Читать книгу Schnee von gestern ...und vorgestern - Günther Klößinger - Страница 6
Freitag
Оглавление„Ich bring ihn um!“, presste er hervor. Seine bislang nur mühevoll im Zaum gehaltene Wut jagte mit zügelloser Gewalt herein. Raserei wurde zum alles beherrschenden Element. Schweißperlen glitzerten unheilschwanger über funkelnden Augen. Die wilden Blicke schossen wie unsichtbare Pfeile durch den Raum und suchten mit irrer Entschlossenheit ihr Ziel. Ein Knall ließ die Wände so stark erzittern, dass die Spinne in einer Ecke der Decke fluchtartig das Netz verließ, um dann schließlich auf eine andere Website zu wechseln.
„Na, na, Steffens! Was regst du dich denn auf? Dass unser neuer Boss ein Arschloch ist, haben wir doch von Anfang an gewusst“, sagte Prancock zu seinem Kollegen. Dabei ließ er den Blick nicht von dem Klumpen Coffee-Creamer, der trotz heftigster Rührbewegungen nicht im dunklen Strudel der Tasse verschwinden wollte. Der Kommissar musste schmunzeln. Er wusste genau, was Beschwichtigungsversuche mit Steffens’ Adrenalin-Spiegel anstellten: Sie brachten ihn noch näher an die Explosionsgrenze.
„Versuch erst gar nicht, dein Grinsen zu verbergen, Fox. Du hast gut lachen. Du machst die nächsten zwei Wochen Urlaub in Frankreich und ich darf mit diesem Kotzbrocken alleine …“
„Wahrscheinlich erst einmal den Türstock sanieren. Alle Achtung: In nur sechs Wochen hast du’s geschafft, das Ding fast komplett aus den Angeln zu knallen!“ Fox unterbrach seinen Vortrag mit einem genüsslichen Schlürfen.
„Vielleicht fällt sie ja mal ganz aus dem Rahmen und erschlägt den Scheißkerl“, brummelte Steffens mit einem Seitenblick auf die Tür und bediente sich dann ebenfalls an der Kaffeemaschine.
„Was soll hier wen erschlagen?“, fuhr eine eisige Stimme in das Büro. Erschrocken blickten Fox und Steffens auf: Die windschiefe Tür öffnete sich. Kriminalhauptkommissar Häfner trat, um majestätischen Schritt bemüht, herein und markierte den großen Boss. Abschätzig musterte er seine Untergebenen. Prancock schaffte es gerade noch rechtzeitig, die richtige Taste des Dienstcomputers zu drücken. Augenblicklich verschwand das Ballerspiel „50 Ways to Slaughter your Boss“ vom Bildschirm. Stattdessen blinkte ein Dokument auf, das Zeugenaussagen zum Fall des ermordeten Arabers Ibrahim aus der Schnetzelgasse enthielt.
„Steffens meinte nur …“, hob Fox an, um seinem Kollegen zur Seite zu stehen.
Häfner unterbrach ihn barsch: „Sie sind nicht gefragt, Kommissar Prancock!“
„Ich habe eben über den Fall dieses erschlagenen Ausländers nachgedacht“, verteidigte sich Steffens.
„Und ich“, fuhr der machtbewusste Chef ihn an, „habe Ihnen diesen Fall soeben entzogen.“
Als Fox das hörte, wunderte er sich nicht mehr, dass Steffens die Tür so brachial ins Schloss geworfen hatte, als wolle er damit die Wette in einer Fernsehshow gewinnen. Vielmehr hätte er sogar verstehen können, wenn der Kollege gleich eine Bombe gezündet hätte.
„Entzogen? Aber Herr Häfner, ich bin ab morgen im Urlaub, und wenn Steffens nicht weiter ermittelt …“
„Sie können beruhigt in den Urlaub fahren! Ihre Beteiligung an diesem Fall ist ebenfalls nicht mehr vonnöten. Im Übrigen: Die korrekte Anrede lautet ‚Herr Kriminalhauptkommissar Häfner‘, ist das klar?!“
„Bis ich das vollständig ausgesprochen habe, sind alle Gangster längst getürmt!“
„Prancock, Ihre flotten Sprüche …“
„Die korrekte Anrede lautet übrigens ‚Herr Kriminalkommissar Prancock‘, Herr Häfner!“, gab Fox mit provozierend gelassener Stimme zurück.
„Noch ein paar solche Bemerkungen, Herr Kommissar, und Sie sind schneller wieder Inspektor, als Sie Ihre Waffe nachladen können. Ich persönlich werde in dem Fall Ibrahim ab jetzt exklusiv ermitteln.“
Mit diesen Worten stapfte Häfner zu Prancocks PC, drückte den Auswurfknopf und entnahm die Diskette. Prancock wurde blass. Die Dokumente zum Fall des toten Arabers befanden sich auf CD-Rom, die Diskette enthielt jenes Spiel, in dem Chefs splattermäßig gekillt wurden – ein illegales Programm von einer verbotenen Internetplattform, das Prancock noch dazu über den Dienstanschluss gecrackt hatte.
Der Hauptkommissar drehte sich um, wandte sich Steffens zu und bellte ihn an: „Und Sie kümmern sich ab sofort um den Ladendiebstahl in der Aida-Allee, klar?“
Um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, gestikulierte Häfner auf das Heftigste in der Luft herum. Steffens nutzte die Gunst der Stunde: Wie aus Versehen rempelte er den Chef an und tat so, als wolle er die Kaffeekanne zurück zu der noch immer frotzelnden Maschine bringen. Dabei streifte das heiße Glas die Hand des Vorgesetzten. Mit einem unterdrückten Aufschrei wich Häfner zurück. Die Diskette glitt ihm aus den Fingern. Steffens bückte sich und schob blitzschnell die dampfende Kanne vor. Mit leisem Plätschern und Geklapper fiel der Datenträger in den jüngst aufgebrühten Kaffee.
„Gute Reaktion, was, Chef?“, meinte Prancock und deutete voller Bewunderung auf seinen Kollegen. „Da macht unserem Steffens so schnell keiner was vor!“
„Die Daten! Kommissar Steffens, alle bisherigen Ergebnisse …“
„… hat Kollege Prancock mittlerweile auf CD-Rom gebrannt! Ist doch viel sicherer!“
Häfner bekam einen hochroten Kopf. Obwohl seine Software ihm jede Menge wüster Beschimpfungen vorschlug, brummte die Hardware nur zerknirscht. Wortlos trat er an Prancocks Arbeitsplatz, drückte „Eject“ und nahm die CD an sich. Schnaubend stürmte der Chef hinaus. Wieder einmal dröhnte der charakteristische Knall durch die Dienststube.
„Lang macht’s der Rahmen wirklich nicht mehr!“, meinte Fox. Sein Blick ruhte auf der noch immer zitternden Tür.
„Ich glaube, du schuldest mir ein Bier, Fox“, bemerkte Steffens trocken.
„Nach dem Urlaub! Ilka und ich wollen heute noch packen.“
„Aber nicht vergessen, Boss!“
„Mann, Steffens, gewöhn’ dir endlich das ‚Boss‘ ab! Seit man uns diesen Oberfuzzi vor die Nase gesetzt hat, sind wir gleichberechtigte Partner, kapiert?“
„Wir sind alle gleich, Genosse!“, gab Steffens resigniert zurück. „Wie im real existierenden Sozialismus.“
„Aber sag mal, Steffens, meint Häfner das wirklich ernst mit dem Ladendiebstahl?“
„Laden? Mann, Bo…, äh, Fox, ich wünschte, es ginge wenigstens um einen Laden! An der Parzival-Promenade …“
„Ich dachte, in der Aida-Allee?“, unterbrach Prancock seinen entnervten Leidensgenossen.
„Von mir aus am Rigoletto-Ring – es ist jedenfalls kein Laden, sondern nur ein kleiner Kiosk!“
„Wie bitte? Wie viel war in der Kasse?“, wollte Fox wissen.
„Nichts!“, antwortete Steffens und trank geräuschvoll seine Tasse aus.
„Ich meinte, vor dem Bruch!“, warf sein Gegenüber leicht gereizt ein.
„Auch nichts – vielleicht ein paar Cent Wechselgeld! Der Besitzer bringt jeden Abend fast die gesamte Kohle zur Bank!“
„Was wurde dann geklaut?“
„Zwei Stangen Zigaretten!“
„Oh, Herr Kommissar, das wird bestimmt der größte Fall ihrer Karriere!“, spottete Prancock, woraufhin Steffens ihm einen Kaffeelöffel an den Kopf warf.
