stimmt“, verteidigt er sich und begründet seine Aussage: „Mein Freund Pawel Pawlowitsch hatte Kellnerdienst bei einem Empfang in Moskau, deshalb weiß ich es auch. Namen darf ich nicht nennen, aber ein kleiner dicker war auch dabei.“
Viele schmunzeln, manche bleiben ernst, manche sagen was vom unverschämten Trottel und meinen Gendi Iwanowitsch oder den kleinen Dicken unterm Tisch.
Während des Essens werde ich nur mit Towarisch Gjunter, Kommandeur der DDR-Brigade, angesprochen, was mir Bauchschmerzen bereitet. Ich mache dazu ein freundliches Gesicht und danke mit theatralischer Herzlichkeit für diese Bezeichnung. Das Essen ist vorzüglich, wir sind hungrig. Natürlich lass ich mir auch diesmal die süße Sahne nicht entgehen, es gibt reichlich davon. Wir trinken Tee, Bier, Mineralwasser, Limonade und stets werden Trinksprüche auf die baldige Ankunft unserer Jugendbrigade erhoben. Die Trinksprüche werden immer länger, geschmückter und alle sind glücklich. Mittlerweile habe ich das zweite Glas Wodka getrunken, mir reicht es, auch meine Kollegen trinken nicht mehr.
Es ist spät geworden, fast 24 Stunden sind wir auf den Beinen, Müdigkeit vom anstrengenden Tag macht sich breit. Wir verabschieden uns und gehen in unsere Hotelzimmer. Mit Rolf bewohne ich ein Zimmer. Jochen und Wolfgang wollen zum Schneebad, was Rolf und ich freundlich ablehnen, begründet mit unserer Müdigkeit.
Rolf kommt gleich zur Sache und fragt, wie ich den heutigen Tag einschätze. Meine Antwort: „Rolf, der Tag war sehr anstrengend, was wir gesehen haben, ist sehr interessant, ich habe hohe Achtung vor Bauarbeitern, die in diesen geografischen Breiten arbeiten. Rolf, ich bin ehrlich und sage ohne Umschweife: Ich traue es mir nicht zu, diese Aufgabe als Leiter einer DDR-Jugendbrigade unter den sibirischen Bedingungen zu übernehmen. Unsere DDR-Jugend wird mit Wattehandschuhen angefasst, kennt keine Härte, keine sibirische Kälte. Und das ausgewählte Vorhaben soll in nur zwölf Monaten fertiggestellt werden. Es tut mir leid, Rolf.“
Rolf überlegt eine Weile, geht zum Fenster, dreht sich um und sagt: „Günter, überlege es dir noch mal reiflich. Das Ministerium für Bauwesen hat dich für diese Aufgabe bestimmt, wir haben dem ZK der SED eine Vollzugsmeldung gebracht, indem wir dich, Jochen und Wolfgang als DDR-Brigadeleitung benannt haben.“
Holzhütte am Rande von Ust Ilimsk
Das ist ein Schlag ins Gesicht. Wenn ich mich stur stelle und auch Berlin Nein sagt, bin ich weg vom Fenster, für alle Zeiten. Ich quäle mich mit der Frage: Was tun? Ich kann nicht einschlafen und immer werfen sich neue Fragen auf. Wie kann man bei diesen Temperaturen betonieren? Wie kann man auf frostigem Boden Fundamente stellen? Mein Fragespiegel wurde nicht beantwortet. Eins habe ich feststellen müssen: Alle Bauarbeiter frieren und trotzdem arbeiten sie im Freien. Ich denke an die Ungarn und Bulgaren, die sich gut eingelebt haben. In Gesprächen klagte keiner. Ich merke, dass sich Rolf von einer Seite auf die andere wälzt. Auch er kann nicht schlafen. Wir setzen unsere Diskussion fort, analysieren meine Bedenken, einigen uns, dass ich Zuarbeiten zum Reisebericht anfertigen werde, mit meinen Vorstellungen zum erfolgreichen Einsatz einer DDR-Jugendbrigade. Also bin ich bereits doch von meiner Entscheidung zurückgetreten, vielleicht aus Angst vor den Folgen oder der Scham vor mir selbst. Ich bleibe Leiter der DDR-Jugendbrigade.
