Читать книгу Der Herzog - Günter Tolar - Страница 2

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KAPITEL 0

Die Geschichte beginnt so schrecklich trivial. Anfangs der 1980er-Jahre wurde in Wien wieder einmal ein Palais von seinen Vorbesitzern geräumt zwecks gewinnbringender Veräußerung, vermutlich an einen russischen Financier. Bei solchen Aktionen wird natürlich alles Mögliche gefunden, besonders Dachböden sind ein potentieller Fundort längst verschollener Kostbarkeiten. Aber nicht alles, was man da findet, ist auch wirklich gleich als kostbar oder gar wertvoll erkennbar. Unter anderem fand sich da ein mit einer groben gelblichen, ziemlich faserigen Hanfschnur zusammen gebundener Packen von 19 recht dicken, unterschiedlich großen Heften. Genau genommen waren es keine Hefte, sondern grob geheftetes Papier. Die Schnur war mit einer Masche zu gebunden, konnte also leicht geöffnet werden. Die 19 Hefte waren voll beschrieben in einer kleinen und auf den ersten Blick ziemlich unfertig wirkenden Handschrift. Das sei es wohl ein Tagebuch, meinte der Finder, ein Angestellter der professionellen Räumungsfirma. Die Frau, die bei der Räumung dabei war, um vielleicht doch die eine oder die andere Kostbarkeit zu retten, sah sich das Tagebuch kurz an, stellte fest, dass ad hoc nicht einmal genau erkennbar war, von wem und wann es geschrieben worden war – und gab es frei zur Entsorgung. Ein Freund des Autors (oder Herausgebers) dieses Buches ist ein sehr eifriger und neugieriger Nachlass-Stöberer. Er nahm jedenfalls diesen Packen von 19 Heften an sich. Er tat dies mit voller Erlaubnis aller zuständigen Personen und Stellen. Man händigte ihm das Konvolut aus mit der Bemerkung: „Zum Anschauen, und wenn es nichts ist, schmeiß es weg.“

Der Autor hat sich’s angeschaut und kam bald aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Unsere Situation ist nun so einfach, wie sie nur sein kann - und so kompliziert, wie sie nur sein kann.

Das Einfache:

Ein Graf Joseph Moritz von Dietrichstein hat ein Tagebuch hinterlassen. Das Bemerkenswerte an diesem Tagebuch ist, dass wir einen sehr persönlichen Blick auf die ersten 30 Jahre des 19. Jahrhunderts bekommen. Noch bemerkenswerter aber ist, dass das Tagebuch hauptsächlich die Freundschaft und schließlich Beziehung des Joseph Moritz zu einer Figur von höchster politischer Brisanz erzählt: Zum Herzog von Reichstadt.

Das Komplizierte:

Joseph Moritz von Dietrichstein ist eine historisch völlig bedeutungslose Figur, er muss also mehr oder weniger mühsam erklärt werden, damit verständlich wird, wie er überhaupt mit dem Herzog von Reichstadt in einen so engen Kontakt kommen konnte.

Der Herzog von Reichstadt war immerhin eine der hierarchisch und, wenn man das Wort verwenden will, blutmäßig höchstrangig angesiedelte Person, die die Geschichte jemals zu bieten hatte. Eigentlich hieß er Napoléon François Charles Joseph Bonaparte, als (nie als solcher amtierender) Kaiser der Franzosen trug er den Namen Napoleon II. Er war der einzige Sohn Napoleons I. und der Kaiserin Marie Louise. Und diese Marie Louise war immerhin die Tochter des österreichischen Kaisers Franz des I. Der (spätere) Herzog wurde am 20. März 1811 in Paris geboren und noch am Tag seiner Geburt zum ‚König von Rom’ ausgerufen. Napoleon I. ernannte nach seiner Abdankung 1814 seinen Sohn zum Nachfolger. Marie Louise ging mit dem damals dreijährigen ‚jungen Napoleon’ zurück an den Hof ihres Vaters nach Österreich. Am 28. Juni 1815, zehn Tage nach der Schlacht von Waterloo, wurde der Herzog in Abwesenheit von treuen Bonapartisten als Napoleon II. zum Kaiser der Franzosen ausgerufen, aber nach weniger als einer Woche offiziell wieder abgesetzt. 1818 erhielt er das böhmische Herzogtum Reichstadt. 1830, nach dem Sturz König Karls X., hatte der nunmehrige Herzog zwar die Volljährigkeit erreicht, war aber bereits zu stark an Tuberkulose erkrankt, als dass er noch um die Thronfolge hätte kämpfen können. Der Herzog starb am 22. Juli 1832 in Schönbrunn. Sein Nachfolger als Familienoberhaupt der Bonapartes wurde sein Vetter Napoleon III.

Die Frage, die aber unser vorliegendes Vorhaben betrifft, lautet:

Wie kam der unbedeutende Joseph Moritz von Dietrichstein überhaupt zum Herzog von Reichstadt?

Das ist leicht erklärbar. Sein Vater Fürst Moritz Joseph Johann von Dietrichstein-Proskau-Leslie war als Erzieher für den gesamten ‚Bildungsgang’ des Herzogs von Reichstadt bis 1832 zuständig. Vater Dietrichstein war, als er den Herzog ‚übernahm’, vierzig Jahre alt, Generalstabsoffizier, Diplomat, Freund Beethovens und Schuberts, später – nach dem Tod des Herzogs - auch Hofmusikrat und Direktor der beiden Hoftheater.

Seinem ganzen Naturell nach war Dietrichstein als Lehrer und Erzieher mit der Pedanterie ausgestattet, wie sie von ihm verlangt wurde und wie sie Bedingung war für seine Stellung als Erzieher des Königs von Rom und späteren Herzogs von Reichstadt. Metternich selbst traf im Auftrag des Kaisers die Auswahl und hatte zuerst den Grafen Vecchioli vorgesehen. Des Herzogs Mutter Marie Louise und der Kaiser selbst entschieden aber für Dietrichstein. Weil Dietrichstein nicht seine Wahl war, mutmaßt man, dass Metternich die Bedingung der ‚äußersten Pedanterie’ stellte und nicht anstand, für jeden Fehler, den der Zögling machte, den Erzieher zur Verantwortung zu ziehen. Denn eines war klar: Der Zögling machte schon von seiner Herkunft her keine Fehler. Des Erziehers Pedanterie musste also nicht nur eine höchst flexible, sondern auch eine vorauseilende sein. Er musste alle Fehler, Launen, Streiche, Aktionen und Reaktionen des ihm anvertrauten königlichen Blutes vorausahnend abfangen. Dazu musste er gute Gründe vorweisen können, denn der Herzog begann sehr bald zu fragen, warum dies erlaubt und dies nicht erlaubt sei.

Der Herzog hatte aufgrund seiner historisch bedingten Isolation nur wenige Ansprechpartner. Dazu kam, dass er sehr bald bemerkte, dem Grafen Dietrichstein hierarchisch um einiges überlegen zu sein. Er fragte daher ungestüm und forderte die Antworten gleichsam als ein ihm zustehendes Recht, er sah es als Pflicht des Gefragten, nun gefälligst zu antworten.

Wir finden das alles in dem Tagebuch seines Sohnes Joseph Moritz, den 19 mehr oder weniger großen Heften, aus den Spinnweben des alten Dachbodens eines alten Wiener Palais gerettet.

Wir haben es dabei mit zwei ‚Kategorien’ von Tagebuch zu tun. Das eine ist das begleitende Tagebuch, in dem also das Erlebte mehr oder weniger tagtäglich aufgezeichnet wurde. Als zweite ‚Kategorie’ haben wir den Bericht ‚Was vorher geschah’ vor uns liegen. Joseph Moritz begann im Jahr 1831, dem Jahr, in dem er seinen 30. Geburtstag beging und ein Jahr vor dem Tod des Herzogs, alles Bisherige aufzuarbeiten.

In den ersten 2 Kapiteln werden wir vorerst aus dem echten Tagebuch zitieren, um dem geneigten Leser die Möglichkeit zu bieten, sich einzulesen. Ab dem 4. Kapitel beginnt dann die komplette Aufarbeitung der vorangegangenen Jahre durch Joseph Moritz von Dietrichstein.

Alle Einteilungen, die wir hier schildern, sind nicht etwa das Ergebnis von Mutmaßungen oder Spekulationen, sondern entstammen samt und sonders den Notizen des Menschen, der uns jetzt durch zwei Leben führen wird: Sein eigenes und das des Herzogs von Reichstadt.

KAPITEL 1

„Er fragt und fragt“, klagte Vater heute wieder, und das Abendmahl wollte ihm so gar nicht munden. „Er treibt den Foresti schier zur Verzweiflung!"

Der frühere Hauptmann Johann Baptist Foresti war der zweite Lehrer des Herzogs und wurde erster, als der vorherige erste Lehrer Matthäus von Collin im Jahr 1824 gestorben war. Der ‚Franz’ im Folgenden ist übrigens der Herzog von Reichstadt.

„Was will er denn wissen?", erlaubte ich mir zu fragen, wohl wissend, daß der Franz mit purer Absicht so viel fragte und seine Lehrer gerne transpirieren sah.

Vater fuhr auf: „Frag’ Er jetzt nicht auch noch! Ich möcht’ wenigstens daheim einmal nicht dauernd gefragt werden!“

Dann vertiefte er sich doch in die Suppe, die Haut an der Oberfläche wieder, wie er’s immer tut, über den Löffel ziehend, daß es mir ekelte.

Ich muß dem Franz sagen, er soll ihn nicht so quälen, dem Vater schmeckt die Suppe nicht mehr.

Dabei hatte Vater Dietrichstein eine wunderschöne Möglichkeit, sich abzureagieren, seine Musik. Joseph Moritz hat ihn diesbezüglich sehr bewundert.

Es war wundersam, wie er das Thema, das ihn seit einigen Tagen verfolgt hat, oder das vielmehr er seit einigen Tagen verfolgt hat, heute in eine ganz neue Form brachte. Und wieder eigentlich in keine neue Form, sondern in die endgültige. Wie er vor allem ein Seitenthema fand, in so direktem Wege, als wäre es schon seit dem ersten Tage des Auftauchens des Hauptthemas vorhanden gewesen und mußte jetzt nur noch gespielt werden. Ich habe in Florenz halbfertige Statuen des Meisters Michelangelo gesehen. Die halb aus dem Marmor herausgehauenen Figuren geben einem das Gefühl, als wären sie schon immer in dem Stein drinnen gewesen, völlig fertig, der Meister half jetzt nur, sie zu befreien. Und es sah aus, als würden die Figuren selbst fest mithelfen. Sie wirkten, so halb im Stein, so halb aus dem Stein, als wollten sie mit Kraft, ja mit Gewalt dem Künstler in die Hand arbeiten. So wirkte das Thema auf mich, als es mein Vater aus seiner dunklen Vorhandenheit hervorzauberte. Er schrieb es sogleich auf und verwahrte die Noten in seinem Geheimarchiv. Nur ich weiß, daß dort nichts Geheimes zu finden ist, als seine gesammelte Musik.

Einiges aus dem 'Geheimarchiv' wurde später, als Dietrichstein sich beruflich ganz der Musik widmete, aufgeführt. Joseph Moritz aber dürfte die Aufführungen der Werke seines Vaters nicht mehr erlebt haben.

Habe heut’ dem Franz (zur Erinnerung: Franz ist der Herzog) von diesem wundersamen Erlebnis erzählt, woh1 wissend, daß die Kunst nicht das ist, womit er sein Leben zu erfüllen gedenkt.

Seine Antwort aber überraschte mich: „Siehst du, Jomo“, -

‚Jomo‘ ist die vertrauliche Abkürzung von ‚Joseph Moritz‘, die nur der Herzog verwendete, wie, das erfahren wir noch – „da ist etwas entstanden. Und immer sind es die Väter, die etwas entstehen lassen. Deiner und meiner. Meine Musik sind die Schlachtenpläne meines Vaters.“

Dann wollte er läuten, tat es aber nicht, sondern winkte mich in das Bibliothekszimmer. Unter der Türe wartete er auf mich, legte seinen Arm um meine Schulter, drückte sie mit der Hand, preßte mich impulsiv an sich, nur so nebenbei, denn sein Augenmerk war schon auf den Tisch gerichtet, auf den wir zustrebten. Ich spürte dennoch mit vibrierender Aufmerksamkeit seinen schmalen Körper, die Magerkeit, die Härte des Brustkorbes, die Rippen. Ganz im Gegensatz zu der Wärme, die in seiner Bewegung lag und der Wärme, die sein harter, zarter Körper ausstrahlte. Er ist nur ein wenig größer als ich, wirkt aber mit seinen 1 Meter 90 doch wie ein Riese.

Franz wies auf den Tisch, auf dem Pläne ausgebreitet waren, umgeben von ausführlichen Beschreibungen von den verschiedensten Händen. Auf all das deutete er mit großer Geste: „Ich höre Austerlitz, ein faszinierendes Stück Kunst. Genauer geordnet, als je eine deiner Symphonien es sein kann.“

Ich wagte das zu bezweifeln und meinte, das sei doch immerhin Krieg. In Falle Austerlitz' sogar ein stattgefundener Krieg, mit vielen wirklichen Toten.

„Jomo“, belehrte er mich, „jede Änderung in dieser Welt wird durch Krieg vorbereitet. Im nachfolgenden Frieden wird dann das festgeschrieben, was der Krieg entschieden hat. Das Neue, mein lieber Jomo, kommt aus dem Krieg. Der Krieg besteht aus Schlachten. Schlachten muß man gewinnen, wenn man das Nachfolgende mitbestimmen will.“

„Aber dein Vater, Franz“, wollte ich einwenden, wußte aber nicht so recht, ob ich in meiner Freiheit so weit gehen durfte, ihn darauf hinzuweisen, daß Napoleon doch allerhand, und zuletzt alles, verloren hatte und somit auch die Schuld an der jetzigen Situation des Herzogs trug.

„Ich weiß“, unterbrach mich Franz, obwohl ich selber gar nicht weitergeredet hätte, „mein Vater hat zu viel gewollt. Die Geschichte wird ihn zum Größenwahnsinnigen oder zum Großen, ja Größten machen. Die Geschichte wird erst einmal aufgeschrieben, dann bewertet, du weißt."

Ob Joseph Moritz diese weitschauende Aussage des Herzogs wirklich verstand, gibt er uns nicht preis. Seine Beschreibung widmete sich stets mehr dem Menschlichen zwischen den Beiden. So gelingt es Joseph Moritz im folgenden Absatz sehr schnell, die Schilderung des sachlichen Gespräches in den Bereich des dabei Gefühlten hinüber gleiten zu lassen.

„Er war zu genial.“

Franz lächelte jetzt.

Und er wiederholte: „Er war genial.“

Er sagte es mit der Pedanterie, die mich an meinen Vater erinnerte. Es war seiner feinen Aufmerksamkeit für die Sprache nicht entgangen, daß man zwar genial sein konnte, aber nicht genialer und nicht zu genial.

Im Lächeln seufzte er wie unter schwerer innerer Last.

„Sein Wollen, sein Können, reichten aus für zwei, für mehrere Leben.“

Dann hielt er inne. Ich sah von der Seite, daß eine Träne über seine rechte Wange lief. So nahe waren seine Empfindungen beisammen, eben hat er noch gelächelt, und schon hat ihn die Liebe zu seinem Vater, den er nie gekannt hat, berührt. Franz sah mich an, wollte sprechen, konnte nicht gleich, hielt still, um sich zu fassen.

Es war eine Zeit, in der Männer, Jünglinge, sich nicht schämten, auch einmal zu weinen. Wie viele „heiße Tränen“ wurden in der Zeit der Romantik auch von Männern vergossen…

Ich kann nicht, wie Vater mein Empfinden in Musik fassen. Ich kann nicht Fassung erringen durch die Kunst. Ich kann nicht dichten, was ich wahrhaftig empfinde, ich schreibe es nieder, aber es bringt mir keine Fassung. Collin dichtete Empfundenes. So viel, wie der dichtet, kann er gar nie empfunden haben. Welch ein Überfluß aber doch! Mein Vater atmet tief ein, geht in sich, und macht Ordnung in allem, worin er lebt, auch in dem, was er empfindet. Da wird dann Musik draus. Wie aber soll aus meinen Tränen, die den Polster tränken, Musik werden? Oder ein Kunstwerk? Wie kann ich Tränen formen?

Eine schwere Last von Empfindungen, zu deren Ordnung ihm, wie er meinte, die Gabe fehlte - und er litt unter dem vermeintlichen Wissen, seiner Empfindungen nie Herr werden zu können. Er schrieb auf, was er erlebte und brachte es in eine Fassung, die ihm selber fehlte. Denn es war der tödliche Irrtum des Joseph Moritz, nicht zu erkennen, dass das, was er da schrieb, die Fassung war, die er suchte.

Bald aber hatte Franz wieder sein Innerstes beruhigt und sagte leise: „Schreib’ ein Musikstück, Jomo. Mach’ ein Gedicht. Du kannst das. Ich beneide dich. Denn ich -“, er hielt noch einmal inne, sodaß ich erkannte, daß hier die Wurzel seines augenblicklichen Schmerzes lag, „- ich werde wohl nie eine Schlacht schlagen.“

Damit umarmte er mich und legte seinen Kopf an meine Schulter; ein heftiges Schluchzen schüttelte ihn. Ich konnte nicht anders, ich weinte ebenfalls, ihn fest an mich drückend. Den armen, mageren, sinnlosen Thronfolger auf niemandes Thron.

Einer erkannte den anderen genau, aber keiner erkannte sich selber. Beide waren sie Söhne von Vätern, die ihren Kindern keine Chance ließen, der Herzog in der historischen Vollkommenheit Napoleons, die abschließend und für alle Nachkommen tödlich war, Joseph Moritz durch vorgelebtes wohlgeordnetes, vollkommenes Innen- und Außenleben eines kompletten Vaters. Zwei empfindsame junge Männer waren sie, denen niemand half, ihr Leben zu bewältigen. Es waren ihnen nur die Handgriffe beigebracht worden, die man tätigen musste, wenn die Äußerlichkeiten des Tagesablaufes eine Handlung verlangten. In sich hatte jeder der beiden seine eigene Traurigkeit. Die eigenen Gedanken fanden keinen anderen gemeinsamen Ausdruck, als die Traurigkeit. Diese Traurigkeit, die dann bewusst und quälend fühlbar wurde, wenn die Verlassenheit des Einzelnen ihre kalten Ringe um sie legte.

Franz löste sich, wischte eine Träne aus seinem Gesicht, lächelte, als er meine Tränen sah, wischte sie mit der anderen Hand zart aus meinem Antlitz, dann sagte er: „Wir zwei. Was soll aus uns werden?“

Ich verließ Franzens Gemächer auf dem gewohnten Weg, ging nach Hause, suchte in der Bibliothek meines Vaters nach einem Dichter, der mir eine Form oder eine Sprache vorzugeben imstande war. Ich habe schon so oft gesucht und wie jedes Mal fand ich auch diesmal keinen. Also verschreibe ich mich dir, meinem Tagebuch.

Man hätte dem Joseph Moritz sagen müssen, dass Gedichte vielleicht gar nicht diese Aussagekraft gehabt hätten, wie sie sein Tagebuch bietet. Joseph Moritz wusste wirklich nicht, was für ein guter Schreiber er war, als er dieses sein Tagebuch schrieb. Niemand hat es zu seinen Lebzeiten gelesen, wer also hätte es ihm sagen können?

Joseph Moritz schreibt, er habe die Gemächer des Herzogs auf dem ‚gewohnten Weg‘ verlassen. Wir kennen die Gemächer des Herzogs, aber wir wissen nur sehr ungefähr, wo Joseph Moritz auf der Straße landete, wenn er den Herzog verließ. Wir kennen aber überhaupt nicht den Weg, den er innerhalb der Hofburg genommen hat. Er wird wohl immer ein Geheimnis bleiben, blieb er doch auch dem Erzieher, den Lehrern, ja sogar Metternich und seinem Wachapparat verborgen. Nicht einmal ein historisch wirklich gebildeter und gut informierter Museumsführer war in der Lage, diesen Geheimweg zu rekonstruieren.

Ich war um einige Minuten später als sonst in Franzens Gemächer geeilt. Der *** war nicht zur Minute da. Franz war zutiefst beunruhigt.

Wer dieser *** ist, erfahren wir noch, wer allerdings dahinter verborgen ist, erfahren wie von Joseph Moritz selber nie. Wir können es aber ahnen. Doch davon später.

„Wenn sie dich erwischen, dann...“

„... Gnade uns Gott“, vollendete ich.

„Gnade dir Gott“, wies er mit dem Finger auf mich, mit tiefer Unruhe und bleichem Antlitz.

„Aber wer weiß“, und er hielt inne, nachdenklich vor sich hinschauend, „ein dichtes Netz kann auch schützen.“

Dieser zusammenfassende Einblick in das Tagebuch des Joseph Moritz von Dietrichstein sollte uns ein wenig die Methodik zeigen. Die Vertiefung folgt erst, wenn wir chronologisch vorgehen.

KAPITEL 2

Joseph Moritz wurde aus beruflichen Gründen oft auf Reisen geschickt. Die wirtschaftliche Expansion drängte nach Süden, sehr zum Gefallen des Joseph Moritz, der viel lieber nach Süden als nach Norden reiste. Wenn ihn eine Reise gar noch in ein Land führte, in dem Kunst zu sehen war, war die Unannehmlichkeit der langwierigen Anreise und der oft sehr langweiligen Handelsgespräche mehr als aufgehoben.

Am schönsten ist die Kunst dort, wo sie gemacht wird. Und am allerschönsten ist sie, wenn sie so beschaffen ist, daß sie nur dort und nirgends anders gemacht werden kann.

Joseph Moritz führte selbstverständlich auch auf diesen Reisen sein Tagebuch.

So stand ich auf der Piazza della Signoria vor dem Palazzo Vecchio in Florenz. Die vielen schönen Menschen. Die vielen schönen Statuen. Nackt. Hier denke ich innig an dich, Franz, der du dies hoffentlich niemals lesen wirst. Ich halte Zwiesprache mit dir angesichts der vielen Schönheit, die sich hier so unverhüllt zeigt. Freiheit, die nichts Wildes, nichts Ungezogenes und nichts Verbotenes hat. Freiheit, die so herrlich erlaubt ist. Die Freiheit, die wir beide, Franz, nicht haben.

Ich erröte bei dem Gedanken, daß du dies jemals lesen würdest.

Und doch...

Der Herzog wusste allerdings von der Existenz dieses Tagebuches.

Im Spätherbst 1829 finden wir eine Notiz, die das bestätigt.

„Joseph Moritz“, mahnte mich der Franz heute - er nennt mich immer beim ganzen Namen, wenn er besonders scherzhaft oder besonders ernst sein will - „du hast die letzte Zeit wohl mehr mit deinem Tagebuch gesprochen als mit mir.“

Dieses Gespräch fand statt zu einer Zeit, in der der Kontakt zwischen den Beiden abgerissen und eben wieder in Gang gekommen war.

Ich bin erschrocken.

„Woher weißt du?“, fragte ich.

„Du selbst hast es mir erzählt“, lächelte er und strich mir mein Haar aus der Stirn, das ich französisch nach vorne trug.

„Wann habe ich dir das erzählt?“

Ich kann mich wirklich nicht erinnern.

Er aber lachte jetzt fast: „Soeben hast du es mir erzählt. Du hast mir nicht widersprochen!“

Die Röte schoß mir ins Gesicht, ich stieß ihn weg von mir. Er aber zog mich wieder zu sich heran, drückte mein ihm zugewandtes Ohr fest an seinen Mund und flüsterte: „Du bist der Mensch für ein Tagebuch. Du hast zu viele Gedanken, die man nicht aussprechen kann und zu viele Geschichten, die du niemand erzählen kannst. Habe ich recht?“

Anstelle einer Antwort drückte ich ihn so fest an mich, daß mein Herz zerspringen wollte vor lauter Klopfen. Aber ich wußte schon, es wird nicht zerspringen, nicht wenn es vor Freude klopft.

