Читать книгу Sämmtliche Werke 4: Mirgorod - Николай Гоголь, Gogol Nikolai Vasilevich, Nikolai Vasilievich Gogol - Страница 2

Erster Teil
Gutsbesitzer aus der alten Zeit

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Übersetzt von Charlotte König

Ich liebe es sehr, dies bescheidene Leben jener einsamen Bewohner entlegener Dörfer, die man in Kleinrußland gewöhnlich „Gutsbesitzer aus der alten Zeit“ nennt, und die uns gleich verwitterten malerischen Häuschen durch ihre schlichte Einfachheit anziehen. Der Reiz besteht in dem absoluten Gegensatz zu den neuen, sauberen Gebäuden, deren Mauern noch kein Regen verwaschen hat, deren Dächer kein grüner Schimmel bedeckt und deren vom Mörtel entblößte Fassade noch nicht ihre roten Ziegel hervorstreckt. Ich liebe es, mich mitunter auf Augenblicke in die Sphäre dieses ganz einsamen Lebens zu versenken: da schwingt sich kein Wunsch über den Zaun, der das kleine Gehöft umgibt, oder über die Hecke, die den mit Apfel- und Birnbäumen reich bestandenen Garten einschließt. Kein Verlangen reckt sich über die von Weiden, Holunder und Birnbäumen beschatteten, schiefen Hütten. Auch das Leben der Bewohner ist so still – so still daß man zeitweise sich selbst vergißt und glaubt, die Leidenschaften, die Begierden und die seltsamen Gelüste des bösen Geistes, die diese Welt beunruhigen, existierten gar nicht und wären nur Gesichte eines glänzenden, leuchtenden Traumes.

Es ist mir, als sähe ich es vor meinen Augen – das niedrige Häuschen mit der Galerie aus kleinen geschwärzten Holzstäben, die rund herum das Haus umgibt, damit man bei Regen und Hagel die Läden schließen kann, ohne selbst naß zu werden. Hinter ihr erhebt sich ein duftender Faulbaum und eine lange Reihe niedriger Obstbäume, die im Purpurrot der Kirschen und im saphirblauen Meer der mattbereiften Pflaumen ertrinken. Dort steht ein langgestreckter Ahorn, in dessen Schatten ein ausgebreiteter Teppich zur Ruhe einladet, vor dem Hause befindet sich ein geräumiger Hof, der von frischem kurzem Gras bedeckt ist, in welchem emsige Füße von dem Speicher bis zur Küche und von der Küche bis zu den Herrschaftszimmern einen schmalen Weg ausgetreten haben. Eine langhalsige Gans steht umringt von jungen, flaumigen Kücheln und trinkt Wasser; der Staketenzaun ist mit Bündeln von getrockneten Äpfeln, Birnen und Teppichen behängt, die hier ausgelüftet werden; eine Fuhre mit Melonen steht neben dem Speicher, und der ausgespannte Stier ruht träge daneben aus. Das alles hat für mich einen unerklärlichen Zauber, vielleicht weil ich es nun nicht mehr sehe und weil uns alles so teuer ist, von dem wir getrennt sind. Gleichviel warum, jedenfalls zog auch schon damals eine wunderbare angenehme Ruhe durch meine Seele, wenn sich mein Wagen dem Häuschen näherte; fröhlich trabten die Pferde auf die Freitreppe zu, und der Kutscher stieg behaglich vom Bock und zündete sich ein Pfeifchen an, als käme er zu sich nach Hause – ja selbst das Gebell, das die phlegmatischen, schwarzen und braunen Köter anstimmten, war meinen Ohren angenehm.

