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Ach, früher

I’ve never scored a touchdown

On a ninety-nine yard run,

I‘ve never winged six Daltons

With my dying brother’s gun …

Or kissed Miss Jane, and rode my hoss

Into the setting sun.

Sometimes I get so depressed

‘Bout what I haven’t done.

Shel Silverstein: Never

„Das Leder.“ Früher sagten die Reporter, wenn sie den Ball meinten, ja gerne mal „das Leder“, und selbst heute noch nagelt so mancher Stürmer das Leder unter die Latte.

Güldenstern. Herbert Zimmermanns „Toni, du bist ein Fußballgott“? Ich wollte lieber wie Fritz Herkenrath sein, der 1953 zusammen mit Franz Islacker und Rot-Weiß Essen deutscher Pokalsieger und 1955 deutscher Meister wurde. Ich war Fritz Herkenrath, wenn ich nach dem Ball, wie wir damals sagten, hechtete – „sich schmeißen“ war auch in Gebrauch – und ihn aus der Ecke fischte, bevor er direkt neben dem Stamm des Vogelbeerbaums einschlug, der auf der Wiese vor unserem Haus neben den Tennisplätzen des Stader TC stand und als Torpfosten herhalten musste. Der Ball war damals wirklich aus Leder und roch nach Erdal-Lederfett. (Jahr für Jahr gab es einen zu Weihnachten.) Oben, am Ende unserer Straße, der Fritz-Reuter-Straße, auf der Köhnshöhe, lag der Platz vom TuS Güldenstern. Da wurde noch Faustball und Feldhandball gespielt. Herkenrath, Penny Islacker, „das Leder“, hechten, sich schmeißen, Vogelbeerbaum, Güldenstern: paradise lost.

Der Ernst des Lebens, das Glück der Menschen. Zwischen Lehmkuhle und Schwingeufer (offiziell Horstsee, aber die Leute sagen weiter Lehmkuhle): der VfL, Platz mit Stehtribüne an einer Seite, da ging es sonntags hin. Der Kassierer bekam 20 Pfennig und gab uns, meinem Bruder und mir, die Eintrittskarten „so“. Wenn der VfL nach 60, 70 Minuten hinten lag, pflegten wir uns hinter dem Tor des Gegners zu versammeln, in kaum von Besorgnis getrübter Gewissheit: das drehen die noch – wie schon so oft. So kam es auch – Elfmeter in letzter Minute durch Pfaff, Flachschuss, den ich, hinter dem Tor stehend, im linken Eck einschlagen sehen konnte, genau wie der Torwart ihn sah. Das nährte in uns die unerschütterliche Überzeugung: Wir haben es bewirkt. Dieses magische Denken – es kam so, weil wir es gewünscht hatten, notdürftig rationalisiert durch ein „Es lag an unserer Unterstützung“ – erlischt nicht mit der Kindheit. Es meldet sich wieder in dem mächtigen, unabweisbaren Glauben an „vom Publikum gedrehte Spiele“, von denen die Fans von FC St. Pauli, Borussia Dortmund oder FC Liverpool (und nicht nur die) beseelt sind.

Sehr wohl ist es denkbar, dass statistische Analysen à la Amos Tversky (s. das nächste Stück, „Die Sache mit den Strähnen“) das als Wunschdenken erweisen würden. Heute, da ich dieses Stück schreibe, findet sich in der Süddeutschen Zeitung (Nr. 168 vom 24.7.2019) ein Nachruf von Thomas Steinfeld auf Brigitte Kronauer, die vorgestern gestorben ist. Darin rühmt Steinfeld ihren Sinn für „den persönlichen, immer über alles Erreichbare hinausschießenden Idealismus der Menschen“. Dazu im Gestus der Aufklärung „Illusionen“ zu sagen, gehe aber „am Charakter der in ihnen niedergelegten Hoffnungen und Wünsche … vorbei. Denn in ihnen wohnt, buchstäblich, der Ernst des Lebens, das Glück der Menschen, ihre Eigenart, ihre Mühe, und ja, auch das Vergebliche, das all diesen Anstrengungen zumindest einen Anflug von Größe verleiht.“ Vorbei am Charakter der Hoffnungen, Wünsche – und, näherhin, eines unbewussten Begehrens, das einen magischen Glauben speist, nicht zuletzt einen magischen Glauben an die Magie des Wunschdenkens, auch: des Glaubens an vom Publikum gedrehten Spiele.

„Ich bin ja auf der GG (Gegengerade) groß geworden“, sagt St.-Pauli-Ultra Jesper im Gespräch mit dem Hamburger Straßenmagazin Hinz und Kunzt, „habe die alte GG und ihre Stimmung noch erlebt und bin dafür total dankbar. Pokalsaison, Aufstieg in die 2. Liga, durchs Publikum gedrehte Spiele wie gegen 1860 oder Hoffenheim, das war als Kind unglaublich geil.“ (Sondermagazin Das Herz von St. Pauli 2019/2020) Als Kind, aber es hört nicht auf, wenn wir erwachsen werden.

Die Sache mit den Strähnen. Amos Tversky, berühmter Ko-Autor des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, hat einmal über mehr als eine Saison hinweg jeden Korbwurf der Philadelphia 76er (Basketball) untersucht. Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit für einen zweiten Treffer nach einem gelungenen ersten wird nicht größer. Mehr noch: Die Zahl der Serien aus mehreren Treffern hintereinander – denken Sie für den Fußball an einen Hattrick – ist nicht höher als es die Wahrscheinlichkeitsgesetze erwarten lassen. Das bedeutet: Es gibt keine Strähnen nach dem Muster „Wenn’s läuft, dann läuft’s“ – etwa weil das Selbstvertrauen wächst, weil einer einen Lauf hat oder dergleichen; keine Selbstverstärkung à la success breeds success. Es ist reiner Zufall. Das ist für Basket- und Fußballer ziemlich kontraintuitiv. Dirk Nowitzki, Robert Lewandowski (die selbstverständlich öfter als andere Spieler Serien haben, aber nur, weil sie besser sind, nicht weil es nach einem Erfolg „nun mal flutscht“) nie im Flow? Ich selbst kann es kaum glauben – und rette mich vom Fußball zum Tennis: Dort jedenfalls, sage ich mir, kommt es vor, dass einer „wie im Rausch“ spielt, bei jedem Ballwechsel beflügelt durch den vorangegangenen. Oder umgekehrt: Misserfolg heckt Misserfolg, weil bei Alexander Zverev oder Angelique Kerber nach ein paar Fehlern „nichts mehr läuft“. Möglich indes, dass dort die Dinge anders liegen als beim Basket- und beim Fußball, weil es beim Tennis auf Mikro- und Nano-Feinheiten ankommt.

À propos Basketball. „Die Basketballer wachsen ja in den Himmel wie Kiefern. Am Ende hat keiner einen Vorteil davon, sie könnten sich auch darauf einigen, klein zu bleiben“, wie Jochen Schmidt in Ballverliebt schreibt (mehr von ihm später, doch nun zurück zum Fußball).

Südtribüne. Nicht nur die Leute auf St. Paulis Gegengeraden und der Südtribüne sind von jener Überzeugung beseelt, sondern auch die Spieler. Alle spüren – und hören! (Siehe unten, „Millwall Roar“, S. 20) –, dass die anderen es auch spüren und hören, dass sie es miteinander teilen. Wie schal wäre demgegenüber die Besserwisserei der Statistik, selbst wenn sie es besser wüsste! Unsere Antwort wäre ein „Ich weiß, aber dennoch…“, wobei es statt „dennoch“ hier vielleicht besser „trotzdem“ heißen müsste: Wir lassen uns die Magie unseres Glaubens und den Glauben an die Magie unserer lautstarken Beschwörungen nicht nehmen. Mehr dazu später.