Fox konterte nicht, sondern blickte nur stirnrunzelnd zur Decke. „Warum nur“, sang er in sich hinein, „ist Häfner so wild auf die Sache mit dem Araber …?“
„… und gibt mir einen Fall, der allerhöchstens was für Habich und seine Jungs von der Streife wäre?“
„Das ist ja noch einfach, Steffens: Er will dich eben ärgern!“
„Halt mal den Pinsel, Robby!“, sagte Jessica. Sie sah gedankenverloren die Wand an. Irgendwie wollte die weiße Farbe das Mauerwerk nicht gleichmäßig bedecken.
„Moment“, antwortete Robert, „ich krieg’ meine Kappe nicht hin.“ Hilflos versuchte der Junge, ein überdimensionales Blatt Zeitungspapier in Form zu bringen.
„Oh Mann, Robby“, rief Jasmin aus der anderen Ecke herüber, „Schiffchen falten sollte man schon in der ersten Klasse gelernt haben!“ Auf ihrem Kopf saß ein tadelloser Papierhelm, der schon von zahlreichen Klecksen verziert war.
„Ich hab’s doch auch gleich!“, wollte Robert beschwichtigen, doch selbst nach höchst konzentriertem Knicken und Falzen hielt er ein Gebilde in der Hand, das mehr an einen Faltenrock erinnerte als an ein Hütchen.
„Mann, mach schon, die Farbe tropft gleich!“ Noch immer hielt Jessica ihrem Freund den von weißer Tünche verschmierten Borstenpinsel hin. Der klebrige Griff klemmte zwischen den Spitzen von Daumen und Zeigefinger.
Robby zog sich mit lautem Geraschel den frisch gebastelten Faltenrockhelm auf den Kopf und nahm seiner Freundin schließlich das von Farbe triefende Etwas ab. Dabei griff er versehentlich in die eingeweichten Borsten.
„Igitt!“, zischte er angeekelt und wich einen Schritt zurück. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen einen Farbeimer, der bedenklich zu wanken begann.
„Oh nein!“, rief Nick. Er hatte das Schauspiel von der Türe aus beobachtet. Mit einem beherzten Sprung hechtete er in den Raum und ergriff den schwankenden Kübel mit beiden Händen.
„Gerade noch mal geschafft“, meinte Jessica und atmete erleichtert auf. „Das hätte ’ne schöne Sauerei gegeben.“
„Was bitte?“, mischte sich Jasmin ein. Sie hatte für einen Augenblick nicht zugehört, sondern ihre Gedanken wandern lassen.
Das hier würde also ihr neues Zuhause werden – wirklich ihre eigenen vier Wände. Noch vor sechs Wochen hätte sie nicht zu träumen gewagt, bereits im Alter von 16 Jahren auszuziehen. Sie hatte ihr heimeliges Zuhause bei Papa Prancock geliebt und doch weinte sie dem alten Kinderzimmer keine Träne nach. Es hatte eben alles seine Zeit im Leben. Immerhin würde sie ihre Kinder- und Jugendbücher sowie einige Möbelstücke mit in ihre neue Wohnung herüberretten. Ihr alter Zottelbär und die anderen Stofftiere mussten selbstverständlich auch mit. „So fängt also ein neuer Lebensabschnitt an!“ Bei diesem Gedanken lächelte Jasmin in sich hinein. „Ich werde erwachsen – aber nicht ohne meinen Teddy!“
Plötzlich schüttelte sie sich. Die harmonischen Rückblenden in die unbeschwerten Momente ihrer Kindheit und Jugend drohten zu verblassen – die Tatsache, dass noch vor Kurzem ihr Leben ein einziger Albtraum gewesen war, begann stattdessen, ihre Gedanken zu verdunkeln. Sie wollte, nein, durfte den Erinnerungen an die Entführung keinen Raum geben. Es war schon genug, dass die Stimme des Kidnappers immer wieder durch ihre nächtlichen Träume dröhnte und höhnte. Das geschah immer dann, wenn sie es tatsächlich einmal geschafft hatte einzuschlafen. Merkwürdigerweise fand Jasmin aber nichts Beängstigendes an der Vorstellung, in die Wohnung einzuziehen, in der Ilka ähnlich Schlimmes erlebt hatte. Noch dazu hätten hier beinahe ihr Vater, Jessy und Robert den Tod gefunden. Angesichts des Albtraums, der damals ihr eigenes, sehr reales Leben gewesen war, erschienen ihr die Schrecknisse der anderen jedoch beinahe wie ein Märchen aus uralten Zeiten. Außerdem: Die Bude hier würde nach der Maleraktion und mit ihren eigenen Möbeln eine ganz andere sein als zuvor: Tapetenwechsel für Außen- und Innenräume war angesagt. Sogar der Therapeut, der Jasmin beim Aufarbeiten ihrer traumatischen Erlebnisse zur Seite stand, hatte den Umzug befürwortet.
„Aufwachen, Prinzessin!“, beendete Nick ihre Tagträumereien.
Jasmin blinzelte, als wäre sie gerade aus einem langen Mittagschlaf erwacht. Sie blickte sich in dem noch kahlen, nach frischer Farbe riechenden Zimmer um und trat dabei einen Schritt zur Seite.
„Vorsicht!“, schrie Robby in ihre Richtung und Jessica brachte nur noch ein quietschiges „Oh, nein!“ zustande. Dann war es auch schon passiert: Jasmin hatte ihren noch immer auf dem Boden knienden Freund übersehen. Mit einem kurzen Kreischen stolperte sie über ihn und stürzte. Nick wirbelte herum, um nach Jasmin zu greifen. Er fing sie auf, bevor sie sich den Kopf an der Wand stoßen konnte. Dabei kippte er allerdings den Farbeimer um. Dessen Inhalt ergoss sich mit einem schmatzenden „Schwapp“ auf die ausgebreiteten Bögen Zeitungspapier. Nick umklammerte noch immer fest seine Märchenprinzessin, konnte aber das Gleichgewicht nicht mehr halten. Er und Jasmin landeten in der ekelhaft klebrigen Brühe. Farbe spritzte auf. Die vier Nachwuchsmaler und eine der Wände waren mit einem Mal weiß gesprenkelt. Wohin man auch schaute, die Tünche war überall. Zielsicher suchte sie die Ritzen zwischen den alten Zeitungen auf, um Richtung Fußboden weiterzublubbern. Nick und Jasmin hatten die meisten Farbspritzer abbekommen. Die beiden saßen in einer weißen Lache und sahen aus, als litten sie an einer merkwürdigen Abart der Masern. Zunächst blickten die zwei sich wütend an, aber als Jessica schließlich ihr unverkennbares Lachen hören ließ, wich der Ärger. Auch der Schreck war schnell vergessen. Jasmin und Nick prusteten los. Strahlend und glucksend drückte die farbverschmierte Prinzessin ihrem ritterlichen Freund und Hofzauberer einen Kuss auf den matschigen Klecks, unter dem sie die Backe vermutete.
„Läuft alles, wie es soll?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang nervös. Das Schweigen war zu einer Art Ritual zwischen den beiden Männern geworden.
Der Anrufer lauschte. „Ja“, dachte er. „Ja, kau’ nur an deinem elenden Kugelschreiber rum. Ich hoffe, du verschluckst ihn eines Tages! Und wenn du dran verreckst, werde ich jede Nacht höchstpersönlich auf dein Grab pinkeln!“
Erschrocken biss er sich auf die Lippen. Hatte er das jetzt wirklich nur gedacht? Oder hatte er wieder einmal schneller geplaudert, als sein Hirn die Worte zur allgemeinen Verbreitung freigeben konnte?
Der andere blieb ruhig. Ein Klacken verriet, dass er seinen Stift zur Seite legte. Damit begann immer der entscheidende Teil ihrer Telefonate.
„Ihr macht sie also fertig?“
„Wie geplant! Heute Abend. Soll ich meinen Benzinkanister ein wenig spazieren führen?“
„Tu, was du nicht lassen kannst, Kleiner!“
„Dann müsste ich dir gehörig die Fresse polieren und dich in Jauche ersäufen!“ Der Anrufer grinste: Es war wirklich nur ein Gedanke gewesen. Sein Ruf, schneller zu reden als zu denken, war ihm wohl doch etwas überstürzt vorausgeeilt. Warum nur musste dieser Kerl ihn in der Hand haben? Am liebsten hätte er den Großkotz in den Staub getreten wie ein wertloses Insekt und danach die Karten in der Organisation neu gemischt. Dummerweise hatte er sich einmal von seinem derzeitigen Boss übervorteilen lassen. Damit war er zu ewigem Speichellecken verdammt. Trotzdem hielt ihn der Gedanke, dass es um etwas Großes, Wichtiges ging, bei der Stange. Schließlich verfolgten sie dieselben Ziele und der Kugelschreiberschreck war definitiv der bessere Planer von ihnen beiden. Aber dennoch: Vom Thron gestürzt zu werden, war nichts, das man so leicht verdaute. Jedenfalls nicht ohne heftigste Blähungen.