Am meisten aber gefielen mir die Besitzer dieser bescheidenen Nester, die alten Männer und Frauen, die einem geschäftig entgegenkamen und einen so freundlich begrüßten. Heut noch im Lärm und Trubel des Lebens, inmitten moderner Fräcke meine ich manchmal ihre Gesichter zu sehen: und im Halbschlummer steigt dann die Vergangenheit vor mir auf. In ihren Zügen liegt immer soviel Güte, soviel Treuherzigkeit und Herzensreinheit – daß man unwillkürlich, wenn auch nur für kurze Zeit, seine vermessenen Pläne und Absichten vergißt und unbewußt mit allen Fühlern in dies schlichte und idyllische Leben hinabtaucht. Bis heute kann ich zwei von diesen alten Leuten aus dem vorigen Jahrhundert nicht vergessen, die längst nicht mehr unter den Lebenden weilen: aber auch heut noch ist meine Seele von Trauer erfüllt, und mein Herz zieht sich bei dem Gedanken seltsam zusammen, daß ich wieder einmal an ihrer einstigen nun verödeten Wohnung vorbeikommen könnte, und dort, wo einst ihr niedriges Häuschen stand, nur einen Haufen verfallener Hütten, einen moosüberzogenen Teich, den verwilderten Garten finden könnte – und weiter nichts. Es wird einem so traurig dabei zumute! Wie traurig ist schon der bloße Gedanke daran. Aber wenden wir uns unserer Erzählung zu.

Afanassji Iwanowitsch Towstogub und Pulcheria Iwanowna „Towstogubicha“, (wie die Bauern aus der Umgegend sie zu nennen pflegten), so hießen jene alten Leute, von denen ich zu erzählen begonnen habe. Wenn ich ein Maler wäre und das Bild von Philemon und Baucis auf der Leinwand darstellen wollte: ich würde mir nie ein anderes Modell wählen, als diese beiden. Afanassji Iwanowitsch war 60 Jahre alt, Pulcheria Iwanowna 55. Afanassji Iwanowitsch war groß von Wuchs, trug beständig einen mit Kamelot überzogenen Schafpelz, saß gebeugt da und lächelte immer, sei es nun daß er selbst sprach und erzählte oder daß er einfach zuhörte. Pulcheria Iwanowna dagegen war stets ernst und lächelte fast nie: in ihren Zügen und in ihren Augen lag soviel Güte, und soviel Bereitwilligkeit, Sie mit dem Besten zu bewirten, was sie besaß, daß Sie ein Lächeln auf diesen guten Zügen sicher als süßlich empfunden hätten. Die feinen Runzeln auf ihren Gesichtern hatten etwas so Angenehmes und Liebenswürdiges, daß ein Maler sie sich sicher gemerkt und bei Gelegenheit verwertet hätte. Es schien als konnte man die ganze Geschichte ihres Lebens von ihnen ablesen: dieses lauteren, ruhigen Lebens, wie es die alten bodenständigen, braven und wohlhabenden Familien führen, die so sehr von jenen gewöhnlichen Kleinrussen abstechen, welche aus den Kreisen von Teerbrennern und Krämern hervorgehen. Diese erfüllen alle Staatsbehörden und Kanzleien wie die Heuschrecken, ziehen ihren eigenen Landsleuten die letzten Groschen aus der Tasche, überschwemmen Petersburg mit ihrem Klatsch, erwerben sich endlich ein Vermögen und hängen dann ihrem Familiennamen, der immer auf o endet, breitspurig noch ein w an. Nein, unsere alten Leute hatten keine Ähnlichkeit mit diesen verächtlichen, traurigen Geschöpfen, ebensowenig wie die wurzelechten kleinrussischen Familien. Man konnte nicht gleichgültig bleiben, wenn man sah, wie innig sie einander liebten; obwohl sie sich nicht duzten sondern sich stets mit Sie anredeten: Sie, Afanassji Iwanowitsch! Sie! Pulcheria Iwanowna!