Im Radio. Die 50er-Jahre, NWDR, sonntags, immer nach den 19-Uhr-Nachrichten: Sport. Fiebernde Erwartung: Hat der VfL bei Concordia Hamburg gewonnen? Auch das kam im Radio. Was es sonst noch gab: Chris Howlands Spielereien mit Schallplatten, und Rolf und Alexandra Beckers Dickie Dick Dickens, Hörspielserie. Dickie war „der gefährlichste Mann, den Chicagos Unterwelt jemals hervorgebracht hatte“. Bei Chris Howland hörten wir später (1965) zum allerersten Mal „Yesterday“ – und waren wie vom Donner gerührt. Bis dahin kannten wir von den Beatles nur Rockmusik, und nun dies. Und wie gut es hier passt – all my troubles seemed so far away, damals.

Ein Kinderspiel. Wie haben wir als ganz Kleine angefangen, Ball, und dann Fußball zu spielen? Vielleicht wie Tommy und Jack Caffrey, Zwillinge, kaum vier Jahre alt, in James Joyces Ulysses? „Sie wühlten im Sand mit ihren Schaufeln und Eimerchen, wie Kinder das gerne tun, oder spielten mit ihrem dicken, bunten Ball, glücklich den langen lieben Tag.“ Ein Ball ist ein Spielzeug.

Die Kinder lernen Schaukelpferde reiten, Burgen bauen, Bälle treten und, alsbald, Wörter sprechen. „Nun“, sagte die Mutter (Cissy Caffrey) zum Baby der Freundin (Edy Boardman), „sag mal ganz schön: Ich will einen Schluck Wasser.“ Das Baby sprach: „Illil alluck Lalla.“ Mit solcher Gewandtheit hat auch das Bälletreten begonnen. Am Anfang wollten wir nur spielen.

Fort/Da. Ganz früh spielen Kinder das große Spiel vom Verschwinden und Wiederkommen geliebter Objekte, das ihnen erlaubt, sich als Regisseure eines drohenden Verlusts in Szene zu setzen und sich aber im Wege fortdauernder Wiederholungen zu versichern: Es wird alles gut – wieder gut, und ich kann machen, dass es wieder gut wird. Sigmund Freud hatte dieses Fort/Da-Spiel bekanntlich an seinem anderthalbjährigen Enkel Ernst beobachtet, der „alle seine Spielsachen nur dazu benützte, ‚fortsein‘ zu spielen.“ (Jenseits des Lustprinzips) Im Lichte dieser Spekulation sticht ins Auge, dass Bälle, kugelrund, wie sie sind, rollen. Ein kleiner Kick genügt, um ihr Fortsein zu bewirken. In Ulysses geht die Ballspielszene weiter. Erst Fort: „Die Zwillinge spielten jetzt in gebührender brüderlicher Eintracht miteinander, bis schließlich Master Jacky … den Ball in voller Absicht so kräftig, wie er nur konnte, hinunter zu den mit Seetang bewachsenen Felsen schoss. Es bedarf keiner Erwähnung, dass der arme Tommy nicht lange zögerte, seiner Bestürzung lauthals Ausdruck zu geben …“ – was, bei aller brüderlichen Eintracht, Jackys Lust noch gesteigert haben mag. Dann Da: „…doch glücklicherweise kam der Herr in Schwarz, der dort einsam saß, galant zu Hilfe und fing den Ball auf.“ Was man daran sieht, sagt Iris, ist etwas, das in Freuds Szene nicht vorkommt: Kinder allein können eigentlich nur Fortsein spielen – für’s Wieder Da brauchen sie andere, vorzugsweise die Eltern. Merke: Fort/Da geht am besten miteinander.

Der Herr in Schwarz war niemand Geringerer als Leopold Bloom, der traurige Held des Romans. Der spielte sozusagen einen Fehlpass – einen Freud‘schen Fehlpass –, und der Ball landete schließlich, kleine erotische detour, im Gelände der Lust, unter dem Rock der liebreizenden Gerty MacDowell, die uns noch wiederbegegnen wird. Die wiederum „versetzte dem Ball einen ganz famosen Tritt, und er flog denn auch in hohem Bogen los, und die Zwillinge wetzten hinterher, hinunter zum Kieselstrand. Natürlich war es nichts anderes als Eifersucht, was sie trieb, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, weil der Herr gegenüber doch zusah“. Als hätte Freud Joyce gelesen oder Joyce Freud, der es so gesagt hat: „Dass all ihr Spielen unter dem Einflusse des Wunsches steht, groß zu sein und so tun zu können wie die Großen.“

Ein Schelm, der jetzt an Uli Hoeneß, Oliver Kahn oder Lothar Matthäus denken muss.

So tun zu können wie die Großen: Damit haben wir alle den Anfang gemacht, und die Großen, das waren zuerst eben die Eltern. In meinem Falle allerdings nicht: der Vater. Der war im Krieg, 1945, wie man dazu sagte, gefallen. Zeit meines Lebens hat mir das, so ging meine stete Beteuerung, „nichts ausgemacht“. Ich kannte ihn ja gar nicht. Ich kannte „es“ ja nicht anders. Und die Väter meiner Schulfreunde waren meistens autoritäre Säcke oder Männer, denen mit Krieg und „Niederlage“ der Sinn des Lebens abhandengekommen war und die irgendwie verloren aus dem Fenster guckten, einfach in die Ferne. Also: So what? Jetzt allerdings, da ich mich mühsam zurückerinnere an die ganz frühen Jahre und daran, dass ich wie Peng, der Fußballheld sein wollte (s. unten, S. 72f), kommt mir ein Text unter, aus einem Thriller, oder eigentlich nicht einem Thriller, sondern einer als Thriller auftretenden Tochter-Vater-Geschichte, River of Violence von Tess Sharpe, die ich gerade lese, ein Text, der, zum ersten Mal in meinem Leben, macht, dass ich traurig bin, richtig traurig – darüber, dass ich dies hier nicht hatte:

Ich weiß nicht, wie alt ich bin. Jung. So jung, dass alles verschwommen ist, der Klang seiner Stimme, das Lächeln in seinen Augen. Er jagt mich durch den Garten. Meine nackten Füße klatschen auf den Backsteinpfad, den er zwischen den Hochbeeten angelegt hat, und ich kichere, meine Beine bewegen sich schnell, als ich von ihm wegrenne. Da ist so ein aufgedrehtes Gefühl in meinem Bauch, renn, renn, renn, und ich quietsche vor Vergnügen, als er mich zu packen versucht und ich ihm entwische.

„Ich krieg dich!“

Ich renne und renne und renne, ich lache und bin froh.

Das hieß bei uns „Kriegen spielen“. Fort/Da mit uns selbst, nicht mit Spielsachen.

Irgendwann fängt er mich. Schwingt mich hoch auf seine Schultern. Ich bin höher, als irgendwer sonst je gewesen ist, hoch genug, um Wolken anzufassen, und ich rufe: „Höher, Daddy, höher.“

Ikarus. Angstlust – zu fliegen, zu fallen, fallengelassen zu werden.

Sie finden diesen Text vielleicht gar nicht so doll. Ich schon, aber das rührt von Tess Sharpes Erzählkunst, von dem Drama in der Beziehung zwischen Harley McKenna und ihrem Vater und auch daher, dass meine Abwehr via „So what?“ gerade ein bisschen aufgeweicht ist. Die Traurigkeit hat mich gestern Nacht erwischt, heute, bei Tage, ist sie schon wieder verblasst. Ich bin froh, dass sie mich erwischt hat, zum ersten Mal in meinem Leben.

Sehnsucht. Sehnsucht und ein sehnsüchtiges Gefühl – wie Peng zu sein, von Daddy aufgefangen und gehalten zu werden – heißt, von einer Phantasie erfüllt zu sein: Wie wäre es, wenn …? Wie hätte es sein können? Tess Sharpe hat es mit ihrem Tochter-Vater-Roman geschafft, diese Phantasie in mir zu wecken. Sie hat gemacht, dass ich, für eine Weile, voll von diesem schönen Gefühl war. Fülle, nicht Leere.