„Keine Probleme wegen der benachbarten Anwesen?“, tönte es aus der Muschel.
Okay, hier ging es um die Sache, nicht um die Demonstration gegenseitiger Abhängigkeit. „Alles abgecheckt. Genug Natur dazwischen. Ich wette, wir fallen gar nicht auf. Ist ja auch ’ne Ausflugsgegend. Wenn uns jemand sieht, meint er bestimmt, wir machen Urlaub auf dem Bauernhof.“
„Gut, gut! Und nicht vergessen: Macht sie fertig, aber kein Mord, ist das klar?“
„Schade!“, dachte er diesmal, sagte aber: „Klar!“
„Eine jammernde Göre, die anschließend aller Welt erzählt, wie schrecklich wir sind, ist wertvoller als jemand, der sich auf ewig über uns ausschweigt. Wir müssen den Druck erhöhen, bis kein Ventil ihn mehr hält. Der Rest wird sich dann irgendwann von selbst erledigen! Aber gehen wir ans Eingemachte: Wann könnt ihr loslegen?“
„In einer Stunde!“
Ein kurzes Kaugeräusch, Amalgam auf Plastik war zu hören, dann, statt eines Abschieds: „Ich erwarte deinen Bericht!“
„Eigentlich müsste ich heulen und mich bemitleiden!“, dachte sich Else. Sie blickte durch ihr Küchenfenster auf die immer dunkler werdende Frühabendsonne, die sich gähnend und behäbig dem Horizont näherte. Die Kaffeetasse fühlte sich mittlerweile fast frostig an. Else hob sie an die Lippen und schlürfte die lauwarme Brühe. Der schale Geschmack erinnerte an das Aroma abgestandenen Heizöls. Else schüttelte sich, stand auf, ging zur Spüle und überantwortete den letzten Rest ihres Kaffees schwungvoll dem Ausguss. Das Gluckern aus der Leitung erinnerte sie an jenes peinlich berührte Gurgeln in Mr. Mathes Hals, als er sie mit der Wahrheit konfrontiert hatte.
„Du kannst hier wohnen bleiben, Else. Weißt du, Brenda und ich, wir … nun, sie hat ein Haus, ganz in der Nähe. Vielleicht …“ – da war es gewesen, dieses Gurgeln, das direkt aus dem Trainingscamp für Mundwasserwerbung zu kommen schien – „… wir könnten doch – äh – ich weiß, das klingt abgegriffen, aber wir …“
„Ich scheiße auf deine Freundschaft, falls du das meinst!“, hatte Else ihm hysterisch entgegengebellt und ihm so den Allgemeinplatz par excellence erspart. „Brenda? Aus welcher Daily Soap hast du die denn entführt?“
Er tat verletzt. „Brenda ist Physikerin. Sie genießt höchstes Ansehen …“
„… jedenfalls mehr als eine lausige Ex-Kommissarin der hiesigen Polizei, was? Und sie versteht was von Formeln und Gleichungen, oder?“
Nicht zu fassen: Wegen diesem Mann hatte sie einmal ihre Ehe mit Fox Prancock aufgegeben und damit das Verhältnis zu ihrer eigenen Tochter lange Zeit auf Eis gelegt. Langsam verstand sie, warum Jasmin immer so spöttisch von ihrem früheren Mathelehrer gesprochen hatte: In seinen Augen folgte das ganze Leben ausschließlich den Gesetzen der Algebra. Die zerbrochene Beziehung war für ihn nur eine Ungleichung und Else lediglich eine Variable. Ausgerechnet diese stand, im Gegensatz zu der anderen Unbekannten, jetzt auf der „Kleiner“-Seite des Terms.
Klirrend zerschellte die Tasse an der Wand. Ein Rest Kaffee verschönerte selbstlos das karge Tapetenmuster und durchbrach dessen kühle Symmetrie. Else starrte den braunen Fleck an.
„Leben!“, fuhr es ihr durch den Kopf. „Leben zwischen erstarrten Formen. Das wirst du nie schaffen mit deiner Reagenz-Brenda!“
Else erschrak über sich selbst. Dass sie ihre Wut so exzessiv auslebte, war ihr fast ein wenig peinlich. Es war beinahe wie am Ende ihrer Ehe mit Prancock. Sie starrte adrenalinberauscht in die Scherben, die auf dem Teppich ein modernes Ballett zusammenwackelten. Dann wartete sie auf das erneute Hereinbrechen ihres Selbstmitleids. Es hatte sich noch nicht einmal eingestellt, als die Scherben schließlich still und unbewegt lagen.
„Ich bin einsam, verdammt noch mal!“, versuchte sie sich in die richtige Jammerstimmung zu versetzen. In diesem Moment klingelte das Telefon.
„Ich sagte ‚einsam‘“, knurrte Else in Richtung des Geräts. Erneutes Klingeln.
„Wenn du das bist, Mr. Mathe, kannst du was erleben!“ Angriffslustig riss Else den Hörer von der Gabel und meldete sich: „Zentrale Beschneidungsstelle, was kann ich für Sie tun?“
Kurzes Schweigen. Else triumphierte bereits innerlich, doch dann erklang fröhliches Gelächter aus der Hörmuschel.
„Hallo“, prustete es am anderen Ende, „hier Ilka! ich wollte nur mal hören, wie’s dir geht.“
„Ilka? Entschuldige bitte, ich dachte …“
„Schon gut, Else, und weiter so. Aber mal was anderes: Suchst du nicht einen Job?“
„Na ja, nachdem ich jetzt hier die Miete zahle, auch was essen will und Fox seine Kohle mehr für dich braucht …“
„Wie bitte?“ Ilkas gute Stimmung war verflogen.
„Entschuldige, Ilka! Ich wollte dich nicht … weißt du, ich bin bloß …“
Jetzt, wo sie es nicht brauchen konnte, machte sich das Selbstmitleid in ihr breit. Es blähte sie auf wie einen Ballon, dessen Ventil in der Tränendrüse steckte. Heiße Tropfen fielen auf das Telefon. Else schluckte. Mit traurigem Stolz stellte sie fest, dass sie es wenigstens schaffte, ihr Schluchzen im Hals zu halten.
„Schon gut. Also, interessiert dich nun der Job?“
„Worum geht’s denn?“, fragte Else.
„Die Redaktion plant eine Artikelserie über ungelöste Verbrechen der letzten fünfzig Jahre, die hier in der Umgebung …“
„Ich habe keinen Zugang mehr zu Polizeiakten, falls du das meinst, Ilka.“
„Nein, aber Gregor Brand war völlig begeistert von meinem Vorschlag, dich als Autorin für die Serie zu gewinnen.“
„Hm … und du denkst …?“
„Du bist den Leuten noch immer ein Begriff – und eine anerkannte Spezialistin obendrein. Na, wäre das nichts?“
Beide schwiegen kurz. Gedankenverloren wischte Else die Tränen von ihrem Telefonapparat. „Ich überlege es mir mal …“
„Aber nicht zu lange, Else. Ich habe dir einen Termin für Montagmorgen in der Redaktion reserviert!“
„Wie bitte? Du kannst doch nicht einfach …“
„Entschuldige, Else, ich wollte dich nicht überrumpeln, aber du weißt doch, dass Fox und ich morgen früh Richtung Frankreich aufbrechen!“
„Stimmt ja“, sagte Else und verschwieg, dass sie das neue Liebesglück ihres Exmannes ab und zu verdrängte. Sie mochte Ilka, und gerade deswegen tat es Else oftmals weh, die junge Reporterin Seite an Seite mit Fox zu sehen. Letztlich konnte sie nicht anders, als sich für die beiden zu freuen. Ihre eigenen Enttäuschungen musste sie in jenen Momenten hinunterschlucken, und das war schmerzlich. Viel lieber wäre sie wütend oder schadenfroh und könnte sich mit Aggressionen von der gähnenden Leere auf dem eigenen Glückskonto ablenken.
„Nun, wie steht’s?“, fragte Ilka. Ihre Stimme verriet einen Anflug von Ungeduld.
„Ich werde da sein. Um wie viel Uhr?“
Farbe und Schweiß flossen auf Jessicas Stirn ineinander. Mit dem Handrücken wischte sie sich Tünche von der Nase. Sie kniete vor einem übervollen Putzeimer. In einer mörtelgrauen Soße schwamm ein verklebter Klumpen. Er hatte sein früheres Leben als Wischlappen wohl in Ausübung seiner Pflicht endgültig ausgehaucht.