„Afanassji Iwanowitsch, haben Sie den Stuhl durchgesessen?“

„Jawohl, Pulcheria Iwanowna, seien Sie mir deshalb nicht böse!“

Sie hatten nie Kinder gehabt, und daher konzentrierte sich all ihre Liebe aufeinander. Früher einmal, in seiner Jugend, hatte Afanassji Iwanowitsch gedient, und hatte es sogar bis zum Sekonde-Major gebracht – aber das war schon lange her und längst vorbei – Afanassji Iwanowitsch dachte selbst fast nie mehr an diese Zeit. Mit dreißig Jahren hatte er geheiratet; er war damals ein forscher Kerl, trug ein gesticktes Kamisol; und hatte es sogar sehr gescheit angefangen, Pulcheria Iwanowna zu entführen, deren Verwandte gegen die Heirat waren, aber auch dies schien seinem Gedächtnis entschwunden zu sein, jedenfalls sprach er nie davon. All diese längst vergangenen und außerordentlichen Ereignisse waren verdrängt durch das ruhige, einsame Leben, und verwischt durch jene einschläfernden und doch wieder harmonischen Träumereien, die Sie überfallen, wenn Sie auf der Veranda sitzen und in den Garten schauen, wo ein herrlicher Regen niedergeht; klatschend fällt er auf das Laub der Bäume nieder, läuft in rieselnden Bächlein ab und träufelt einen süßen Schlummer in Ihre Glieder: unterdessen aber steigt langsam ein Regenbogen hinter den Bäumen auf und leuchtet wie ein halbzerstörtes Tor in seinen blassen sieben Farben am Himmel auf, … oder wenn Sie sanft hin- und hergewiegt in Ihrem Wagen zwischen grünen Sträuchern hindurchfahren, wenn die Steppenwachtel schlägt, und duftendes Gras, Kornähren und Feldblumen durch die Türen Ihres Wagens dringen und Ihnen liebkosend Gesicht und Hände streicheln.

Er hörte seinen Gästen, die zu ihm zu Besuch kamen, immer freundlich lächelnd zu; manchmal sagte er auch selbst wohl ein Wort, aber größtenteils fragte er sie bloß aus. Er gehörte nicht zu jenen Greisen, die allen Leuten durch ihr unaufhörliches Preisen der alten Zeit und durch das Schmähen des Neuen lästig fallen: im Gegenteil, er erkundigte sich stets nach allem und zeigte großes Interesse und lebhafte Teilnahme für Ihre Lebensverhältnisse, Ihre Erfolge und Mißerfolge – gewöhnlich interessieren sich ja alle guten alten Leute dafür, obwohl ihre Teilnahme uns an die Neugierde eines Kindes erinnert, das mit Ihnen spricht und dabei eingehend das Zifferblatt Ihrer Uhr mustert. Man kann wohl sagen, daß sein Gesicht in solchen Augenblicken vor Güte strahlte.

Die Zimmer des Häuschens, in dem unsere Alten lebten, waren klein und niedrig, wie wir sie gewöhnlich bei Leuten aus der guten alten Zeit antreffen. Jede Stube war mit einem riesigen Ofen versehen, der fast den dritten Teil des Raumes einnahm. In diesen Zimmern war es immer furchtbar warm, weil Afanassji Iwanowitsch und Pulcheria Iwanowna beide die Wärme sehr liebten. Das gesamte Heizmaterial war im Flur aufgestapelt, der fast bis zur Decke mit Stroh angefüllt war, welches in Kleinrußland gewöhnlich statt des Holzes verwendet wird. Das Knistern und die Farbe des brennenden Strohs geben dem Flur an den Winterabenden etwas besonders Anziehendes, wenn die ausgelassene Jugend, die wohl draußen einer braunen Schönen nachjagte, plötzlich ganz erfroren hereinstürmt und sich lachend die Hände wärmt. Die Zimmerwände waren mit Bildern und Bildchen in alten, schmalen Rahmen geschmückt: ich bin überzeugt, daß die Sujets dieser Bilder selbst von den Wirten längst vergessen waren, und wenn man ein paar davon entfernt hätte, wäre es den Alten sicherlich nicht aufgefallen. Zwei dieser Bilder waren größer und in Öl gemalt: das eine stellte einen Bischof dar, das andre Peter III. Aus einem schmalen Rahmen blickte das ganz von Fliegen beschmutzte Gesicht der Herzogin von La Vallière hervor. Um die Fensterrahmen herum und über den Türen hing eine Menge kleinerer Bilder, die man unwillkürlich für Flecke an der Wand hält und daher nicht näher betrachtet. Der Fußboden bestand fast in allen Zimmern aus Lehm; aber er war so schön gepflegt und so sauber gehalten, wie kaum ein Parkett in einem vornehmen Hause, welches von faulen, schläfrigen Livreedienern gefegt wird.