Nach dem Frühstück, es ist 9:30 Uhr, verabschieden wir uns von Ust Ilimsk und treten unsere Rückfahrt nach Bratsk an.
Es ist sehr frostig, man sagt, etwa minus 35 Grad Celsius, das verspüren wir an Händen, Füßen, ja, am ganzen Körper. An den Gedanken, hier würde irgendwann ein tropischer Sommer herrschen, kann ich nicht glauben. Die schnurgerade Fernverkehrsstraße liegt vor uns, wir fahren an schneebedeckten Bäumen vorbei, hin und wieder kommt uns ein Kraftfahrzeug entgegen. Unser Kleinbus fährt mit hohem Tempo, der Kraftfahrer wird zur Mäßigung der Geschwindigkeit aufgefordert. Nach etwa vier Stunden sind wir in Bratsk in der Direktion „Bratskestroj“ zum Abschlussgespräch. Noch ein Blick zum eisbedeckten Stausee, wo in der Ferne Eisangler ihrem Hobby nachgehen. Die Fahrt zum Flughafen beginnt.
Während des Rückfluges lege ich mir gedanklich mein Zuarbeiten zu Rolfs Reisebericht zurecht. In drei Tagen soll er vorliegen, es muss schnell gehen. Ich denke an fünfzig gestandene Baufacharbeiter im Alter zwischen 25 und 35 Jahren oder älter, die ich im Bericht mit der Bezeichnung: „Freunde der sozialistischen Jugend, die gewillt sind, den Kommunismus in der ruhmreichen Sowjetunion mitzugestallten“, politisch schmücken werde. So werden die Greise im Politbüro und im Zentralkomitee der SED zufrieden sein, denke ich. Fünfzig Facharbeiter und zwei gestandene Meister, am liebsten solche Meister, die in russischer Gefangenschaft in Sibirien waren, müsste ich auswählen können. Bei solchen Überlegungen fühle ich mich gefestigt, bekomme die notwendige Lust, die Vorbereitungen voranzutreiben. Wenn meine Vorstellungen akzeptiert werden, dürfte nichts schiefgehen.
Die Begrüßung in meinem Baubetrieb ist von großer Neugier geprägt. Jeder will wissen, wie es in Sibirien tatsächlich ist, ob es wirklich so kalt ist, wie in Büchern beschrieben. Ein Neugieriger sagt direkt zu mir: „Günter, ich weiß, du bist ein ehrlicher Mensch, kein Propagandist, erzähle bitte, wie es dort wirklich ist, ich bin gespannt, ob mein Alter lügt, wenn er von seiner Gefangenschaft bei den Russen erzählt.“
Peinlich ist es mir, auf Fragen einzugehen, wie zum Beispiel der Beton bei sibirischer Kälte hergestellt, transportiert, eingebaut und nachbehandelt wird. Ich versuche, diesen Antworten auszuweichen, aber manchmal werde ich an die Wand genagelt und muss Stellung beziehen, dann antworte ich: „Diese Technologie halten die sowjetischen Freunde auch vor uns Genossen aus sozialistischen Bruderländern geheim, so lange, bis die Arbeiter tatsächlich vor Ort sind. Eine Winterbautechnologie existiert, denn ich habe von weitem gesehen, wie Beton hergestellt wird. Und ihr werdet staunen, transportiert wird der Beton in offenen Kraftfahrzeugwannen und er wird danach in Schalungen abgekippt. Das ist doch der beste Beweis, dass unsere sowjetischen Freunde eine Technologie besitzen. Es entstehen doch grandiose Bauwerke des Kommunismus im fernen sibirischen Osten der UdSSR. Wasserkraftwerke, Industriekomplexe, Städte und, und, und. Die sind genügend Beweis dafür.“
Manche antworten sarkastisch: „Das hört sich an, als wäre dort der Kommunismus, ha, ha, ha.“ Oder: „Man will dich auf diese Weise loswerden und in die Verbannung oder – wie die Russen sagen – in den GULAG schicken.“
„Wie kommst du auf so eine blöde Idee? Verbannung, GULAG!“, frage ich entsetzt.