Die Ritzen zwischen den Bohlen der Brücke über den Stader Burggraben. Die Brücke führt zur „Insel“, die Bohlen waren und sind dick und bis heute solide, die Lücken dazwischen gerade einmal fingerbreit, aber wir hatten als Kinder Angst hindurchzufallen. Dass der Boden, auf dem wir zu stehen und zu gehen kommen, wirklich trägt, schien uns in Ansehung des durch die Ritzen sichtbaren Abgrunds durchaus zweifelhaft, ja, ganz unglaubwürdig. Man konnte, man würde, des waren wir gewiss, hindurchfallen und verschwinden – reales, nicht gespieltes „Fort“.

Es sind diese Bohlen und Lücken, die mir, ich weiß nicht, wie, in den Sinn kommen, wenn ich an unsere Kinderspiele denke. Etwa so: Mit dem Ball am Fuß, im Miteinander des Spiels, konnte ich tief nicht fallen.

Was als Tor(pfosten) herhalten musste: Ganz früher die Türen im Flur, die Türrahmen als Pfosten. Der Vogelbeerbaum, siehe oben, plus in die Wiese gesteckter Ast. Überhaupt Bäume aller Art. Klamottenhaufen. Ranzen. Die Wäschestangen hinten im Hof. Eine Teppichstange diente als Latte (auf die wir sonst verzichten mussten, immer wieder Anlass zu Streit: War er drin oder drüber?). Später das Garagentor in der Gartenstraße in Wuppertal.

Der Wäscheplatz auf dem Hof hatte den Vorzug, dass, wenn es dunkel wurde, Licht aus den Wohnzimmer- und Küchenfenstern darauf fiel – so konnten wir im Dunkeln noch weiterspielen. Besonders im Winter, wenn Schnee lag. Dann war es heller, und der Schnee glänzte im Licht aus der Küche.

Gemüseecke. Vier, fünf Jungs auf dem Bolzplatz, nicht genug, um auf zwei Tore zu spielen? Macht nix. Dann gibt es Elfmeterschießen-spezial. Einer schießt, alle anderen stehen im Tor. Und jeder hat da seine Gemüseecke, terminus technicus meines Verlegers Stefan Weikert aus dessen Jugend. Wer in seiner Ecke drei reingelassen hat, muss raus, wie bei der „Runde“ (auch: „Ringelpietz“, „Mäxle“ oder „Mühle“) im Tischtennis. So werden es immer weniger, die noch im Tor stehen. Am Ende bleiben zwei Spieler übrig, und wer dann gerade als Schütze dran ist, hat Glück …

A New York City Boyhood. Der Paläontologe und Baseballfan Stephen Jay Gould hat eine schöne Erinnerung an seine Kindheit dem Baseball gewidmet: „Almost all the neighbourhood boy chicks … lived and breathed baseball all the time.“ Hierzulande müssen wir, versteht sich, Fußball an die Stelle von Baseball setzen, und ich übrigens Tennis. Von den Spielen seiner Jugend sagte Gould: „They also kept us out of trouble and away from girls. And what more could a boy have desired in preadolescence?“ Das erinnert mich an die grässliche Zeit meiner Tanzstunde, von der ich abends so schnell wie möglich floh, um noch das Tennislicht für ein letztes Training zu nutzen – im Dauerlauf, und in einem kratzenden Flanellanzug, schweißtriefend. Das ersparte mir die Phase der Annäherungsversuche – „Kann ich dich nach Hause bringen?“ –, die nach der Stunde üblich waren, und all diese Peinlichkeiten mit dem anderen Geschlecht, die da dräuten. So – „keeping myself away from the girls“ – hatte ich einen gesichtswahrenden Abgang: Training ging vor.

Tanzstunde – eine einzige Pein. Erstens: Die Schöne, nach der alle schmachteten, war längst vergeben, an, Sie wissen schon, diesen coolen Typen, der … Zweitens: Die Sache lief so ab: Zwei Stuhlreihen, links die Jungs, rechts die Mädchen, dazwischen der Tanzsaal, den die Jungs, auf ein Zeichen des Tanzlehrers hin, rennend, schlitternd, rutschend zu durcheilen hatten, verzweifelt bemüht, wenigstens einigermaßen weit vorne zu sein und die jeweils noch Ergatterbare, auf einer erstaunlich einmütigen Attraktivitätsskala noch Akzeptabelste zu erwischen und zum nun folgenden Tanz aufzufordern, zu dem wir vom Tanzlehrer munter und im Walzertakt vorgetragene Anweisungen erhielten: „Rrran an die Damens, wieder ab von sie, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei!“ Rollendes R. Drittens: Mir, einem verklemmten Knaben von 15 Jahren, fehlte jede Traute, ein Mädchen auch nur anzusprechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie derlei menschenmöglich sein sollte. Es ist im Lichte solcher Pein, dass mir Goulds Rede von den Spielen, die uns zum Glück von den Mädchen fernhielten, noch heute unmittelbar einleuchtet. Gould hatte das vielleicht etwas anders gemeint, aber ich bin noch heute dankbar dafür.

3. Februar 1962: HSV gegen Penarol Montevideo. Ich war 16, nie war ich in einem anderen Fußballstadion gewesen als dem von Güldenstern und dem von VfL Stade, und nun dies: Volksparkstadion, 65 000 Zuschauer, Flutlicht, es eröffnet sich dem verzauberten Blick ein Platz, schneebedeckt, strahlend weiß, alles in einen Glanz tauchend, der in meinen Augen auf den HSV fällt. Ich bin nicht allein mit diesem Erlebnis. Simon Critchley, Philosoph, beschreibt in seinem Buch „What we think about when we think about soccer“ die Szene, als er so ein Stadion, bei ihm war es Arsenals Emirates Stadion, betrat: „… dann gehst du die Stufen hinauf ins Tageslicht oder (besser noch) ins Flutlicht und suchst deinen Platz. Dann siehst du das Spielfeld und das ganze Stadion, schimmernd. Es ist real, aber zu real, hyperreal, fast zuviel. Es ist, als ob man einen Film sieht und in eine vollkommen eindringliche 360-Grad-Projektion eintaucht. Es ist real und irreal zugleich. Nicht wie ein Gefühl in unserem Kopf, sondern da draußen im Middle Kingdom.”

Doch zurück zu HSV gegen Penarol. In der 10. Minuten köpft Uwe Seeler, obwohl verletzt (Oberschenkelzerrung), das 1:0. 35. Minute 2:0, Harry Bähre.


Sie fragen vielleicht: Who the fuck is Penarol? Antwort des Sport MAGAZIN in seinem Spielbericht (Jahrgang 4, Nr. 3, vom 5.2.1962,): „Penarol Montevideo, Uruguays Fußballstolz, der 15-fache Landesmeister, als Profis Sieger der südamerikanischen Meisterschaft der beiden letzten Jahre und Gewinner des Weltpokals 1961.“ Für den HSV aber spielten, um nur diese zu nennen: Horst Schnoor, Uwe und Dieter Seeler, Jürgen Werner und Charly Dörfel. Crème de la Crème, Glanz und Gloria, und ich war – damals – dem HSV verfallen. Das ist noch immer nicht ganz vorbei, und es bereitet mir heute, da es gute Gründe gibt, mit St. Pauli zu sympathisieren und nicht mit dem HSV, seelische Nöte. (Mit St. Pauli, deren Fans am 7.5.2011, als die Mannschaft gegen den FC Bayern in der 78. Minute von 0:5 auf 1:5 verkürzte, den Schlachtgesang anstimmten: „Jetzt geht’s lo-os!“ Das Spiel endete 1:8, und St. Pauli stieg in die 2. Liga ab.)