„Mein Rückgrat muss dringendst zur Reparatur“, stöhnte Jessy, als sie den Kübel anhob, um ihn hinauszuschleppen.
Robert kämpfte sich soeben verzweifelt durch einen Berg aufgeweichter und zerknüllter Zeitungsbögen. Leise vor sich hin fluchend, versuchte er, den Unrat nach und nach abzutragen und in Müllsäcke zu stopfen.
„Sagt mal“, fragte er dabei, „wollte diese Jeannie nicht auch vorbeikommen und mithelfen?“
„Eigentlich schon.“ Jasmin blickte von ihrer Arbeit auf. „Sie wusste zwar noch nicht, ob sie Zeit hat, wollte aber anrufen, falls ihr was dazwischenkommt.“
Nick bemühte sich, nicht zu grinsen. Jeannie war eine alte Bekannte seinerseits. Er hatte sie und die Märchenprinzessin miteinander bekannt gemacht, aber inzwischen hatte er das schon oft bereut. Seit Jasmin Jeannie und diese Ilka Trebes kannte, hatte sie immer weniger Zeit für ihn. Jeannie hier, Ilka da. Wenigstens hatten Jassy und er noch ihre Band, zusammen mit Jessy und Robby, sonst gäbe es kaum noch gemeinsame Unternehmungen. „Zweisamkeit“ schien mehr und mehr zum Fremdwort zu werden. Darüber hinaus hatte Jeannie Jasmin eine dunkle Haarfarbe verpasst, was Nick gar nicht gefiel: Die einstmals goldblonde Mähne war mittlerweile fast schwarz, womit seine Freundin aussah wie Ilkas Zwillingsschwester. Und so verhielt sie sich in seinen Augen auch. Sie hatte sogar begonnen, sich genau so zu kleiden wie die neue Flamme im Hause Prancock. Als diese kürzlich eine schwarze Lederjacke im Schnäppchenmarkt abgesahnt hatte, musste Jasmin natürlich unbedingt dasselbe Modell haben. Nick sehnte sich nach Jasmins Märchenblond zurück. Für ihn war sie immer eine Prinzessin gewesen, aber mit den schwarzen Haaren und der Lederkluft sah sie eher aus wie eine Rockerbraut. Als er diesem heiklen Thema einmal nicht ausgewichen war, hatte sie nur gelacht und gemeint: „Vielleicht solltest du dich auch mal verändern, mein großer Zauberer. Wie wär’s mit Smaragdgrün? Übrigens: Jessy findet, ich sei kein Blondchen und Schwarz stünde mir besser. Außerdem wirkt es auf der Bühne total klasse!“
Er konnte sich den Anflug eines bitteren Grinsens letztlich nicht verkneifen. Sollten sie sich doch wundern, wo Jeannie blieb. Vor einer guten Stunde hatte Nick einen der unzähligen Müllsäcke voller zerknüllter Papierfetzen hinausbringen wollen. Im Flur war er an der Uraltgarderobe vorbeigekommen, an der auch Jasmins Jacke hing. Er hatte sich und den Müll gerade durch die Tür ins Treppenhaus zwängen wollen, als „Für Elise“ zu ihm herüberpiepte.
„Geh doch ran!“, hatte Jasmin vom Wohnzimmer aus gerufen. Laut und theatralisch ächzend stellte Nick den Müll in ein Eck. Dann griff er in die Seitentasche ihrer Jacke. Das Holz des altmodischen Kleiderständers „Marke Sperrmüll extra“ ächzte bedrohlich, als Nick das Handy hervorzog. Beethovens größter Hit im Sound telekommunikativer Alltagsetüden nervte ihn nun noch lauter an. Gerade, als er den Anruf entgegennehmen wollte, sah er, dass Jeannies Nummer auf dem Display leuchtete. Jetzt, wo alles so gut wie gelaufen war, meldete sich Madame! Selbst zum Aufräumen wäre sie zu spät dran! Aber wahrscheinlich wollte sie sich zur gemütlichen Pizza danach einladen. Und das hätte zur Folge, dass Nick den Rest des Abends wieder mal die zweite Geige spielen würde. Grinsend drückte er auf „Auflegen“ und schaltete das Handy dann ganz ab.
„War schon weg, Prinzessin!“, hatte er in Richtung Wohnzimmer gerufen und dann fröhlich pfeifend den Abfall entsorgt.
Kaum war er von draußen zurück, hatte Jasmin bereits zwei weitere Müllsäcke vollgestopft und ihm mit einer kurzen Geste bedeutet: „Deine Aufgabe!“ Das ging noch rund eine halbe Stunde so weiter. Schleppen, schleppen und noch mal schleppen – Papiermatsche, Krimskrams, Uraltmöbel und leere Farbkübel.
Inzwischen war Jessica fast fertig damit, verhärtete und widerborstige Breitbandschreiber in geschmeidige Pinsel zurückzuverwandeln. Robert brachte den allerletzten Müll raus und das Einräumen würde Zeit bis morgen haben. Nach einem kurzen Blick in die Runde waren sich schließlich alle einig: „Schluss für heute!“
Ein bisschen sauer waren sie auch auf die treulose Jeannie.
„Sie hätte sich wenigstens mal melden können“, maulte Jessica, aber Jasmin wechselte flugs das Thema: „Wollen wir noch auf ’ne Pizza zu ‚Fredo‘? Hatten wir doch so angedacht!“
„Typisch“, dachte sich Nick, „seit die heilige Ilka dort öfters speist, ist Ginos Eiscafé schon Schnee von gestern.“
„Ich lade euch ein!“, versuchte Jasmin den Entscheidungsprozess anzukurbeln.
„Darf ich Sie, werte Frau Prancock, darauf hinweisen“, sagte Jessy und rückte den Papierhelm auf ihrem Kopf mit gespielter Eitelkeit zurecht, „dass wir in puncto Abendgarderobe und Körperhygiene momentan nicht unbedingt den Standards dieser Lokalität entsprechen.“
Sie blickten sich in die verschmierten Gesichter, begutachteten ihre verklecksten Klamotten und lachten los.
„Okay, dann in eineinhalb Stunden bei Fredo, ja?“, schlug Jasmin vor, wobei sie sich beinahe verschluckte. „So spät ist es ja noch nicht.“
Sie gingen in den Flur, zogen ihre Sommerjacken über und beratschlagten weiter. Aus Gewohnheit griff Jasmin in die Seitentasche und zog ihr Handy hervor.
„Nanu? Das ist ja aus?“
Verwundert sah sie Nick an. Dieser war froh, dass weiße Kleckse in seinem Gesicht die aufsteigende Röte verdeckten. Er zuckte mit den Schultern und meinte beiläufig: „Vielleicht ist der Akku leer.“ Dabei nestelte er betont umständlich an seiner Kapuze herum, um Jasmin nicht in die Augen sehen zu müssen.
„Habe ich doch frisch geladen“, murmelte diese und schaltete das Mobiltelefon an.
„So was kommt manchmal vor!“, sagte Robert.
„Ich höre mal schnell die Mailbox ab!“
„Muss das sein?“, warf Nick ein. „Zu spät sollten wir auch nicht los!“
„Geh doch schon mal, wenn du’s eilig hast!“, pflaumte Jassy ihn an und drückte eine Kurzwahltaste.
Beleidigt wandte sich Nick zum Gehen, doch Jessica packte ihn am Ärmel und zwinkerte ihm frech zu. Sie wollte die Situation mit einem ihrer unschlagbaren Scherze entschärfen, hielt aber plötzlich inne. Irgendetwas stimmte nicht. Jasmin schien unter der kalkweißen Schicht aus Tünche jede Farbe verloren zu haben. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre grünbraunen Augen starrten erschreckt ins Leere. Auch die beiden Jungs bemerkten, dass Jassy kurz vor einem Kollaps zu stehen schien. Nick wusste, dass er seiner Freundin eigentlich beistehen müsste, bewegte sich aber nicht. Instinktiv spürte er, dass er etwas verbockt hatte.
Jessica trat zu Jasmin und legte ihr behutsam einen Arm um die Schultern. Mit der anderen Hand ergriff sie das Telefon. Als wäre dies ein geheimes Signal, schlug Jassy reflexartig die Hände vors Gesicht. Sie wollte schreien, doch sie konnte nicht. Sanft zog Jessy die zitternde Freundin an sich und streichelte ihr zart den Rücken. Gleichzeitig rief sie die Nachricht auf der Mailbox erneut ab. Obwohl sie nur eine Hand frei hatte, drückte sie die „Sieben“ für „Nachricht wiederholen“. Dann presste sie das Gerät an ihr Ohr.