Im Kommenden finden wir sehr überraschend die Situation geschildert, in der sich die Beiden bei dem Gespräch befanden.

Mit einmal aber löste sich der Franz von mir, verließ unser Lager, wandte sich, kaum draußen, zu mir um und antwortet meinem wohl staunenden Blick: „Man muß aufhören können. Eine Tugend, die mein Vater nicht hatte.“

Schnell und geübt im Ankleiden war er sogleich wieder ganz Herzog im Privatgemach.

So blieb mir die beschämende Rolle, mich vor dem Franz nun meinerseits zu restaurieren. Er sah mir dabei so frech lachend zu, daß ich mich abwenden mußte, um nicht vor Scham zu vergehen. Wenn ich mich nach meinen Beinkleidern bücken mußte, wurde mein Ansatz zu einem Bäuchlein allzu deutlich sichtbar. Ich wendete mich also genau so weit ab, bis ich die Sicherheit wähnte, daß er meinen wunden Punkt jetzt nicht mehr sähe.

„Auch schön“, klang es da hinter mir mit höchst vergnügter Stimme.

Ich blickte hinter mich und sah eben noch, wie der Herzog von Reichstadt meinem Hinteren eine Grimasse zuschnitt.

Joseph Moritz hat mehrmals in seinem Tagebuch gebeten, ihn durch die Preisgabe, also Veröffentlichung, allzu intimer Details nicht bloßzustellen. Es wird da immer wieder die Doppelseitigkeit von Joseph Moritz‘ innerer Einstellung zu seinen Notizen sichtbar. Einerseits ist das Tagebuch für niemandes Lektüre bestimmt. Andrerseits drängt es den Verfasser, sich so mitzuteilen, dass ein anderer ihn versteht. Und wer anders sollte das denn sein, als ein späterer Leser?

Der Franz aber, der ‚dies nie lesen‘ würde, bekam in Florenz einiges ‚mitgeteilt‘, voll aus dem sicheren Wissen heraus, dass er dies wirklich nie lesen würde. Er war auch so, er hat dieses Tagebuch nie gelesen. Zu viel Tod auf einmal verhinderte dies.

Wir sind noch immer in Florenz.

Ich kann ja sein, wo ich will, überall bist du mir gegenwärtig. Alles, was ich denke, denke ich durch deine Gedanken hindurch. So dachte ich an dich, Franz, beim Anblick des wunderschönen David, den Michelangelo vielleicht auch nach einem Vorbild gestaltet hat. Nach einem lebenden Vorbild, meine ich. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß es ein so schönes Vorbild gar nicht gibt. Ein lebendes. Auch nicht gegeben hat. Das Gesicht vielleicht. Ich möchte damit nicht sagen, daß Davids Gesicht nicht schön sei, aber es hat so etwas Unheroisches, Privates, so gar nicht Nacktes. Da schaut einer, die Stirne runzelnd, auf den wunderschönen, schon fertigen nackten Körper einer Statue, deren Kopf noch nicht herausgehauen ist, und fragt: „Da soll mein Kopf drauf? Na schön!“

Michelangelo hat genau den Augenblick festgehalten, festgemeisselt und auf Davids Körper gesetzt. Das Kunstwerk, das genau den Abstand in sich birgt, der sich in einer Frage ausdrückt: „Mein Kopf auf diesen herrlichen Körper? Na schön!“

Anmaßung und Resignation.

Es sind ja deine Worte, Franz, die David da zu mir spricht. Und du bist es auch, der da vor mir steht. Nicht leiblich und auch nicht in Marmor, sondern dem ganzen Wesen nach. Die Vollendung, der Zweifel, die Ironie, der Humor, das Lächeln, die Gleichgültigkeit der Nacktheit... und alles in und aus meiner Liebe zu dir.

Anlässlich eines gemeinsamen Museumsbesuches hat Joseph Moritz dem Herzog von diesen seinen Empfindungen beim Anblick des David in Florenz erzählt. Es ist dies übrigens die einzige Erwähnung eines gemeinsamen kulturellen ‚Ausganges‘.

Die Replik des Herzogs zeigt seine wesentlich weniger von Ästhetik getragene Einstellung der Kunst und dem in ihr Dargestellten gegenüber.

... Franz fügte dem von mir als Florentinische Empfindung vorsichtig geschilderten Gedankenbild seinen eigenen Anhang hinzu: „Stell dir vor, ich, nackt auf diesem Sockel, mit meiner Gestalt und meinem langen - du weißt schon - in Florenz. Ich weiß nicht, ob die Leute mehr oder weniger hinschauen würden.“

Dann wies Franz auf eine nackte Männerstatue, die in einer Nische stand, und flüsterte: „Die Pimmel der Statuen sind alle so kurz und so fest."

Er dachte nach und fügte dann ganz ernst hinzu: „Das liegt wohl am Marmor. Der ist kalt. Und kalt zieht zusammen!“

Bei den letzten Worten stieß er mich unmerklich vertraulich an.

Ich war nicht wenig echauffiert ob der Kühnheit des Franz, so Intimes so keck in der Öffentlichkeit herauszusagen. Ich erinnerte mich aber auch der manchmal sehr mangelhaften Beheizung der Gemächer des Franz.

Diese Unterhaltung führten wir so, daß es für die anderen nach einem angeregten künstlerischen Diskurs aussehen mußte; zwei Schritte hinter uns war nämlich der Foresti; der war allerdings höchst unaufmerksam und auch gar nicht sonderlich angetan von den ausgestellten Kunstwerken, die der Franz zu besichtigen gewünscht hatte.

Es war uns halt eine Lust, öffentlich zu tändeln und niemand sieht’s.

Joseph Moritz und der Herzog trafen einander also auch manchmal offiziell und öffentlich. Es mag ihnen eine diebische Freude gemacht haben, ganz nahe an der möglichen Entdeckung ihres ‚Geheimnisses‘ zu wandeln, zu spielen, zu ‚tändeln’.

Der Herzog von Reichstadt hatte, trotz der strengen Etikette, die das Leben des Sohnes von Napoleon und Enkels Franz des I., einer hochnotpeinlichen Figur von historischer Brisanz, unterliegen musste, auch ein Privatissimum. Es wäre jetzt abgeschmackt, mit moralistisch gerunzelter Stirn die Frage zu stellen, warum sich dieses Privatissimum justament zwischen zwei Männern begab. Wie hätte die Sache denn ausgesehen, wenn anstelle des Joseph Moritz ein Mädchen gewesen wäre? Sie hätte gar nicht, wie Joseph Moritz, zehn Jahre älter als der Herzog sein müssen. Ein ‚aufgeflogenes‘ Verhältnis des Herzogs mit einer Frau, wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Eine Männerfreundschaft hingegen war normal. Man könnte vielleicht fragen, warum niemand bemerkt hat, dass das mehr war als eine Männerfreundschaft. Damals hat niemand gefragt. Und wenn? Metternich allein hätte die Größe der ‚Katastrophe‘ festgelegt. Der Kaiser wäre vielleicht damit befasst worden; er hätte wahrscheinlich abgewunken. Skandale, die geheim bleiben, sind keine Skandale. Der junge Dietrichstein? Ein netter, begabter, tüchtiger junger Herr. Wenn der Herzog schon Gesellschaft pflegte, von der niemand wusste, dann hätte es schlechtere sein können. Der Kaiser hätte vielleicht zu höherer Aufmerksamkeit gemahnt - und hätte die Dinge laufen lassen. Die Zusammenkünfte der beiden wären dann wohl dem offiziellen Terminkalender des Herzogs einverleibt worden, hätten also das Flair des Geheimen, Privaten, Intimen verloren. Denn es waren ja die im Kalender des Herzogs vorgeschriebenen Mußestunden, in denen das Privatissimum stattfand, geheim, unter Umgehung der Wache, umgeben von dem, vom Herzog selbst zitierten, ‚Netz, das auch schützt‘.

Anders mochte die Situation auf Joseph Moritz‘ Seite aussehen. Seine Liebe zum Herzog ist sehr tief gegangen, jedenfalls tiefer, als es zwischen Männern üblich ist. Seine Liebe entspringt aus dem Romantischen, jenem Teil der Psyche also, der das Blut in Wallung bringt, zum Sieden, der Gedanken abschaltet und Körper zu einander zieht. Joseph Moritz entwickelte allerdings sehr bald auch ein, man würde heute sagen, von Sex gesteuertes Verhalten. Sex, der einmal dem rein Körperlichen diente und auch von dort gefordert wurde, und der, allerdings nur mit dem Herzog, aus der Liebe kam.

Seine eigene Rolle schildert Joseph Moritz in seinem Tagebuch mit immer mehr Offenheit, die bald jedwede Selbstschonung fallen ließ. Wie es allerdings mit dem Herzog wirklich stand, können wir nur versuchen, aus den Schilderungen des Joseph Moritz geschmackvoll und möglichst gerecht zu deuten. Wir haben, was diesen Teil des Lebens des Herzogs von Reichstadt betrifft, keine andere Quelle, als das Tagebuch des Joseph Moritz von Dietrichstein. Und der war, die vorigen Zitate haben es schon gezeigt, offensichtlich auch ein Dichter. Oft ohne es zu wissen, oft aber auch, weil er es so wollte. Er überlässt es unserer Auslegung, wo die Wirklichkeit aufhört und die Dichtung anfängt. Wenn er uns überhaupt Hinweise gibt, dann in begleitenden Worten, nie aber in der Schilderung eines Vorganges.

Der Dichter manifestiert sich ganz deutlich in der weiteren Schilderung aus Florenz.

Es mag ja vielleicht auch der rote Wein sein, dem ich hier in erhöhtem Maße zuspreche und der mich auf solche Gedanken bringt. Ich will aber nicht sagen, daß es nur der Wein sei, der mich an dich denken läßt, Franz. Ich weiß, daß du mich jetzt fragen würdest: „Denkst du immer nur dann an mich, wenn du trinkst?“

Aber vielleicht hättest du diese Frage gar nicht gestellt. Vielleicht ist es dir ganz und gar gleichgültig, ob ich an dich denke, oder nicht. Wahrscheinlich wäre es dir lieber, wenn deine Mutter mehr an dich dächte. Oder daß dein Vater noch lebte, daß er an dich denken könnte. Aber so, ohne Vater, ohne Mutter, wohin geht denn deine Liebe? Zu mir?

Du hast recht. Es mag wirklich der Wein sein, der meine Tränen und mein Denken auf solche Wege lenkt.

Napoleon ist tot, die Mutter Marie Louise regiert in Parma und treibt es dort mit dem Grafen Neipperg. Wir werden das alles noch breitest erfahren.

KAPITEL 3

Im Jahr 1831, dem Jahr, in dem Joseph Moritz seinen dreißigsten Geburtstag beging, begann er, sein Tagebuch zu ergänzen, die Zeit ‚vorher’, nachzutragen. Die Notwendigkeit hierfür hat er sich sehr genau überlegt.

Der Franz spricht immer wieder von Flucht; nicht nur zu mir, sondern auch zu anderen. Und ich sage ihm immer wieder, daß das gefährlich sei. Spreche ich aber von Gefahr, scheint er mich sogleich zu fragen: wo ist sie, die Gefahr, sag mir, wo, damit ich mich ihr stellen kann. Mir scheint, er meint, daß sein Leben viel eindrucksvoller wäre, hätte er mehr Gefahren zu bestehen. Aber ich sage immer wieder, ob er nicht meine, daß es gefährlich sei, auch mit anderen als mit mir über seine Pläne zu sprechen. Heute hat er ganz vergnügt abgewinkt: „Gefahr! Verantwortung ist immer Gefahr!“

Ich vermag ihm nicht immer mit dem gleichen Feuer zu folgen, mit dem er von seinen Plänen zu sprechen pflegt. Derzeit bewundert er sehr die Polen, deren Krone er gerne angenommen hätte: „Jomo, die Vorstellung, an der Spitze der Polen zu marschieren, beherrscht mich mehr als alles andere. Ich würde freudig mich in Polen krönen lassen...“. Falls da ein Verführer wäre, würde Franz sicher seine Schritte in diese Richtung lenken. Aber da ist kein Verführer. Und der Franz ist traurig.

Prokesch-Osten -

- wir lernen ihn später noch näher kennen -

- sagte es sehr genau: „Die Krone Frankreichs ist ja nun in schwer erreichbare Ferne gerückt, aber die Länder Griechenland, Italien, Belgien oder eben Polen brauchten nur zu winken und der Herzog würde hinreisen oder hinfliehen, um sich an die Spitze des Landes stellen zu lassen.“

Aber es ertönte kein ernsthafter Ruf. Den Joseph Moritz hat es übrigens sehr geschmerzt, dass der Herzog mit ihm kaum über seine politischen Ansichten und Absichten sprach.

Wenn der Franz so seinen Träumen nachhängt, ist er mir fremd. Da ist er nicht mein geliebter Freund, sondern ein Herrscher ohne Krone und ohne Hoffnung. Ein Mensch, der sich für Höheres, für Besseres bestimmt fühlt; für Höheres, das ihm, so meint er und so will es auch die Historie, von der Geburt an bestimmt ist. Aber die Entwicklung der Zeiten nimmt auf seine Geburtsrechte keine Rücksicht.

Vater macht sich oft seine Gedanken: „Armer Teufel! Dazu geboren, um nichts zu werden. Nichts. Wofür ihn erziehen? Sie sollten ihn lieber leben lassen!“

Dann wandte er sich mir zu und Ärger kam in sein Gesicht: „Ich sollte sowas nicht vor Ihm schwatzhaftem Buben sagen!“

Vater hält mich für einen schwatzhaften Buben.

Das Höchste, was mir der Franz zubilligt ist, daß er heute gesagt hat: „Warte nur, Jomo, mit dir will ich nur das Heitere erleben, laß mich den Ernst mit denen erörtern, die ich nicht schätze und nicht mit denen, die ich liebe.“

Ist gar nicht wahr, das hat er nicht gesagt. Aber sein Blick, und es war ja nur ein Blick, den er mir zuwarf und den er mit keinem Wort ergänzte, ihn somit meiner Übersetzung überließ, dieser Blick sagte mir... aber vielleicht ist es auch gar nicht wahr.

Ich bin viel allein gelassen. Aber es kann mich nur einer allein lassen, der Franz. Niemand außer ihm fehlt mir.

Damals, in dieser Einsamkeit, fasste Joseph Moritz den Entschluss, das Bisherige aufzuarbeiten, sein Tagebuch um die ‚Zeit davor’ zu ergänzen.

Ich hatte heute Zeit und Muße. Das Wetter war so, wie ich es am meisten verabscheue, es war ohne Farben, grau und überschattet von dem Geräusch, das ich hasse, dem Geräusch des Regens. So blätterte ich zum ersten Male in meinem Tagebuch. Ich fand mich selber in vergangenen Zeiten. Und wenn mir der Franz schon nicht persönlich seine Anwesenheit schenkt, so rief ich ihn mir wenigstens mit Hilfe meiner Notizen. Dabei komme ich nicht umhin, festzustellen, daß mein Tagebuch im Lauf der Zeit immer mehr zu einem Buch über den Franz wird. Über mich und den Franz; über den Franz und mich.

Aber wie hat es angefangen? Das Tagebuch ist unvollständig, sind doch die Jahre, in denen ich noch kein Tagebuch führte, nicht enthalten, obwohl ich damals den Franz schon gekannt habe. Kurzum, ich habe mich heute entschlossen, diese Zeit nachzutragen, in meinen Erinnerungen zu kramen und mich an die Jahre mit Franz zu erinnern, als es dieses ‚Franzensbuch’ noch nicht gab.

Der Schriftduktus zeigt uns eine Pause an, die Joseph Moritz eingelegt hat.

Da sitze ich nun seit über einer Stunde mit gezückter Feder und weiß nicht, wo beginnen. Es ist mir nämlich nicht möglich, heute, nachher, so zu tun, als würde ich es damals schreiben, als ich es erlebte. Ich kann nicht so tun, als kennte ich den Franz noch nicht so wie heute. Ich kann nicht so tun, als wäre der Franz jetzt der kleine Bub, als den ich ihn kennengelernt habe. Ich kann nicht so tun. Ich, der Franz, wir beide, unser Leben war damals mit uns im Wachsen. Das IST nicht mehr, das WAR alles. Verstehst du das?

Joseph Moritz ist hier zweifellos an die Grenzen dessen geraten, was er für Dichtung oder Dichtkunst hielt. Hier bemerken wir aber auch das völlig verstellte Bild, das er von sich selber hatte. Niemand hat damals von ihm verlangt, das, was er erlebt hat, wie Heutiges zu erzählen. Einfach niederzuschreiben, was er empfand, war dem Joseph Moritz offenbar zu wenig; das war nicht des Dichters Werk, zu empfinden und das zu notieren. Beim Dichter musste seiner Ansicht nach auch ein gewisses Maß an Umformung, an Verformung, an Neuformung stattfinden, ob sie nun passte, sich aufdrängte, sich so ergab - oder nicht. Und wenn sie sich schon nicht aufdrängte, weil sie halt nicht passte und sich daher auch nicht ergab, dann musste man den ‚Stoff’ eben zwingen. Und genau dieses ‚Zwingen’ meinte Joseph Moritz nicht zu vermögen. Er hätte lügen müssen. Er hätte das tun müssen, was allerdings viele Schriftsteller tun, die Selbsterlebtes einfach in eine so genannt überhöhte und damit künstlerische Form umgießen, und damit Kunst vorgaukeln, Dichtkunst vorgaukeln, indem sie lügen und Selbsterlebtes zum Einfall umbilden.

So ergibt sich ein für Joseph Moritz trauriger Schluss: Er hätte nur die richtigen Gesprächspartner haben müssen; dann wäre er vielleicht kein Dichter, aber seiner selbst sicher geworden. Er hätte eben geschrieben, nicht als Dichter und nicht für eine Nachwelt, sondern einfach deshalb, weil es seine Art war, sich mitzuteilen, indem er es niederschrieb und beim Schreiben noch einmal durchdachte, noch einmal erlebte, nocheinmal durchlitt, sich noch einmal freute.

‚Verstehst du das?’, war die letzte Eintragung. An ihr knüpft Joseph Moritz nach einer Pause, die möglicherweise sogar ein paar Tage gedauert haben konnte, an.

Wer sollte mich denn verstehen? Wen habe ich denn da angesprochen? Wen habe ich da angefleht? Meine Mutter? Mutter! Mein Respekt verbietet mir, mehr zu sagen. Meinen Vater? Mein Vater! Er ist schon nicht glücklich mit mir, wie er mich kennt. Lernte er gar noch die Winkel an mir kennen, die ich verheimlichen muß, was wäre denn gar dann?

Ich muß mir einen anderen Platz zur Aufbewahrung meines Tagebuches suchen. Oder nicht alles schreiben. Aber ich schreibe sowieso nicht alles. Das, was ich schreibe, errettet mich vor dem Tode des inneren Erstickens. Oder vor einem anderen baldigen Tode.

Einem Freund geben? Das Tagebuch. Einem Freund? Franz, ja, der hat Freunde. Freunde, denen er vertrauen könnte, daß er ihnen ein Tagebuch wie meines hier anvertrauen dürfte? Dem Franz sind viele treu. Treu ergeben. Stehen zu ihm, nein, sind ihm ergeben. Der Kaiser ist sein Freund, sein verläßlichster. Ihm kann ich zweifellos nicht mein Tagebuch zur Aufbewahrung übergeben. Kaiserin Karolina Augusta? Sie liebt den Franz, sagt auch heute noch ‚Fränzchen’ zu ihm. Sie ist die einzige, die sich ihm gegenüber Herzlichkeiten herausnehmen darf. Sie ist auch die einzige, deren Herzlichkeiten gegen den Franz mir keinen Stich ins Herz versetzen.

Was tun?

Ich möchte alles vom Franz erzählen, alles von früher, als ob er da säße. So säße, wie er sitzt, wenn wir allein sind: Den mageren Oberkörper etwas eingesunken, leicht nach vorne gebeugt, die langen Beine gegrätscht von sich gestreckt, mit dem linken Arm auf die Lehne des Sessels gestützt, die rechte Hand auf dem rechten Oberschenkel, knapp in der Beuge, ausruhend, mich aufmerksam betrachtend, beim Zuhören hin und wieder nickend und, wie so oft, nicht ganz bei der Sache.

Dann frage ich ihn: „Franz, hörst du mir zu?“

Und er antwortet so wunderbar lächelnd: „Jomo, es ist zu viel. Nicht nur, WAS du erzählst, ist schön, sondern auch, WIE du es erzählst.“

Dann wird mir heiß, ich spüre mich erröten, er aber lächelt weiter: „Soll ich dir nun zuhören oder zuschauen? Bei dir kann ich nur eines!“

Dann schließt er die Augen. Jetzt kann ich nicht mehr erzählen, denn wenn Franz die Augen schließt, ist er nicht mehr da. Also bitte ich ihn, die Augen zu öffnen. Er tut's und blickt so verschlafen, als wäre er eben aufgewacht. Aufgewacht nach einer Nacht. Es ist Morgen.

Es ist Nachmittag. Ich beschreibe ihn mir, weil ich ihn nicht habe. Was weiß ich, was er tut?

Joseph Moritz ist in Gedanken versunken. Dieses Grübeln, das ihn in den Jahren 1830 und 1831 immer wieder befiel, begann seinem Vater Sorgen zu machen. Schwermut, Neigung zum totalen Versinken, sich zeitweise selbst nicht finden, so erzählte es der Vater dem Doktor Johann Peter Franck. Franck behandelte sowohl den Herzog, als auch Metternichs Sohn Viktor. Auf Vaters Bitten untersuchte er Joseph Moritz einmal, stellte aber keine Krankheitssymptome fest. Damals musste man schon seine Lunge heraushusten, damit der Arzt einen nicht auf einen nicht vorhandenen Ausschlag behandelte, wie es der Doktor Malfatti so lange Zeit beim Herzog tat, bis Doktor Franck endlich die wahre Krankheit erkannte. Da war alles schon zu spät.

„Ein romantisches Gemüt“, attestierte er dem Joseph Moritz. „Hang zu Schwärmerei, Anfälligkeit für mitteltiefe Melancholie“, das waren die näheren Erläuterungen. ‚Mitteltief’, das klang nicht nach Selbstmordgefahr. „Viel gehen in frischer Luft“, war die Therapieanweisung, die Franck dem Grafen Dietrichstein für seinen Sohn mitgab. Franck hat diese Diagnose sogar in seinem Patientenbuch festgehalten. Ein schräges Kreuz am Rande der Eintragung, mehr schon ein X, kennzeichnete den Fall Joseph Moritz von Dietrichstein als harmlos und erledigt.

Heute ist der Franz auf Inspektion zu seinem Regiment gefahren.

Das schreibt Joseph Moritz als einzige Eintragung eines Tages Ende Jänner 1831.

Der Schrift nach folgt der nächste Satz um einiges später.

Heute beginne ich, die Vor-Tagebuch-Zeit aufzuarbeiten. Ich habe Zeit. Der Franz ist bei seinen Kameraden. Ich bin ja kein Kamerad.

KAPITEL 4

Joseph Moritz wusste nicht, wo und wie er mit seinem Bericht „Was vorher war“ beginnen sollte. Er brauchte für seine Überlegungen sogar einige Tage lang. Das WAS und WIE hatte ihn ja schon in einer früheren Eintragung gequält. Je mehr er sich jedoch seinem Vorhaben zu nähern vermeinte, desto mehr Unsicherheiten tauchten ihm auf.

Das Wochenende war kalt und klirrend. Wir gingen kaum aus dem Hause. Mein Vater, der auch in seinen Dienst gehen muß, wenn der Franz nicht da ist, schimpfte wie ein Rohrspatz, zumal sich Metternich noch kaum jemals um die Anwesenheit des Erziehungsstabes des Herzogs gekümmert hatte. Aber just gestern hat er vorbeischauen lassen, wie der Adjutant es ausgedrückt hatte.

„Nicht der Herzog hat mit Ihnen zu studieren, sondern Sie alle haben in Permanenz den Herzog zu studieren!“, so ließ Metternich freilich ohne gegebenen Anlaß, wie ausdrücklich betont wurde, ausrichten.