Bei Ihrem Kaufmann. Nicht ohne Rührung lese ich heute, was in diesem Stadionheft, HSV-POST Nr. 3, Jahrgang 4 vom 3.2.1962 zur Leistungssteigerung angepriesen wurde: Kernige Köllnflocken („naturreines Hafervollkorn“) – „…können Sie bei Ihrem Kaufmann bekommen“ – und Dextroenergen.

Man schafft’s, Sie werden sehn,

mit DEXTRO-ENERGEN.

Wie ein Mann. 1966, bei einem London-Besuch, saß ich, inzwischen BWL-Student, im Stadion des FC Chelsea, damals ein Arbeiterverein. Dass wir dicht an dicht saßen, ist eine milde Umschreibung. Eingeklemmt trifft es besser. Jederzeit schubberte man sich am linken und am rechten Nebenmann. Und dann: Tor Chelsea! Ehe ich’s mich versah, wie man früher sagte, stand ich, obwohl ich nicht eigentlich aufgestanden war. Es hatte mich hochgerissen, genauer: Meine Nebenleute hatten das getan – mich Wildfremden augenblicklich untergehakt und jubelnd in die Höhe gebracht. Arbeiter, Schulter an Schulter, mitreißend.

1967. Ich war ins Studentendorf Schlachtensee gezogen, Haus 7, das linkeste Haus im Dorf, wie es hieß. Das kam gerade recht, denn meine vage Idee, via BWL-Studium viel Geld zu verdienen, hatte ich 1966 aufgegeben, als ich während eines Praktikums bei IBM Hamburg gesehen und gehört hatte, wie die „Vertriebsbeauftragten“, in blauen Blazern mit Goldknöpfen, am Telefon Computer zu verkaufen versuchten, IBM 360er, groß wie schulterhohe Kleiderschränke. Das erinnerte mich allzu sehr an Onkel Fritz, Löwen-Apotheke, der zwar Apotheker war, aber den lieben langen Tag lang in der, nun ja, Hökerstraße Sachen wie 8x4-Seife über die Ladentheke schob, jedes Mal mit dem launigen Satz: „8x4 ist 32.“ So wollte ich auch dann nicht enden, wenn 8x4 360 ergab.

Das Studentendorf war mit finanzieller Unterstützung des US State Department erbaut und mit einem Reeducation-Regelwerk ausgestattet worden, das als Unterweisung in Demokratie gedacht war: Jedes der knapp 30 Häuser sollte einen Dorfrat wählen, der in die Ratsversammlung entsandt wurde – die allerdings nichts von Relevanz zu entscheiden hatte (außer den Dorfbürgermeister zu wählen, der allerdings nichts von Relevanz zu entscheiden hatte). Unsere Lektion in Sachen Demokratie lautete unter diesen Umständen: „Der Dümmste wird Dorfrat.“ Bisschen zynisch, zugegeben, aber so geht es mit sinnfreien Regelwerken. Dafür lernten wir in Haus 7, dass jüdische und muslimische, katholische und evangelische, schwule und heterosexuelle Studenten – alles Männer, denn die Häuser waren strikt nach Geschlechtern getrennt – ziemlich gut miteinander auskommen und auch heikle Sachen heiß diskutieren können, den „Blitzkrieg“ Israels, wie die Springerpresse dazu sagte, den Vietnamkrieg, den Schahbesuch, solche Sachen. Und dass ein gewählter Regierender Bürgermeister, ausgerechnet der honorige Heinrich Albertz, als Benno Ohnsorg am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Schah-Besuch erschossen wurde, sich ohne zu zögern, noch in derselben Nacht, die Lügen der Springerpresse zu eigen machen konnte. („Die Polizei, durch Rowdies provoziert, war gezwungen, scharf vorzugehen“; Bild schrieb: „Ihnen genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen.“) Albertz räumte später vor dem Berliner Abgeordnetenhaus ein: „Ich war am schwächsten, als ich am härtesten war, in jener Nacht des 2. Juni, weil ich dort objektiv das Falsche tat.“ Ich begann, Kafka zu lesen, Freud, und, etwa später, Marx. Das war ein anderer Schnack als BWL. Fußball? Hatte Pause.

Millwall Roar. Noch ein Arbeiterverein, FC Millwall, Südost-London. Berühmt und berüchtigt wurde der ohrenbetäubende Millwall Roar. Bringt Zweifel an vom Publikum gedrehte Spiele zum Verstummen.

Bilderschrift für das Ohr. In den Kulturwissenschaften sind jetzt das Hörbare und das Hören als Gegenstand entdeckt worden: soundscape research. Hier ist eine unvollständige Liste dessen, was da in Frage kommt: „Es donnert, heult, brüllt, zischt, pfeift, braust, saust, summet, brummet, rumpelt, quäkt, ächzt, singt, rappelt, prasselt, knallt, rasselt, knistert, klappert, knurret, poltert, winselt, wimmert, rauscht, murmelt, kracht, gluckset, röchelt, klingelt, bläset, schnarcht, klatscht, lispeln, keuchen, es kocht, schreien, weinen, schluchzen, krächzen, stottern, lallen, girren, hauchen, klirren, blöken, wiehern, schnarren, scharren. Diese Wörter und noch andere“, notiert Georg Christoph Lichtenberg in den Sudelbüchern, „welche Töne ausdrücken, sind nicht bloße Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrift für das Ohr.“ Wenn im Stadion auch nur die Hälfte davon gleichzeitig ertönt, ergibt das ein Summen und Brummen, eine Geräuschkulisse, ein Klangbild, das niemand intendiert hat.

Und nun erst das roaring in „The Den“ (der Bau, die Höhle), dem Millwall-Stadion. To roar wird oft, und manchmal zu Recht, mit „brüllen“ übersetzt, wie in „das Brüllen des Löwen“ (und die Spieler des FC Millwall heißen tatsächlich The Lions). An dieser Übersetzung stört dieses Mal, finde ich, dass eher Einzelne brüllen, nicht die ganze Nord- oder Südkurve, nicht „das ganze Stadion“. Dafür wären andere Übersetzungen treffender, bei denen mitklingt, dass das Ganze, selbst wenn es intendiert ist, mehr ist als die Summe seiner Teile – mehr als die bloße Addition der Rufe der einzelnen Zuschauer. Das Dröhnen aber, das Rauschen, das Gebraus, das Tosen einer Brandung, manchmal, bei verpassten Torchancen auch ein seufzendes Raunen der Massen, das sind Klangereignisse, die nicht als solches, als Ganzes, von den je Einzelnen intendiert werden können, sondern sich als emergentes Resultat des Brüllens, Raunens und Seufzens der Vielen einstellen, rekursive Selbstverstärkung der einen durch die anderen, etwa der Ost- durch die Westkurve, einbegriffen. Nicht intendiert, aber umso wirkungsvoller.

Kollektive Intention. Und doch ist da etwas intendiert. Garry Robson schrieb 2004 in No One Likes Us, We Dont Care über die berüchtigten Millwall-Fans, die sich nicht selten rüde und rau benehmen: „Der Roar macht das Kollektiv und seine Welt lebendig und kann Teilnehmer wie Beobachter überwältigen.“ Der Buchtitel zitiert den Schlachtruf der Fans, gesungen nach der Melodie von Rod Stewarts Sailing:

No one likes us, no one likes us, no one likes us, we don’t care.

We are Millwall, super Millwall, we are Millwall from The Den.

Eben das kommt in der Lautmalerei des Millwall Roar, zwar unartikuliert, gleichwohl laut und deutlich, zum Ausdruck. Sehr-Lautmalerei.

Klingende Namen. À propos Klangereignis. Hie Shakuntala Banerjee und Pinar Atalay, da Klaus Kleber und Gundula Gause. Hie Deportivo La Coruña, Atalanta Bergamo, Galatasaray Istanbul, da Verein für Leibesübungen Wolfsburg und Rasenballsport Leipzig.