Zunächst glaubte Jessica, nur Störgeräusche zu hören. Schnell wurde ihr jedoch klar: Die seltsamen Laute gingen nicht auf das Konto einer wackeligen Netzverbindung. Dröhnendes Trommeln und wildes Klopfen schepperten ihr aus der Muschel entgegen. Dann hörte sie keuchenden Atem und schließlich eine Stimme, die vor Panik und Angst bebte: „Jasmin? Oh Gott, Jasmin! Komm schnell!“
Jessica schluckte. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Als Gag-Spezialistin wusste sie sofort: Das hier war kein Scherz. Immer bedrohlicher schwoll das Klopfen im Hintergrund an. Das Getöse drohte die Stimme zu übertönen.
„Oh nein, sie sind tatsächlich gekommen! Bitte hilf mir! Jasmin, bitte!“
Das war eindeutig Jeannie. Sie bemühte sich, leise zu reden. Als das brutale Hämmern zu einem irren Stakkato anwuchs, begann sie zu schreien.
„Die legen mich um! Bitte komm schnell! Bring Nick mit – und die anderen! Bitte! Helft mir! Um Himmels willen, ihr müsst mir helfen!“
Das Trommeln und Klopfen wich einem ohrenbetäubenden Krachen. Dumpfes Gelächter, unverständliches Gebrabbel und unartikuliertes Grölen – eine Kaskade der Gewalt schoss so bedrohlich durch die Leitung, dass es Jessy eine Gänsehaut nach der anderen über den Körper jagte. Sie fühlte sich, als wäre sie selbst mit dabei, als gelte der gnadenlose Angriff ihr. Eine irrationale Angst packte sie, die inneren Bilder verselbstständigten sich. Da waren Männer mit Knüppeln. Der Mob raste auf sie zu, johlende Hooligans schwangen ihre Stöcke. Als ihr Jeannies Schreie schrill in den Ohren hallten, zuckte Jessica unweigerlich zusammen. Ihr Kopf drohte zu platzen.
„Bitte, Jassy, mach schnell. Aber kein Wort zu deinem Vater! Hast du verstanden? Das ist wichtig! Keine Polizei! Sonst …“
Undefinierbare Geräusche unterbrachen den Hilferuf. Nervtötendes Knacken, Zischen und Rauschen verwies darauf, dass die Verbindung kurz vor dem Kollaps stand.
„Oh nein, es ist zu spät!“, schrie Jeannie. „Hilfe! Kommt schnell! Bitte!“
Das letzte „bitte“ war nur noch ein Kreischen. Erneut krachte ein Donnerschlag. Holz splitterte. Atmosphärische Störungen verzerrten höhnisch gegrölte Drohungen bis zur Unverständlichkeit. Mit einem Male wurde das tobende Chaos von elektronischem Knistern verschluckt. Ein letztes mechanisches Knacken klang noch aus dem Hörer, dann nichts mehr. Nur eine freundliche Computerstimme, die meldete: „Ende der neuen Nachrichten. Zum Wiederholen bitte die ‚Sieben‘ drücken!“
Ilka steckte den Schlüssel ins Schloss. Ein wenig merkwürdig fand sie es schon, mit welcher Selbstverständlichkeit sie inzwischen hier ein und aus ging. Noch vor sechs oder sieben Wochen war sie verschüchtert vor ebendieser Wohnung gestanden, um ein Interview zu erbitten. Mittlerweile war sie hier eingezogen, sehr zum Entsetzen ihrer Eltern. Diese hatten Ilka in der Provinz für sicher gehalten, was „intime Affären“ betraf. Als langjährige Boulevardreporter dachten sie wohl stets in solchen Kategorien. „Beziehungen“ oder gar „Lebensgemeinschaften“ gab es in der Welt der Regenbogenpresse nicht, sondern nur „Affären“.
Ilka hielt kurz inne, bevor sie durch die Tür trat. Schmunzelnd dachte sie an den Moment zurück, als sie mit Fox vor der elterlichen Haustür in Berlin gestanden hatte. Es war ihr ein großes Bedürfnis gewesen, Vater und Mutter den Freund vorzustellen. Dem Herrn Papa war die Kinnlade so weit heruntergeklappt, als wollte er den Wannsee ausschlürfen. Frau Trebes hatte die Augen zusammengekniffen und Prancock von oben bis unten abschätzig gemustert. Mit einem eisgekühlten „Hier!“ hatte sie ihm schließlich einen Platz angeboten.
„Vielleicht hätte ich ihnen doch schon vorher mehr über Fox erzählen sollen!“, war Ilka in jenem Moment durch den Kopf geschossen. Doch als sie im Vorfeld Fox’ Beruf erwähnt hatte, war ihr bereits aufgefallen, dass sich die Freude ihrer Eltern sehr in Grenzen hielt. Sie hatten sich für ihre Tochter etwas ganz anderes erträumt. Um weitere Enttäuschungen erst einmal abzuwenden, hatte Ilka es bei ihren regelmäßigen Telefonaten vermieden, auch Fox’ Alter anzusprechen. Nachdem dann statt einem jungen, dynamischen Ermittlungsyuppie ein Mann vor Papa und Mama Trebes stand, der ihrer eigenen Generation wesentlich näher war als der ihres Kindes, war ihnen sofort klar: „Oh Gott, unsere Kleine ist an einen Lustgreis geraten!“
Dennoch musste Ilka bei diesen Erinnerungen lächeln: Fox hatte sich sehr bemüht, den Anti-Gentleman nicht hervorzukehren. Mit einigen amüsanten Anekdoten aus seiner Biografie war es ihm sogar gelungen, Ilkas Mutter ein verschämtes Kichern abzuringen. Dieses war allerdings augenblicklich wieder erstorben, als er von seiner Tochter im Teenie-Alter erzählt hatte.
Entschlossen riss sich Ilka los von den Gedanken an jenen Abend und drückte die Klinke herunter. Sie betrat die kleine Diele.
„Hallo, Liebling!“, rief sie in Richtung Küche, wobei sie die Tür hinter sich zuschob. Keine Antwort.
Ilka sah sich um: Der alte, speckige Trench hing wie immer völlig schief an der Garderobe, also musste Fox zuhause sein. Sie ging in die Küche. Die knochigen Überreste einer Schnellmahlzeit vom Hähnchenstand gegenüber fetteten den Esstisch und eine Fernsehzeitung ein. Plötzlich hörte Ilka es: Lautstarkes Stöhnen kam aus dem Schlafzimmer, begleitet vom Quietschen des Bettgestells. Schlagartig fiel ihr wieder die spätere Gardinenpredigt ihrer Eltern ein. Sie hatten nach besagtem Abend – natürlich nur aus rein journalistischem Interesse – einiges über Fox Prancock zusammengesammelt: Zeitungsmeldungen, Radioberichte, Kommentare, sogar noch aus seiner Zeit bei der englischen Kriminalpolizei.
„Der Mann“, hatte ihr Vater halb entsetzt, halb triumphierend in die Muschel gehechelt, „ist für seine sehr lockere Auffassung von Moral bekannt und hat einen eindeutigen Ruf! Du wirst schon sehen, woran du bist, Ilka! Behaupte dann aber nicht, wir hätten dich nicht gewarnt!“
Ilka trat näher an die Schlafzimmertür heran. Sie erkannte Fox’ Stimme: „Na, komm schon, mach dich platt! Jetzt zier’ dich nicht! Warum denn so verklemmt?“ Die Worte des Kommissars klangen atemlos, fast schon gehetzt. „Ja! Ja! Das ist gut“, stieß er verzückt hervor, dann erfüllte nur noch lautes Stöhnen und leises Quietschen den Raum. Schnellen Schrittes ging Ilka zur Tür und riss sie auf, genau in dem Moment, als Prancock in entrückter Ekstase wieder röhrte: „Ja! Ja!“. Er hatte die Welt um sich herum völlig vergessen und bemerkte nicht einmal, dass seine Freundin hereinstürmte.
Sie blieb vor dem großen Doppelbett stehen und hatte den Blick starr auf die Szene gerichtet, die sich direkt vor ihren Augen abspielte.
Urplötzlich schrak Fox auf. Er sah Ilka und schaute verdattert zu ihr hoch. Nach einer Sekunde des Schweigens meinte er: „Hallo, Schatz! Sorry, hab dich gar nicht gehört! Hilfst du mir mal, diesen dämlichen Koffer zuzukriegen?“
Ilka musste laut lachen, als sie Fox so zwischen Bett und Kommode auf einem hoffnungslos überfüllten Reisekoffer knien sah. Er versuchte, ihn mithilfe des eigenen Körpergewichts und einer Gürtelschlinge zu schließen.