Darauf mein Gesprächspartner logischerweise: „Wenn du dort Geheimnisträger bist, dann nageln dich die Russen fest und du bleibst ewig in Sibirien, so, wie das Stalin gemacht hat.“
„Was du über die sowjetischen Freunde redest, ist purer Unsinn. Dort sind ungarische und bulgarische Jugendbrigaden im Einsatz, sie fahren im Urlaub regelmäßig in die Heimat oder beenden ihren Einsatz, aus irgendwelchen Gründen, ohne dort festgenagelt zu werden, wie du es sagst.“
Meine Kollegen bohren weiter: „Günter, du bist doch Genosse, trägst manchmal dein Parteiabzeichen, wenn du zu Parteiversammlung gehst. Hast du wirklich nicht nach der Winterbautechnologie gefragt?“
„Mit so direkten Fragen musste ich mich zurückhalten, wir waren nie unter vier Augen, ich wollte meine sowjetischen Gesprächspartner nicht zur Preisgabe der Geheimnisse der Winterbautechnologie zwingen, damit ihnen Verhöre beim KGB erspart bleiben.“
Da fällt mir wieder einer ins Wort: „Freunde! Günter kennt bestimmt die Winterbautechnologie, will sie bloß nicht verraten und hat Angst, Schläge zu bekommen. Wer möchte schon bei uns im frostigen Winter arbeiten?“
Ich verspreche, nach Beendigung meines Einsatzes in Ust Ilimsk diese geheimnisvolle Winterbautechnologie in unserem Baubetrieb bekanntzugeben.
Ich habe seit Tagen keine neuen Informationen zu Ust Ilimsk. Das Warten strapaziert meine Nerven, draußen ist es nasskalt, hin und wieder fällt Schnee. Meine Arbeit läuft nicht so richtig, meine Gedanken sind in Ust Ilimsk. Die Betriebsleitung fragt ständig: „Wann geht’s los?“
In den Wintermonaten ist die Arbeitsproduktivität auf Baustellen sehr schwach, fast null, in solch einer Situation wird viel gegammelt. Verärgerte Bauleiter machen mir Vorwürfe, keine Winterbautechnologie aus Sibirien mitgebracht zu haben, und jammern: „So könnten wir auch im Winter den Aufbau des Sozialismus in unserer Republik vorantreiben. Denn von der Sowjetunion lernen heißt Siegen lernen. Und du hast die Erfahrungen der sowjetischen Genossen in Sibirien nicht mitgebracht“, klagen manche Arbeitskollegen.
Darauf kann ich nur antworten: „Sicher ist, dass der nächste Winter kommt, dann werden wir um ein Jahr reicher an Erfahrungen beim Aufbau des Kommunismus in der ruhmreichen Sowjetunion und des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik sein.“
Manche Bauarbeiter fragen direkt: „Wann machst du zu den Russen?“
Wenn ich solche Fragen politisch begründe, bekomme ich von Unverbesserlichen die Antwort: „Käse nicht herum, sei ehrlich, du hast Schiss bekommen, bleibst in der DDR und machst deinen Mist hier weiter.“
Helene und Halina finden sich langsam mit meiner erneuten Tätigkeit im Ausland ab. Mein Versprechen muss ich halten und beim Kauf eines Pudels aktive Hilfe leisten. Erst suchen wir in Tageszeitungen nach Angeboten, dann folgen telefonische Anrufe, die erfolglos bleiben.
In Leipzig werden wir fündig. Die Frau bittet uns ins Wohnzimmer, holt einen runden Korb mit einem weißen Tuch bedeckt, deckt auf und wir sehen drei wollige Welpen mit schwarzen Kulleraugen. Halina stürzt sich auf den Korb. Die Frau rückt zur Seite und belehrt uns: „Die jungen Welpen dürfen nicht angefasst werden, sie sind erst fünf Tage alt.“
„Sie wollen uns doch einen verkaufen“, klagt Halina.
„Natürlich werde ich euch einen verkaufen, aber erst nach einer Schonzeit von vier Wochen.“
„So lange?“, jammert Halina.
Die Frau sagt: „Du kannst dir einen aussuchen, ihr seid die ersten Käufer. Der hier hat als Erster das Tageslicht erblickt und ist auch der größte, es ist ein Weibchen.“ Sie nimmt das kleine Wesen aus dem Korb und präsentiert es uns. Halina berührt das Hündchen leicht.