Andere Klänge. Schieberwichserschwuchtelnhurensöhnekinderschänderkanakenbimbosnegerjudenstechtsiealleab.

Bilder hören. An jedem verdammten Sonntag, so heißt ein schönes, kleines Buch von Christian Werner. Untertitel: Deutschlands Kreisliga-Helden. Ein Bilderbuch des Kreisligafußballs, fast nur Fotos. Wie Ron Ulrich in 11 Freunde vom September 2019 sehr richtig schreibt: „Werner schafft es, dass der Betrachter … hier Bilder hören kann. Zum Beispiel die Sprüche der Meckerrentner am Seitenrand, die eine Kiste Bier in einer Sackkarre neben sich geparkt haben. Das Klackern von Stollenschuhen auf Asphalt oder das Titschen eines nassen Balles auf Schnee. Das Quietschen der Schuhe beim Amateurkick in der Halle.“ Wohlgemerkt: Das alles steht nicht im Text des Buches, sondern Ulrich hat die Bilder gehört, aus denen das Buch besteht, und so schön beschrieben. Ein starker Text von Frank Goosen, „Spieltag“, steht auch drin. „In der Kabine ist die Hölle los. … Es stinkt, es dampft, es ist laut, auf dem Boden liegen die dreckigen Trikots, Hosen und Stutzen…“ Und draußen, die Eckfahne hinten rechts, bei der Weitsprunggrube, die fällt immer um, muss man mal was machen.

Bundesligakonferenz. Die 70er-Jahre, Berlin, Arbeit an meiner Dissertation. Samstagnachmittag, 15.30 Uhr: Arbeitspause. Badewasser einlassen, Kofferradio neben die Wanne, in den Badeschaum eintauchen, Mutterschoß, und dann, ab 16.08 Uhr Halbzeitkonferenz, ab 16.55 Uhr Schlusskonferenz: Kurt Brumme, Kurt Emmerich, Günther Koch, Eddie Körper, der große Manni Breuckmann & Co, – „Wir rufen Günther Koch aus München!“ – „Tor in Bremen!“ Manchmal auch DDR-Hörfunk: Heinz Florian Oertel.

Orange, the new Blue? Oder ins Auto, ins Olympiastadion, zur blau-weißen Hertha. Mein erstes Auto, gekauft im ersten Rausch übers erste Gehalt als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU: NSU TT. Viel schneller, aber nicht teurer als der Käfer, 65 PS, 153 km/h Spitze, 5500 Mark, in Blech gegossenes Klein-aber-oho-Emblem der 60er-, 70er-Jahre, orange, eckig und auch sonst hässlich wie die Nacht (googeln Sie mal). Doppelscheinwerfer, und hinten rechts und links je drei kreisrunde, aus dem Blech rot hervorstechende Rückleuchten, von denen Eberhard von Kuenheim – Dehnungs-e –, Chef von BMW, sagte: „Die sehen ja aus wie Zitzen am Euter einer Kuh.“ Aber eben 153 Sachen, vielfacher Bergmeister.

Damals machte Rolls Royce Werbung mit dem Slogan: „Das einzige, was Sie in diesem Wagen bei 150 km/h auf der Autobahn hören, ist das Ticken seiner Uhr.“ NSU konterte so: „Das einzige, was Sie in diesem Wagen bei 150 auf der Autobahn hören, ist das Röhren seines Motors.“

Große Zeiten. Der VfB Oldenburg hat in unvordenklichen Zeiten, einmal 1949 (mit Fiffi Gerritzen!), zweimal 1962, den HSV geschlagen (und spielte damals lange „erstklassig“, nämlich in der Oberliga Nord). Ich habe Jahrzehnte später, von 1976 bis 1988, in Oldenburg gelebt – neuer Job an der Uni Oldenburg. Immer noch wurde die Mannschaft, in einer aus wehmütiger Erinnerung und verzweifelter Hoffnung gespeisten, mit Größenwahn gemischten Unbeirrbarkeit, an jener großen Zeit gemessen. Und bekrittelt, wenn sie Bremerhaven 93 – ich meine: Bremerhaven 93! – nur 3:0 schlug. (Immer mal wieder angefacht wurde die Hoffnung durch manche Erfolge in der nun drittklassigen Oberliga Nord und in der 2. Bundesliga.) Die Hartnäckigkeit des kollektiven Gedächtnisses und die Weigerung, die Suche nach der verlorenen Zeit aufzugeben, folgt einem Naturgesetz des Sozialen. Die Hybris des HSV-Managements der vergangenen Jahre rührt ihrerseits nicht zuletzt aus seinen, siehe oben, glorreichen Zeiten. Von Oldenburg verschlug es mich 1988 nach Wuppertal, ab 1990 mit Paul, eingeschult im August an der Katholischen Grundschule am Engelnberg. (Mich als alleinerziehenden Vater betörte Wim Wenders’ Alice in den Städten, ein Road Movie mit einem Mann – Rüdiger Vogler –, der mit einem neunjährigen Kind klarkommen muss. Nur Wenders konnte die enge Nordstadt Wuppertals mit dieser großen Liebe ins Bild setzen.) Der Wuppertaler SV spielte einst, von 1972 an, drei Jahre in der ersten Bundesliga. Er hat Spieler wie Horst „Schimmi“ Szymaniak hervorgebracht, von 1956 bis 1966 Nationalspieler, linker Läufer und einer der besten Mittelfeldspieler seiner Zeit. Sie können sich denken, wie die Fans es angesichts dessen fanden, wenn der WSV 20, 30, 40 Jahre später, inzwischen in der dritten, dann in der vierten Liga, gegen Union Solingen nur knapp gewann. Zu schweigen von Kaiserslautern und dem 1. FCK, in den 50ern das Herz der deutschen Nationalmannschaft, Horst Eckel, Werner Kohlmeyer, Werner Liebrich, Fritz und Ottmar Walter, nun zu Mythen erstarrt. 1951, 1953 und 1991 deutscher Meister, dann noch einmal, unter Otto Rehhagel, 1998 – als Aufsteiger! Im Juni 2019 hatte ich in der Stadt zu tun. Taxifahrt: rechter Hand, Philip-Mees-Platz, ein kleines Stück Park, auf dem Rasen verteilt lauter Fußballspieler-Statuen in bunten Trikots, Fußball ohne Grenzen, von Christel Lechner. In einem Tunnel an den Wänden Bilder von Fußballern. Inmitten eines Kreisverkehrs, des Löwenburgkreisels, auch 11-Freunde-Kreisel genannt: 11 Betonfiguren, ebenfalls von Christel Lechner, Fußballer, eine Art Mauer bildend, rote Teufel, in verblichenem Rostrot, sämtlich Wiedergänger einstiger Größe. Am Horizont das Fritz-Walter-Stadion (davor: fünf Fußballerstatuen, die Helden von Bern), das nun vielleicht verkauft werden soll. Der 1. FCK ist jetzt drittklassig (im September 2019 1:6 gegen den SV Meppen! 2020 Planinsolvenz, Anfang 2021 in Abstiegsgefahr). Unter dem Pflaster: Schmerz, Sehnsucht, ein Rest Stolz und Angst – Angst, Geisterstadt zu werden.

Hörfußball. Am 12., 18. und 19. Oktober 2019 beging der Wuppertaler SV sein unsterbliches 1:1-Unentschieden im ersten Bundesligaspiel gegen den FC Bayern München 1972 mit einem „Hörfußballspiel“. Günter Hiege berichtet im Solinger Tageblatt:

Ein Fußballspiel dauert 90 Minuten. Diese eiserne Regel wird in Wuppertal derzeit bei Flutlichtatmosphäre im Stadion am Zoo für eine ganz besondere Aufführung durchbrochen.