„Was gibt’s da zu lachen? Ich dachte mir eben, ich fange schon mal an mit der Packerei!“
„Und ich war immer davon überzeugt, dass es eher ein weibliches Problem ist, das Reisegepäck unterzukriegen!“, spöttelte sie gut gelaunt. Dann ging sie zu Fox, strich ihm zart durch die Haare und beugte sich zu ihm herab. Er küsste sie kurz, aber seinen freudigen Willkommensblick genoss Ilka noch viel mehr.
„Sag mal, Fox, muss dein zweiter Trench denn mit? Es reicht doch der, den du anziehst, oder? Außerdem haben wir fast Sommer!“
„Na gut, Frau Reiseleiterin! Aber ich sage Ihnen: Wenn ich mir im eisigen Frankreich den Arsch abfriere, dann …“, murrte Prancock, ließ die Drohung aber unvollendet. Schließlich zog er den Mantel aber doch aus den abenteuerlich zusammengeknüllten Klamotten heraus. Mit einem lauten „Hauruck!“ schafften sie es schließlich tatsächlich, den Deckel so weit herunterzudrücken, dass die kleinen Schlösser des Koffers einschnappten.
Fox richtete sich auf, wischte sich Schweiß von der Stirn und nahm Ilka in die Arme. „Jetzt erst mal richtig ‚Hallo‘!“
Sie strahlte ihn an, doch mit einem Mal wurde ihr Blick fahl. Wie schockgefroren stand sie vor ihrem Freund. Die dunklen Augen starrten ausdruckslos durch Fox hindurch.
„Was hast du denn?“, fragte er verwirrt.
Mit einer zaghaften Handbewegung bedeutete Ilka ihm, zum Bett hinüberzusehen. Auch Fox verwandelte sich augenblicklich in einen Eisblock: Auf dem Oberbett lagen zwei Stapel Herrenunterwäsche und ein buntes Knäuel Socken. Wieder blickten die zwei sich an, prusteten laut heraus und ließen sich auf die Bettkante plumpsen.
„Wollen wir vielleicht nicht erst was essen?“, fragte Ilka.
„Ich hatte schon ein Hühnchen. Für dich ist noch eins da.“
„Und Jasmin?“
„Konnte nicht sagen, ob sie noch mal vorbeischaut. Sie wollte mit ihren Freunden von der Band so viel wie möglich in der Wohnung erledigen.“
Der Taxifahrer hatte nicht schlecht gestaunt, als seine Fahrgäste einstiegen: vier farbverschmierte Jugendliche mit verkrusteten Klecksen auf der Kleidung, in den Haaren und Gesichtern.
„Seid ihr Schwarzarbeiter auf der Flucht vor den Bullen?“, juxte er unbefangen. Verwundert musste er allerdings feststellen, dass niemand auch nur ansatzweise über seinen Witz lachte. Die vier erschienen stattdessen ungemein nervös und angespannt.
„Wohin soll’s denn gehen?“, fragte er Jasmin, die auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.
Sie reagierte zunächst überhaupt nicht, sondern zitterte nur vor sich hin.
„Die Kleine ist in ihren Gedanken aber ganz weit weg“, stellte der Fahrer fest. Er musterte die junge Kundin verstohlen aus den Augenwinkeln und sah, dass sie Gänsehaut auf den Armen hatte.
„Wohin bitte?“, fragte er nochmals. Als er wiederum keine Antwort bekam, stieg seine Verwunderung weiter an und er räusperte sich.
In diesem Moment schrak das Mädchen neben ihm hoch, als hätte er sie aus einem schlimmen Traum gerissen. „Entschuldigung!“, nuschelte Jasmin kurz, dann nannte sie die Adresse von Jeannies Bauernhof.
„Wird gemacht!“, bemerkte der Mann und fuhr los.
Mit Fahrrad und Bus hätte es zu lange gedauert, darüber waren sich Jassy, Jessy, Robby und Nick sofort einig gewesen. Flugs hatte man beschlossen, das für die Pizza verplante Geld in eine Taxifahrt zu investieren, auch wenn man vor dem Fahrer nicht offen reden konnte.
„Was war da nur los?“, randalierte die Ungewissheit in Jasmins durcheinandergewürfelter Gefühlswelt. Und noch eine weitere Frage machte Bungeesprünge in ihrem Kopf: „Warum keine Polizei?“
Jeannie wusste, dass Jasmin und ihr Vater inzwischen ein wirklich erwachsenes Vertrauensverhältnis zueinander hatten. Warum war es ihr dann so wichtig, dass die Polizei außen vor blieb, selbst wenn es um Leben und Tod ging?
„Ganz schön weit draußen!“, unternahm der Mann am Steuer seinen letzten Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen. Mit einem freundlichen Seitenblick in Richtung Jasmin bemühte er sich, eine Reaktion zu erheischen. Das Mädchen sah nur flüchtig zurück. Ein scheues Lächeln blitzte kurz in ihrem Gesicht auf. Danach starrte sie wieder hinaus in die Nacht. Die Dunkelheit verschlang die schwachen Strahlen der maroden Scheinwerfer wie ein kleines Häppchen für zwischendurch. Auch die Lichter der Vorstadt waren mittlerweile nur noch eine Ahnung auf trüben Rückspiegeln.
Dem Fahrer wurde mehr und mehr mulmig: Noch nie hatte er eine Wagenladung von Jugendlichen transportiert, die nur geschwiegen hatten. Außerdem: Was wollten die vier um diese Zeit auf einem alten, einsamen Bauernhof? Wenn Teenies einstiegen, ging’s normalerweise in die Disco und schon der Trip dorthin wurde zur Party. Meistens hatte er bei solchen Fahrten die neuesten Jokes, Hits und Trends mitbekommen.
„Es ist einfach auf nichts Mehr Verlass“, dachte er bei sich, „nicht mal mehr auf die Jugend von heute!“
Er schüttelte kurz den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Jessica bemerkte, dass sich Jasmins Finger in die Bezüge des Beifahrersitzes krallten. Sie blickte hinüber zu Nick, der blass und teilnahmslos aus dem Seitenfenster stierte. Von Zeit zu Zeit strich er mit dem Rücken seines Zeigefingers über die Scheibe, als wollte er, wie im Winter, den Beschlag vom Glas wischen. Sein nahezu apathisches Schweigen verwunderte Jessica: Auch wenn Nick ab und an eifersüchtig auf Jeannie, Ilka oder sie selbst war, käme es ihr niemals in den Sinn, an seiner Loyalität zu zweifeln. In Krisen- oder Katastrophenfällen hatte er immer Ideenreichtum und Tatendrang an den Tag gelegt. Nicht selten war ihm buchstäblich in letzter Sekunde der rettende Einfall gekommen, den er dann mit schöner Regelmäßigkeit aus dem Hut gezaubert hatte. Jessica stieß Robby leicht in die Seite. Ihr Freund wandte ihr den Kopf zu, zuckte kurz mit den Schultern und sah dann ebenfalls wieder geradeaus. Gut, beruhigte sich Jessica, für Robby ganz normal: einfach mit großen Augen dem entgegensehen, was da kommt.
In Jasmins Gedächtnis hatte jemand „Repeat“ gedrückt. Wieder und wieder hörte sie, wie ihre kleine Hexe nach ihr rief: „Jasmin! Bitte!“ Sie fühlte sich schuldig, die Freundin alleine gelassen zu haben. Krachen und Splittern ließen Jassys Brummschädel nahezu bersten. Immer lauter donnerten die zerstörerischen Schläge und entluden sich in einem Gewitter aus purem Hass. Zwischen explosionsartigem und wuchtigem Tosen ging das Flehen und Kreischen mehr und mehr unter: „Jasmin! Jasmin!“ Dieser Soundtrack passte jedoch nicht zu dem rasant geschnittenen Videoclip in Jassys Kopfkino. Aufnahmen von wundervollen, gemeinsamen Momenten flitzten vorbei: Sie tanzte mit Jeannie um ein nächtliches Lagerfeuer, schwamm mit ihr im klaren Wasser eines Waldsees und blickte ihr immer wieder tief in die unergründlichen Augen.
Das Taxi passierte eine Bushaltestelle. Szenenwechsel: Die erste Begegnung mit Jeannie. Genau hier war es gewesen, vor gar nicht allzu langer Zeit. Jasmin hatte diese junge Frau mit dem spitzbübischen Lächeln sofort unter der Rubrik „Allerliebste Menschen“ auf die CD-Rom ihrer Gefühle gebrannt.