Frau Schipper benötigt den Namen für das Hündchen, zwecks Eintragung in die Ahnentafel. Der Name muss mit dem Buchstaben „B“ beginnen, weil es aus dem zweiten Wurf ist. Ich mache mich lustig, zähle schnell weibliche Namen wie Berta, Bärbel oder Brigitte auf. Wir überlegen nicht lange und geben den Namen „Buffy“ an.
Ein Tag vor dem Weihnachtsfest nehmen wir den kleinen weißen Pudel Buffy in Empfang.
In der ersten Woche des neuen Jahres erreicht mich die Nachricht, ich solle Kontakt mit der Bezirksleitung der FDJ in Halle zwecks Auswahl von Jugendfreunden für den Einsatz am RGW-Vorhaben in Ust Ilimsk aufnehmen.
Mich trifft der Schlag. Die Auswahl von Jugendfreunden für den Einsatz am RGW-Vorhaben in Ust Ilimsk? Das muss doch ein Witz sein! Ich brauche gestandene Männer, die auf dem Bau groß geworden sind, und keine FDJler zum Tragen von Fahnen. Ich setze mich mit Jochen und Wolfgang telefonisch in Verbindung und erfahre, dass beide den Auftrag haben, sich in gleicher Mission bei ihrer Bezirksleitung der FDJ zu melden.
Schließlich entscheide ich, von meinem Baubetrieb aus mit dem Zentralrat der FDJ zu telefonieren, und frage Rolf, was ich in der Bezirksleitung der FDJ in Halle machen soll.
Rolf wird förmlich: „Günter, der Zentralrat der FDJ hat einen wichtigen Beschluss gefasst. Jeder Bezirk ist beauftragt worden, kurzfristig eine bestimmte Anzahl der besten Jugendlichen für diesen Einsatz in Ust Ilimsk zu bestimmen. Du, Jochen und Wolfgang, ihr sollt tatkräftig bei der Auswahl in euren Bezirken mitwirken.“
Ich frage: „Rolf, was ist aus meinen Zuarbeiten zum Reiserbericht geworden? Ich habe ausdrücklich empfohlen, gestandene Bauarbeiter für diesen Einsatz zu bestimmen.“
„Der Zentralratbeschluss sagt deutlich, die Auswahl soll in eurem Beisein stattfinden und ihr sollt die Besten ausfindig machen“, so Rolf.
Nach der Terminabsprache melde ich mich in der Bezirksleitung der FDJ in Halle. Im Warteraum sitzen fünfzehn Jugendliche zwischen achtzehn und zwanzig Jahren. Im Sekretariat werde ich informiert, dass die FDJ-Bezirksleitung den Auftrag hat, fünf Jugendfreunde für den Einsatz bei einem RGW-Vorhaben in Sibirien auszuwählen. Sie haben deutlich mehr eingeladen. Mit einem Vertreter der Bezirksleitung gehen wir in den Warteraum, ich halte einen Vortrag über Ust Ilimsk, weise ausführlich auf die schweren Arbeitsbedingungen, das raue Klima und die ungewohnten Lebensbedingungen hin und bitte alle Bewerber, gut über diese Aufgaben nachzudenken.
Ich setze mich an einen Tisch und wir rufen die jungen Leute einzeln zum Gespräch. Sie stellen sich vor, berichten über ihre politische Arbeit in der FDJ während der Berufsausbildung, in der NVA, in Betrieben, in der Stadt- oder Kreisleitung, sie sind Mitglieder der Gesellschaft für Sport (Touristik) und Technik, Mitglieder der deutsch-sowjetischen Freundschaft und Rot-Kreuz-Mitglieder. Zur Berufserfahrung fallen meist nur Randbemerkungen, wenn ich frage: „Erzähle mir über deinen beruflichen Werdegang.“
Die Antworten lauten: „Ich habe wenig Berufserfahrung, nach der Berufsausbildung bin ich sofort zur NVA gegangen.“
Oder: „Nach der Berufsausbildung war ich Mitarbeiter der Kreisleitung der FDJ und jetzt möchte wieder meinen Beruf ausüben.“
Oder: „Ich hatte ein Praktikum in der Berufsausbildung und sechs Monate lang war ich im Bau tätig.“
Oder: „Ich hatte ein Praktikum in der Berufsschule und an mehreren Wochenenden habe ich mit meinem Opa gemauert.“
Oder aber: „Ich war drei Jahre Zeitsoldat bei der NVA und jetzt möchte ich in der UdSSR schönes Geld verdienen.“
Von den fünfzehn Jugendlichen empfehle ich, drei unter Vorbehalt zu delegieren.