Gut 45 Minuten lang entführt Theaterregisseur Michael Uhl die Zuhörer an den Radiogeräten auf der Frequenz 107,4 von Radio Wuppertal und die Laiendarsteller auf dem grünen Rasen mit seinem Hörfußballspiel in eine Welt, die heute für die Wuppertaler Fußballseele mehr als die 47 Jahre entfernt scheint, die es in Wirklichkeit sind. Und zwar zum 4. Oktober 1972, als der damalige Bundesligaaufsteiger Wuppertaler SV den Deutschen Meister FC Bayern an den Rand einer Niederlage brachte. Dass man dem Favoriten beim 1:1 am Ende den ersten Punkt der Saison abknöpfte ist Legende. Scheinbar halb Wuppertal wollte die bayerischen Europameister Beckenbauer, Müller, Maier, Hoeneß und Schwarzenbeck und ihre eigenen Helden Günter Pröpper, Manfred Müller, „Eia“ Cremer und Manni Reichert sehen.

Am 21.9.1974 übrigens schlug der WSV die Bayern mit 3:1.

Berliner Schnauze. Dem Berliner fehlt die Mitte zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex. Von beidem zeugt seine große Klappe. Er spuckt Töne, um die jederzeit an ihm nagende Impotenzangst zu übertönen. Das muss, wer nach Berlin zieht, lieben lernen – sonst muss er es hassen.

Nirgends auf der Welt wird mit solcher Inbrunst über die eigene Mannschaft gemeckert wie in Berliner Fußballkneipen voller Hertha-Fans, wenn Hertha zu verlieren droht. April 1981, Olympiastadion, 35. Spieltag in der 2. Bundesliga, Hertha BSC gegen Werder Bremen, Werder an der Spitze der Liga, Hertha auf Platz 2, Spitzenspiel. Es ist ein herrlicher, sonniger Tag, 70 000 sind im Stadion, beide Mannschaften spielen stark, Okudera schießt in der 26. Minute das 1:0 für Hertha. Gehobene Stimmung. In der 62. allerdings das 1:1 durch Reinders. Nicht so schlimm, es ist ja noch Zeit. Das Spiel wogt hin und her, dann, in der 84. Minute, schießt Rautiainen das 2:1 für Werder. Unruhe um mich herum. Ich blicke mich um – da leeren sich augenblicklich die Plätze. Wie ein Mann steht „der Berliner“ auf und verlässt, wie man so sagt, stehenden Fußes das Stadion, jäh erwacht aus dem Traum von einstiger Größe.

Seit über 25 Jahren übrigens singt man im Olympiastadion Frank Zanders „Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause geh’n wir nicht“.

Hamburg, meine Perle. In Hamburg gingen zwei Verse aus Lotto „King“ Karls Vereinshymne so:

Wenn du aus Bremen kommst,

Gibt’s für dich hier nichts zu holen …

und:

Wenn du aus München kommst,

Ziehn wir dir die Lederhosen aus.

Diese Vereinshymne haben sie beim HSV jetzt in einer Art weiser, wenn auch später Selbsterkenntnis abgeschafft.

Gut, in Augsburg – in Augsburg! – singen sie „Du bist Glanz und Gloria“. Nur in Dortmund singt man die Wahrheit und nichts als die Wahrheit: „Deutscher Meister wird nur der BVB.“

Am Weserstrand. Auch bei Werder Bremen hieß es, bis Jan Delay eine neue Hymne schrieb:

Werder Bremen unser Leben lang –

Und der neue deutsche Meister kommt wieder mal vom Weserstrand.

Reim‘ dich, oder ich fress‘ dich. Die Meisterschale aber gebührt Werder für ruhiges, kluges Management, dafür, dass sie dort, wie sonst nur der SC Freiburg und Union Berlin (und der Schuhu in Peter Hacks‘ Der Schuhu und die fliegende Prinzessin), aus wenig viel machen, und dafür, dass sie Claudio Pizarro zurückgeholt (und Florian Kohlfeldt gehalten) haben.

Steinsuppe. Aus wenig viel zu machen, das vermochten indes auch wir Studenten, wenn wir nach einem abendlichen Spiel und nicht unerheblichem Biergenuss bei Rotnase zurückkehrten (so hieß der Wirt der Tiergarten-Quelle, der Kneipe in einem der S-Bahn-Bögen, neben der Kasematte, gibt’s alles nicht mehr) – zurück in die Küche von Flur N2, Haus N der Studentenstadt Siegmundshof, dem Flur, auf dem mein Bruder seine Bude hatte. Auch dieser Flur N2 war berüchtigt, eben wegen des dort gepflegten, nicht unerheblichen Bierkonsums. Eine Ahnung davon gibt es, dass N2 – ein einziger Flur in einem Haus, auf dem etwa 20 Studenten wohnten – eigens eine Brauerei als Bierlieferant in Anspruch nahm, die zweimal die Woche lieferte, und dass N2 der größte Flaschenbierabnehmer der Hansa-Brauerei in ganz West-Berlin war. Auf diesem Flur wurde aus viel Bier wenig gemacht, aber aus wenig Essen viel.

Wir waren an solchen Abenden nach dem Bolzen und dem Rotnase-Besuch zwar immer noch durstig, aber vor allem hungrig – sehr hungrig –, und hatten nichts mehr zu beißen. Im Gemeinschaftskühlschrank indes befanden sich viereckige Drahtkörbe, je einer pro Bewohner, neben- und übereinander, die aber leider sämtlich derart umgedreht und in dieser Stellung gesichert worden waren, dass sie uns die unzugängliche Drahtgeflechtrückseite darboten. Die Sicherung bestand in kleinen, handelsüblichen Schlössern, mit denen die Körbe versperrt waren. Man konnte sie daher nicht herausziehen, also nicht an etwa vorhandenes Essbares der lieben Mitbewohner herankommen. Genau das war der Sinn der allseits geübten Absperrmaßnahme gewesen. Ohnehin zeigten die meisten Körbe weitgehend gähnende Leere.

Die meisten, aber nicht alle. In einigen gab es einige Reste – hier ein paar Schnittlauchstangen, da ein harter Brotknust, dort womöglich eine winzige, alte Speckschwarte und, als Krönung, ein halber Brühwürfel. Wir aber hatten eine Fertigkeit entwickelt, die jetzt gebraucht wurde, nämlich mithilfe von Kochlöffeln, Drahtbügeln und anderem Gerät an der Kühlschrankrückwand von oben in die dort offenen Körbe hineinzulangen (die nicht ganz bis an die Rückwand heranreichten und daher einen schmalen Abstand ließen, Einfallstor für unser Anglerglück) – und einige wenige dieser Kostbarkeiten herauszuangeln. Und dann war die Kunst gefragt, aus wenig viel zu machen: Steinsuppe – so hieß sie bei uns –, deren Definition lautete: Suppe aus nichts. Dieses Nichts gehört bis auf den heutigen Tag zum Köstlichsten, das ich je gegessen habe.

Gut, der Zusammenhang zum Fußball ist hier schwach. Er wird aber verstärkt dadurch, dass wir in dieser Küche, gekräftigt durch die Steinsuppe, alsbald Tischfußball mit drei Groschen spielten, und zwar nächtelang, ganze Turniere: Immer den einen Groschen nach vorne durch die beiden anderen schnippen, bis man aufs Tor schießen konnte. Dann oder nach einem Spielfehler kam der Gegner dran. Wir spielten es mit einem Lineal, auf den schön glatten Resopaltischen in der Küche, mit Streichholzschachteln als Toren. Der Sieger musste ein Bier ausgeben.