Ihre Fingernägel drohten fast, das Sitzpolster zu durchstoßen, als der Wagen plötzlich anhielt. Robby sah verdutzt auf, als wäre er aus einem kleinen Nickerchen erwacht. Jessica schaute mit erwartungsvoller, doch auch leicht ratloser Miene in die Runde. Nick schien noch nicht einmal bemerkt zu haben, dass sie angekommen waren. Seine Augen fixierten noch immer stur einen Punkt jenseits der Seitenscheibe. Er vermied jeglichen Blickkontakt. Jasmin musste sich zwingen, das in ihr ablaufende Programm herunterzufahren. Ohne nachzudenken, zog sie den Geldbeutel hervor und fragte: „Wie viel?“
„Fünfundzwanzig! Ist alles roger, oder soll ich hier warten?“
„Nein danke!“, durchbrach Jessicas Stimme vom Fond her die quälende Schweigesekunde.
„Na gut!“, murmelte der Fahrer, kassierte und wartete, bis seine seltsamen Fahrgäste ausgestiegen waren. Dann fuhr er mit durchdrehenden Reifen davon, als wäre der Gehörnte persönlich hinter ihm her und wollte ihn rechts überholen.
Jeannies altes Gehöft lag still und finster vor den vier Freunden. Die laue Luft verströmte das behagliche Flair einer Frühsommernacht, aber die Herzen der Jugendlichen spielten Technoparty. Jessica machte einen Schritt auf die Haustüre zu. Robert packte sie am Ärmel und hielt sie fest.
„Spinnst du?“, keuchte er. „Wir haben keine Ahnung, was da überhaupt abgeht! Du kannst da nicht so einfach rein!“
Jessica hasste es, belehrt zu werden. Obwohl sie wusste, dass ihr Freund recht hatte, zischte sie ihm ein vernichtendes „Lass mich!“ entgegen.
„Stimmt schon, was Robby sagt“, flüsterte Jasmin in die aufgeladene Atmosphäre hinein. Dabei verspürte sie, wie tiefe innere Ruhe sie ergriff. Aller Beklemmung zum Trotz wechselte die Panik in den Pausenmodus und machte Platz für klare Gedanken. Drei Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf Jassy. Sie war soeben stillschweigend, in geheimer Wahl zur Anführerin ernannt worden.
„Wir wissen nicht, was uns in dem Haus erwartet …“, begann sie, und Nick ergänzte: „… oder wer!“
„Oh Mann“, fiel Robert jetzt mit ein, „wir sind einfach planlos durchgestartet …“
„Für Kriegsrat war ja wohl keine Zeit mehr, oder?“, herrschte Jessica ihn, so leise sie konnte, an. „Wir sind unbewaffnet! Und was wir da auf der Mailbox gehört haben, klang verdammt gewalttätig!“
„Seid bitte still! Wir müssen erst mal feststellen, ob es was Verdächtiges gibt.“ Kaum hatte Jassy das ausgesprochen, verstummten die anderen auch schon. Jasmin fühlte sich nahezu wie in Trance: Die Stimmen und Bilder waren aus ihr verschwunden, es gab nur noch das Hier und Jetzt – die Dunkelheit, die Schatten ihrer Freunde, die Geräusche: Wind umstrich eine alte, verloschene Laterne. Die Scharniere etlicher Tore und Türen quietschten leise vor sich hin. Vom nahen Wald klangen die Laute der Nachtvögel herüber. Jasmin schloss die Augen und lauschte.
„Nichts!“, sagte sie schließlich. „Wir gehen rein, aber leise, klar?“
Niemand antwortete. Nick war als Erster an der Haustüre. Wie in Zeitlupe legte er seine Hand auf die schmiedeeiserne Klinke. Das Pochen in den Ohren erschien ihm unerträglich laut. Er spürte, wie seine Finger zitterten, und glaubte fast, Schweißtropfen auf die Treppe platschen zu hören. Sachte drückte er die Klinke herunter.
Ein ohrenbetäubender Knall donnerte los. Augenblicklich warf sich Nick zu Boden. Die anderen erstarrten. Alle erwarteten eine Stichflamme, doch die scheinbare Detonation verhallte ohne Rauch und Feuer.
„Verdammt, was war das denn?“, fragte Robert.
„Die Tür!“, antwortete Jessica. In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Hysterie mit. „Sie ist komplett nach draußen gefallen.“
„Wieso haben wir eigentlich keine Taschenlampen dabei?“, fragte Robert und versuchte mit zusammengekniffenen Augen etwas im Mondlicht zu erkennen.
„Coole Frage, Robby“, schnaubte Nick. „Hättest du die nicht vor einer Dreiviertelstunde stellen können?“ Er rappelte sich umständlich wieder auf.
Alle starrten schweigend zu der dunklen Türöffnung hin.
„Und wenn wir doch die Polizei rufen?“, wagte Jessica die Stille zu durchbrechen.
„Nein!“, reagierte Nick ungewohnt heftig. Das Bild vor seinem inneren Auge wollte und wollte nicht verblassen, ja, nicht einmal vergilben: Jasmins Handy, auf dessen Display Jeannies Nummer blinkte. Das Mobiltelefon klingelte und klingelte und klingelte …
„Nick hat recht“, stimmte Jasmin zu, „Jeannie hat das bestimmt nicht nur so gesagt! Aber egal – wir gehen jetzt da rein!“
Jassy betrat als Erste die Diele. Sie blinzelte und versuchte ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.
„Mannomann, draußen hatten wir wenigstens Mondlicht!“, stellte Robert fest.
„Kannst du nicht schnell das Dach abdecken?“, versuchte Jessica die Freunde wenigstens ein bisschen aufzumuntern.
„Hier muss doch irgendwo ein Lichtschalter sein!“, sagte Jasmin, mehr zu sich selbst. Sie tastete sich an der Wand entlang, auf das Treppenhaus zu. Die hölzernen Stiegen führten zu Jeannies Wohnzimmer im ersten Stock hinauf. Vorsichtig arbeiteten sich die Jugendlichen Schritt um Schritt vorwärts.
Plötzlich stolperte Jasmin. Ihr Aufschrei zerfetzte die atemlose Stille. Rumpelnd polterte es unter ihr. Sie ruderte mit den Armen und versuchte das Gleichgewicht zu halten, fiel aber schließlich in das Schwarz der Nachtschatten hinein. In diesen Sekundenbruchteilen durchlebte sie noch einmal die schrecklichsten Augenblicke ihres Lebens: ihre Entführung und die Gefangenschaft in einem muffigen, modrigen Keller. Sie glaubte, wieder in jenes Loch hinabgestoßen zu werden, erwartete einen nicht enden wollenden Sturz in die Schrecknisse ihrer Erinnerung. Jasmin prallte mit den Knien hart auf Holz, ihre Hände schürften, Halt suchend, über Staub und Spreißel. Schmerz und Wut stoppten die scheinbare Endlosigkeit des Falls. Ein weiteres Krachen dröhnte durch den dunklen Flur, als Jasmins Ellenbogen auf eine der Stufen knallten. Keuchend zog sie sich am Geländer hoch und setzte sich auf die Treppen. Sie hatte ihre Orientierung wiedergefunden und blinzelte in Richtung Tür. Zwinkernd bemühte sie sich, die Schatten, die sich vom schwach hereindringenden Mondlicht abhoben, ihren Freunden zuzuordnen. Ohne lange nachzudenken leckte Jasmin an der aufgeschürften Handfläche und schüttelte sich, als der Geschmack von Schmutz und Blut bitter auf der Zunge prickelte. Die offenen Wunden brannten und pulsierten schmerzhaft.
„Ich bin auf der Treppe! Kommt her, aber passt auf! Da liegt ein Stuhl oder so im Weg. Kurz vor der Stiege muss irgendwo ein Lichtschalter an der Wand sein.“
Sie sah, wie einer der Schatten in den Flur hineintrat. Gleichzeitig spukte ihr eine schreckliche Vision im Kopf herum: Was, wenn das nicht mehr ihre Freunde waren, sondern …
Der Schatten war nun nahe bei ihr.
„Bist du das, Nick?“
Keine Reaktion.
„Nick?“
Nichts.
Die Gestalt hob die Hand. Ein „klick“ hallte wie höhnisches Gekicher durch den Raum. Das nun aufflackernde Licht drohte den Freunden die Augen in Stücke zu reißen. Die vier blickten sich verdattert an. Nach einer sprachlosen Minute wunderten sie sich, dass das funzelige Schimmern einer Glühbirne, die ihr Testament bestimmt schon bald machen würde, sie derart blenden konnte. Kaum war der Schmerz aus den Augen gewichen, bohrte er sich in ihre Seelen. Fassungslos sahen sie sich um: Die Wände waren über und über mit Parolen der schlimmsten Sorte beschmiert: „Ausländerpack“ – „Kanaken raus“ – „Asylanten sind biologisch abbaubar“. Fassungslos ließen Jassy, Jessy, Robert und Nick ihre Blicke in diesem Museum der Intoleranz herumwandern. Die Kraft des hier manifestierten Hasses lähmte alle Glieder. Keiner gab einen Laut von sich. Roberts Blick fiel auf ein Büschel Stroh in der Ecke, dann bemerkte er den Geruch. Wortlos deutete er auf seine Entdeckung. Nick folgte dem Fingerzeig und lief zu dem kleinen Bündel hinüber. Daneben fand er einen Benzinkanister, um den herum einige abgebrannte Streichhölzer im Staub lagen. Eine Gänsehaut ließ den Jungen erzittern, als er vor dem Brandsatz kniete. Jasmin blickte von der Treppe aus geschockt auf die vermeintliche Feuerstelle.