Pulcheria Iwanownas Zimmer war ganz mit Kisten und Kasten, Kistchen und Kästchen verstellt. An den Wänden hingen unzählige Bündelchen und Säckchen mit Blumen-, Gemüse- und Wassermelonensamen. In den Ecken standen mehrere Koffer; in diesen und zwischen diesen wurden viele Knäule buntfarbiger Wolle, sowie Stoffreste von altmodischen Kleidern, die vor einem halben Jahrhundert genäht waren, aufbewahrt. Pulcheria Iwanowna war eine sorgsame Hausfrau und hob alles auf, obschon sie selbst nicht wußte, warum.

Aber das allerbemerkenswerteste im Hause waren die singenden Türen. Sobald der Morgen graute, hörte man den Gesang der Türen durchs ganze Haus erschallen. Ich weiß nicht, warum sie eigentlich sangen. Vielleicht waren die verrosteten Angeln schuld daran, vielleicht aber hatte auch der Mechaniker, der sie gebaut, ein Geheimnis in sie hineingelegt. Was jedoch am meisten auffiel war dies, daß jede Tür ihre eigene Stimme hatte. Die Schlafzimmertür sang im höchsten Sopran, die des Speisezimmers krächzte im Baß, dafür gab die Flurtür einen ganz seltsamen, dröhnenden und ächzenden Laut von sich, so daß man bei längerem Hinhören deutlich die Worte „Väterchen, mich friert!“ zu vernehmen glaubte. Ich weiß wohl, daß vielen dieses Geräusch nicht gefällt, aber ich liebe es sehr, und wenn ich es zufällig höre, steigt sofort das Dorf vor meinem Geiste auf: das niedrige, nur schwach vom Licht altmodischer Leuchter erhellte Zimmerchen, der Tisch mit dem Abendessen, die dunkle Mainacht, die durch das geöffnete Fenster über den gedeckten Tisch fällt, die Nachtigall, welche Garten und Haus und den Fluß in der Ferne mit ihrem Gesang erfüllt, das Raunen und Flüstern der Zweige … Herrgott, welch eine unabsehbare Kette von Erinnerungen zieht dann an mir vorüber!

Die hölzernen Stühle im Zimmer waren, wie das in der alten Zeit üblich war, alle massiv; sie hatten hohe, geschnitzte Lehnen, in der Naturfarbe, ohne Lack und Anstrich; ja sie waren nicht einmal mit Stoff bezogen und erinnerten einigermaßen an die Stühle, auf welchen auch in unserer Zeit noch die Bischöfe zu sitzen pflegen. In den Ecken standen dreieckige und vor dem Sopha und dem Spiegel mit dem schmalen, goldenen Rahmen – dessen geschnitzte Blätter die Fliegen mit schwarzen Punkten übersät hatten – viereckige Tische; vor dem Sopha war ein Teppich mit Vögeln, die wie Blumen, und mit Blumen, die wie Vögel aussahen, ausgebreitet; das war so ziemlich die gesamte Ausstattung des anspruchslosen Häuschens, in dem unsere alten Leutchen lebten.