Einer sagte dann noch: „Wir gehen nicht ins Bett, bevor die Vögel brüllen.“

Der einarmige Geiger. An dieser Stelle muss ich die Sache mit dem einarmigen Geiger erzählen. Da ist der Zusammenhang mit dem Fußball noch schwächer, ja, beinahe nicht-existent, außer, dass es nach einem Tischfußballturnier war, dass es uns einmal – und das war ganz, ganz selten – gelang, Willi, den größten Saufkopp von N2, dazu zu bewegen, den einarmigen Geiger zu machen (was er nur tat, wenn er genug intus hatte). Sie sehen das Problem, das ein Geiger mit nur einem Arm hat? Man spielt ihn, wie der Name sagt, einarmig, mit einem Jackett, dessen einer Ärmel armlos herabhängt. Den „fehlenden“ Arm hat man, für die Zuschauer nicht sichtbar, unter dem Hemd verborgen und hält die Hand für eine unaussprechliche Greifbewegung weiter südlich bereit, derart, dass man (in Nöten, weil nun Geige und Geigenbogen hantiert werden müssen) mit einem plötzlich und an unerwarteter, hochnotpeinlicher Stelle auftauchenden Finger den als Geigenbogen dienenden Kleiderbügel ergreifen kann – wenn Willi das tat, breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, das ich wegen seiner reizenden Zahnlücken, der andersgelben Färbung der Zähne und ihrer krumm-schiefen Stellung nicht anders als entzückend und überaus ansteckend nennen kann. Ins Detail möchte ich nicht gehen – googeln Sie mal „The one-armed fiddler“, dann sehen Sie, warum nicht.

Überliefert ist, dass der glühende HSV-Fan Horst Hennigsen, verstorben am 16.5.2012, ebenfalls ein Meister dieser Darbietung gewesen sein muss. In seinem Nachruf auf der Seite seines Vereins, des TuS Finkenwerder, heißt es:

Horst hat vielen Menschen viel Freude gebracht. So hat er bei vielen Familien am Heiligabend für strahlende Kinderaugen gesorgt, wenn er als Weihnachtsmann Geschenke brachte. Auf jeder Feier war Horst ein gern gesehener Gast. War er doch immer fröhlich und gut gelaunt und verstand es durch seine Witze oder Vorträge (hervorzuheben ist der einarmige Geiger), jede Gesellschaft zum Lachen zu bringen und zum Erfolg zu verhelfen. (Hervorhebungen G.O.)

Das gegen Ende sich andeutende, getrübte Verhältnis des Norddeutschen zum Dativ hatten wir ja schon einmal – „ran an die Damens, wieder ab von sie!“ – , und es wird uns noch öfter begegnen (s. das Stück „Haarfrisur II“, S. 50).

Onkel Paul. Bei fein ziselierten Fußballfanversen fällt mir noch ein, dass sie 1955 in der Halbzeitpause des schon erwähnten Endspiels um die deutsche Meisterschaft zwischen Rot-Weiß Essen (im Tor: Fritz Herkenrath) und dem berühmten, hoch favorisierten 1. FC Kaiserslautern, Halbzeitstand 3:1 für Rot-Weiß, zwei Tore von Islacker, Plakate hochhielten, auf denen stand:

„Glaubt nicht an Spuk und böse Geister,

Rot-Weiß Essen wird deutscher Meister.“

Ich sah das im Fernsehen. Wir hatten noch keines, aber Onkel Paul, bei ihm durften wir manchmal gucken. Ich war knapp 10 Jahre alt, noch nicht sehr welterfahren, aber gewitzt. Sogleich war mir klar: Die Plakate konnten nicht in der kurzen Zeit seit den Essener Führungstoren gemalt worden sein. Islacker hatte das Tor zum 3:1 doch erst kurz vor der Pause geschossen. „Wie konnten die das denn vorher wissen?“, fragte ich Onkel Paul. Der tat, was ich noch heute nicht leiden kann, wenn ich es in Romanen lese: Er schmunzelte.

Wie Dombrowski beinahe Deutscher Meister geworden wäre. Mit Rot-Weiß Essen. Wie gesagt: 1955. Gegen Kaiserslautern. Können sich die Jüngeren gar nicht mehr vorstellen. Dombrowski hat es einmal Frank Goosen erzählt, und der hat es in Weil Samstag ist weitererzählt. Das kam so: „Hömma“, sagte Dombrowski zu Goosen, „wenne naher ma n paar Minuten Zeit hass, komm do ma an’n Tresen, ich muss dir watt erzählen, datt glaubsse nich.“ Können Sie da nachlesen.

Na gut, hier die Kurzfassung (Goosens lange ist viel schöner, da kommt auch ein Wasserglas mit Rosé drin vor – „Watt säufs du denn da? Friseusenwein?“): Dombrowski sollte für Islacker eingewechselt werden, der war völlig fertig, Knieverletzung. 82. Minute: Dombrowski macht sich warm. 84. Minute: Kopfballtor Islacker, 4:3 für Rot-Weiß. Legt Fritz Szepan dem Dombrowski die Hand auf die Schulter und sagt: „Lass gut sein, Hans, den Penny kann ich jetzt nicht rausnehmen, setz dich wieder hin.“ Da kann man schon mal den Blues kriegen. Allerdings, wie Goosens gute Gattin einwandte: „1955 gab es noch gar keine Auswechslungen. Die sind erst Ende der 60er eingeführt worden.“ (Das war 1967.)

96. In Hannover wiederum schmiedete man in den 60er Jahren diesen Vers, und damit mag es genug sein:

Jedes Jahr ein Kind,

Bis es sechsundneunzig sind.

Tankstellenbrötchen. Die 90er, Samstagnachmittage in Wuppertal. Mit Paul auf der Autobahn nach Leverkusen, Andreas Thom und Ulf Kirsten gucken. Nach dem Spiel auf der A1 im Autoradio: die Bundesligaergebnisse – auf der Anzeigetafel im Stadion hatten wir nur Halbzeitergebnisse gesehen. Gegen 18 Uhr in Wuppertal zur Tankstelle, Brötchen kaufen. (Der Bäcker hatte längst zu.) Die Tankstellenbrötchen waren schön klitschig, wir liebten sie. Dann nach Hause, Steak braten, nur mit Salz, Pfeffer, Knoblauch und reichlich Butter, alles rechtzeitig fertig zur Sportschau, und dann der Hochgenuss: Essen vor dem Fernseher, mit den fluffigen Brötchen zum Tunken. Männerhaushalt.

Wie wir dann Dortmund-Fans wurden. Das lief über Benni, damals Pauls dicker Freund. Der hatte es mit Dortmund. Das war ansteckend, und von Wuppertal nach Dortmund war es ja nicht weit. Riedle, Chapuisat, Zorc, Flemming Povlsen und Co. Die Jungs übten derweil Schwalben – in Sprüngen vom Hochbett auf schön weiche Sofakissen („formbeständige, langlebige Sitzkissen“).

Pain and glory. Ich war einst eine männliche soccer mom. Nur männliche und weibliche soccer moms kennen diese Pein: Paul spielt jetzt im Verein, beim ASV Wuppertal. Er ist sieben, noch Anfänger und nicht gerade ein Trumm von Kerl, eben deshalb wird er ins Tor gestellt. „Da kann er nicht so viel anrichten.“ Nun ja. Der Ball kullert auf’s Tor zu – und meinem Süßen zwischen die Beine, Tor. Ich möchte im Boden versinken. Ich möchte im Boooden versinken.

Sechs Jahre später, 1996 in Cambridge, Forschungssemester, wird Paul zum goal getter des Soccer-Teams, Cambridge Cyclops, mit gezirkelten Flanken und Freistoßtoren. Kick it like Beckham.

Über die ganze Saison hinweg sind sie Spitzenreiter ihrer Liga. Letztes, entscheidendes Spiel am 8. Juni 1996 gegen Acton-Boxboro. Sollte eine klare Sache sein, denn das Hinspiel am 4. Mai haben die Cyclops 8:2 gewonnen (2 Tore von Paul). Aber: Boxboro gewinnt das Rückspiel am 8. Juni mit 8:4 (wieder 2 Tore von Paul). Die Cyclops nur Zweiter in der Liga. Pain, glory, und dann wieder pain.