„Mein Gott“, stammelte Jessica tonlos, „das hatten sie also vor!“
„Ja“, murmelte Robby, „und entweder sind die Pyrofreaks gestört worden …“
„… oder es hat einfach nicht geklappt!“, beendete Nick den Gedanken.
Jassy schluckte. Die letzten Reste ihrer Beherrschung und Vorsicht implodierten in diesem Moment. „Jeannie!“, schrie sie. Die andächtige Museumsruhe verließ fluchtartig den Raum. Ohne irgendwen auch nur eines Blickes zu würdigen, rannte Jasmin die Treppe hinauf. Instinktiv folgten ihr die anderen. Sie polterten über klobige Stufen nach oben, bis sie schließlich vor dem Wohnzimmer standen. Zitternd und keuchend lehnte Jasmin an der Wand. Ihre Augen starrten seltsam entrückt ins Leere. Jessica versuchte die Situation wenigstens im Ansatz zu überblicken und schaute im Halbdunkel umher.
Die Tür hing nur noch an einer einzelnen Angel und drohte jeden Moment herauszufallen. Das Schloss war geborsten: Holzsplitter und Schrauben waren bis weit in den Raum hineingeflogen. Die Tür musste mit ungeheurer Gewalt eingeschlagen worden sein. Jasmins Augen tasteten wie Nachtsichtgeräte das Wirrwarr aus umgeworfenen Möbeln, zerbrochenem Geschirr, zerborstenen Regalen und zertretenen Kunstgegenständen ab. Jessy trat in den Raum und betätigte den Lichtschalter. Das Ausmaß der Zerstörung war noch schlimmer, als die Schatten hatten vermuten lassen. Jasmin biss sich in eine Handfläche. Sie war sich sicher, dass sie weinte, aber keine einzige Träne rann über ihre Wangen. Niemand sprach ein Wort. Nick und Robert versuchten sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen, hoben und schoben Möbel beiseite. Schließlich rissen sich Jassy und Jessy aus ihrer Starre und begannen ebenfalls, Regale und Tische herumzuwuchten. Das Schweigen quälte, aber die Furcht, dass Worte noch grausamer sein könnten, ließ die Freunde nicht los. Und doch musste Jessica schließlich etwas sagen: „Da!“, stieß sie hervor. „Da unter dem Bücherregal!“
Nick ließ augenblicklich einen Stuhl fallen und Jasmin schob eine Kommode achtlos beiseite. Auch Robert unterbrach den Versuch, eine massive Tischplatte auf die dazugehörigen vier Beine zu hieven. Die drei starrten zu Jessy hinüber, die in der Hocke vor einem hellen, grotesk verschobenen Lattenregal saß. Darunter lugten zwei Füße hervor. Die Freunde brauchten nicht einmal Blickkontakt aufzunehmen, um sich abzusprechen: Nick packte das obere Ende, Robert das untere, dann hoben und stemmten sie das Holzgestell beiseite. Ein verwirrendes Gemenge unterschiedlichster Bücher bedeckte den Boden. Romane, Bildbände, Sachbücher – alles, vom fetten Wälzer bis zur windigen Broschüre, verkeilte sich ineinander, türmte sich an einigen Stellen bedrohlich auf und bot ein Bild von undurchdringlichem Chaos.
Jasmins Blicke zuckten hektisch umher. Unter einem zeltartig aufgerichteten Weltatlas erhaschte sie zarte, bleiche Finger. Die Zeit schien eingefroren zu sein. Alle starrten die blasse Hand an. Nur langsam trat Gewissheit in die Gedanken der vier. Der Schock lockerte seinen Klammergriff und plötzlich hatten ein paar Füße und einige fahle Finger wieder einen Namen: „Jeannie!“
Jasmin stürzte an Jessica vorbei und begann mit ihren Händen die Bücher wegzuschaufeln, als ginge es um Schotter und Geröll. Jessy half ihr dabei. Nick und Robert lehnten das Regal in eine Ecke, wo es niemandem mehr gefährlich werden konnte. Dann begannen sie wie betäubt, sich ebenfalls durch den Bücherberg zu graben.
„Jeannie! Bitte sag was!“, schluchzte Jasmin. Ein unansehnliches Gemisch aus Malerfarbe, Tränen und Rotz tropfte ihr vom Kinn.
Die vier Freunde räumten hastig noch ein paar wuchtige Lexika zur Seite, als Jeannies Kopf zwischen den Büchern erschien. Sie hatte die Augen geschlossen, der Mund war halb geöffnet. Blutverkrustete Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Die Oberlippe war aufgeplatzt, rote Rinnsale aus der Nase und von verschiedenen Verletzungen hatten Grinde gebildet. Wie eine Besessene packte Jasmin Bücher und warf sie beiseite. Einige Male schnitt sie sich dabei an scharfen Papierkanten. Die drei anderen hatten innegehalten und blickten ihre Freundin stumm an. Sie wussten nicht, was sie tun oder sagen sollten.
Nick sah in Jeannies regloses Gesicht. Ihm wurde schlecht; Jasmins Handy tanzte wie ein böser Kobold durch seine Innenwelten, „Für Elise“ riss als ohrenzerfetzende Klangkaskade an seinem Nervenkostüm. Im selben Moment traten die Schuldgefühle dem Jungen mit aller Wucht in die Magengrube und brachten die Galle zum Köcheln. Aus dem verzerrten Klingelton trat Hohngelächter und schließlich eine anklagende Stimme.
„Warum schaltest du mich denn diesmal nicht ab?“, schien das Telefon Nick zu fragen. „Nun sag schon! Warum?“
Allmählich wurde ihm klar, dass das Piepen keine Ausgeburt seiner Imagination war. Jassys Handy klingelte tatsächlich, doch außer dem von Schuld gebeutelten Zauberer registrierte es niemand.
Endlich hatte Jasmin Jeannies reglosen Körper völlig freigelegt. Sie setzte sich neben das blutige Bündel und hob den Kopf ihrer Freundin vorsichtig an. Sanft streichelte sie das zerschundene Gesicht. Tränen fielen herab und vermischten sich mit Blut. Wilde Weinkrämpfe schüttelten Jasmin durch.
„Jeannie! Sag doch was! Bitte! Bitte sag was!“
„Komisch“, sagte Ilka und steckte ihr Handy wieder ein, „der Ruf ist hingegangen, aber keiner hat abgehoben!“
Fox zuckte mit den Schultern, soweit ihm das unter der Last zweier übervoll gepackter Reisekoffer möglich war.
„Lass mal, Kätzchen! Wahrscheinlich feiern sie den erfolgreichen Renovierungstag bei ,Fredo‘ und amüsieren sich einfach nur gut.“
Ilka schluckte. Natürlich hatte ihr Freund recht. Der Gedanke, loszufahren, ohne sich von Jasmin verabschiedet zu haben, schnürte ihr dennoch die Kehle zu. Sie müsste eigentlich die böse Stiefmutter für Fox’ Töchterlein sein, aber zwischen den zweien hatte sich ein sehr herzliches Verhältnis entwickelt. Beide hatten das Gefühl, endlich die Schwester bekommen zu haben, die sie sich ein Leben lang gewünscht hatten. Ilka seufzte und beschloss, Jasmin so bald wie möglich von unterwegs aus eine SMS zu schicken.
„Willst du wirklich die ganze Nacht durchfahren, Fox?“
„Klar, Liebling. Dann sind wir vielleicht am späten Nachmittag oder am frühen Abend schon in einer lauschigen Pension.“
„Na, hoffentlich in keiner lausigen!“
Prancock verstaute die letzten Koffer im Auto, knallte die Heckklappe zu und ging um den Fiat herum.
„Unser erster gemeinsamer Urlaub! Klasse, was? Eine Woche kein Steffens, kein Häfner, keine Else …“
„… und keine Jasmin“, dachte Ilka ein bisschen wehmütig. Dann beschloss sie aber, sich doch zu freuen. Verabschiedung per SMS war schließlich auch eine Option – noch dazu eine sehr zeitgemäße. Als Fox sie nun mit beiden Armen umfasste, leicht hochhob und küsste, fühlte sich Ilka fast wie im Film: „Klappe: gemeinsamer Urlaub! Der erste!“