Mein Vater fluchte, wie ich ihn noch nie gehört habe.

Unser Haus ist bei der strengen Kälte nur sehr schwer zu beheizen. Wirklich warm ist es nur in der Küche, an deren großem Tisch wir auch unsere Mahlzeiten derzeit einzunehmen pflegen. Mäßig warm ist es noch im großen Salon, wo sich die Familie aufhält. Die eigenen Zimmer aufzusuchen ist nur möglich, wenn man sich dort gleich zu Bette begibt. So sind alle mißmutig und beäugen, mangels eigener Tätigkeit, jeder den anderen, wie auf der Suche nach Zerstreuung durch den anderen.

Ich lese ein wenig von Collin. Nicht von Franzens Lehrer. Der dichtet zwar auch. Versucht es halt. Wie ich. Nein, ich lese von seinem Bruder, der - seiner Verbreitung nach - sehr wohl sich zum Berufstand der Dichter zählen darf. Aber ich weiß nicht, was ich da alles gelesen habe. Ich habe leere Worte, aneinandergereihte Buchstaben eingesogen. Und irgendwo im Gehirne verloren, noch bevor ich sie verstanden habe. Wie soll ich da einen Gedanken fassen? Und wenn ich einen fasse, wie ihn niederschreiben? Ich habe so meine Gedanken, gewiß. Aber sie verflüchtigen sich wieder. Wenn ich’s nicht niederschreibe, hält es nicht. Und mir erscheint es qualvoll, daß es sicherlich die besten Gedanken sind, die ich so nicht niederschreibe.

Jetzt sitze ich in meinem Zimmer; es wird kalt und kälter. Ich werde gleich zu Bette gehen. Keiner der Gedanken des Tages ist da. Keiner zum Niederschreiben. So beschreibe ich meine Zeit ohne Gedanken. Vielleicht dann, wenn ich im Bette liege, wenn mein Körper auftaut und sich in jedem Glied füllt mit meinem Denken und Fühlen. An den Franz wohl. Ganz ohne Probleme. An den Franz. Nur schnell einschlafen.

Klamm sind die Schriftzüge. Joseph Moritz ist schlafen gegangen. Die nächste Eintragung spricht vom nächsten Tag.

Plötzlich hab’ ich’s: soll ich berichten ab der Zeit, in der der Franz lebt? Soll ich auch die Zeit vorher erzählen? Habe ich denn gelebt, bevor es den Franz gab? Doch, ich habe gelebt. Zehn Jahre lang. Und dann noch vier Jahre lang, bis ich den Franz zum ersten Male erblicken durfte. So werde ich dem Franz alles das erzählen, was ich seit seiner Geburt erlebt habe.

Ich habe gesagt, ich hab’s. Ich weiß, WAS ich erzählen werde, und ich weiß, WEM ich es erzählen werde. Und da der Franz es nie lesen wird, ist jeder, der es einmal liest, der Franz. Also niemand.

So beginne ich:

Ich weiß noch, daß es Ende März des Jahres 1811 war, als wir erfuhren, daß am 20. März, morgens um neun Uhr und fünfzehn Minuten die Glocken von Notre Dame in Paris und die Glocken aller Kirchen der Stadt mit voller Stärke dröhnten. Ein Kanonenschuß zerriß die Luft. Alle wußten, einundzwanzig Schüsse würden die Geburt einer Tochter des Franzosenkaisers Napoleon und seiner Gemahlin Marie Luise verkünden. Erzherzogin Marie Luise, deiner Mutter, Franz, die ein Jahr zuvor in der Wiener Augustinerkirche per procura mit deinem Vater vermählt wurde. Fünf Tage nach dieser getrennten Hochzeit wurde Ihre Kaiserliche Hoheit an der österreichischen Grenze an Frankreich übergeben, um in das Ehebett Napoleons geführt zu werden.

Franz schlägt die Hände vor das Gesicht. Ich weiß, die Nennung der Mutter verschafft ihm Pein. Denn mittlerweile, wenn ich dies niederschreibe, weiß er schon alles über sie. Und der Vater ist tot.

„Franz, ich will dich nicht quälen. Franz!“

Er löst langsam seine Hände vom Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, ob er geweint hat. Schatten verhüllen eine genaue Sicht in sein Antlitz.

„Sprich weiter“, sagt er fast ohne Ton.

Alle in Paris, die jetzt die Kanonenschüsse zählen, wissen, wenn es über einundzwanzig hinausgeht, dann ist er geboren, der Thronfolger, der sofort mit seiner Geburt König von Rom wird. Nun Franz, es waren mehr als einundzwanzig Schüsse es waren die einhundertein Schüsse. Und sie galten dir. Deiner Geburt. Der Geburt des Königs von Rom. Sohn des geliebten Vaters, den er, so sagte er mir, persönlich nicht in seiner Erinnerung hat. Der König von Rom ist er nun auch nicht mehr.

„Franz“, frage ich zögernd, „soll ich weitererzählen?“

Franz ist blaß, aber er bittet fast: „Sprich weiter.“

Dann erfaßt ihn ein Zorn, er schlägt mit der Faust auf die Lehne seines Sessels - man hört nichts, denn die Lehne ist gepolstert - und er zischt: „Sprich weiter. Erzähl mir vom Entstehen einer Leere.“

„Einer Leere?“, frage ich erstaunt und nicht verstehend.

„Meines Lebens“, sagt er so, als wollte er sich verbessern.

Ich wollte nicht verstehen, weil ich gerade dabei war, mich in meine eigene Geschichte zu versenken, uns so vertiefte ich mich wieder in die Erinnerung.

Es war das Jahr, in dem unsere Familie viel Geld verlor. Mein Vater schimpfte irgendwas von „unfähiger Finanzverwaltung“ und „da schmeißen sie das Geld hinaus für alles mögliche und wir dürfen zahlen“. Unsere Bankozettel, Geld aus bedrucktem Papier, waren immer wertloser geworden. In jenem Jahr mußten wir sie umtauschen gegen - ich glaube - Einlösungsscheine. Neues Papier, das keinen Wert hatte. Meine Mutter fragte damals ängstlich: „Aber unser Silber, das bleibt doch was wert, Herr Vater?“

Der Vater zischte, blickte sich um, daß ihn nur ja niemand hörte, dann maßregelte er meine Mutter: „Geh’ sie doch gleich auf die Gass’n und erzähl’ sie’s einem jeden.“

Erst später erfuhr ich, daß mein Vater das gleiche getan hatte, das viele damals taten. wenn sie’s hatten: er hatte Silbergeld gehortet, in einer Truhe im Keller.

Nun, uns hat’s ja nicht so sehr getroffen, wir haben ja unsere Güter. Aber es soll viel Elend gegeben haben draußen, wo die Leute wohnen. Nicht nur, weil das Geld weniger geworden war, sondern weil für die, die kaufen mußten, auch noch alles teurer wurde.

„Arme Leut‘“, sagte mein Vater, „an die denkt keiner!“

Meine Mutter aber war nicht weiter unruhig: „Die Polizei paßt schon auf, daß uns nichts g’schieht! Gell?“

„Die Polizei“, antwortete mein Vater, „das sind ja auch keine armen Leut’. Da schaut schon der Metternich drauf.“

Vom Metternich war damals überhaupt viel die Rede.

Ich hatte den Franz vergessen: „Verzeih’, ich will deinem Wohltäter nichts nachsagen. Aber laß’ mich dennoch, soweit es geht, bei der Wahrheit bleiben.“

Franz staunt: „Meinst du, Jomo, ich erzähl’ ihm vielleicht was?“

Ich bin verwirrt: „Ich weiß nicht. Mußt du nicht? Muß einer wie du nicht? Muß ich jetzt schweigen?“

Der Franz lacht: „Ich will es nicht auf die Probe ankommen lassen, wer wem gegenüber was muß!“

Ich fühle mich plötzlich ohne eigenen Willen. Ich brauche einen Befehl. Aus mir selber kommt keiner. Franz ist mir im Augenblick fremd. „Metternich oder ich“, das sind beinahe gotteslästerliche Reden.

Jetzt seufzt er, blickt mich an, dreht sein Gesicht ganz aus dem Schatten heraus, und sagt herausfordernd: „Na?“

Ich weiß plötzlich so vieles nicht. Wir haben im selben Jahr das „Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch“ bekommen. Aber es hat auch nichts genützt, als der Hornbostel, der Seidenfabrikant, den selbstwebenden Webstuhl erfunden und auch gleich in Betrieb genommen hat. Früher hat er für jeden Webstuhl einen Weber gebraucht, für Tag und Nacht also zwei. Jetzt treibt ein Schwungrad gleich acht Webstühle an und er braucht nur noch drei Leute für die acht Webstühle.

Ja, und der Heinrich von Collin, der Dichter, der Bruder von deinem Lehrer Matthäus von Collin, der ist damals gestorben.

Ein Schatten von Trauer zieht über Franzens Gesicht, denn auch der Matthäus von Collin, sein Lehrer, ist im November 1824 gestorben.

Ich aber beschließe jetzt, die Schatten auf dem Franz nicht mehr zu berücksichtigen, indem ich jedesmal auf sie einzugehen versuchte.

Ich vertiefte mich wieder in die Vergangenheit. Der Schikaneder ist gestorben, 1812 glaube ich. „Er hat alles verjuxt!“, spottete mein Vater. „Schulden machen und dann wahnsinnig werden“, das war sein Urteil über Schikaneders Leben.

„Hat er wirklich so gedacht?“, fragt der Franz. „Ich möchte über meinen Erzieher nicht solches hören, wenn es nicht ganz exakt der Wahrheit entspricht, Jomo. Denk’ nach! Hat dein Vater das gesagt?“

Es war nicht der Funken von Verlegenheit, der mich etwa jetzt befallen hätte. Wußte ich doch, daß mein Vater Mozart über alles schätzte und liebte und der festen Meinung war, daß Schikaneder den Mozart schamlos ausgenutzt hatte und viel Geld hatte, während Mozart an manchen Tagen nicht wußte, wie weiterleben. Und der Mozart wäre nun einmal der gewesen, dem aller Reichtum zu gönnen war, nicht der Schikaneder, dieser Opportunist schlechthin, der sich ein Genie zu Diensten machte.

Franz lacht: „Liebe und Ungerechtigkeit, wie nahe liegen sie doch zusammen!“

„Ja“, antworte ich ereifert, „weil die Liebe zu dem einen so viel Liebe zu anderen ausschließt. Ausschließen muß. Liebe ist an einen - darf ich so sagen - festen Gegenstand gebunden. Und der wiederum frißt alle Liebe auf. Alle Liebe!“

„Schon gut, schon gut“, beschwichtigt mich Franz, „ich weiß schon.“

Jetzt wird sein Ton zarter, sein Blick allerdings erreicht mich aus dem Schatten, in den er sein Antlitz zurückgezogen hat: „Ich weiß schon, Jomo.“

Joseph Moritz hat dies nicht alles in einem Zuge geschrieben. Dem Schriftduktus nach dürfte es sich über einige Tage, mindestens sechs oder sieben, hingezogen haben.

An der Stelle, an der wir jetzt halten, ist die Unterbrechung allerdings besonders auffällig, da sie von starker Emotion getragen scheint. Er hat hier aufgehört. weil er einerseits von seinem Gefühl übermannt worden war, andrerseits aber mit dem Kopf gegen eine Wand gerannt war, wie er vermeinte.

Ich habe ein Stück des bisherigen gelesen. Ich hätte es nicht tun sollen. Alles, was ich bisher über früher geschrieben habe, beweist doch nur, daß ich es dem Franz gar nicht so erzählen kann, wie es war. Er korrigiert mich während des Schreibens. Er sucht aus, was wichtig und was unwichtig ist. Er läßt gar keinen anderen Satz zu, als den, der ihm nahegeht, der seine Empfindungen anspricht, der ihn interessiert.

Was bin ich für ein Dichter!

Ich versuch’s halt weiter.

Die vielen Baustellen, die wir heute in unserem Wien haben, rühren auch aus der Zeit deines ersten Lebensjahres. Dein lieber Vater Napoleon - das ‚lieber’ bezieht sich auf die Bezeichnung, die wir ihm damals gaben, als er uns 1809 zum zweiten Male heimsuchte - hatte die Burgbastei sprengen lassen. Ein paar Jahre lang wurde überlegt, ob man die Mauer wieder aufbauen solle oder nicht. Dann aber entschied man sich höchsten Ortes, die Innenstadt an der Stelle zu vergrößern, die Mauern also nicht mehr aufzubauen. Seither haben wir dort eine Baustelle. Sie haben einen Park angelegt, das Äußere Burgtor errichtet. Und wie sie aus dem Paradeplatz den Äußeren Burgplatz gemacht haben, da hat man in unseren Kreisen schon etwas gestöhnt, war doch die ‚Ochsenmühle’ plötzlich verschwunden.“

Franz lacht: „Ochsenmühle? Was ist denn das?“

„Das ist nicht mehr“, antworte ich, „das war eben. Das war der Korso. Und weil dort nicht viel Platz war, mußten wir immer im Kreis gehen. Und von dieser ‚Im Kreis Geherei’ hat unser Korso den Namen ‚Ochsenmühle’ gehabt. Du weißt, diese Mühlen, die von Ochsen angetrieben werden, die immer im Kreis gehen.“

„Kein schöner Name, alles Ochsen?“, lächelt Franz.

Keiner dachte daran, ein Ochse zu sein, wenn er dorthin ging, um sich sehen zu lassen, obwohl er daheim sagte, er ginge jetzt auf die ‚Ochsenmühle’. Ein Jahr später ist dann der Eipeldauer gestorben. Er war, pardon, vor allem durch deinen Vater, als Schreiber nationaler, patriotischer Schriften sehr beliebt. Ja, und der Schubert ist irgendwie aufgetaucht. Seine erste Symphonie wurde uraufgeführt. Ich war mit dem Vater dort, frag’ mich nicht, Franz, wie’s war, ich kann mich nicht mehr erinnern. Mein Vater aber verkündete mir damals seherisch: „Den Namen wird man sich merken müssen!“

„Auch schon tot“, murmelt der Franz.

Ja, jetzt, da ich dies schreibe, ist er schon drei Jahre tot.

„Einunddreißig Jahre ist er geworden“, sinniert der Franz. „Ich bin zwanzig. Und du dreißig!“

Der Franz sieht mich groß an: „Dreißig, Jomo!“

Ich lache: „Ich kann noch nicht sterben, ich habe noch nicht eine einzige Symphonie geschrieben!“

„Wirst du je sowas Bedeutendes schreiben?“, fragt plötzlich ganz ernst der Franz; dann fügt er leise hinzu: „Ich wohl nicht. Bei mir müßt’ es schon eine Schlacht sein. Eine Schlacht wie eine Symphonie!“

Napoleon, Cäsar, Hannibal, das sind Franzens Künstler.

Dann rafft sich der Franz auf: „Mein Vater, der hat euch damals ganz schön zugesetzt, oder?“

Ich zögere mit meiner Antwort. „Es war Krieg. Ja, in Leipzig haben wir Napoleon besiegt.“

„Wir“, gibt sich Franz plötzlich aufgebracht, als wäre er der Verteidiger seines Vaters in einem Prozess, „das waren immerhin Österreich, Preussen und Russland. Sie alle hat’s gebraucht... Dennoch“, träumt er jetzt, „eine herrliche Schlacht, ich habe sie in allen Einzelheiten studiert.“

Eine herrliche Schlacht, denke ich für mich. Allein fast fünfzehntausend Österreicher blieben im Felde. Insgesamt fünfunddreißigtausend Tote und Verwundete auf Seiten der Franzosen, die Verbündeten verlieren noch mehr.

Ach, denke ich mir, was soll denn das bedeuten. Dem Franz das alles vorrechnen, nur weil er seinen Vater bewundert und liebt? Ich spüre eine Entfernung zwischen Franz und mir. Seine Überlegungen sind dynastisch, staatsmännisch, ich scheine da doch mehr mich dem Volke verbunden zu fühlen. Aber ich will diese Entfernung nicht, also erzähle ich weiter, in der Hoffnung, die kleine Kluft, vor der ich solche Angst habe, zu schließen.

Hier hat Joseph Moritz wieder abgebrochen. Er verstrickte sich beim Versuch, das Bisherige aufzuarbeiten, zum ersten Mal in einen Konflikt mit dem Herzog. Vergessen wir nicht, der Herzog war immer noch auf Inspektion. Es war immer noch Ende Jänner 1831, vielleicht schon Anfang Februar. Joseph Moritz nannte sein Schriftwerk zwar ein Tagebuch, vergaß allerdings meistens die Datierung, so, als wollte er eigentlich einen Roman, eine fortlaufende Geschichte schreiben. Jedenfalls brachte ihn die Beschäftigung mit dem, was vor dem Herzog von Reichstadt mit ihm, Joseph Moritz, war, in gedanklichen Widerstreit mit dem Herzog. Aber was geschehen war, war nun einmal geschehen. Die damalige Realität vertrug sich nicht immer mit der heutigen Realität. Ihm gegenüber saß der Sohn Napoleons, der Sohn des Mannes, der letzten Endes mehr oder weniger das ganze Leben des Joseph Moritz und seiner Familie bestimmte.

Joseph Moritz hat da aber einen rigorosen Entschluss gefasst:

Ich werde mich ab jetzt kürzer fassen.

So schreibt er schon am nächsten Tag.

Gestern habe ich mich wohl verrannt. Ich habe deinen Einwänden und Bemerkungen mehr Gewicht geschenkt, als meiner eigenen Erzählung. Und um diese allein soll es hier ja gehen.

Verzeih mir, Franz, wenn ich dich also jetzt zum Schweigen verurteile. Wie ich allerdings auskommen werde, ohne mir deine liebe Stimme wenigstens vorzustellen, indem ich ihr in meinem jetzigen Geschreibe einige Worte zu sagen gebe, weiß ich nicht. Laß es mich versuchen. Ich weiß allerdings jetzt schon, wenn ich etwas versuche, daß mir das nie gelingt.

Ich bin ja schon bei dem Jahr angelangt, in dem - ich darf gar nicht sagen - eine glückliche Fügung es schickte, daß du nach Wien kamst.

„Warum darfst du das nicht sagen?“, mischt sich der Franz trotz meines Flehens ein. „Daß wir beide einander kennen, ist das keine glückliche Fügung?“

Dann seufzte er und - eben hatte er mich noch im Licht so klar angesehen - zieht sein Antlitz in den Schatten zurück, aus dem er leise spricht: „Vielleicht die glücklichste Fügung meines gesamten Schicksals, wer weiß?“

Ich schüttle verzweifelt den Kopf, weiß nicht, freue ich mich oder ärgere ich mich, mache also verbissen weiter.

Immerhin mußte dein Vater erst einmal abdanken und wurde auf das Fürstentum Elba geschickt. Der Bourbone Ludwig XVIII. hat den Thron Frankreichs wieder. Und deine Mutter Marie Louise kommt mit dir nach Wien zurück.

„Mit mir im Gepäck“, lächelt Franz zynisch, „denn ich war ihr sicher schon damals eine Last.“

Drei Jahre warst du damals alt, du kannst also noch keine große Last gewesen sein. Jetzt gebe ich mich zynisch.

Dann fällt mir aber ein, wie unser Kaiser, nachdem er den Frieden von Paris ausgehandelt hatte, am 16. Juni 1814 nach Wien zurückgekehrt ist.

„Ich weiß“, stöhnt Franz leise, „da kann ich mich gerade noch erinnern, daß ich da auch herumstehen habe müssen!“

Jetzt äußert er sich ganz aus der ihm zustehenden Sicht von oben her: „Was soll denn da Besond’res dran sein?“

Joseph Moritz scheint durch diese Äußerung in Verwirrung zu geraten. Immerhin hat ihm das ganze Rückkehr-Zeremoniell offensichtlich sehr gut gefallen. Durch des Herzogs herablassendes Wesen fühlt er sich in die Reihe der Plebs versetz, der Leute, denen so Etwas halt gefällt!

Was willst du? Ganz Wien hat aufgeatmet. Rund eineinhalb Jahrzehnte waren wir außenpolitisch und militärisch bedroht. Und jetzt schien endlich Ruhe, Beruhigung in Sicht. Was willst du? Einem Volk verwehren, daß es feiert? Der Kaiser wurde im Triumph empfangen.

Jetzt kennt er kein Taktgefühl mehr dem Sohn des Mannes gegenüber, dessen Untergang ganz Wien feiert.

Auf das Glacis vor dem Kärntnertor haben sie einen wunderschönen Triumphbogen hingestellt. Aber man hat es dem Kaiser auch angesehen, daß er was Gutes mitbringt. Seine dunklere, gesunde Gesichtsfarbe ist ihm gut angestanden. Meine Mutter stellte fest, daß die knappere, modisch wattierte Pariser Uniform seiner Gestalt eine Fülle und Eleganz gaben, die man sonst an ihm keineswegs gewohnt war. Und mein Vater stellte fest, daß - im Gegensatz zu seinem Äußeren - sein Wesen wohltuend gleichgeblieben sei: dieselbe Leutseligkeit, derselbe mit der tiefgefühlten Freude rückhaltende Ernst, dasselbe Gemisch von Würde und Bescheidenheit in seinen Zügen...

Weit und breit keine Zwischenrede mehr vom Herzog. Joseph Moritz konnte ihn vergessen und berichten, wie es ihm und nur ihm ums Herz war. Und gleich wurde sein Stil freier und flüssiger, wenn er sich der immerwährenden Kontrolle des Herzogs entzogen hat.

Und am Abend ist die ganze Stadt festlich beleuchtet. Ich erinnere mich da besonders an die Beleuchtung des Odescalchi’schen Palastes; er war überirdisch schön beleuchtet. Als würde er nicht fest gemauert auf dem Boden stehen, sondern schweben; nicht hoch, sondern gerade so, daß es den Boden nicht berührt und sich vielleicht gar schmutzig machen könnte.

Ach Gott, ich weiß so viele Einzelheiten gar nicht mehr; eines jagte das andere. Den Kongress haben sie veranstaltet, wo sie das Chaos, das Napoleon hinterlassen hat, neu regeln wollten. Bälle hat es gegeben, Militärfeste und Militärparaden, eine wunderschöne Schlittenfahrt, wo sie alle aus der Stadt nach Schönbrunn hinaus gefahren sind. Mein Vater mußte damals mit und regte sich fürchterlich über die Verschwendung auf. Zurückgekommen ist er mit einem recht starken Schnupfen. Mutter hat damals zu ihm gesagt: „Siehst du, das kommt von der dauernden Schimpferei. Hättst dir lieber was Warmes angezogen!“

Mein Vater antwortete nicht. Er antwortete meiner Mutter nie vor uns allen, wenn er ihr etwas Ernsthaftes zu sagen hatte. Und er hatte ihr sicherlich etwas Ernsthaftes zu sagen nach dieser respektlosen Bemerkung.

Am 5. März, ich glaube, 1815 war es -

„Ja“, sagt der Herzog.

Ich erschrecke. Der Herzog. Ganz so sieht er mich jetzt an. Der Herzog. Nicht der Franz. Der Herzog. Der zutiefst getroffene Sohn Napoleons. Ja, kommt mir in den Sinn, du schaust eben der Geschichte in das Gesicht. Ich sehe nur die Geschichte, ich habe den Menschen dahinter vergessen.

„Ja“, hat er gesagt.

Also 1815. Er wird es wohl wissen: Am 5. März. Ich weiß es noch genau, weil mein Vater am selben Tag zürnend sagte: „Und ich soll der Erzieher von seinem Buben werden. Das hat sich wohl jetzt!“

Am 1. März war nämlich Napoleon aus Elba zurückgekehrt. Alle waren sie durcheinander; auch der lustige Kongress ging nicht so recht weiter.

Mein Vater aber sagte damals: „Hat auch sein Gutes, jetzt müssen sie wenigstens zusammenhalten, weil sie einen Feind haben, vor dem sie sich alle fürchten!“

Aber dann kam ja gottlob bald Waterloo und der Spuk war endgültig vorbei.