Ich bin empört, was mir hier geboten wird. Mit einem Kindergarten und mit Träumern kann doch kein Holzverarbeitungskomplex in Sibirien gebaut werden! Nun gut, so sehen also die Vorbereitungen zum Ust Ilimsk-Einsatz aus. Im Zentralrat der FDJ helfen Jochen, Wolfgang und ich beim Versand einheitlicher Sommer- und Winterbekleidung an ausgewählte Jugendfreunde und beim Verpacken von Werkzeugen, Haushaltausstattung, Büchern, Ausstattungs- und Agitationsmaterial für die Jugendbrigade in Ust Ilimsk.
Im Laufe des Tages erläutert Rolf das Programm zur Ausreise: „Am Freitag, den 11. März 1977 ist 16:00 Uhr Treffen vor dem Zentralrat in einheitlicher Bekleidung, anschließend Fahrt ins FDJ-Lager außerhalb von Berlin. Danach Abendessen, die Jugendfreunde lernen sich untereinander kennen. Am Sonnabend finden den ganzen Tag Vorträge, Schulungen und ein DIA-Vortrag über Bratsk und Ust Ilimsk mit Diskussion statt. Am Sonntag, den 13. März 1977: Vormittags Besichtigung des ‘Museums des Sieges der ruhmreichen Sowjetarmee’ in Berlin-Karlshorst, am Abend feierliche Verabschiedung. Die FDJ-Brigade bekommt den verpflichtenden Namen ‘Ernst Thälmann’ verliehen und ein Ehrenbanner mit auf den Weg nach Sibirien. Jeder FDJler erhält feierlich eine Delegierungsurkunde ausgehändigt. Um 18:00 Uhr ist die Abfahrt zum Flughafen Berlin-Schönefeld.“
Ein Mitarbeiter der Abteilung flüstert mir ins Ohr: „Du bekommst eine tolle einsatzbereite Truppe, das sind ausgezeichnete FDJler, einigen bin ich in den Bezirks- und Kreisleitungen der FDJ begegnet. Sie leisten gute FDJ-Arbeit, darunter sind auch viele Genossen. In einheitlich warmer Bekleidung, werdet ihr auch nicht frieren“, fügt er zynisch hinzu.
Darauf ich: „Danke, Genosse, ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit der Truppe.“
Rolf weiter: „Jeder bekommt ein festes Monatsgehalt. Baufacharbeiter 800,00 Mark, jeder Brigadier-Vorarbeiter 870,00 Mark, jeder Meister 950,00 Mark, jeder stellvertretende Brigadeleiter 1.000,00 Mark und der Brigadeleiter 1.200,00 Mark. Darüber hinaus bekommt jeder vor Ort 7,00 Rubel pro Tag auf die Hand für alltägliche Ausgaben. Nicht verbrauchte Rubel können auf ein Genexkonto transferiert werden.“
Aus der Aufstellung der Jugendfreunde entnehme ich, dass es nur 45 Jugendfreunde sind. Das durchschnittliche Alter beträgt 24 Jahre, was mich beunruhigt. Meine Bedenken flammen erneut auf. Auf meine Frage, warum es nur 45 Jugendfreunde seien, lautet die Antwort: „Mit euch dreien sind es exakt 48 Jugendfreunde. Und zwei reisen nach.“
„Rolf, wo sind die Meister, die ich angefordert habe?“, frage ich.
Prompt kommt die Antwort: „Ihr müsst aus der Brigade jemanden zum Meister machen.“
„Nein, so geht das nicht! Nicht genug, dass von den Jugendlichen keiner über eine langjährige Berufserfahrung verfügt. Du willst mir keinen erfahrenen Meister geben. Nein, das wird so nichts. Ich bestehe darauf“, antworte ich entschlossen. Meinem Protest schließen sich auch Jochen und Wolfgang an.
Während dieser Auseinandersetzung fällt mir mein 35-jähriger Arbeitskollege Erich ein, der sich für meinen Einsatz interessiert.
„Wo soll ich zwei erfahrene Meister hernehmen?“, klagt Rolf.