Sternstunden mit Gurkensalat. Deutsches Fußballmuseum in Dortmund, gleich neben dem Hauptbahnhof, 2019: Links, wenn man reinkommt, lockt eine Cafeteria, sich für den Besuch zu stärken: 1a frischer Gurkensalat. Hinten an der Wand, Vorgeschmack auf die Hall of Fame, vier große Fotos von Sternstunden des deutschen Fußballs: 1954, 1974, 1990, 2014, mit jubelnden Weltmeistern (1974 Gerd Müller und Overath, 1990 Brehme, Klinsmann, Völler und Reuter).

Ich hatte also den Fuß noch gar nicht in das Museum gesetzt, da war ich schon von glorreichen Erinnerungen überwältigt, und meinen Gurkensalat aß ich mit einem leisen leiblichen Summen des Glücks. Es war dieses erhebende Gefühl, das uns tief einatmen, um nicht zu sagen: die Brust schwellen macht.

Versonnen saß ich da und ließ die Dinge Revue passieren – und kam wieder auf den Teppich. Ungarn war 1954 die klar bessere Mannschaft (und hatte zur Halbzeit 2:0 geführt), die Niederlande 1974 auch – ich sage nur: Cruyff. Das 2:1 für Deutschland fiel durch Paul Breitners Elfmeter nach legendärer Hölzenbein-Schwalbe. (Allerdings hätte es später einen Elfmeter für Deutschland nach Foul an Hölzenbein geben können – ausgleichende Gerechtigkeit?) Auch den spielentscheidenden Elfmeter Brehmes beim 1:0 gegen Argentinien 1990, laut Times das schlechteste Finale der Geschichte, hatte Rudi Völler mit einer Schwalbe ergaunert. Beckenbauer, damals Trainer: „Da hat der Rudi ein wenig nachgeholfen.“ Und Götzes etwas glückliches 1:0 2014 gegen Argentinien in der 113. Minute? Ich sag‘ ja nur.

Ugly feelings. Es ist schwierig, lehrt Sianne Ngai in Ugly feelings, neidisch zu sein ohne das Gefühl, dass man nicht neidisch sein sollte. Über das erste Gefühl, Neid, legt sich ein zweites, ein Meta-Gefühl, Scham über den eigenen Neid. So ähnlich geht es mir, wenn ich mich freue, dass deutsche Mannschaften gewinnen. Es wird begleitet von dem Gefühl, dass ich das nicht sollte. Schließlich bin ich, gute Güte, kein Nationalist. Indes ändert dies letztere Meta-Gefühl kaum etwas an meiner Freude. Ein Ausweg, nein, ein Notbehelf, in dieser Lage ist: ironische Distanz. Leider streift mich manchmal das Gefühl, ich sollte mich nicht in Ironie flüchten. Behalten Sie diesen Punkt im Auge, ich komme darauf zurück (in dem Kapitel „Ich weiß, aber dennoch…“). Immerhin: Manchmal suspendiere ich meinen ironischen Nationalismus. Manchmal spielt der Gegner so gut, so schön, dass ich ihm die Daumen drücke.

Hall of Fame. Oben, in der Hall of Fame, werden ganze Spielszenen gezeigt, selbstverständlich auch Brehmes Elfmeter von 1990. Man erinnere sich: Brehme war beidfüßig. Würde er mit links oder mit rechts schießen? (1986 hatte er einen Elfmeter im Viertelfinale gegen Mexiko mit links geschossen.) Diesmal mit rechts, flach ins linke Eck, Goycochea machtlos.

Ich stand da und stellte mir eine paradoxe Hall of Fame vor, die gleich daneben Völlers Schwalbe zeigt.

„Ohne Holland fahr‘n wir zur WM.“ Diesen Fangesang, aufgekommen in den 1970er-Jahren, mag man als gutmütigen Spott nehmen. Es klingt darin aber eine Häme mit, in der ich die heimliche, entstellte, in Schadenfreude und Aggression verwandelte Scham zu hören meine, die in den Tiefen der deutschen Seele unmerklich rumort und ganz, ganz leise flüstert: „Verdient war der Sieg 1974 nicht.“ Aggression wider den Zeugen und „Zufüger“ der Beschämung: Nichts hilft besser, Scham zum Verstummen zu bringen.

„Ohne Deutschland fahr’n wir zur UN“ haben die Niederländer (und all‘ die anderen Nationen) nach 1945 nicht gesungen.

Stimmung. Schon früher hatte die Beliebtheit der Deutschen bei den Niederländern gelitten. Als der HSV, siehe oben, gegen Penarol Montevideo spielte, erinnerte ein Autor mit dem Namenskürzel J. W. im Stadion-Heft an die 20er-Jahre, an die wunderbaren Fußballspieler Uruguays (1924 Olympiasieger in Paris) und besonders an das Spiel Uruguay gegen Deutschland bei den Olympischen Spielen 1928.

In der zweiten Runde musste Deutschland gegen Uruguay antreten. Die deutschen Funktionäre begingen vor diesem Kampf eine ausgesprochene Dummheit. Als Schiedsrichter war der Holländer Mutters angesetzt worden, ein international erfahrener und hochgeachteter Mann. Er wurde von Deutschland abgelehnt. Der Protest folgte. Es sei unmöglich, hieß es, einen Holländer für einen Kampf Deutschland gegen Uruguay anzusetzen, wenn vorher das Land des Schiedsrichters (eben Holland) gegen die Südamerikaner verloren habe. Es wurde zwar nicht offen gesagt, doch es war zu hören, mit Mutters als Schiedsrichter ist Deutschland gegen die Urus chancenlos. Dem Einspruch wurde stattgegeben. Der neue Schiedsrichter hieß Youssof Mohamed, er kam aus Ägypten. An einem herrlichen Sommer-Sonntag passierte die Katastrophe von Amsterdam. Ich saß auf der Tribüne des Stadions. Mindestens 10 000 Deutsche, in erster Linie aus Westdeutschland nach Holland gekommen, waren anwesend. Was niemand vorherahnen konnte, stellte sich sofort nach dem Spielbeginn heraus: die holländischen Zuschauer (30 000 unter den insgesamt 40 000) paktierten mit der Mannschaft aus Uruguay. Sie feuerten die Südamerikaner an, lachten über die Fouls dieser Spieler, gebärdeten sich wie wild, wenn ein Deutscher Revanche beging. Die Tatsache, dass Deutschland einen holländischen Schiedsrichter ablehnte, hatte nach den entsprechenden Kommentaren in den Zeitungen für diese antideutsche Stimmung gesorgt. So etwas konnte 1928 nicht verwundern. Der Kredit für die Deutschen war um diese Zeit sowieso alles andere als gut. (HSV-POST Nr. 3 vom 3.2.1962)

Nein, das konnte schon 1928 nicht verwundern. (In den Niederlanden dann erst recht nicht seit dem 10. Mai 1940, spätestens.)

Das Spiel geriet zum Tumult. Üble Fouls auf beiden Seiten. Uruguay spielte „wundervoll …, aber bald auch gemein“, war überlegen und führte gegen 10 Deutsche mit 4:0. „Dazwischen wurde gehackt und geholzt. Natürlich auch von den Deutschen.“ Heiner Stuhlfauth, der große Torwart, schlug irgendwann Scarone buchstäblich k. o.

Rijkaard spuckt. Dass Frank Rijkaard im WM-Achtelfinale 1990 Rudi Völler angespuckt und Völler in diesem Zusammenhang wie Rijkaard eine rote Karte bekommen hat, war zwar gemein, aber am Ende Balsam für deutsche Schuld- und Schamgefühle, nunmehr zur Gänze überdeckt durch die bewährte Formel: Die Hölle, das sind die anderen.

Fußball Blues

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