„Eine grandiose Schlacht“, sagt Franz leise.

Für den, der Schlachten liebt, vielleicht ja. Ich erschrecke. Der Franz liebt Schlachten. Er muß Schlachten lieben. Er ist zum Staatenlenker erzogen. Ein Staatenlenker muß Kriege führen.

Aber Joseph Moritz sieht seinem Franz offenbar nicht in die Augen. Selbsterlebtes ist eben nicht Geschichte. Für ihn ist Napoleon ein Feind. Und der Herzog ist sein Freund, dem er alles erzählt. Was schert den Joseph Moritz eine verloren gegangene Dynastie? So halten auch seine auftauchenden Bedenken nur ganz kurze Zeit, dann geht er in ungewohnter Konsequenz seiner selbst gestellten Aufgabe des Erzählens nach. Hätte er sich nur selbst zuschauen können, er wäre sicher stolz auf sich gewesen. So aber sieht er gar nichts. Nicht sich selbst und nicht den anderen in seiner armseligen Situation.

Einer war übrigens damals sehr unglücklich; das war der Erzherzog Johann. Er hat sich nicht gerade Freunde gemacht, wie er verkündet hat: „Es ist ein jämmerlicher Handel mit Ländern und Menschen! Napoleon haben wir und seinem System geflucht, und mit Recht; er hat die Menschen herabgewürdigt, und eben jene Fürsten, die dagegen kämpfen, treten in seine Fußstapfen.“

„Das hat er gesagt?“, fragt leise der Franz.

Ich weiß, der Franz verehrt den Erzherzog sehr. Spricht manchmal mit ihm, ist angetan von seinen Ideen. Weiß nicht recht, der Franz, ob er auf seinem dynastischen Standpunkt bestehen soll, oder ob er rückhaltslos die Ideen des Erzherzogs für gut befinden soll. Rückhaltslos, das war es. Es ging nur rückhaltslos. Denn einen Kompromiss ließen die Ideen des Erzherzogs nicht zu.

Ja, das hat er gesagt. Habt ihr darüber nie gesprochen? Der Graf de la Garde hat allerdings die wirkliche Situation des Kongresses viel deutlicher beschrieben; nie, meinte er, sind wichtigere Fragen inmitten so vieler Festlichkeiten verhandelt worden; auf einem Balle wurden Königreiche vergrößert oder zerstückelt, eine Verfassung auf der Jagd entworfen, und bisweilen brachte ein Bonmot, ein glücklicher Einfall einen Traktat zustande, den zahlreiche Konferenzen und geschäftiger Briefwechsel nur mit Mühe zum Abschluß hätte bringen können.

„Wurde viel geschwätzt damals“, murmelt Franz, „von Schmeißfliegen. Man kennt das ja!“

Schmeißfliegen, nun gut. Der Feldmarschall Fürst von Ligne hat zwar gesagt, daß der Kongreß nicht vom Fleck komme, er tanze.

„Er hat aber auch gesagt“, wirft Franz belustigt ein, „daß jetzt nur noch das feierliche Begräbnis eines Feldmarschalles fehle. Er werde dafür sorgen...“

Und ist selbst gestorben, ja. Der rosarote Prinz. Alles rosarot an ihm und um ihn herum, Kutschen, Livrees, Briefpapier, selbst sein Haus auf der Mölkerbastei samt den Stallungen, alles rosarot.

„Was hast du gegen rosarot?“, fragt der Franz mit einer Anzüglichkeit, die mich ganz zu ihm herumwirft.

Wie der Kongress dann aus war, ist ja auch die Frage deiner Erziehung geregelt worden. Genauso, wie es vor dem Zwischenspiel der Rückkehr deines Vaters beschlossen gewesen war: mein Vater wurde dein Erzieher. Und Ende Juni wurden wir einander vorgestellt. Ein etwas über vier Jahre alter Knabe, ein sogenanntes schönes Kind, das mit ‚Königliche Hoheit’ angesprochen werden mußte und vor dem wir alle die großen Complements machen mußten. Ich mit meinen vierzehn wohlerzogenen Jahren war eigentümlich berührt.

„Joseph Moritz?“, hast du mit heller Stimme wiederholt, als mein Vater dir meinen Namen mitteilte. Und noch einmal hast du’s gesagt: „Joseph Moritz?“ Und mir kam vor, als hättest du gesagt: „Joseph Molitz?“ Als hättest du den Namen komisch empfunden.

Und ich sagte einfach: „Ja.“

Mein Vater verbesserte: „Königliche Hoheit!“

Und ich setzte schnell nach: „Königliche Hoheit!“ Und bekam einen kleinen Stoß in den Rücken, weil ich mich retirieren sollte und mich dabei zu verbeugen hatte.

Du aber, Franz, drehtest dich zur Gräfin Montesquiou um und sagtest noch einmal: „Joseph Moritz“, so, als wolltest du, daß sie den Namen aufschreibt.

Ich halte inne, denn der Franz sinkt in die Erinnerung: „Maman Quiou, Toto, Chan-Chan, die lieben Frauen...“

Ja, mein Vater hat oft genug gejammert, daß er dich von lauter Weibern übernommen hat, die dich verzogen und vergöttert haben.

Joseph Moritz hält kurz inne, vielleicht erschrocken über das, was er dem Herzog da erzählt. Und wie er es erzählt.

Das, Franz, war die Zeit, wie ich sie verlebte, als ich das Glück noch nicht hatte, dich zu kennen. Ich war in der Zeit allein. Allein sein, heißt für mich heute, ohne dich sein. Bevor ich dich kannte, war ich zwar allein. Aber nicht ohne dich. Mag sein, daß ich die Zeit daher mit anderen Augen sehe. Mit Augen, die noch ganz mir gehört haben.

Joseph Moritz hat hier abgebrochen und am nächsten Tag weiter geschrieben.

Ich habe das gestrige überflogen und bin verwundert über den klaren, rücksichtsfreien Blick, den ich auf die Ereignisse habe. Es ist so sicher gut, daß Franz dies nie lesen wird. Es ist auch sicher gut, daß ich jetzt mit meiner Erzählung von früher fertig bin und den freien Blick verliere, der wahrscheinlich ein inniges Zusammentreffen mit dem Franz unmöglich machen würde. Fünfzehn Jahre sind seit damals vergangen, seit seinem von mir vermeintlich gehören ‚Joseph Molitz’.

Einen Tag habe ich Zeit, denn übermorgen soll er wieder kommen. Aber, stünde er jetzt plötzlich vor mir, ich würde von einer Sekunde auf die andere wieder in das Heute hineinfinden. In das Heute mit dem Franz.

Jetzt muß ich mich schnell zurückhalten. Eben war ich noch froh, einen Tag Zeit zu haben, um geordnet zurückzufinden, jetzt denke ich schon in Sekunden.

KAPITEL 5

Im Jahr 1817 begann Joseph Moritz sein ‚tagtägliches’ Tagebuch zu führen. Als er es begann, war noch keineswegs festgeschrieben, dass es ein Buch über ihn, und den Herzog von Reichstadt würde. Die Beweggründe, warum er überhaupt begonnen hat, ein Tagebuch zu schreiben, erfahren wir in seinen ersten Eintragungen. Ihnen werden wir uns noch widmen, führen uns doch diese ersten Notizen mit großer Eindringlichkeit in die Problematik ein, in der sich Joseph Moritz offenbar vom Anfang seiner denkenden Existenz an befunden haben dürfte. Am 20.3.1801 geboren war er genau 10 Jahre älter als sein späterer Schicksalsmensch, der Herzog von Reichstadt. Er begann sein Tagebuch im Alter von 16 Jahren zu führen. Nach damaligen Entwicklungsphasen war er eher noch ein Kind, bestenfalls ein Jüngling. Körperlich befand er sich sicher schon tief in der Pubertät, geistig aber war er, solang nicht Mann, eben Kind. Geistig hat er alles in der Einschätzung gesehen, die einem sechzehnjährigen damals zukam. Die Tagebuchnotizen allerdings sagen aus, dass Joseph Moritz ein zutiefst empfindsamer und empfindlicher Bursche war; beileibe kein Kind mehr, das er zu sein und als das er nach Lebensjahren zu gelten hatte. Dass aber Joseph Moritz die Jahre davor schon sehr wach miterlebt hat, das wissen wir aus seinen Ergänzungen, die er dem Herzog in seinem Tagebuch, das dieser nie lesen sollte, erzählt hat. Jene Ergänzungen, die die Jahre von 1811, dem Geburtsjahr des Herzogs bis zum Beginn der regelmäßigen Eintragungen, betroffen haben.

Im ersten Jahr der Tagebuchentstehung 1817 scheint Vater Dietrichstein seinen Sohn auch zum ersten Mal mit ins Theater genommen zu haben. Joseph Morìtz knüpft jedenfalls an ein Theaterereignis die Ursache der Einführung seines Tagebuches.

1. Februar 1817

Es ist dies übrigens eine der wenigen Daten, die Joseph Moritz in solcher Deutlichkeit vermerkt hat.

Gestern waren wir im Theater an der Wien. ‚Die Ahnfrau’ von einem Franz Grillparzer erlebte ihre allererste Aufführung. Der Dichter nahm den Dank des Publikums nach der Vorstellung des Stückes selber entgegen; seine Erscheinung brachte einen allgemein günstigen Eindruck hervor; Grillparzer ist nicht gerade hübsch zu nennen, aber eine schlanke Gestalt von mehr als Mittelgröße, schöne blaue Augen, die über die blassen Züge den Ausdruck von Geistestiefe und Güte verbreiten und eine Fülle von dunkelblonden Locken machen ihn zu einer Erscheinung, die man gewiss nicht leicht vergisst.

Nach dem Theater gab es im Garten der Karoline Pichler ein kleines Fest. Der Reichtum eines höchstgebildeten Geistes und eines edlen Gemüts zeigte sich deutlich in allem, was er tat und was er sprach. Mein Vater führte ein kurzes Gespräch mit dem Dichter, dessen Inhalt mich zutiefst beeindruckte, auch wenn ich jetzt nicht im Stande mich sehe, es wiederzugeben, war es doch zu schwer für mich, zu schwer.

Der Direktor Schreyvogel jedenfalls bedeutete meinem Vater mit großem Ernst und erhobenem, komisch nach hinten gebogenem Zeigefinger: „Selten einer, wo sich die Mühe dermaßen gelohnt hat. Und es war weiß Gott mühevoll, Entstehung und Aufführung des Stückes zu bewerkstelligen!“

Mein Vater sprach etwas vom „Adlerauge des Herrn Direktors, was Begabung betrifft“, was dem Direktor nur ein müdes Lächeln entlockte und den Seufzer: „Sag er das einmal unserer Theaterverwaltung!“

Es bestand also schon damals eine Diskrepanz zwischen den Verwaltern eines Theaters und denen, die das Theater tatsächlich zu machen hatten.

Viel bemerkenswerter in unserer Sache scheint es aber, dass der junge Joseph Moritz dem Stück selbst keine Zeile widmet, wohl aber dem Aussehen des Dichters, dessen äußere Erscheinung auf ihn deutlich mehr Eindruck gemacht hat, als ‚Die Ahnfrau’. Immerhin wird Grillparzer damit schlagartig berühmt. Schon ein Jahr später bringt er - diesmal am Burgtheater – ‚Sappho’ heraus, was ihm die Ernennung zum Hoftheaterdirektor auf fünf Jahre einbringt.

Joseph Moritz aber erklärt uns schon am nächsten Tag, wofür mit dieser ersten Notiz gleichsam der Grundstein gelegt war.

Ich habe das, was ich mir gestern auf mehreren Zetteln aufgeschrieben habe, heute in ein Heft übertragen. Ich wollte zuerst das eine oder das andere heute etwas anders exprimieren, habe aber dann doch alles so belassen, wie ich es gestern niedergeschrieben habe. Ich dachte für mich, daß es so, wie ich es gestern geschrieben habe und wie ich es heute lese, gestern eben so empfunden habe.

Überdies hat es mir eine Freude gemacht, heute zu lesen, was ich gestern gedacht und empfunden habe. Und wenn ich es heute da und dort vielleicht etwas anders empfinde, nun gut, dann hat sich eben von gestern auf heute was geändert. Und wer weiß, wie es morgen sein wird, wenn ich morgen das von vorgestern und das von heute, also von gestern lese?

Eine Zeitlang möchte ich das beobachten. Ist es doch das erste mal, daß ich eine Bewegung in mir und an mir sehe. Ein Weiterschreiten, ein Verändern. Das, wo ich hineinwachsen soll, ist ja schon vorgegeben, das haben andere schon bestimmt. Langeweile bedroht mich und meine Gedanken. Langeweile, die unsere Bestimmung zu sein scheint. Die wir jetzt sechzehn Jahre alt sind dürfen nur zuhören; kaum reden; nur wenn wir gefragt werden; und wenn wir gefragt werden, dann kommt es immer noch darauf an, was man gefragt wird; und wenn man Glück hat, dann kann man das, was man gefragt wird, auch beantworten; wenn man es aber nicht beantworten kann, dann wird einem mit einem milden Lächeln gedankt, das einem sagt: ‚Ich weiß, es ist zu früh, das Kind schon zu fragen!’ Und Scham und Zerknirschung macht sich in uns breit; Zerknirschung, die wohlwollend zur Kenntnis genommen wird. Zerknirschung ist überhaupt der beste Ausdruck, um ihn aufzusetzen, wenn man nicht gefragt werden will.

Joseph Moritz schreibt hier von ‚wir’. So klingt es wie eine verdrängte Jugend-Revolte, wie ein Konsens mit Freunden, zumindest aber mit Gleichgesinnten; von solchen ist aber keine Rede. Er spricht nur von sich weiter, verliert auch jetzt das ‚wir’.

Ich habe eine Pause gemacht im Schreiben. Mir geht der Gedanke aus. Mir reißt der Faden. Es drängt sich alles in die Feder. Es ist das Zwiegespräch, das ich nicht habe, das mich jetzt so zum Schreiben drängt.

Wieder muss eine Pause gewesen sein, der Schriftduktus sagt es deutlich aus. Aber immer ist es noch derselbe Tag.

Gewissenserforschung nennt es der Pfarrer. Genaues Nachdenken über sich selber. Ist es das, was ich hier tue? Habe ich den Weg zu meiner Wahrheit gefunden? Ist das alles wahr, was ich hier schreibe? Ist es nur jetzt wahr und morgen nicht mehr? Oder ist es immer wahr, wenn es einmal wahr war? Wer beantwortet mir die Fragen. Werden sie mir morgen beantwortet? Oder irgendwann einmal? Ich muß mir die Fragen merken, sonst kann ich einmal mit den Antworten nichts anfangen.

Also schreiben. Alles aufschreiben. Jetzt hab’ ich’s. Das ist mein neuer Weg. Mein eigener Weg. Da mag mir niemand dreinreden und mich in Zerknirschung treiben.

‚Alles aufschreiben’, das war die Devise der Joseph Moritz in den ersten Wochen nach der Geburt seines Tagebuches in peinlicher Genauigkeit folgte. Schon Mitte Februar, also etwa vierzehn Tage nach der Eröffnung seiner „Gewissenserforschung“ jubelt er:

Endlich, endlich nicht mehr allein. Endlich einen Partner. Einen geduldigen, der mich anhört, bis ich zuende bin. Der mich versteht. Der mich Fehler machen läßt, ohne sie gleich zu ahnden. Oh, es ist nicht stumm, mein Buch. Es spricht zu mir indem es nicht widerspricht.

‚Widerspruch’ ist ihm ein Problem, das ihn beschäftigt.

Alles an mir scheint Widerspruch hervorzurufen. Mein Vater findet alles an meiner Kleidung auszusetzen. Wenn ich es wage, dem Schneider ein paar Details anzugeben, die er an meiner Kleidung modischer machen könnte, dann fährt mein Vater dazwischen: „Soll man meinen Sohn an seinen Mäschelchen und Bändelchen erkennen?“

Und er befiehlt, alles wieder abmachen zu lassen. Mein Schneider findet es schade und sein allerliebster Sohn, der exakt in meinem Alter ist, auch. Mein Vater hat heute dem Schneider verboten, mir französische Journale zu zeigen: „Dieses weichliche Geschmeiß bringt den Joseph Moritz nur auf Bändelchen und Mäschelchen!“

Bändelchen und Mäschelchen, so spottet mein Vater meiner.

Joseph Moritz hat also eine Neigung zu der stark verzierten, etwas zur Zierlichkeit neigenden, französischen Mode. Die Informationen darüber lieferte der Sohn des Schneiders, den wir schon als ‚allerliebst’ kennen gelernt haben und der gleich alt wie Joseph Moritz ist. Bleiben wir darum noch ein wenig beim Thema Schneider und Mode; es finden sich noch einige Sequenzen in Joseph Moritz' plauderndem Buch.

Ein richtiger erster Aprillentag. Als ich eben beschlossen hatte, den Schneider aufzusuchen und mich für den Zu-Fuß-Weg entschieden hatte, da schien noch die Sonne. Als ich aber eben das Haus verlassen wollte, da regnete es schon wieder. Ich habe also anspannen lassen und wie wir auf die Herrengasse hinausfahren und eben in die Schauflergasse einbiegen, da sehe ich auf der anderen Straßenseite den Hans sich unterstellen.

Dieser Hans ist der ‚allerliebste’ Sohn des Schneiders.

Ich lasse also anhalten und winke ihm. Er eilt eilfertig herbei und erkennt mich erst in dem Augenblicke, in dem er gerade vor mir steht. Er reißt die Augen auf und höchste Verwirrung zeigt sich in seinem Gesichte, über das soeben die ersten, von seinem pitschnassen Hut überlaufenden Wassertropfen laufen, sodaß er einen Moment aussieht, als würde er weinen. Ich öffnete rasch den Schlag und sage: „Steig er schon ein, Hans. Oder will er ersaufen da draußen?“

Er springt herein und bleibt gebückt stehen. Ich muß ihm erlauben, sich zu setzen. Er setzt sich neben mich auf die Bank, aber ganz vorne: „Daß ich nicht alles naß mach’!“, sagt er leise.

Ich aber gebe ihm einen kräftigen Schubs, daß er nach hinten in die Polster kippt: „Ist noch nichts naß geworden, was nicht wieder trocken geworden wär’!“, lache ich. Er ist gegen mich geplumpst, lehnt jetzt an mir, starr und ängstlich und respektvoll.

„Der Herr Graf sind sehr gütig“, sagt er leise.

Ich aber bin höchst vergnügt: „Und was glaubt er, wo ich gerad’ hinfahr?“

Er sieht mich unwissend an, wobei er sich vorsichtig aufrichtet und sich von mir loslöst.

„Zu seinem Herrn Vater. Trifft sich das nicht gut?“

„Da wollt’ ich eben auch hin, ja“, sagte der Hans leise und nickend.

Sein Wams begann etwas zu dunsten, es riecht muffig. Es riecht nach feuchtem Stoff und feuchtem Körper. Schweiß, Achselschweiß, aufgewärmter, mischt sich auch dazu. Aufregend ist das so.

„Es gibt wieder neue Journale“, sagt er. „Wenn der Herr Graf wünschen...“

Selbstverständlich wünsche ich.

Er fährt fort: „Die Margarethe hat eines angezeichnet, das wär’ was für den Herrn Grafen, hat sie gesagt!“

„Die Margarethe?“, frage ich.

„Ach“, antwortet er, „ich dachte, der Herr Graf wüßten. Das ist mein Mädel. Die Tochter von der einen Weißnäherin.“ Er lacht: „Die andere, die wär’ wohl schon zu alt für eine so junge Tochter!“

Ab dem Moment finde ich sein Gered’ als Geplapper. Sechzehn Jahr’ alt und ein eigenes Mädel!

An diesem Tag hat Joseph Moritz nicht mehr weiter geschrieben. Zu tief scheint der Ärger gesessen zu sein, dass dieser junge, unstandesgemäße, ‚allerliebste’ Bursche, der sich erlaubte, mit ihm gleich alt zu sein, sich ein eigenes Mädel leistete. Der Hans hat ihn aber noch ein paar Tage später weiter beschäftigt. Ebenso die Margarethe, Tochter der einen, der jüngeren, Weißnäherin.

Ich weilte heute wieder beim Schneider. Der Hans zeigte mir einige wunderhübsche französische Modezeichnungen. Wunderhübsch. Eines davon wollte er mir unbedingt einreden. Es war genauso gestaltet, wie es mein Vater ‚Mäschchen und Rüschchen’ genannt hätte.

Um mich vollends zu überzeugen, rief er aus: „Die Margarethe hat auch gesagt: das wär’ was für den Herrn Grafen!“

Das war nun sicherlich nicht das Argument, mit dem Joseph Moritz unbedingt überzeugt werden wollte. Aus seiner niedergeschriebenen Antwort aber ist die plötzliche Kälte förmlich herauszuhören.

„Die Margarethe, so?“, antwortete ich.

Ich überlegte, was ich mit diesem Urteil wohl anfangen könne, da sprach er weiter: „Darf sie hereinkommen, dem Herren Grafen ihre Aufwartung machen?“

„Wer?“, fragte ich verwundert.

„Die Margarethe. Sie muß es dem Herren Grafen selber sagen.“

„Was denn?“

„Das mit diesem französischen Modell. Ich habe die Worte nicht. Darf sie, Herr Graf?“

Der Hans blickte mich so lieb an. Dabei sah ich zum ersten mal, daß er aus der Nähe besehen mit seinen wunderschönen, kugelrunden braunen Augen ganz leicht schielte; aber nur, wenn unsere Gesichter einander ganz nahe waren. Und das waren sie jetzt, wie wir über die Zeichnungen gebeugt waren. Er flehte mich an, als ob ich ihm was Liebes tun möchte. Ich tat es also.

„Soll sie kommen“, sagte ich jovial, „wenn ihr und ihm so viel daran liegt!“

Der Hans rief sie herein. Sie war so schnell da, als ob sie schon hinter der Türe gelauert hätte. Sicher hat sie hinter der Tür gelauert nach Weiberart. Sie blieb unter der Türe stehen, machte einen Knicks und blickte den Hans verlegen an.

„Nun komm sie schon her“, ermunterte ich sie.

Sie kam näher und stellte sich mit gesenkten Augen rechts neben den Tisch, auf den der Hans und ich über den Zeichnungen hingelümmelt lehnten.

Ich schob ihr die besagte Zeichnung hin und fragte sie: „Sie meint also, Mamsell Margarethe, daß mir das besonders gut stünde?“

Als ich ihren Namen nannte, errötete sie; ihr Gesicht hatte jetzt das Aussehen eines, nein gleich zweier rotbäckiger Äpfel. Wie sie überhaupt fast nur aus Kugeln zu bestehen schien. Ihre Schultern, rund, wie Teile von Kugeln; ihre Brüste, rund, Vollkugeln; ihre Hüften, rund, wie große Kugelhälften. Alles weitere verdeckte der weite Rock, ließ aber ebenfalls allerhand Kugeliges darunter vermuten. Ich trat einen Schritt zurück, um sie ganz zu sehen. Sie hatte sich mittlerweile über die Zeichnung gebeugt, sodaß der lange Rock hinten etwas hochkam; und ich hätte es mir doch denken können: unter dem Rock lugten Kugelwaden hervor.

Aber wir hatten ja die Zeichnung noch nicht begutachtet.

„Also?“, ermunterte ich die Margarethe.

„Ja“, begann sie zögernd, „Herr Graf“, wieder zögerte sie, „der Herr Graf hätt’ halt genau die Gestalt für sowas; die Grazie; den Adel; die Lustigkeit; die Gesichtsfarb’, alles, was man halt braucht, um sowas exzellent tragen zu können.“

Nett, wie sie das gesagt hatte.

„Findet sie, Mamsell?“, fragte ich, als ob ich es noch einmal hören wollte; oder als wollte ich noch mehr solcher Schmeicheleien hören. Oh, ich war eitel in dem Augenblicke, sehr eitel, Gott möge mir verzeihen.

Joseph Moritz benützte sein Tagebuch wirklich als Beichtstuhl. Und er genoss die Befreiungen, die ihm diese schriftliche Beichte schuf.