„Wir müssen gemeinsam zwei Meister finden. Ich bemühe mich um einen Hochbaumeister und du, Rolf, suchst einen Tiefbaumeister in den Bezirken“, antworte ich entschlossen.
Wir einigen uns friedlich. Rolf fasst zusammen: „Drei Jugendfreunde in der Brigadeleitung, zwei Meister und 45 Baufacharbeiter bilden die gesamte Jugendbrigade. Der Parteisekretär gehört selbstverständlich zur Brigadeleitung, er kommt aus der Brigade und muss vom ZK der SED noch bestätigt werden.“
„Warum vom ZK der SED bestätigen lassen?“
„Weil ihr im Ausland tätig seid, so sind die Bestimmungen“, antwortet ein Mitarbeiter der Abteilung.
„Welcher Jugendfreund macht denn den Parteisekretär in unserer Brigade?“, frage ich.
Darauf Rolf: „Der Name ist mir entfallen, ich müsste in die Aufstellung schauen, aber ich kann dir versichern, dass das ein sehr guter Genosse ist, fleißig und ein Fachmann in seinem Beruf.“ Sowas stimmt selten, denke ich.
Bei der Verabschiedung erinnert Rolf: „Vergesst nicht, euch bei euren Kreisleitungen der FDJ noch vor der Ausreise abzumelden!“
Jochen und Wolfgang antworten kurz: „Nein, nein.“
Ich antworte: „Ich brauche nicht, da ich Genosse bin und kein FDJler.“
Rolf ruft mich sofort zur Ordnung: „Was denn, du bist kein Mitglied der Freien Deutschen Jungend?“
„Mensch, ich bin 43 Jahre alt, aber ich glaube, meine Tochter ist in der FDJ.“
Jetzt wird politische Überzeugungsarbeit geleistet, denke ich, und tatsächlich setzt Rolf an: „Unser Erich Honecker, Margot Honecker, Herrmann Axen, Erich Mielke, Willi Stoph, Harry Tisch und viele andere verehrte Genossen, weit, weit über viezig, sind immer noch Mitglieder der FDJ, sogar Walter und seine Lotte waren FDJ-Mitglieder.“
„Aber ich war noch nie in einer Jugendorganisation, ich bin gleich Genosse geworden.“
Rolf lässt nicht locker: „Während des Studiums warst du nicht in der FDJ?“
„Nein, Rolf, ich bin doch aus der Volksrepublik Polen in die DDR übergesiedelt und dort bin ich in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei Genosse geworden, ohne dass ich vorher angesprochen wurde, dem Polnischen Sozialistischen Jugendverband beizutreten.“
Darauf höre ich, wie ein Mitarbeiter der Abteilung leise zu sich flüstert: „Ein Sprichwort sagt: Polen passt zum Sozialismus wie die Kuh zum Reiter.“
Ich muss mich beherrschen, nicht zu lachen.
Rolf schaut mich verblüfft an und setzt fort: „Günter, ihr seid eine Jugendbrigade, alle müssen FDJler sein, ohne Ausnahme, das musst du verstehen. Geh zur Zeitzer Kreisleitung der FDJ und melde dich als Mitglied an, vergiss dabei nicht, die Beiträge für das ganze Jahr im Voraus zu bezahlen und denke auch an den Meister, den du empfehlen willst, auch er muss FDJler sein. Ich rufe deine FDJ-Kreisleitung in Zeitz persönlich an und werde dich und deinen Meister dort avisieren. Und merke dir: ohne FDJ-Mitgliedschaft keine Reise nach Ust Ilimsk.“
Mit Erich komme ich sofort ins Gespräch. Ich bin ganz ehrlich, schildere meine Eindrücke von Arbeits- und Lebensbedingungen in Ust Ilimsk und den Gesprächen mit den Ungarn, verschönere nichts, lege die finanziellen Vorteile offen und vergesse auch nicht die Nachteile der sibirischen Kälte. Nach sorgfältiger Überlegung und Absprache mit seiner Familie stimmt Erich dem Einsatz zu, was mich sehr erfreut.
Der Baubetrieb verliert für zwölf Monate zwei Mitarbeiter, einige Arbeitskollegen bewundern unseren Mut, geben gute Hinweise, wünschen Durchhaltevermögen und gute Gesundheit.