„Ja“, antwortete das Mädel einfach, anstatt fortzufahren, wie ich es so gerne gehört hätte.

„Jetzt müßt’ ich’s mir ja eigentlich machen lassen“, sagte ich, wobei ich ihr tief in die Augen blickte, „wenn eine so schöne Mamsell mich so überredet, da kann selbst unsereiner nicht widerstehen!“

‚Selbst unsereiner’ - man höre, wie der eitle Geck selbst dort, wo er sich kokett gibt, den Standesunterschied unfein herausarbeitet.

Die Margarethe füllte ihre soeben erst etwas erblaßten Wangen wieder mit Blut, sodaß wieder die zwei Äpfel dastanden. Sie sah mir erst ins Gesicht, erschrak, schlug die Augen nieder, schlug sie wieder auf, sah den Hans gleichsam hilfesuchend an, nickte plötzlich eifrig und sprach eilig: „Der Hans mahnt mich zurecht. Ich muß wieder an die Arbeit!“

Sie machte einen schnellen Knicks und rannte zur Türe hinaus. Ich mußte lachen und schlug den Hans auf die Schulter.

„Bei der brauchst du keine Angst zu haben, die ist dir sicher!“

Der Hans aber antwortete leise: „Ich bin trotzdem froh, daß der Herr Graf nicht weiter charmiert hat - man weiß nie bei einem so jungen Mädel...“

„So“, antwortete ich gedehnt, „er meint also, daß ich ihm bei der Margarethe könnt’ gefährlich werden?“

„Wenn der Herr Graf wollt’...“

„Wenn ich wollt’, ja. Aber sei er beruhigt, ich will ja gar nicht!“

Dann deutete ich auf die Zeichnung: „Und das da will ich auch nicht. In Wien braucht das Jahre, bis sich sowas durchsetzt. Und wenn man der erste ist, kommt man leicht in einen Ruf in unseren Kreisen. Aber das weiß er ja nicht. Braucht er auch nicht zu wissen.“

Wieder der Standesunterschied, auf den der Joseph Moritz deutlichen Wert legt. Es fällt allerdings auf, dass er die Betonung des Standesunterschiedes erst ab dem Zeitpunkt beginnt, als die Margarethe auftaucht. Solang er mit dem Hans allein verkehrt ist, war von diesem Unterschied keine Rede. Da waren sie einfach ‚Männer unter sich’.

Der „Störfaktor“ Margarethe wich aber bald neuen Komplikationen.

Eine Woche habe ich den Hans nicht gesehen gehabt. Heute aber war ich wieder dort, da hat er mich ganz schön erschreckt.

„Herr Graf“, begann er zögernd, „ich muß Ihm was sagen, was Ihm vielleicht einen Zorn auf mich macht.“

„Aber Hans“, lachte ich, weil ich ja noch nicht wußte, was da daher kommen sollte, „hat leicht die Margarethe wieder was ausgesucht für mich?“

Er aber blieb ernst: „Nein, Herr Graf. Es ist nur, vor zwei, drei Tagen waren zwei Herren bei meinem Herrn Vater. Ich wurde hinausgeschickt. Aber ich habe dennoch gehört, wie sie ihn gefragt haben, was für hohe Kundschaft bei uns verkehre. Und weil doch die einzige hohe Kundschaft, die unser Haus betritt, der Herr Graf sind, habe ich mir gedacht, ich muß es dem Herrn Grafen sagen.“

Ich mag wohl blaß geworden sein. Ich habe auch nicht gleich etwas gesagt.

Der Hans wurde sehr unruhig und ängstlich: „Ist das bös’, Herr Graf?“

„Der Sedlnitzky!“, mag ich wohl vor mich hingeflüstert haben.

Der Hans schlug die Hand vor seinen Mund. Und über der vorgehaltenen Hand schielte er mich leicht an mit seinen wunderschönen, kugelrunden Augen.

So habe ich also erfahren, so mußte ich es also erfahren, daß der Graf Sedlnitzky einen Verdacht geschöpft hat.

Der Graf Sedlnitzky - wir werden ihn noch näher beschreiben – ließ sehr schnell arbeiten.

Habe heute einen fürchterlichen Disput mit meinem Herrn Vater gehabt. Er kam wie immer an diesem Tag früher von Seiner Kaiserlichen Hoheit heim.

Es muss ein Montag gewesen sein, denn nur am Montag kam Vater Dietrichstein früher aus seinem Dienst. Und diesen Dienst versah er bei Seiner Kaiserlichen Hoheit, die der Herzog von Reichstadt damals ja noch war, als legitimer Thronfolger Napoleons mit dem Namen Napoleon II.

„Mein Herr Sohn lassen also den Schneider nicht kommen, sondern bemühen sich selber zum Schneider.“

Das schrie mein Herr Vater ganz ohne vorherige Ankündigung.

„Welch eine Herablassung: Kann er mir die vielleicht erklären?“

Ich war so sprachlos, daß ich sicherlich nicht fähig war, sogleich zu antworten. Das war aber auch gar nicht notwendig, denn mein Herr Vater schrie sogleich weiter: „Oder muß ich das wieder von der geheimen Polizei erfahren? Vielleicht erkundig’ ich mich überhaupt gleich beim Sedlnitzky, was in meiner Familie so alles vorgeht, ha?“

Erst jetzt verstummte mein Herr Vater. Er setzte sich brüsk in seinen Lehnstuhl und sah mich so herausfordernd an, daß ich wußte, jetzt war es an der Zeit, mir eine gute Antwort auszudenken.

Aber immer ging’s mir im Kopf herum, der Sedlnitzky. Wie vor einer Woche beim Schneider-Hans: der Sedlnitzky kümmert sich um uns, um mich; um den Sohn des Erziehers Napoleon des II. Na freilich, wir waren hochnotpeinliche Personen.

Joseph Graf Sedlnitzky war zu Anfang des Jahres ‚Präsident der Obersten Polizei- und Zensurbehörde’ geworden. Er hat, wohl ganz im Sinne Metternichs, den ‚Polizeistaat’ zu höchster Perfektion geführt. Das Spitzelsystem war nahezu lückenlos. Die Wiener nannten das Heer der ‚nebenberuflichen’ Spitzel ‚Naderer’. Damals wie auch später war es eine der Charaktereigenschaften des Wieners, über den anderen etwas zu wissen und aus diesem Wissen Kapital zu schlagen zu versuchen. Dieses Kapital war bis dato lediglich in Triumphe, Schadenfreude und heimliches Händereiben umsetzbar. Seit Sedlnitzky aber wurde bar bezahlt. Zudem schaffte der geheime Graf es auch, alle Druck-Erzeugnisse und Briefe fast lückenlos von seiner Zensur erfassen zu lassen.

Es war also nur zu klar, dass der Erzieher von Napoleons Sohn und dessen Familie strengstens observiert wurden. Völlig folgerichtig hatte der Joseph Moritz jetzt also Angst, Vater Dietrichstein war verärgert und im Hause Dietrichstein somit Krach angesagt.

„Darf ich also von ihm erfahren, was ihn dazu treibt, den Schneider aufzusuchen wie eine hergelaufene Straßenkundschaft?“

Mein Vater hat mit mir geschrien, seine an sich starke und eher sonore Stimme drohte fast überzuschnappen.

Ich kam aber gar nicht zum Antworten, da schrie er schon weiter: „Ich darf doch annehmen, daß mein Herr Sohn weiß, daß sein Vater eine Vertrauensstellung hat und somit ein Vertrauen genießt, das ihm sowohl Seine Kaiserliche Majestät als auch seine Durchlaucht der Staatskanzler entgegenbringen. Oder vielmehr entgegengebracht haben. Denn jetzt gilt es ja zu klären, was mein Herr Sohn beim Schneider zu suchen hat, anstatt ihn, wie es immer war, kommen zu lassen.“

Ich schickte mich jetzt zu gar keiner Antwort an; mich beschlich nämlich der Verdacht, daß mein Herr Vater nur erpicht darauf war, mir einen Vortrag zu halten. Vielleicht hatte er sogar Angst; und versuchte sich dieser Angst nun klar zu werden, indem er sie, wenn auch schreiend, so doch, formulierte.

„Ist ihm das klar?“, schrie mich der Vater plötzlich an.

„Ja“, antwortete ich schnell. „ich darf anfügen, daß es mir auch nie unklar gewesen ist.“

Plötzlich war er beruhigt: „Dann ist es ja gut. Darum möchte ich aber auch in aller Zukunft gebeten haben.“

Er wollte den Salon, in dem sich die Szene abgespielt hatte, eben verlassen, da drehte er sich unter der Türe noch einmal um und warnte mich mit wackelndem Zeigefinger: „Übrigens, der Rüschchen- und Bändchenschnickschnack hört jetzt auf. Das einzig Französische in unserer Familie ist Seine Kaiserliche Hoheit. Der macht mir wenigstens Freude.“

Den speziellen Anlass zur Freude hat uns Graf Dietrichstein nicht hinterlassen. ‚Kaiserliche Hoheit’ war gerade sechs Jahre alt, die Beziehung, der Joseph Moritz’ Tagebuch später fast ausschließlich gewidmet ist, hat noch nicht begonnen, wenn sich auch Voraus - Spuren jetzt schon finden. Es ist allerdings hinterher immer verführerisch, in Kenntnis des Endes rückschauend so manches zur Spur zu erklären, was möglicherweise noch gar keine war. Jedenfalls sind die paar Notizen im Tagebuch, die zum Thema ‚Napoleons Sohn’ aufzufinden waren noch in keiner Weise Hinweise, wenn man sie auch später doch als solche identifizieren könnte. Aber hier offenbart sich die Zweifelhaftigkeit historisch hergestellter Zusammenhänge, die ja immer rückschauend und somit viel gescheiter sind, als es die, die es erlebt haben, jemals sein hatten können. Rückschauend weiß man dann immer das, was man, zur besseren Bewältigung der Situation, besser vorher gewusst hätte. Aber in der Kluft zwischen Hinterher-Besser-Wissen und Vorher-Nicht-Gewußt-Haben, aber vielleicht Vorher-Wissen-Hätte-Sollen liegt wohl das, was man Geschichtsschreibung nennt.

Aber zitieren wir doch die vermeintlichen Spuren. Da findet sich inmitten einer belanglosen Alltagsschilderung über ein Missgeschick, das eine Köchin des Hauses mit einem Kuchen gehabt hatte, ein den Tag abschließender Hinweis.

Vater lobte den Mehlspeisenkoch seines Zöglings über die Maßen, was Mama in gelinde Scham trieb, da sie wahrscheinlich annahm, daß Vater das nur deshalb tat, um die blamable Sache mit der Mehlspeis’ in unserer Küche, vielmehr in der von meiner Mutter geleiteten Küche, nur ja nicht gleich wieder auf sich beruhen zu lassen.

„Aber wir werden ja selbst Gelegenheit haben, das bald zu kosten“, kündigte er an.

„Warum denn?“ und „Wann denn?“, waren die Fragen, die wir ihm jetzt stellten.

„Heute in einer Woche, ja, genau heute in einer Woche.“

Dieser exakte Hinweis des Vaters erlaubt uns, das Datum der Notiz ganz genau festzulegen, es ist der 13. März 1817.

„Heute in einer Woche hat seine Kaiserliche Hoheit seinen sechsten Geburtstag. Und ich habe die Ehre, meine Familie mitbringen zu dürfen.“

„Zur Feier?“, fragten alle ungläubig; wir wußten doch, daß diese Feier auf allerhöchster Ebene stattzufinden hatte, zumal ja eben doch eine Kaiserliche Hoheit Geburtstag feierte; das war eine Feier wie bei einem Erzherzog; und da waren wir auch nie geladen.

„Nein, nein“, lächelte Vater milde, „zur Feier erscheinen nur wir.“

„Wir?“, riefen alle wieder entzückt.

Vater setzt eine tadelnde Miene auf: „Ihr spielt eine schlechte Posse mit mir! Wir, das sind wir, seine Erzieher.“

„Aha“, ging es in der Runde.

Irgendjemand aber erlaubte sich doch zu fragen, ich glaube, es war Mutter: „Und wir?“

Leises Gekicher war die Folge, das jedoch von Vater mit einem Rundumblick beruhigt wurde.

„Zum Kaffee, am Nachmittag“, erlöste er endlich gnädig die Fragerunde.

„Der Kleine trinkt Kaffee?“, fragte Mutter erstaunt.

Wieder der tadelnde Erzieherblick des Vaters: „Seine Kaiserliche Hoheit lädt zum Kaffee. Die Familien seiner Erzieher. Er selbst wird vermutlich keinen Kaffee trinken.“

Vater dachte angestrengt nach und stellte dann nachdrücklich nickend fest: „Also das wäre mir doch aufgefallen. Nein, nein!“

Damit schien er beruhigt.

Mutter scheint sich auf den Tag zu freuen.

Ich fühle mich in Gegenwart seiner Kaiserlichen Hoheit nicht wohl. Zumal ich es einfach zu drollig finde, daß wir Großen vor diesem Buben die großen Complements machen müssen und er das auch noch huldvoll entgegennimmt. Der Kleine weiß genau, was ihm zusteht, das macht ihn unsympathisch und uns klein. Immerhin gut, daß niemand sieht, wenn wir Standspersonen, die wir von anderen selber Respekt einfordern, plötzlich Kotaus vor einem Kind machen müssen.

Wieder einmal der Hinweis auf den Stand, in dem sich Joseph Moritz sehr stark fühlt. Und wieder das Angerührt-Sein, wenn er gezwungen ist, sich vor anderen, in diesem Fall Höheren, zu beugen.

In dieser Woche vor dem Geburtstagsfest, widmet er ein paar Zeilen der Kaiserlichen Hoheit.

Was ich wohl mit ihm sprechen werd’? Oder, was wird er mit mir sprechen? Ob er wohl weiß, daß seine Mutter in Parma mit einem Bastard trächtig ist? Ob ich ihm das wohl erzählen werd’?

Aber nein, Vater hat nur Themen erlaubt, die Seine Kaiserliche Hoheit selbst, oder er, mein Vater, anschneidet. Sonst wird nichts geredet? Das kann ja heiter werden.

Aber schön wär’s, wenn ich...

Gute Nacht, träum’ süß, Joseph Moritz!

Boshaftigkeit und hin und wieder gute Laune, das lernen wir hier an Joseph Moritz kennenz. Abgesehen davon spricht er hier ein höchst heikles Thema an. Marie Louise, Herzogin von Parma, war zu dem Zeitpunkt schon im 7. Monat schwanger. Am 11. Mai des Jahres 1817 wurde ihr ein Mädchen geboren, das ihr der Graf Neipperg in den Leib gesetzt hatte. Napoleon lebte noch, so konnte Marie Louise ihren Begatter nicht heiraten. Das Mädchen musste getarnt werden als Albertine Montenuovo.

Es ist an sich schwer zu erklären, wieso Joseph Moritz das überhaupt gewusst hat: Er gibt keine Quelle an, schreibt nicht, wo er doch sonst so geschwätzig ist, wer ihm das erzählt hat, aber er weiß es. Es ist auch nicht herauszufinden, wer es noch aller gewusst haben mag. Sicher der Kaiser, sicher Metternich, sicher - denn von denen wusste es ja Metternich - Sedlnitzkys Geheimpolizei; die hatten bestimmt jedes Detail von der Zeugung bis zur Geburt archiviert.

Klar war aber, dass darüber vor der Kaiserlichen Hoheit nicht gesprochen werden durfte. Der Sohn hat die Details über seine Mutter überhaupt erst im März 1829, also zwölf Jahre später, erfahren. Da gab es aber auch schon mehr zu erfahren, denn da waren dann schon mehrere Kinder da. Da hatte Marie Louise auch ihren Neipperg schon geheiratet und da war Neipperg auch schon gestorben.

Später, viel später, wurde Metternich vorgeworfen, er hätte die Mutter des Herzogs von Reichstadt, zur Zeit noch Kaiserliche Hoheit, in die Hände des Grafen Neipperg getrieben. Die Wahrheit aber verhält sich ganz anders. Sicherlich, Marie Louise sollte ein ‚Ehrengeleit’ bekommen, um ihren gefangenen Mann zu vergessen. Juni/Juli 1814 stand die Ernennung dieses Ehrengeleits an. Juni/Juli 1814 bekam Marie Louise beim ‚Frieden von Paris’ den folgenden Passus verpasst:

‚Die Herzogtümer Parma, Piacenza und Guastalla werden der Souveränität Ihrer Kaiserlichen Majestät Marie Louise unterstellt und ihr als Besitz übergeben. Sie gehen auf ihren Sohn und dessen Nachfolger in direkter Linie über. Der Prinz, ihr Sohn, wird ab jetzt den Titel Prinz von Parma, Piacenza und Guastalla führen.’

Vorher aber waren da viele Reisen über Rambouillet, Schweiz, Schönbrunn, Aix le Bains - und dort lernte sie Neipperg kennen.

Metternich hatte den Hauptmann Graf Karaczai als ‚Ehrengeleit’ für Ihre Hoheit, die Herzogin von Parma, vorgeschlagen. Der Kaiser selbst aber ernannte Neipperg. Und vorgeschlagen wurde Neipperg vom Botschafter Schwarzenberg. Das alles konnte nur deshalb ohne Wissen Metternichs passieren, weil er in London weilte. Noch aber war nichts Bedenkliches an der Ernennung Neippergs; der Kaiser soll zunächst erklärt haben: „Gott sei Dank! Ich habe Glück gehabt in der Wahl dieses caballero!“

Wer hätte denn auch vorhersehen können, daß sich die Exkaiserin mit diesem einäugigen Offizier einlassen werde; schließlich war er sechzehn Jahre älter als sie, verheiratet und Familienvater. Neipperg war Feldmarschallleutnant und hatte sich in kriegerischer als auch in diplomatischer Hinsicht durchaus verdienstvoll hervorgetan. So war es fast ein Ehrendienst, als er eingeteilt wurde, der Herzogin von Parma nicht nur Ehrengeleit zu geben, sondern auch ihre Interessen zu vertreten, was im Wiener Kongress Marie Louise durchaus zum Nutzen gereichte. Im Juli 1814 stellte er sich erstmals der Herzogin von Parma vor, in Aix le Bains. Sie schrieb damals noch an Napoleon: ‚Glaube, mein teurer Freund, an meine zärtliche Liebe! Niemand liebt dich so und wird dich je mehr lieben als ich. Ich küsse dich und liebe dich von ganzem Herzen.’

Aber bald hatte sich Ihre Majestät die Erzherzogin, Herzogin von Parma, Piacenza und Guastalla mit ihrem Ehrenkavalier eingelassen. Ihr Schutzengel hatte schon vier Söhne, seine Frau besaß zudem die Höflichkeit, am 23. April 1815 zu verscheiden. Am 27. September 1814, auf der Rückreise von Aix le Bains nach Wien gab Marie Louise sich ihm hin, und zwar im Hotel ‚Zur Goldenen Sonne’ in der Nähe der Tellskapelle am engelsreinen Ufer des Vierwaldstättersees. Das alles wusste bis ins kleinste Detail die Wiener Geheimpolizei. Dort ist zu diesem Fall vermerkt:

‚Wien, 24. Oktober 1814. ...Man kann jetzt feststellen, daß sie (Marie Louise) sich in vollkommener Übereinstimmung und großer Intimität mit Neipperg befindet, der sehr geschickt ausgesucht worden ist...’

Und ‚Wien, 3. Januar 1815. In der Kurierpost von Elba, die über Livorno nach Parma an Marie Louise gelangt ist, macht Napoleon ihr lebhafte Vorwürfe wegen ihrer Unbeständigkeit und ihrer Haltung ihm gegenüber. Er war sehr eifersüchtig auf Neipperg.’

Allerdings, man muss Marie Louise auch ein paar Entschuldigungen zukommen lassen. Eine davon war wohl auch in einem Geheimbericht enthalten und besagte, dass ihr Gatte auf Elba von Frauen umgeben sei. Zeugen hierfür seien der Palastvorsteher Bausset und die Palastdame de Brignole.

Gründlich war sie schon, die Geheimpolizei.

Über genau diesen Themenkreis hatte Joseph Moritz bei seiner Königlichen Hoheit sechstem Geburtstag sprechen wollen? Es war wohl sicher nicht ernst gemeint. Es war das, was wir schon festgestellt haben, eine der seltenen Gelegenheiten, festzustellen, dass Joseph Moritz von Zeit zu Zeit auch guter Laune, ja fast ausgelassener Stimmung gewesen sein mag. Im Tagebuch dokumentiert er sich sonst ja eher elegisch, tragisch, schwermütig, wehleidig, selbstgefällig, selbstmitleidig und nicht recht über den Dingen stehend, mit denen ein junger Mann seiner Zeit halt in Berührung zu kommen hat.

Aber dann war er da, der Tag. Vielmehr er war da gewesen, da wir ja von Joseph Moritz nur erfahren, was gewesen ist.

Aber nun haben wir ja den Geburtstag erreicht, den 20. März 1817.

Sein Mittagmahl hatte mein Vater wie immer in der Küche seiner Kaiserlichen Hoheit eingenommen. Nicht in der Küche, sondern aus der Küche Seiner Kaiserlichen Hoheit. Dann aber war er außerhalb des Stundenplanes ins Palais gekommen und hat im ganzen Haus laut herumschreiend angekündigt, daß wir um halb zwei abfahren würden, weil uns Seine Kaiserliche Hoheit um Punkt zwei Uhr erwarte.

„Kennt er denn schon die Uhr?“, fragte meine Mutter verwundert.

Mein Vater war an Sarkasmus nicht mehr zu überbieten: „Nein, aber er kann bis zwei zählen!“

Aber Mutter ließ nicht locker: „Bis zwei?“

„Vier Schläge zur vollen Stunde...“, hier stockte Vater plötzlich, blickte Mutter böse an, die irgendwelche Bildchen auf dem Kaminsims herumschob; dann aber vollendete er großzügig: „Also gut, bis vier!“

Gleich aber schimpfte er wieder: „Keine Mißverständnisse! Der Kaffee ist um ZWEI!“

Mutter schüttelte den Kopf: „Ich bin ja neugierig!“

Vater stellte fest: „Ich auch!“, um anschließend gleich zu fragen: „Aber warum Sie, Frau Mutter?“

„Ob er wirklich Kaffee trinkt, der Kleine!“

„Der Kleine reicht der Frau Mutter immerhin fast bis zu den Schultern!“

Diese Bemerkung hatte mich neugierig gemacht. So ein großer Bube also?

Nun gut, wir fuhren hin. Fünf Minuten vor zwei standen wir im Vorzimmer. Dann schlug, wie es mein Vater angekündigt hatte, eine Uhr am Kaminsims vier Mal zur vollen Stunde, dann zweimal. Sogleich nach dem zweiten Schlag öffnete sich die Türe zu den Gemächern Seiner Kaiserlichen Hoheit. Er kam so prompt heraus, daß ich fast annehmen mußte, er ist hinter der Türe gestanden. Mutter blickte Vater kurz an, wie um ihm mitzuteilen: ‚Siehst du, er kennt wirklich die Uhr!’ Vater aber sah entzückt dem formvollendeten Auftritt seines kindischen Zöglings zu. Wahrscheinlich hatten sie das für solche Gelegenheiten eingeübt und Vater prüfte jetzt den Buben. Der Bub benahm sich auch, wie bei einer Prüfung.

Er ging schnurstracks auf meinen Vater zu, reichte ihm die Hand, verbeugte sich leicht, während mein Vater ein großes Complement machte, und sagte: „Mein verehrter Lehrer, willkommen an diesem Tag.“

Dann wandte er sich Mutter zu, die ihrerseits den tiefen Knicks machte, und sagte: „Es muß doch ein schöner Tag sein, wenn mein Lehrer seine angetraute Gemahlin uns einmal nicht vorenthält!“

‚Uns einmal nicht vorenthält’, Gott, wie geschraubt, dachte ich für mich. Da war er aber auch schon bei mir. Ich machte mein großes Complement, während er sagte: „Welch ein trefflicher Sohn muß das sein bei einem so trefflichen Vater.“

Jetzt wandte er sich meinem entzückt zuhörenden Vater zu: „Verzeih er mir, Graf, wenn heute einmal Wir die Noten ausgeben.“

Mein Vater nickte mit ziemlich blödem Blick und verbeugte sich errötend, während sich der Bub wieder zu mir wandte: „Ist er zu ihm auch so streng? Wir müssen reden, er muß mir ein paar Gedanken geben, wie ich der Strenge des Herrn Grafen ein wenig zu entrinnen vermag!“

Damit wandte er sich von mir ab und begrüßte nun ebenso wortereich die anderen - die Collins und die Forestis und so weiter. Ich mag sie nicht alle aufzählen.

Immer wenn Seine Kaiserliche Hoheit bei jemandem vorbei war, bekam der ein winziges Schälchen Kaffee gereicht. Mutter vermißte sogleich den Kuchen, worauf ihr Vater zuknurrte, daß sie sich zuhause sattessen könne. Das hier sei ein hehrer Anlaß und keine Freßveranstaltung.

Da bemerkte der Vater, daß Seine Kaiserliche Hoheit ihn benötigte und rannte stracks hin. Ich stand in einer Ecke. Seine Kaiserliche Hoheit – der lange Titel macht mich beim Schreiben direkt nerviös - konnte ich nicht sehen, er war inmitten vieler Leute. Mein Vater aber war wie die Boje in dem Gewoge; ich nahm an, daß dort, wo ich meines Vaters ansichtig wurde, SKH nicht weit sein konnte.

Ich hatte meinen Kaffee recht schnell ausgetrunken und stand mit der leeren Tasse da. Einer der jungen Kannenhalter sah das, zwinkerte mir zu und deutete mit den Augen auf seine Kanne, dann blickte er deutlich auf meine Tasse. Ich nickte. Jetzt wurde er verlegen; offensichtlich durfte er ohne ausdrücklichen Befehl seinen Platz nicht verlassen: Er drückte also totale Hilflosigkeit in seinem hübschen Gesichte aus, was zur Folge hatte, daß ich zu ihm hinging, er mir einschenkte, sofort wieder die vorige Haltung annahm und so tat, als wäre nichts gewesen: Ich hauchte ein leises „Danke“, er aber schüttelte ängstlich fast unmerklich den Kopf, als wollte er mir sagen, daß ich sofort wieder vergessen möge, was soeben geschehen war.

Plötzlich stand meine Frau Mutter neben mir und sagte zu jemandem: „Da, er hat noch den ganzen Kaffee in der Tasse. Immer läßt er ihn kalt werden!“

„Er dampft aber noch“, sagte da eine jugendliche Stimme, die mich herumriß.

Es war SKH. Er lächelte: „Hat er sich nachschenken lassen?“

Ich blickte erschrocken den jungen Kannenträger an, der seinerseits blickte starr vor sich hin.

„Ach, vom Jakob“, sagte da der Bub. „Der Jakob ist mein Bester und mein Liebster. Von ihm krieg' ich immer noch was, wenn’s schon nicht mehr erlaubt ist...“, da hielt er erschrocken inne, blickte meine Mutter an und flehte: „Das darf die Frau Mutter jetzt aber nicht ihrem Herrn Gemahl erzählen, denn das ist gegen seine Ordnung!“

Mutter beteuerte: „Aber wie wird’ ich denn! Außerdem, ich kenne meinen Mann.“

„Eben“, nickte SKH, „der bekommt alles aus einem heraus. Ach was! Ich BEFEHLE ihr, über das soeben Gehörte zu schweigen.“

Dann zeigte er spaßhaft auf mich: „Und er haftet mir dafür, daß die Geschichte verschwiegen bleibt, gell?“

Damit mischte er sich, uns in tiefer Verbeugung hinterlassend, wieder in die Menge, dort nun wieder bei den anderen Verbeugungen erzeugend. Das ist es, was ich von dem Geburtstagsfest zu berichten weiß.

Mir fallen die Augen zu. Aber ich habe es ausführlich beschreiben wollen. Beim Gehen habe ich noch den Blick Jakobs gesucht, er aber hat weggeschaut. So weggeschaut, daß ich genau weiß, daß er genau weiß, daß ich hingeschaut habe.

Das war also der erste längere Bericht, den wir von Joseph Moritz, den Herzog von Reichstadt betreffend, haben. Findet der Leser die angekündigten Spuren? Sicher, Seine Kaiserliche Hoheit hat mit dem Joseph Moritz länger gesprochen als mit anderen; er hat mit ihm gescherzt, er hat eine Art Vertraulichkeit mit ihm aufkommen lassen; er hat bemerkt, dass Joseph Moritz sich von ‚seinem liebsten’ Diener hat nachschenken lassen. Andrerseits aber scheint eben jener Jakob auf Joseph Moritz mehr Eindruck gemacht zu haben, als Seine Majestät, Napoleon II.

Den Bericht hat uns Joseph Moritz noch am selben Abend gegeben.

Schon die nächste Eintragung, sie wird wohl an einem der zwei folgenden Tage geschrieben worden sein - wie so oft, undatiert - schildert uns aber doch einige Gedanken zur Person des Buben.

Habe soeben das Vorige noch einmal gelesen. Also das mit dem Jakob ist wohl wieder so eine Blödheit von mir. So geht’s mir halt oft, daß ich mich schnell in wen verschau’. Der Jakob, ein hübsch’ Gesicht, ein schneller Eindruck, und schon wieder vergessen.

Aus den späteren Eintragungen allerdings geht hervor, dass just dieser Jakob der Mitwisser gewesen sein muss, der das heimliche Ein und Aus des Joseph Moritz beim Herzog zu bewerkstelligen geholfen hat. Es ist jenes Kürzel ***, das Joseph Moritz später geheimnistuend verwendet und das anders nicht zu deuten ist, als mit dem besagten Jakob.

Für jetzt aber hat Joseph Moritz vor, diesen Jakob zu vergessen. Er hat sich wieder in ‚wen verschaut’, schreibt er. Trotz der späteren Fixierung auf den Herzog ‚verschaut' sich Joseph Moritz immer wieder. Man denke nur daran, dass wir jetzt schon zwei kennen gelernt haben, den Schneider Hans und jetzt den Jakob. Und wir werden noch andere kennen lernen.

Nicht so schnell vergessen werd’ ich aber doch den Buben, diese unbegreifliche Majestät. Sechs Jahre alt und macht unsereinem eine Konversation vor, die von einer Gewandtheit zeugt, daß man vor Neid erblassen möcht’. Ist es wirklich die Majestät in so einem Buben? Aber das kann sich doch nicht in einer Generation aufbauen. Schließlich ist der Vater doch irgendwo am Misthaufen aufgewachsen; jedenfalls ist bei ihm von Adel weit und breit nichts. Gut, die Mutter des Buben ist eine Habsburgerin, der Großvater unser Kaiser. Aber was ist es wirklich, was ihn so gewandt macht? Das Habsburgische oder das Napoleonische? Da es unheimlich ist, wird es wohl das Napoleonische sein, das aus dem Buben spricht. Wie er meiner Mutter befohlen hat, und mich für die Einhaltung des Befehles haften läßt, das war, wenn auch im Scherz, von einem gekommen, der Befehle zu geben weiß und diese auch zu formulieren im Stande ist. Der Bub macht mich glatt klein. Da spielen die zehn Jahre, die ich älter bin, keine Rolle. Überhaupt keine Rolle.

Wie kommt das? Denn nicht der Stand ist es, nein, die Person, die dahinter steht. Die drinnen steht. Der Bub muß sich auf keinen Stand berufen, der ist es. Der ist es einfach. Der Bub.

Entweder ist mein Vater ein hervorragender Lehrer oder ein schlechter Vater.

Wieder ist es der Stand, der dem Joseph Moritz zu schaffen macht. Dieses Problem kennen wir schon an ihm. Bemerkenswert ist hier jedoch, dass er Probleme damit hat, einen Stand über sich, der nicht Metternich heißt und der nicht der Kaiser selbst ist, annehmen zu müssen; aber nicht, weil der höhere Stand des anderen ihm das gebietet. Das auch. Sicherlich musste er Napoleon II. auch von Standes wegen akzeptieren. Was ihn aber störte war, dass er ihn annehmen musste, weil die Person, weil der ‚Bub’ ihn dazu gezwungen hat. Das war nicht Stand als verbrieftes und vererbtes Privileg, auf das man sich notfalls berufen kann, sondern Stand als Eigenschaft, als Teil der Persönlichkeit, als Basis der Persönlichkeit an sich. Und das bei einem Buben, der zehn Jahre jünger war als Joseph Moritz.

Findet der Leser hier Spuren? Sicher, Joseph Moritz hat sich mit Seiner Kaiserlichen Hoheit länger beschäftigt als bisher mit einem anderen Menschen.

Joseph Moritz ist ein höchst sensibler junger Mann. Und Seine Kaiserliche Hoheit ist sechs Jahre alt. Spuren mögen hier vielleicht beginnen, weil Napoleon II., der junge Adler, wie er auch genannt wurde, in Joseph Moritz Eindrücke hinterlassen hat, die ihm immer wieder ins Gedächtnis kommen werden, wenn vom ‚jungen Adler’ die Rede sein wird. Joseph Moritz wird in Zukunft etwas empfinden, wenn die Rede auf Napoleons Sohn kommt. Vielleicht beginnen hier wirklich die Spuren?

In der Folge, zumindest in diesem Jahr, begegnen wir allerdings Napoleon II. kaum mehr. Joseph Moritz scheint ein ruhiges Leben zu führen, keine wesentlichen Probleme werden da geschildert. So widmet er sich mit Hingabe dem ihn umgebenden Alltag.

Gestern war ich auf der neu eröffneten Bastei.

Mitte des Jahres waren die Basteien mit Bäumen bepflanzt und zur Promenade freigegeben worden.

„Jetzt ist Wien endgültig keine Festung mehr“, sagte mein Vater. Er ist übrigens sehr ungehalten darüber, daß man zu den Eröffnungsfeierlichkeiten seinen Zögling auch in der Öffentlichkeit gezeigt hat.

„Warum denn eigentlich?“, fragte ich.

Vater antwortete mir, als ob er mit einem Blöden redete: „Weil sein Vater im Jahr 1809 mit dem Umbau begonnen hat.“

„Umbau?“, fragte da Mutter erstaunt, „sprengen hat er die Befestigungsanlagen lassen...“

„Und damit den Grundstein für den endgültigen Abbruch gelegt“, fiel ihr Vater barsch ins Wort.

Vater läßt noch immer über Napoleon nichts kommen. Nicht, weil er ihn so sehr verehrt, sondern weil er der Vater seines Zöglings ist. Dennoch aber schimpfte er: „Geschmacklos, den Buben, nur weil sein Vater die Hand im Spiele hat, immer hervorzuzerren!“

Kein Wort des Kommentars von Joseph Moritz. Die von seinem Vater kritisierte Geschmacklosigkeit vollzieht er nicht nach.

Noch einmal begegnet uns in diesem Jahr der junge Napoleon. Joseph Moritz machte sich seine Notizen zu den Ereignissen des 18. Oktober.

Heute ist der Jahrestag der Schlacht von Leipzig.

Am 18. Oktober 1813 wurde Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig besiegt. An der Schlacht waren auch die Österreicher unter dem Feldmarschall Schwarzenberg beteiligt.

Im großen Saal des Invalidenhauses haben sie zwei mordsmäßige Gemälde von Johann Peter Krafft ausgestellt. Die Bilder zeigen recht deutlich Szenen aus den Schlachten bei Leipzig und Aspern.

Der Kaiser hat vorbeigeschaut Schlag neun am Vormittag. Vater hat dort sein müssen, hat mich darum mitgenommen.

Vater hat dort sein müssen, weil sie dem Napoleon II. auch die Bilder gezeigt haben. Er hat wieder fürchterlich geknurrt, mein Vater, warum sie dem Buben das immer antun. Sein Vater lebt schließlich noch in St. Helena und sie zeigen grausliche Bilder, wo der Vater so recht als Metzger dargestellt ist. Und das zeigen sie dem Buben.

Ich habe weniger die Bilder angeschaut, als das Gesicht des Buben, wie er sich die Bilder angeschaut hat. Ich hab’ leider nicht können hören, was sie ihm erklärt haben, sie haben es ihm ganz nahe am Ohr erklärt. Ich habe nur gesehen, daß der Bub recht blaß war und mit großen Augen immer gerade dorthin geschaut hat, wo sein Vater abgebildet war. Das hab’ ich sehen können, wenn ich im Geiste einen Strich von seinem Blick auf die Bilder gezogen habe.

Da hat mein Vater schon recht, er ist arm, der Bub. Mitten in den Erzherzögen drinnen, die sich furchtbar aufgeputzt hervortun wollten. Der Kaiser hat dann den Buben an der Hand genommen, ihm auch was gesagt, der Bub hat genickt, zum Kaiser aufgeschaut, als wollte er danke sagen; vielleicht hat er ihm auch gedankt. Sie sind nämlich gleich darauf gegangen.

Wär’ ich an des Buben Stelle gewesen, ich hätt’ wahrscheinlich geweint. Aber der Bub hat mit großen Augen geschaut; ich habe den Eindruck gehabt, er hat fest geatmet und ein paar mal Tränen aus seinen Augen weggeblinzelt. .

Nein, ich möcht der Bub nicht sein; mit all seiner Kaiserlichen Hoheit und dem ganzen Brimborium darum herum. Ich möcht’ er nicht sein!

Die ersten Zeichen von Anteilnahme. Ansonsten aber ist auch diese Beschreibung kaum den historisch so gerne zitierten Spuren zuzuordnen, da es einfach eine Regung des Mitleides mit einem Kind war, dessen Mutter fern ist, dessen Vater gefangen ist, als wäre er der Teufel selber, der von der Gunst eines gütigen Großvaters lebt und der von geschmacklosen Höflingen immer wieder mit seinem Vater als ‚Antichrist unserer Tage’ konfrontiert wird.

Die Beurteilung ‚geschmacklos’ steht uns durchaus zu; denn schon wenige Tage später, am 1. November 1817 kam Vater Dietrichstein mit einer so epochalen Neuigkeit nach Hause, dass Joseph Moritz sie sofort notierte.

Einmal, es ist eh selten genug, ist der Vater heute frohgemut aus dem Dienst nach Hause gekommen. Er hat uns auch sogleich alle zusammengerufen und uns dann sehr glücklich, herablassend und wohlwollend verkündet: „Heute zum Allerheiligentag hat Seine Majestät der Kaiser verfügt und uns alle wissen lassen, daß man Seine Kaiserliche Hoheit Napoleon II. fürderhin mit allen Arten von Zusammentreffen mit seinem Vater fernhalten muß. MUSS, hat er gesagt, nicht MÖGE oder SOLLE. MUSS, das ist ein Befehl, auf den ich mich berufen kann und der keine Eventualitäten zulassen tut. Wir wollen heute Abend allen Heiligen danken für diese wunderbare Gnade!“

Ich hätte meinem Vater sagen können, daß mir diese Verfügung des Kaisers nicht unerwartet kommt. Ich habe noch den Blick in Erinnerung, den der Kaiser und der Bub miteinander tauschten, bevor sie die Krafft-Gemälde im Invalidenhaus verließen. Vor drei Wochen war’s.

KAPITEL 6

Im folgenden Jahr, es ist das Jahr 1818, ergeht sich Joseph Moritz in recht peniblen Schilderungen des Alltages und der besonderen Geschehnisse.

Heute früh, am letzten Jänner, haben sie auf dem Glacis vor dem Neutor die Todesurteile gegen den Räuberhauptmann Grasel und seine zwei Hauptmitangeklagten durch Erhängen vollstreckt. Ich war, gegen das Wissen der meinen, dort und hab’ geglaubt, ich werd’ nicht hinschauen können. Ich hab’ auch nicht können, hab’ aber dennoch die ganze Zeit hingeschaut. Es ist schon ein seltsam’ Gefühl, wenn man da sieht, wie drei Leben ausgelöscht werden. Daß da ein neues, ewiges Leben beginnen soll, davon sieht man nichts und ahnt man nichts. Man sieht nur drei Männer hingehen, aufrecht, männlich und stark. Und dann werden sie weggetragen wie Mehlsäck’, totes Zeug. Es schaut eher so aus, als ob’s da einfach aus wär’. Einfach aus.

Man hat mich als Standsperson nicht erkannt. Es ist bitterkalt heute, darum habe ich mich ganz vermummt in meinen grauen Mantel, den ich so liebe.

Darum habe ich aber auch gehört, wie die Leute gefragt haben: „Wissen möchte’ ich, wer jetzt die 4000 Gulden Belohnung kassiert hat.“

Stimmt, daß sie ausgesetzt waren als Belohnung, davon hat man gehört. Aber wer sie jetzt wirklich gekriegt hat, davon hat man nichts mehr gehört Wird wohl in ärarischen Tümpeln versunken sein, das viele Geld.

Und kein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der das an den Tag gebracht hätte. Welche Zeiten!

Noch ein bemerkenswertes Ereignis verzeichnet Joseph Moritz am 1. März. Wir erwähnen dies hier deshalb, weil wir schon anlässlich der Uraufführung von Grillparzers ‚Ahnfrau’ erfahren durften, dass Joseph Moritz sich in künstlerischen Dingen gegenüber aufgeschlossen ist und sich ein Urteil erlaubt, das zumindest von recht untrüglichem Gefühl zeugt.

Waren heute im ‚Gasthof zum Römischen Kaiser’. Nicht essen, das wäre wohl nicht recht standesgemäß gewesen. Nein, sie haben dort einen Saal, in dem sie Musik aufführen.

„Musik, um die man sich kümmern muß“, meinte mein Vater und forderte mich auf, ihn dorthin zu begleiten.

Längere Zeit wurde nichts Auffälliges musiziert. Das Orchester spielte recht mäßig, es war Musik in Konfektionsausführung, sonst nichts. Ein einziges Stück, das mir auch aufgefallen wäre, wenn mich mein Vater nicht gestoßen hätte, das war von einem gewissen Schubert, Franz, glaube ich.

„Eigentlich ein fabelhafter Liederschreiber “, sagte Vater.

Heute aber haben sie uns eine ‚Ouvertüre im italienischen Stil’ von ihm vorgeführt. Und sie war wirklich flott, diese Ouvertüre, spritzig, voll Italianitá. Vater war recht angetan, das Publikum auch. Der Meister war selber anwesend und mußte drei Hervorrufe entgegennehmen.

Beim Anblick Schuberts fragte ich mich wieder einmal, wo der liebe Gott seine Wunder hintut; da stand ein kleiner, dicker, schwitzender, knollennasiger, kurzsichtiger, rotbackiger, gelbhäutiger Jüngling oben auf dem Podest und machte einen so unappetitlichen Eindruck, daß man meinte, man müsse den Schweiß in seinem Gewande noch meilenweit riechen.

Vater aber dachte anderes: „Wenn der so weitermacht, kann er steinreich werden!“

Auf dem Nachhauseweg in der Kutsche habe ich angefangen, den kleinen Schubert ein wenig zu beneiden. Was für eine jämmerliche menschliche Erscheinung, und was für eine wunderbare Musik. Als wollte da jemand eine Waage ins Gleichgewicht bringen.

Es ist die tiefe Empfindsamkeit des Joseph Moritz, die diese Passage seines Tagebuches bemerkenswert macht. Nicht allerdings die Bemerkung des Vaters, dass Schubert, wenn er so weitermache, steinreich werden würde. Wir wissen, dass Schubert ‚so weitergemacht’ hat, und dennoch ein ziemlich armseliges Leben hatte. Man muss dem Grafen Dietrichstein aber zur Ehre anrechnen, dass er in seiner späteren Funktion, er war nach 1831 Intendant der Hofbühne und Präfekt der Hofbibliothek, einiges für die Komponisten getan hat, um die Bezahlung ihrer Aufführungsrechte zu regeln. Kaum hatte er die Aufführungsentgelte halbwegs geregelt, schrieb er selber auch Lieder: Tänze und Menuette, von denen einige sogar recht bekannt geworden sind.

Anfang Juni des Jahres 1818 reiste Joseph Moritz nach Ragusa, dem heutigen Dubrovnik. Es dürfte dies wohl die erste jener Reisen gewesen sein, die er dann später immer wieder mit großer Genauigkeit und wohl auch Begeisterung beschreibt. Während er die späteren Reisen aber immer in gewissem Sinne dem Herzog erzählt, haben wir hier einen Bericht vorliegen, der noch gänzlich unbeeinflusst ist von der späteren Total-Ausrichtung. Es war eine jener Wirtschaftsdelegationen, die nach Ragusa reisen musste, zu Hilfe gerufen von einer ehemals blühenden Republik, die jetzt um ihre Existenz rang.

Wir haben heute über den Sinn unserer Reise gesprochen, während die Kutsche uns über die Dalmatinischen Berge schaukelte. Der Doktor Prokesch sprach dann aus, was wir alle im tiefsten Innersten schon gedacht hatten: „Was wollen die in Ragusa? In der Ecke des Reiches, im Hintergrund die Türkische Mißwirtschaft? Wozu sich da anstrengen? Das ist verlorenes Terrain. Die sind erledigt. Reines Augen-Auswischen, die ganze Reise da!“

‚Wer soll sich da anstrengen?’, war wohl der Kernsatz. Die Monarchie tat wirklich nichts, um dem vor sich hin siechenden Ragusa auf die Beine zu helfen. Ganz im Gegenteil, der altösterreichische Schlendrian trieb hier solche Blüten, dass einige der alteingesessenen Familien Ragusas ob des immerwährenden Niederganges ihrer einstmals so stolzen Republik den Beschluss fassten, ihre Dynastien zu beenden; was viele von ihnen später dann auch taten. Böse Zungen behaupten, dass Ragusa vielleicht deshalb ein kleines Homosexuellen-Paradies geworden ist. Aber das sind, wie gesagt, böse Zungen. Tatsache allerdings ist, dass Ragusaner Familien ausgestorben sind. Aus Protest. Ob sie das nur durch Enthaltsamkeit bewirkt haben, bleibe angezweifelt.

Aber wozu mache ich mir Gedanken...

schreibt Joseph Moritz noch am selben Tag, oder einige Tag später.

...ich bin ja doch nur Aufputz hier.

Tatsache ist, dass jede dieser Delegationen mit einer gewissen Menge an Adeligen ‚bestückt’ war. Und an diesem Grad der Bestückung konnte man Wichtigkeit ablesen, die man in Wien der Delegation beimaß.

Neben Moritz Graf Dietrichstein reiste noch ein junger Herberstein mit, der ein rechter Tunichtgut gewesen und für den diese Reise sogar eine Art Straf-Expedition gewesen sein soll. Dazu eben Joseph Moritz mit seinen gerade erst 17 Jahren. Alle wussten also, was diese Delegation wert sein sollte, die Ragusaner wussten es, und auch die Fachleute, die da mitreisten. Für die Ragusaner war die Besetzung der Delegation aus Wien fast einer Beleidigung gleichzusetzen.

Dennoch aber ließen sie unbeugsame Gastfreundschaft walten. Joseph Moritz jedenfalls berichtet von keinerlei schlechter Behandlung. Im Gegenteil, er scheint recht begeistert zu sein. Und vor allem hoch interessiert.

Wir sind hier im Rektorenpalast untergebracht. Solange Ragusa eine Republik war, so hat man mir erzählt, hatten sie als Oberhaupt einen sogenannten Rektor; der war allerdings immer nur für einen Monat im Amt. Dann kam ein neuer. So konnte sich keiner etablieren. Manche Ragusaner haben mir das als ‚weise’ geschildert, manche als ‚mißtrauisch’. Prokesch beurteilt es einfach als kleinlich. Spießig, sagte er. Mißtrauisch ja, aber wahrscheinlich zurecht; die Ragusaner kannten einander wohl sehr gut und eben darum wußten sie auch, warum sie so mißtrauisch sein mußten.

Aber wir dürfen nicht klagen. Man spricht mit uns, man bewirtet uns; schließlich müssen wir uns auf ganze vier Wochen hier einrichten.