Aber es gibt auch andere Meinungen: „Vielleicht behalten euch die Russen. Mich kriegt keiner zu den Russen, nach Sibirien überhaupt nicht. Oder? Nein, nein, dort müsste ich auch bei Frost arbeiten, bin doch nicht blöd. Ihr seid verrückt, in Sibirien zu arbeiten.“ Das sind politische Blindgänger, die vom Kommunismus in der UdSSR nichts verstehen.
Meine Kaderabteilung überreicht mir den Dienstreiseauftrag, nach Berlin zum ZK der SED zu fahren. Ich werde sofort hellhörig. Zum Zentralkomitee? Was wollen die Mächtigen von mir, dem kleinen Genossen? Diese Frage kann mir der Kaderleiter nicht beantworten, er zuckt mit seinen Schultern und sagt: „Ich weiß es nicht.“
Mein Parteisekretär fällt fast in Ohnmacht, als er davon erfährt.
Ich rufe Rolf an und frage: „In welcher Angelegenheit und wo soll ich mich im Zentralkomitee melden?“
Darauf Rolf: „Günter, du meldest dich in der Abteilung Internationale Verbindung, dort wird man dir den ausgewählten Parteiorganisator für deine Jugendbrigade vorstellen. Du musst dort unbedingt pünktlich vorstellig werden, man will dich kennenlernen, auch Fragen wirst du beantworten müssen.“
Ach, du lieber Gott, ich habe nie gedacht, irgendwann das Gebäude des Zentralkomitees der SED betreten zu müssen. Wo finde ich jetzt mein Parteiabzeichen?
Während der Bahnfahrt nach Berlin überlege ich, welche Fragen mir gestellt werden könnten. Ich lese das „Neue Deutschland“, sonst lese ich nur die „Freiheit“, dann präge ich mir russische Vokabeln für meine Aufgabe in Ust Ilimsk ein. So vergeht die Dreistundenfahrt nach Berlin-Mitte und mit der S-Bahn geht es weiter zum Alexanderplatz. Unterwegs richte ich am linken Anzugrevers mein Parteiabzeichen gerade, damit ich bei den Genossen im ZK einen guten Eindruck mache. Ich stehe vor einer Schaufensterscheibe und begutachte, ob äußerlich irgendetwas an mir auszusetzen ist.
Die Meldestelle im ZK meldet mich weiter, ich erhalte einen Passierschein und somit freien Weg in das zweite Obergeschoss, zur Abteilung Internationale Verbindung. Mit einem Paternoster fahre am ersten Obergeschoss vorbei, ich schaue neugierig in die Etage, in der Hoffnung, Erich Honecker zu entdecken. Ein Mitarbeiter der Abteilung nimmt mich in Empfang, begrüßt mich sehr freundlich und stellt mir den vierzigjährigen Johannes vor, den empfohlenen Parteiorganisator für unsere Jugendbrigade. Dann setzt der freundliche Genosse fort: „Johannes ist ein sehr guter Genosse, er ist Zimmermann von Beruf, von seiner Betriebs- und Parteilung liegt eine allseitig gute Beurteilung vor. Bei der ersten Parteiversammlung in Ust – Ust, Ust, wie heißt der Ort? – ach, Ust Ilimsk, mögen die Genossen eurer Jugendbrigade Johannes zur Wahl zum Parteiorganisator vorschlagen und ihn wählen. Denke daran, alle Berichte eurer Parteiversammlungen in Ust Ilimsk gehen uns auf dem Dienstweg über die Moskauer Botschaft zu.“ Abschließend sagt der Genosse: „Viel Glück und alles Gute in der gesellschaftspolitischen Arbeit, ständige Planerfüllung in der Bauproduktion, grüßt die Jugendbrigade von uns und schmiedet die deutsch-sowjetische Freundschaft weiter.“
Das war es, wir verabschieden uns.
Die bevorstehende Ausreise nach Ust Ilimsk stimmt Helene und Halina sehr traurig. Doch auch Erich lässt zwei Mädels und die Frau zurück.
Buffy hat sich an uns gewöhnt, hört auf ihren Namen, hat schönes weißes Fell, ist sehr lebendig und läuft uns ständig nach.
Pause mit Straßenfeuer
Wohnheim der ungarischen und der DDR-Jugendfreunde
Zukünftiger Bauplatz
Einsamer Eisangler am Bratske Stausee