Von uns Österreichern erhoffen sie hier Hilfe aus ihrer nahezu hoffnungslosen wirtschaftlichen Situation. Alles Böse kam für sie von Frankreich. Von Napoleon. Schließlich hat sein General Marmont vor zwölf Jahren (1806) Ragusa besetzt. Und die Geschehnisse rund herum zeigten auch, wie sehr die Ragusaner mit ihrem Mißtrauen untereinander recht hatten. Ragusa wurde nämlich in seiner ganzen Geschichte nie eingenommen. Die Besetzung durch Marmont und die Franzosen geschah ebenfalls nicht durch Belagerung oder Sturm, sondern durch einen Wortbruch.

Am 31. Jänner 1806 - jeder hier weiß dieses Datum - löste Marmont einfach die Republik auf. Vor vier Jahren haben dann wir Österreicher dieses wertlose Stück Land bekommen und beim Wiener Kongress (1815) hat man sogar beschlossen, den Ragusanern zu helfen. Das ist der Urgrund, warum wir hier sind. Und wie es scheint. sind wir vergeblich hier. Vergeblich schon von Wien abgesandt worden.

„Ragusa und Venedig“, pflegte Prokesch zu sagen, „das haben wir beides auf dem Gewissen. Wir - Österreich!“

Nichts davon hier. Keine Klagen. Nur Hoffnung.

Nachdem man uns die Geschichte erzählt hatte, dankte man uns Österreichern, daß wir die „Brut des Napoleon“, Napoleon II. in Wien sicher in Verwahrung hatten, sodaß er sicher nichts mehr anrichten könne. „Der I. sitzt in St. Helena, Marie Louise in Parma und gebiert Bastarde des Neipperg, und II. ist in Metternichs Klauen.“

Das war ein Trinkspruch, der Begeisterung fand.

Ich muß jetzt an den Buben denken, vor dem sie sich da so fürchten. Der Bub, der derzeit von meinem Herrn Vater vermutlich zu einem guten österreichischen Staatsbürger erzogen wird. Wenngleich auch mein Vater einigemale seinen Erziehungszweck ganz anders beschrieben hat: „Der junge Adler muß auf den Thron Napoleons. Und ich bereite ihn mit allen meinen Kräften darauf vor!“

Es ist eine Tatsache, dass Graf Dietrichstein keinen - nach eigener Aussage - glühenderen Wunsch hatte, als seinen Zögling einmal auf dem Thron Frankreichs zu sehen. Wie weit er da mit Metternichs Interessen konform ging, wie weit er ihnen da zuwider handelte, das bleibe dahingestellt. Metternich warf man jedenfalls später vor, er habe doch einen österreichischen Staatsbürger aus dem Aiglon (Adler) gemacht. Oder machen lassen.

Aber noch genießt Joseph Moritz Ragusa. Und er zeigt sich bildungswillig, wie es einem jungen Grafen Österreichs eben ansteht.

Herr Pospis - hier sagt man Gospodin statt Herr - Gospodin Pospis hat mir heute gesagt, ob ich nicht vielleicht mehr über die Republik wissen möchte. So hat er mir viel erzählt von alten Familien, großer Tradition und unbeugsamer Ordnung.

Drei der von ihm als ehern bezeichneten Gesetze, zwar ungeschrieben, dennoch gleich Gesetzen, sind mir in Erinnerung geblieben.

‚Obliti privatorum, publico curate’ - das heißt ‚Vergesset das Private und sorgt euch um öffentliche Angelegenheiten’.

Das wär’ sowas für uns, wo jeder nur auf sich selber schaut.

‚Salus republicae suprema lex asto’ – ‚Das Wohlergehen der Republik sei das oberste Gebot vor allen anderen’.

Bei uns sagt man ‚Das Hemd ist mir näher als der Rock’.

‚Non bene pro toto libertas venditur auro’ – ‚Die Freiheit verkauft man nicht für alles Gold der Welt’.

Bei uns tät' einer die eigene Großmutter verkaufen für den eigenen Vorteil.

Beim vierten Spruch ist mir der lateinische Text entfallen, er heißt ‚Erwerben ist besser als erobern.’

Das wär’ bei uns Wurscht, Hauptsach’ man kriegt es.

Diese bissigen, aber auch bitteren Kommentare werfen ein deutliches Licht, wie ein Jugendlicher der damaligen Tage sein eigenes Land gesehen hat. Unbedingt positiv ist diese Sicht nicht, mag aber auch dem Wienerischen Hang zur Nestbeschmutzung entsprungen sein. Teilweise zumindest.

In der Erinnerung geblieben ist mir auch jene seltsame Geschichte, daß man hier in Ragusa jeden Abend alle Stadttore abschloß, sämtliche Schlüssel in den Rektorenpalast brachte und hier einsperrte - mitsamt dem Rektor. Ich konnte allerdings von niemand erfahren, wer nun den Schlüssel zum Rektorenpalast die Nacht über gehabt hat. Denn der war ja nun der Mächtigste in Ragusa, zumindest in der Nacht.

Genau eine Woche sind wir nun hier und ich muß sagen, ich weiß schon recht viel über Ragusa, bald mehr als über daheim.

Da die Reise ziemlich genau mit dem Juni-Anfang begonnen hatte, halten wir also derzeit etwa beim 8. oder 9. Juni.

Die folgenden Tage werden nur mit kurzen Notizen vermerkt.

Heute Gespräche. Ohne rechte Zielrichtung.

Oder

Nun aber doch Klagen seitens der Ragusaner. Sie lassen ihre Dynastien aussterben, sagen sie. Welch seltsame Drohung. Wie macht man das? Wo doch alle verheiratet sind.

Im Joseph Moritz keimt hier derselbe Verdacht, der auch uns schon geplagt hat. Alles in Allem aber, die ‚Wirtschaftsgespräche’ wollten nicht vorankommen. Sollten wohl auch gar nicht.

Dann aber wird er doch wieder etwas ausführlicher.

Gestern hat man uns und den hiesigen Patrizierfamilien eine Oper vorgespielt. Man hat, so sagte man uns, eigens einen Komponisten gewählt, der viel für die Wiener Oper geschrieben hat. Er heißt Baldassare Galuppi und soll vor sechzig oder siebzig Jahren wirklich viel für Wien komponiert haben.

Das ist richtig.

Die Oper hieß irgend was ‚...dei cuore’, so was wie Verwirrung der Herzen. Sie handelt von einem Vater mit drei Töchtern und drei Freiern, die alle nur eine haben wollen, dann aber bekommt die eine doch nur einer, die beiden anderen Männer nehmen die beiden anderen Frauen. Die eine Frau, die umschwärmte, wurde von einer Altistin gegeben, die außer vorstehenden Augen, einem riesengroßen Mund, einem flachen Dekollete eine recht raue, tiefe Stimme hatte. "A Stimm wie a Hur"', sagte Hauptmann Obenaus, der unsere Unterhaltungen gerne mit Kräftigem zu würzen pflegte. Alle lachten und gingen neu gestärkt nach der Pause wieder in den Hof des Rektorenpalastes, wo das Spektakel stattfand.

Es war im Ganzen eher langweilig. Die Sänger waren recht gut. Eine der Sopranistinnen hatte viele hohe Töne zu singen, bei denen sie immer so schrie, daß es einem in den Ohren gellte.

Unsere Delegation klatschte am Schluß Beifall, während sich die Einheimischen jeder Beifallsäußerung enthielten. Keiner weiß, warum. So hörten auch wir schnell wieder auf und bekamen ein Nachtmahl vorgesetzt, das mir rundweg zu scharf war.

Eine langweilige Oper also, ein scharfes Essen, darauf eine schlechte Nacht. Ich mußte zweimal groß gehen und stieß mir jedesmal im Finstern den Kopf fast wund. Es geht ein Wind hier, der Zug hat fast alle Lichter ausgelöscht.

In der zweiten Hälfte der zweiten Woche und in der ersten Hälfte der dritten Woche fallen Berichte über die Gespräche ganz aus. Dafür schildert Joseph Moritz mehr aus seinem Privatissimum, das an Einprägsamkeit die vielleicht doch stattgehabten Gespräche bei weitem übertroffen hat.

Wir haben die ganze Geschichte aus den verschiedenen Tagen herausgenommen, immer nur die Sätze, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Gestern, Donnerstag, Diner bei Pospis.

Die Pospis, das hat Joseph Moritz anderswo kurz erzählt, sind eine der angesehensten Patrizierfamilien in Ragusa.

Beim Kaffee, den wir im Stehen einnahmen, hat mich der junge Pospis angesprochen und sehr höflich gefragt, ob ich ihm vielleicht etwas über Wien erzählen könne. Er träume immer von Wien. Und nun sehe er jemanden, bei dem er glaube, es wagen zu dürfen...

Wir haben uns für morgen verabredet. Vormittags. Ein Rundgang über die Stadtmauer. Da würde ich ihm dann gerne erzählen.

Am Freitagvormittag also.

Es war ein wunderschöner Spaziergang. Wollte man sehr genau sein, dann waren es ja eigentlich zwei Spaziergänge.

Beim ersten Rundgang über die Mauer erzählte mir Pospis alles Mögliche aus der Geschichte von Ragusa. Das meiste wußte ich schon, aber es war eine Freude, ihm zuzuhören. Er erzählte sehr charmant, begleitet von schönen, sehr sprechenden Handbewegungen.

Als wir wieder am Ausgangspunkt angelangt waren, schlug er sich plötzlich mit der flachen Hand an die Stirn, daß ihm sein Käppchen hinten hinunterflog; dabei rief er: „Herr Graf, nein, bin ich nicht dumm? Ich habe doch gebeten, daß er mir über Wien erzählt. Und jetzt habe ich die ganze Zeit Sachen erzählt, die ich schon weiß und die der Herr Graf wahrscheinlich auch schon gewußt haben! Bin ich nicht dumm?“

„Er ist nicht dumm, Gospodin“, antwortete ich, entzückt über seinen drolligen Ausbruch, „er ist höchst charmant und ich bin ihm sehr dankbar für alles, was er mir berichtet hat.“

„Der Herr Graf sind voller Höflichkeit“, rief er abwehrend. „Das ist halt die Großstadt. Das ist halt Wien!“

„Na“, meinte ich, „da könnt' ich ihm schon ein paar Sachen erzählen!“

An dieser Stelle erlaubte ich ihm, mich Joseph Moritz zu nennen. Er bat mich daraufhin, ihn Ivo zu nennen.

Dann erzählte ich dem Ivo über Wien, genau so lange wie der zweite Rundgang über die Stadtmauern von Ragusa dauerte.

Dann begleitete er mich wieder zum Rektorenpalast. Ehe wir auf den Platz hinaustraten, hielt er mich plötzlich am Arm fest und wir blieben stehen.

„Hat er heute nachmittag zu tun?“, fragte er mich.

„Ja“, seufzte ich, „Gespräche über mögliche und unmögliche Handelsspannen.“

„Und da muß er unbedingt dabei sein?“

Ich wurde jetzt vorsichtig, schließlich stand ein Ragusaner aus einer der angesehensten Familien vor mir.

„Ja“, sagte ich also, „wegen dieser Gespräche bin ich ja hier. Sie gehen in jedem Fall vor.“

Es mag die leichte Schärfe in meiner Stimme gewesen sein, die ihn nur ein begüterndes „Ja, ja“, sagen ließ.

Er nickte stumm vor sich hin, daß er mir leid tat.

Also hob ich wieder an: „Aber morgen, morgen habe ich den ganzen Tag frei.“

Er war gleich wieder begeistert: „Dann machen wir einen kleinen Ausflug, ja? Wir zwei. Ja?“

„Gut“, antwortete ich. „Ich melde der Wache, daß ich einen Tag privat bei Pospis’ verbringe. Ist das recht so?“

„Muß er denn das?“, fragte er verwundert.

„Ja“, sagte ich, „schließlich ist die Wache für mein Wohlergehen verantwortlich.“

„Auch auf der Liebesinsel?“, fragte er.

Ich meinte, nicht richtig verstanden zu haben: „Liebesinsel?“

„Er wird schon sehen, Joseph Moritz“, sagte er schalkhaft und wir traten auf den sonnenheißen Platz hinaus, wo er sich von mir verabschiedete.

Ich bin verwirrt. Liebesinsel?

Hier hat Joseph Moritz seinen Bericht unterbrochen. Die Handelsgespräche lagen dazwischen. Dann aber schrieb er gleich weiter mit dem Gedanken, der ihn zu entzünden scheint.

Die Gespräche wie immer. Kein Ziel.

Ich rufe mir immer wieder den Ivo ins Gedächtnis. Ich hätt’ mir nicht gedacht, daß hier bei diesem einfachen Volk ein junger Mann von solcher Kultur zu finden wäre. Er hat mir gesagt, daß er siebzehn Jahre alt sei. Um drei Monate älter als ich.

„Drei Monate habe ich erlebt, von denen er nichts weiß“, hat er kokett gesagt.

Kokett, ja, das ist es. Er ist kokett, der Ivo. Das türkisch anmutende Käppchen passt ihm gut, das er leicht schief, leicht verwegen auf seinen ganz dunkelbraunen Haaren über den ebenfalls ganz dunkelbraunen, tiefen Augen trägt. Diese Augen. Immer wenn ich hineinblicke, habe ich das Gefühl, dahinter glimmt ein Licht, in jedem Auge, weit hinten. Er kann so leuchten mit den Augen, der Ivo. Ein schneller Blick in den Spiegel zeigt mir, daß man mit blauen Augen nicht leuchten kann. Blaue Augen leuchten offen, gerade, hilflos, weil sie nichts verbergen können. Braune Augen, je dunkler sie sind, sind so tief, leuchten so von weit innen. Und er weiß dieses Leuchten einzusetzen, der Ivo.

Kokett, ich sagte es schon.

Ansonsten meine Größe, schlank, wie ich; wir haben einander im Äußerlichen nichts nachstehendes.

Ein koketter Mann ist mir etwas Neues.

Ab nun folgt keine Zeile mehr über Geschäfte oder Gespräche. Stattdessen ein beinahe Kapitel, das Joseph Moritz - vielleicht absichtlich - sogar als solches geformt hat.

Hier finde wieder eine Anmerkung Platz. Wir geben das Kapitel bis auf wenige Streichungen so wieder, wie es geschrieben ist. Die Streichungen, daran sei hier erinnert, entsprechen wohl dem, das man als Wunsch des Joseph Moritz interpretieren kann. Wir wollen ihn nicht bloßstellen. Zudem sind manche intime Details so drastisch geschrieben, dass sie wirklich nur ins Privatissimum gehören.

Die Liebesinsel.

Ich bin noch immer von viel Unruhe bewegt.

Wir trafen uns heute vormittag vor dem Rektorenpalast. Ivo holte mich ab und bat mich, den Weg zum Hafen doch zu Fuß nehmen zu wollen. Ich wunderte mich, dass er das fragte, der Weg zum Hafen ist nämlich keine fünf Minuten lang.

Dort führte er mich zu einem Schiff, das von zwei Männern gerudert wird. Das Schiff hat ein kleines Verdeck, oder wie das heißt, aus kostbarem, teppichartig gewebtem Tuch, sodaß man wie in einer Kutsche sitzen konnte, von niemandem eingesehen, auch nicht von den beiden Ruderknechten. Der wichtigste Zweck schien mir hier aber der Schutz vor der sehr heißen Sonne.

Ruderknechte - das war übrigens ganz falsch. Ivo stellte mir die beiden mit Namen vor, sie reichten mir die Hand - nicht ich ihnen, aber ich mußte wohl zugreifen -, wobei sie eine galante, mäßig tiefe Verbeugung machten. Dann sind wir losgefahren. Hinaus aus dem Hafen und vorerst gerade auf die Insel zu, die Ragusa geradewegs vorgelagert ist. Schon recht nahe an der Insel machten wir einen rechten Winkel nach links und fuhren jetzt die Insel entlang.

Ivo erzählte mir von einem Kloster, das sich auf der Insel befindet. Auf der Seite, von der wir uns soeben wegbewegten. Er erzählte mir von einigen sehr stillen, sehr abgelegenen Häusern, die auf der Insel sein sollen.

„Diskret?“, fragte ich vorsichtig.

„Diskret, ja“, stimmte er begeistert zu, „das ist das Wort, das mir entfallen ist.“

„Das ist aber wichtig“, gab ich mich weltmännisch. Währenddessen - ich gebe es ja zu - beschlich mich ein Gefühl gewaltiger Unsicherheit. Ich hatte nämlich nicht vor, mein erstes Erlebnis hier bei den einfachen Menschen auf einer Liebesinsel zu haben.

Unser Boot umrundete jetzt die Insel an ihrer Südseite gerade so, daß Ragusa nicht mehr zu sehen war.

Gleich darauf bogen wir in eine Bucht ein, legten dort auf einem recht guten Holzsteg an und stiegen aus. Ich sah mich kurz um und stellte Gespenstisches fest: nichts war auf der Insel zu sehen, kein Mensch. Sehr weit allerdings reichte mein Blick auch nicht, da die Insel dicht mit Pinien bewaldet ist und die Küste steil und felsig recht hoch anstieg, bis sofort der dichte Wald beginnt.

Ivo sagte den beiden Ruderern etwas in seiner Sprache, sie nickten, machten das Boot fest, nickten auch mir aufmunternd zu und verließen uns. Während sie jedoch sich nach rechts wandten, führte Ivo mich nach links in den Wald.

Der Weg führte uns immer im Wald, aber doch so nahe beim Ufer, daß wir immer das Meer sehen konnten. Wir wanderten stumm. Ich hatte zum Glück meine derberen Schuhe an, sodaß ich auf dem Wege gut vorangekommen bin. Was das Wams betrifft allerdings muß ich mit dem Schneider Hans reden, denn ich konnte mich auf dem manchmal recht holprigen Wege nur sehr schwer bewegen, zudem begann ich bald fürchterlich zu schwitzen. Wir gingen aber auch sehr schnell.

Als ich mir mit dem Taschentuch eben den Schweiß von der Stirne wischte, blieb der Ivo plötzlich stehen und fragte: „Warum gehen wir nicht baden?“

Ich glaubte zuerst nicht richtig zu verstehen.

„Ja“, sagte er, „baden, ins Meer!“

Jetzt war ich aber schon erschrocken.

„Aber“, stammelte ich wohl, „wie soll ich denn...“, und habe an mir hinuntergeblickt, die Kleider meinend.

Ivo aber lachte: „Natürlich ohne Kleider. Komm. Hier sieht dich keiner.“

Er hatte nicht eben gesagt, hier sieht UNS keiner, nein, hier sieht DICH keiner. Ich empfand das als einen Angriff. Wogegen, weiß ich nicht. Aber gegen irgendwas an mir war er wohl gerichtet.

„Ach“, rief er, „und wenn du nicht schwimmen kannst, dann halt’ dich am Ufer fest, dort sind nur Muscheln, die beißen nicht.“

Jetzt wurde es mir der Keckheit doch zu viel. Daß man in unseren Kreisen schwimmen kann, ist sicher nicht üblich. Ich aber kann schwimmen; mein Vater hat mir in unserem Landgut am Erlaufsee beigebracht, wie herrlich ein kühles Bad sein kann, wenn man sich im Wasser auch zu bewegen weiß, ohne daß man untergeht. Aber selbstverständlich in der hiefür geeigneten Kleidung.

Bei dieser Gelegenheit fällt es mir ein, daß mein Vater ohne Kleidung auch nur wie ich aussehen würde, älter halt, aber sonst. Jetzt bin ich rot im Gesichte und schäme mich meines nackten Vaters.

Ich wollte dem lvo eben erklären, daß... nun gut, ich hatte eben in die wunderbaren blauen Fluten geblickt und drehte mich entschlossen zu Ivo um.

Da packte mich ein neuer Schreck.

Ivo stand völlig nackt vor mir. Und es war nicht nur die Nacktheit, die mich so erschrecken ließ, daß es mir den Atem genommen hat, sondern die ganze Schönheit, die da vor mir stand. Mein Blick mochte wohl etwas lang auf seinem edel gebogenen Glied gehangen sein, sodaß er schnell beide Hände darüber legte und rief: „Wie wär's, wenn du auch den Rest betrachtetest?“

Jetzt drehte er sich kokett einmal um sich selber, ließ seine wunderhübsche Hinterfront mit einigen schnellen Wackelbewegungen aufregend tänzeln und stand dann wieder vor mir. Der dunkle, edle Kopf, wie der eines großen Kindes, halblanges, glattes, sehr dunkelbraunes Haar, den vollen Mund lächelnd leicht geöffnet, rundliche Zähne schimmerten dahinter hervor. Viele Haare auf der Brust, schön nach der Anatomie verteilt, am Bauch, um den Nabel herum, ein Haarwirbel, dann Haar in einer dünneren Linie bis zu den üppigen Schamhaaren, aus denen ein kräftiges Glied weit hervorstand, vermutlich, weil sich seine Hoden an der Luft zusammengezogen hatten. Der Hintern ebenfalls behaart, wobei sich die Behaarung an der Fuge verdichtete, sodaß sie eine dunkle, geheimnisvolle Linie nach unten hinein bildeten. Die Beine ebenfalls bis zu den Knöcheln behaart, aber nicht zu dicht, sodaß die braune Haut appetitlich durchschimmern konnte. Wie denn überhaupt der Haarwuchs den Körper in keiner Weise zu deformieren im Stande war, sondern immer die schöne, edle Form die Oberhand hatte. So habe ich ihn jetzt vor mir, fast leibhaftig, fast.

Joseph Moritz hat hier wieder eine Pause beim Schreiben gemacht. Hat ihn die eigene Schilderung in ihrer Intensität ‚übermannt’? Ja, er hat „es sich wild selbst gemacht“, schreibt er.

Beim Durcharbeiten des Tagebuches und beim Auswählen der Textstellen sind wir gerade hier in einem Dilemma: Hätten wir das alles überhaupt weglassen sollen? Sind wir schon zu weit gegangen in der Auslegung der Weite unseres Versprechens an den Joseph Moritz? Wir wissen es nicht. Wir lassen eben nur weg, wenn Joseph Moritz vulgär wird, wenn er, wie an dieser Stelle zum Beispiel Details beschreibt, wie er onaniert hat.

Ich möchte mich zwingen, wahrhaftig zu bleiben.

„Hast du Probleme?“, fragte der lvo mich jetzt, wobei er mit den Augen dorthin wies, wo sich mein Beinkleid bald wölben mußte.

Ich antwortete nicht. Stattdessen machte er sich langsam daran, sein ‚Problem’ dem meinen anzugleichen. Als es dann dem glich, was er von mir zu erwarten meinte, sagte er, sich nach hinten reckend: „Na?“

Und das wollte wohl heißen: mehr an schamloser Selbstverleugnung kann ich wohl nicht mehr für dich tun. Da stehe ich und sollte mich eigentlich schämen. Also?

Ich begann mich wortlos auch zu entkleiden. Die komplizierte Tätigkeit bewirkte allerdings, daß ich bald kein Problem mehr hatte. Ivo nahm mir jedes Kleidungsstück ab und hängte es säuberlich und ordentlich auf einen queren Ast, alle meinen über seine Kleider.

„Die finden wir schon wieder auseinander!“ Dann lachte er: „Wäre doch zu komisch, wenn du mit meinen und ich mit deinen Kleidern zurückkäme!“

Jetzt war auch ich nackt und Ivo hatte keine Zeit mehr, seinen letzten Gedanken komisch zu finden. Er starrte mich nämlich von oben bis unten und von hinten bis vorne erstaunt an und sagte dann sehr leise und sehr bewundernd: „Oh, bist du schön!“

Dieser Ausspruch fuhr mir wie ein Blitz durch den ganzen nackten Körper und direkt ins Herz. Ich bekam Herzklopfen, wollte mich schämen, schüttelte verzweifelt den Kopf, machte einen Griff zu meinen Kleidern, da ergriff er eben diese Hand und sagte leise: „Es ist gut, wenn wir uns jetzt abkühlen.“

Ich wollte aber gar keine Vernunft. Noch nie hatte jemand so was zu mir gesagt, warum mußte jetzt die Vernunft dazwischen kommen?

Er aber führte mich an der Hand durch die Felsen: „Steig’ immer genau dort drauf, wo ich draufsteige.“

Ich tat es, und wir kamen recht flott zum Wasser.

Im Wasser drinnen war ich dann sehr schnell, weil ich auf einer mit Muscheln überzogenen, glitschigen, runden Klippe ausglitt und in das Wasser plumpste. Erst schwammen wir ein Weilchen jeder für sich in der herrlich kühlen Flut. Ich hatte nicht bedacht, daß das Meer ja salzig sei und spuckte ein paar mal recht kräftig.

Ivo schwamm zu mir her und wir sprachen, uns treiben lassend, über die Dummheit der heutigen Moden, die alles das ja eigentlich untersagten, was uns da eben so viel Vergnügen bereitete.

Plötzlich tauchte er mich an den Schultern unter Wasser. Ich hielt mich an ihm fest, umklammerte seine Lenden, er zog mich an sich entlang wieder hoch und jetzt trieben wir eng umklammert auf dem Wasser.

Ich ließ es mit mir geschehen, ich fühlte nichts als ausgelassene Geborgenheit.

Da flüsterte Ivo mir ins Ohr: „Liebe darf es nicht sein; also ist es Freundschaft. Ja? Mein Freund?“

„Ja, mein Freund“, antwortete ich in dem Ton, in dem man dem Pfarrer als Ministrant antwortet.

Da hielt ich ihn mit dem Oberkörper von mir weg; ich mußte da etwas fragen: „Wie viele Freunde hast du hier schon gekürt? Du hast Erfahrung in diesen Dingen!“

Da begannen seine Augen ganz tief zu leuchten und er sagte: „Ich habe keinen Freund als dich. Das mußt du mir einfach glauben, weil ich es dir nicht beweisen kann.“

Dann gab er mir einen Kuß auf die Lippen, der wohl kurz sein sollte; ich aber sog ihn fest, sodaß er sich schmatzend von mir lösen mußte. Wieder leuchtete er mich tief an: „Erfahrung, ich? Und du?“

Er spürt, daß ich schon wieder ein Problem zwischen meinen Beinen hatte: „Und das? Erfahrung ich? Ferkel!“

Da faßte ich mit einer Hand hinunter zu ihm und fand ihn genauso: „Selber Ferkel!“, rief ich, und schämte mich nun für gar nichts mehr.

Da unser Problem nicht abkühlen wollte, gingen wir halt so aus dem Wasser und machten, die Kleider einfach liegen lassend, einen Spaziergang. Nachdem wir einige Zeit auf wunderschönen Wegen durch den Wald wie auf Teppichen, die aus langen Piniennadeln bestanden, dahingewandert waren, kamen wir in die Felsen, was bedeutete, daß wir dem Ufer immer näher kamen. Wir umrundeten eine tiefe Schlucht, eine Bucht, die mit tiefblauem Wasser eine tiefe Zunge ins Land hereinstreckte.

Er rief „Joseph Moritz“ in die Bucht hinunter und bekam sofort ein leises „oritz“ als Widerhall. Darauf rief ich rasch „Ivo“ und bekam zweimal „Ivo“ zurück. Ich erklärte ihm stolz, daß wir in den Alpen im Umgang mit dem Echo wohl mehr Übung hätten.

Dann ging es bergauf, es wurde zum Klettern, wobei es manchmal sogar auf allen Vieren ging. Ich hatte ein wenig Angst um meine nackten Fußsohlen. Da ich aber immer genau dorthin trat, wohin Ivo vor mir trat, geschah mir nichts. Er war aber zudem auch sehr schwer, mich vollends auf die Tritte zu konzentrieren, weil ich beim Bergaufklettern immer den faszinierenden Popsch vom Ivo vor der Nase hatte. Und zwischen den Backen lugten höchst lustig die Eierlein hervor.

Als wir uns eben anschickten, einen Felsen zu umgehen, der uns bisher alle Sicht auf den weiteren Weg verstellt hatte, wandte sich Ivo kurz zu mir um und sagte: „Kann sein, daß du jetzt erschrickst. Es ist aber nichts zum Erschrecken.“

Bei dem, was jetzt kommt, sind wir uns so gar nicht sicher, wie weit da dem Joseph Moritz die Phantasie durchgegangen ist. Es ist nämlich schwer vorstellbar, daß sich das damals - wir schreiben nota bene das Jahr 1818 und befinden uns in den ‚Illyrischen Provinzen’ oder deren österreichischer Nachfolge - damals abgespielt haben soll. Aber Joseph Moritz schreibt es. Und wir? Wir geben es vorsichtig wieder.

Es war aber zum Erschrecken. Wir standen nämlich plötzlich einer nackten Frau gegenüber, die offenbar wie wir gerne ihres Weges hatte wandern wollen. Jetzt aber, da sie zweier fremder nackter Männer ansichtig wurde, schrie sie einen kleinen Schreckensschrei und sprang seitwärts hinter einen Felsen in Richtung zum Ufer.

Wir traten fasziniert einen Schritt vor und sahen sie behende die Felsen hinunterspringen.

„Ludmilla“, rief ihr Ivo nach. Er war kein Fremder hier. Natürlich, er hatte mich ja auch gewarnt, er kannte also die Dame.

Als sie ihren Namen hörte, blieb sie stehen, blickte sich um, ein Erkennen zog über ihr Gesicht und sie rief: „Ivo!“ und noch was in ihrer Sprache. Er antwortete auch, deutete auf mich und ich verstand, daß er Moritz sagte.

Ich warf mich in Positur, um mich höflich zu verbeugen, da sagte er: „Bemüh’ dich nicht. Ich habe nicht gesagt, daß du ein Graf bist.“

Ich stutzte. Warum hatte er meinen Stand vorenthalten?

„Man würde es dir auch nicht ansehen“, meinte er weiter.

Da dämmerte mir, daß ein nackter Graf kein Graf mehr war, sondern bestenfalls ein nackter Mann, der aussehen konnte wie ein Pestführer, oder der Schneider Hans, oder der Ivo. Oder ich - Moritz, ein nackter Mann, der sich nicht einmal mehr schämte, sondern sich in seiner Nacktheit wollüstig wohl fühlte. Darum hielt wohl auch Gott auf allen Gemälden sein jüngstes Gericht nur mit nackten Menschen ab.

Mittlerweile hatte aber die als Ludmilla gerufene hinter ihren Felsen geschrien: „Karoline! Hermine!“, und dann noch was in ihrer Sprache.

Zwei weitere nackte Frauen tauchten auf. Während Ludmilla überall blond war, war die zweite, es wird wohl Karoline gewesen sein, sehr brünett oder schon braun, die dritte - bleibt nur noch Hermine - schwarz, oder so dunkelbraun, daß sie schwarz wirkte im Gegensatz zu ihrer recht hellen, so schien mir, bläulich durchwirkten Haut. Aber wir waren noch zu weit entfernt, um solche Details schon erkennen zu können.

„Komm“, deutete mir Ivo, nachdem die drei Grazien ebenfalls ein „Komm“ gewunken hatten, und wir kletterten die Felsen hinab, wo uns die Damen in einer Felsnische empfingen, die mit kurzhaarigen Fellen bequem ausgelegt war.

Sie lagerten sich malerisch hin und luden uns ein, uns neben sie oder besser zwischen sie zu lagern. Ivo aber lehnte dankend ab und wir setzten uns auf zwei Felsen ihnen gegenüber, was mir beim Sitzen ziemlich wehtat, weil der Fels sehr rau war und mein Hintern nur Gepolstertes gewöhnt ist.

„So bist du wenigstens sicher vor ihnen“, meinte Ivo auf deutsch.

„Du nicht?“, fragte ich.

„Mich kennen sie“, antwortete er, „und respektieren mich. Aber dich?“

Da wollte schon Zorn in mir aufkommen, weil ich mir das nicht mehr gefallen lassen wollte. Wenn er sagen würde, ich sei Graf, würden sie mich wohl genauso respektieren wie ihn, diese nackten Weiber.

„Sie unterhalten sich eben über dein Glied“, erklärte mir da der Ivo.

Mein Zorn geriet in Verwirrung, es blieb mir für den Augenblick nur eines zu fragen: „Und?“

„Sie finden es schön.“

Ich sah mein Glied an, fand es eigentlich auch recht schön, nickte den Damen erfreut zu, sie lachten und nickten fröhlich zurück.

„Verstehen die uns?“, fragte ich.

„Nein“, sagte er, „aber es gibt Themen, die versteht man auch ohne Worte. Und du hast eben recht stolz dein Männliches betrachtet.“

„Ja?“, sagte ich verwirrt und blickte wieder die drei Damen an.

Sie nickten eifrig: „Dobro!“, sagten sie, „Dobro, dobro!“

„Das heißt gut“, übersetzte Ivo trocken.

Ich sah mir jetzt ebenso unverschämt die drei Damen an, konnte aber nicht viel Unterschiedliches bemerken, als daß sie alle verschieden hängende Brüste haben, weiß, milchig und blau um die Warzen herum geädert, sehr buschige Schamhaare, jede in ihrer Farbe; nur bei der ganz Dunklen sah es um die Scham herum etwas anders aus; ihr wuchsen die Haare in kleinen Büschelchen, sodaß immer wieder die weiße Haut dazwischen hervorschimmerte. Als sie bemerkte, daß ich sie betrachtete, tat sie langsam ihre Beine auseinander, bis ich das vor mir hatte, was ich von meiner kleinen Cousine schon kannte. Genauso kindlich sah es bei der Hermine aus. Nur daß es bei der Hermine gemeiner wirkte. Gewöhnlicher. Vulgärer.

„Voriges Jahr“, murmelte Ivo. „sind sie noch so gelegen, daß man wenigstens das Geschlecht nicht sah, aber heute - äh...“ - er schloß mit einem Ausruf tiefen Ekels, der Hermine veranlaßte, ihre Scham wieder zu schließen. Eigenartig empfinde ich jetzt, daß das, wovor ich mich gefürchtet hatte, nicht aufgetreten war: ich war nicht erregt.

Ivo übrigens auch nicht.

Eine Zeitlang saßen wir stumm beieinander, dann meinte Ivo, wir könnten jetzt wohl gehen. Ich schloß mich seiner Meinung an, zumal man aus dem Felsenloch auch gar nichts von der Landschaft sehen konnte. Zudem bekam die Situation für meinen Be-griff etwas Abgeschmacktes.

Wir standen auf, die Damen streckten uns die Arme entgegen, worauf wir bei jeder niederknieten und sie schnell küßten. Dabei ließ es sich keine der drei entgehen, mir streichelnd auf mein ‚schönes’ Glied zu greifen.

Aber auch jetzt - leichter Kitzel, keine Erregung.

Selbstvergessen machte ich beim Verlassen eine höfliche Verbeugung, die bei den dreien großes Gelächter hervorrief.

Das Lachen klang uns immer noch nach, als ich schon weiter bergauf Ivos Hinterfront, die ich ja schon beschrieben habe, folgte. Als wir dann wieder um den Überraschungsfelsen - jetzt in die andere Richtung - herumgegangen waren, fragte ich beiläufig: „Noch irgendwelche Überraschungen?“

„Tu er nicht so abgefeimt“, meinte Ivo.

Ich aber blieb beharrend: „Ich habe nur gefragt, ob es heute noch irgendwelche Überraschungen gibt.“

Jetzt blieb Ivo stehen, stellte sich mir gegenüber auf, legte seine Hände an meine Hüften und sagte: „Joseph Moritz, ich weiß, wenn wir dann wieder hinüber kommen ans Land, dann bist du wieder der Graf und hast alles Anrecht auf meinen Respekt.“

Er hielt inne.

Ich nickte nur.

Also sprach er weiter: „Ich hoffe zu Gott, daß ich heute keinen Fehler gemacht habe. Der Tag heute war nur für dich und für mich bestimmt. Und für sonst niemand. Hörst du? Bitte hör’ es: niemand sonst!“

Ich habe ihn dann langsam ganz zu mir her gezogen, bis wir Körper an Körper waren, und flüsterte ihm ins Ohr: „Was soll ich denn verraten? Die drei Weiber? Oder das, was wir jetzt tun? Was denn?“

„Was tun wir denn?“, flüsterte er zurück, sich so fest an mich schmiegend, daß auch kein noch so kleiner Raum mehr zwischen uns war.

Das ist jetzt eine der Stellen in Joseph Moritz’ Tagebuch, an der wir einen kleinen Respektsabstand halten.

Aber der Tag war ja noch nicht zu Ende.

Beim Anlegen der Kleider halfen wir einander gegenseitig, was gleich noch einmal unsere Sinne gänzlich verwirrte.

Und ‚gleich noch einmal’ sei ein respektvoller Sprung gemacht.

Wir gingen dann wie demütige Büßer zum Kloster, wo Ivo eine kärgliche, aber recht köstlich schmeckende Mahlzeit für uns beide erstand. Wir aßen gleich neben der Pforte in einem steinernen Raum mit dunklen, schweren Holzmöbeln. Es hat mir sehr gemundet, ich hatte aber auch einen recht guten Hunger nach all den Erlebnissen.

Dann bat ich ihn, mir noch mehr von der Insel zu zeigen.

„Nicht die stillen Häuser. Aber ist da nicht auch noch ein Fort?“

Diese Frage hat dem Ivo die Laune gründlich verdorben: „Ja“, sagte er, „vor zwölf Jahren (1806) haben die Franzosen, als sie unsere Republik aufgelöst hatten, das Fort Royal gebaut. Royal, nach ihrem eigenen König. Und da steht es noch. Die Franzosen sind weg, jetzt haben wir die Österreicher.“

Auch er kam sofort zu dem Thema, zu dem man zumeist kam, wenn man über die Franzosen sprach: „Aber paßt nur gut auf in Wien, ihr habt ihn ja, den Burschen, den Napoleon so gerne zu seinem Nachfolger gemacht hätte.“

„Ein Kind“, antwortete ich, „sieben Jahre alt.“

„Er ist Napoleons Sohn“, beharrte Ivo wütend, „also ist er zu hassen, und er ist zu verhindern und zu...“

Hier unterbrach er sich selbst.

„Wolltest du töten sagen?“, fragte ich.

Er antwortete nicht direkt: „Kennst du ihn? Hast du ihn schon einmal gesehen, den Teufel?“

„Er ist kein Teufel“, rief ich, „er ist ein hübscher gescheiter Bub, der so etwas nie sagen würde, was du jetzt gesagt hast. Nie!“

„Er ist der Sohn Napoleons“, wollte Ivo abschließen.

Ich aber kämpfte diesmal um das letzte Wort: „Er konnte sich seinen Vater nicht aussuchen. Und seine Mutter auch nicht.“

Letzteres sagte ich wohl eingedenk der Bastarde von Parma.

Ivo schwieg.

Ich aber hatte noch ein letztes Wort: „Mein Vater ist übrigens sein Erzieher.“

Ivo nickte unsanft, als ob er schon genug hätte.

Ich aber setzte noch was drauf: „Und mein Vater ist kein Franzosenknecht, sondern Österreicher. Wie ich. Aber vielleicht ist dir das auch nicht mehr recht, jetzt?“

Der letzte Satz schmeckte mir selber recht bitter. Auch jetzt noch.

„Verzeih’ mir“, sagte da der Ivo, „wir haben beschlossen, wir sind Freunde.“

„Weil es nicht Liebe sein darf“, ergänzte ich.

Er nickte, nahm im Gehen meine Hand in die seine und küßte sie. Der Rest des Tages, Heimfahrt, Weg zum Palast, Verabschiedung, alles verlief so gut wie stumm.

Es war alles in der Ordnung, alles in der Harmonie. Diese Freundschaft, die nicht die Liebe sein durfte.

Damit endet das Kapitel von der Liebesinsel.

Wir haben vorhin Zweifel an der Geschichte mit den Frauen angemeldet. Wir haben sie noch. Die drei Namen, die sie tragen, Ludmilla, Karoline und Hermine sind keine Namen, wie sie die Damen von Ragusa damals getragen haben. Wir wissen aber, daß es drei Damen in Wien gibt, die diese Namen tragen und die in der Hierarchie als Heiratskandidatinnen für Joseph Moritz einmal in Frage kamen. Wir haben derzeit noch keinen Hinweis, daß Joseph Moritz mit der Situation einer Verheiratung schon konfrontiert war. Aber wir wissen, daß die drei Damen mit just den drei Namen schon demnächst auftauchen. Wir wissen es von Joseph Moritz selbst, aus seinem Tagebuch. Es wäre doch ein fataler Zufall, wenn drei Grazien in den Strandfelsen einer Insel vor Ragusa - es handelt sich übrigens um das heutige Lokrum - just diese drei Namen trügen.

Erhebt sich also die Frage, ob Joseph Moritz da nicht eine Art Front aufbaute, formulierte, träumte - und letztlich flunkerte.

Bemerkenswert ist aber auch, daß Joseph Moritz immer und überall auf den napoleonischen Buben stieß, gestoßen wurde.

In einem Satz wundert er sich selber:

Heut’ hab’ ich schon wieder den Napoleon-Buben verteidigt. Wie komm’ ich denn dazu?

Viel hat er nicht mehr berichtet aus Ragusa. Einmal schreibt er von einem Abendessen, bei dem es über einige höchst seltsame Menschen zu berichten gibt.

Der Rektor, so nennen sie hier ihren Bürgermeister noch immer, hat zu unserem Abschied ein Abendessen gegeben. Wir reisen zwar erst übermorgen, aber die verschiedenen Verabschiedungsgänge haben schon begonnen. Zu dem Abendessen waren neben den wichtigsten Potentaten der Stadt Ragusa auch alle wichtigen Gäste eingeladen, die sich derzeit in der Stadt befinden. Unter diesen Gästen gab es eigentlich nur Menschen. die einem Panoptikum Ehre gemacht hätten.

Ivo war auch da. Ich war darüber etwas erstaunt, da sonst nur die Väter, nicht aber die Angehörigen der Potentaten Ragusas anwesend waren.

Er erklärte mir seine Anwesenheit: „Es hat schon seine Vorteile, mit Joseph Moritz Graf Dietrichstein befreundet zu sein.“

Ich war unruhig: „Du hast es...?“

Er setzte nickend fort: „...allen erzählt, daß wir Freunde sind! Und jetzt bin ich sogar ein wenig wichtig.“

„Wichtig?“

„Ich könnte ja was wissen.“

„Und - was weißt du?“

„Nichts, was die anderen etwas angeht. Und schließlich hast du mich ja genauso in der Hand, nicht, Freund?“ Er sagte das fast kämpfend.

„Ja, Freund“, antwortete ich nachdenkend. Es machte mich unruhig, daß ich ein Geheimnis hatte, mit dessen Wissen man mich ‚in der Hand haben’ konnte.

Als mir alle Anwesenden vorgestellt wurden, offenbarte sich eine recht wunderbare Mischung: da war eine russische Gräfin, ein italienischer Conte, ein anglikanischer Bischof und ein Wiener Advokat.

Die vier merkte ich mir; außer denen, die ich ohnedies schon kannte. Als nach dem offiziellen Essen, das übrigens wieder so viel von diesem Knoblauch enthielt, daß ich selber und alle meine Kleider unter der Achsel schon nach purem Knoblauch stinken, als es also nach dieser Knoblauchration gesellig zu werden begann, angelte ich mir den Ivo; er sollte mir über die vier erzählen, was er wußte.

Und er wußte allerhand.

Die russische Gräfin war vermutlich gar keine solche, wurde aber von ihrer Begleitung so genannt. Mir war sie schon als zweifelhaft aufgefallen, weil sie als Ranggleiche mit mir den kleinen Knicks vor mir gemacht hat, was nicht nötig war. Sie ist aber unermeßlich reich und darum sehr beliebt. Ihre Begleitung besteht aus einem jungen Mädchen, das der ‚Gräfin’ recht ähnlich sieht und als ihre Tochter vorgestellt wurde. Die zwei Damen haben aber auch noch einen jungen Mann dabei.

„Der Zuchtbulle für die beiden“, beschrieb ihn Ivo. „Der Freund der alten. Aber wenn der nicht auch die junge...“

„...wär’ er schön blöd!“, ergänzte ich.

Wir nickten beide wie Männer, die sich über die Weiber wieder einmal geeinigt haben, was uns beiden diebischen Spaß machte.

„Der italienische Conte ist ein wirklicher solcher“, sagte Ivo. „Er hat allerdings eine englische Frau, und die hat das Geld.“

„Schon die zweite Frau, die das Geld hat“, stellte ich fest.

„Die Engländerin in Bier und die Russin in Geheimdienst.“

„Geheimdienst?“

Ich war sehr unsicher: „Geheimdienst?“, fragte ich noch einmal: „Was ist denn das für ein Gemeindienst, wenn es jeder weiß?“

„Das wissen wir auch nicht. Aber es kommen immer wieder russische Kuriere, denen sie was mitgibt. Und diese Kuriere dürfen auch zur Nachtzeit in die Stadt.“

„Das dürfen nicht einmal die unsrigen“, wunderte ich mich.

„Eure sind ja auch nicht geheim“, war da die eher dumme Antwort.

Was hat die falsche russische Gräfin denn nach Rußland so Geheimes zu berichten, fragte ich mich. Ich beschloß, das unserem Wachestab zu melden, mir scheint aber jetzt fast besser, es einfach wieder zu vergessen.

Der Conte hatte vier sehr junge, sehr hübsche Männer in seiner Begleitung.

„Seine Freunde“, sagte Ivo kurz.

„Freunde?"

„Ja. Er reist mit ihnen seit drei Jahren.“

Ich muß gestehen, ich weiß nicht, was ich davon denken soll.

Ivo hat meine Ratlosigkeit wohl bemerkt, denn er meinte: „Denk’ dir halt zur Abwechslung einmal gar nichts.“

Da gab der anglikanische Bischof schon mehr zu denken. Ein alter, schlanker, mittelgroßer, durchgeistigter Herr mit leicht kurzsichtigem Blick und schwarzweißem Habit.

Ich fragte ihn, ob der Habit denn in einem solch heißen Sommer nicht sehr warm sei.

Da antwortete er freundlich: „Ich trage darunter nichts!“

Ich wechselte das Thema und wendete mich den zwei jungen Herren zu, die augenscheinlich zum Herrn Bischof gehörten, weil sie immer in seiner Nähe herumschwänzelten, aber dauernd miteinander sprachen und dann immer lächelten. Beide hatten etwas von Künstlern an sich, vor allem die großen Maschen, die sie um den Hals trugen. Während der eine sein Haar ganz kurz geschoren trug, hatte der andere eine zart auf die Schultern fallende, kleine Mähne. Beiden stand ihre Haartracht passend; man hatte das Gefühl, genauso müsse sie sein.

Der Herr Bischof stellte mir die beiden vor. Ein Violinist und ein Maler.

„Musik und Malerei“, meinte er galant in seinem singenden Tonfall, „ein charmantes Pärchen, nicht?“

Ich nickte zustimmend und sah mir die beiden an, die ihrerseits mich anlächelten, weil sie soeben was zueinander gesagt hatten. Wirklich ein charmantes Pärchen.

Der Herr Bischof aber fuhr fort: „Sie reisen mit mir. Und sammeln Eindrücke für ihre Kunst. Das ist meine persönliche Art der Kunstförderung.“

Ich dachte mir mein Teil, Ivo tat wohl das gleiche, was ich seinem Blicke ganz klar anzusehen vermochte.

Da entdeckte ich hinter den beiden noch einen jungen Mann. Er war zwar nach der gleichen Art wie die beiden Künstler gekleidet, allerdings ohne die große Masche, sein Gesicht wies ihn aber als Mann aus dem allerfernsten Orient aus.

„Und dieser Herr?“, fragte ich. „Auch der Kunst zugetan?“

Während sich der exotische Herr charmant lächelnd zu Ivo und mir verbeugte, antwortete der Herr Bischof mit giftigem Beigeschmacke: „Chinese. Werdender Arzt. Studiert die Anatomie. Derzeit die männliche. Den haben die beiden Künstler erst unlängst auf der Reise kennengelernt.“

Der Herzog

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