Das Mädchenzimmer war von jungen und alten Mädchen in gestreiften Leinwandröcken erfüllt; dann und wann gab Pulcheria Iwanowna ihnen etwas zu nähen, oder sie ließ sie Beeren aussuchen, gewöhnlich aber liefen sie in der Küche umher, oder sie schliefen. Pulcheria Iwanowna hielt es für nötig, sie im Hause zu halten und wachte streng über ihr Betragen; aber zu ihrem großen Erstaunen verging kaum ein Monat, ohne daß der Umfang des einen oder des andern Mädchens in ganz ungewöhnlicher Weise zunahm. Dies war um so merkwürdiger, als es im ganzen Hause keinen Junggesellen gab, ausgenommen den Zimmerburschen, der barfuß, in einem kurzen grauen Frack umherlief und entweder aß, oder wenn er nicht damit beschäftigt war, ganz sicher schlief. Pulcheria Iwanowna schalt die Schuldige gewöhnlich aus und bestrafte sie streng, um in Zukunft einem Wiederholungsfall vorzubeugen. An den Scheiben der Fenster summten unzählige Fliegen, übertönt von dem tiefen Baß einer Hummel, der mitunter noch von dem grellen Summen der Wespen unterstützt wurde; sobald man jedoch ein Licht hineintrug, suchte die ganze Gesellschaft ihr Nachtlager auf, und eine schwarze Wolke bedeckte die ganze Zimmerdecke.

Afanassji Iwanowitsch kümmerte sich sehr wenig um die Wirtschaft, obgleich er manchmal zu den Mähern und Schnittern hinausfuhr und dann ohne Unterlaß zusehen konnte, wie sie arbeiteten; die ganze Last der Verwaltung lag auf den Schultern Pulcheria Iwanownas. Die wirtschaftliche Leitung Pulcheria Iwanownas bestand in einem unablässigen Öffnen und Schließen der Vorratskammern und im Salzen, Trocknen und Einkochen einer unzähligen Menge von Früchten und Gemüsen. Ihr Reich sah auf ein Haar einem chemischen Laboratorium ähnlich. Unter dem Apfelbaum flackerte beständig ein Feuer und der Kessel oder das Kupferbecken standen fast immer auf dem eisernen Dreifuß: dort kochte sie ihr Eingemachtes, ihre Gelées und Marmeladen aus Honig, Zucker und weiß Gott woraus sonst noch. Unter dem andern Baum vor einem kupfernen Kessel stand der Kutscher, der beständig Spiritus auf Pfirsichblätter – Faulbaumblüten – Tausendgüldenkraut – Kirschkerne usw. destillierte. Am Schluß dieses Verfahrens war er natürlich nie imstande ein vernünftiges Wort zu reden, sprach einen solchen Unsinn zusammen, daß Pulcheria Iwanowna nichts verstehen konnte, und ging endlich in die Küche, um sich schlafen zu legen. Von all diesem unnützen Zeug wurde so unendlich viel gekocht, getrocknet, eingesalzen usw., daß es wahrscheinlich den ganzen Hof überschwemmt hätte (Pulcheria Iwanowna liebte es, sich über ihren Bedarf hinaus noch einen Reservevorrat anzulegen; wenn nur nicht die größere Hälfte all dieser schönen Dinge von den Dienstmädchen verzehrt worden wäre. Sie schlichen sich in die Vorratskammern und aßen sich dort so voll, daß sie danach den ganzen Tag lang stöhnten und über Leibweh klagten.)

In den Ackerbau und die andern wirtschaftlichen Ressorts hatte Pulcheria Iwanowna nur einen geringen Einblick. Der Verwalter und der Dorfälteste bestahlen sie gemeinsam ganz unbarmherzig. Diese beiden hatten die Gewohnheit angenommen, im herrschaftlichen Walde ganz wie in ihrem eigenen zu schalten: sie ließen eine Menge von Schlitten herstellen und verkauften sie dann auf dem nächsten Markte; außerdem verkauften sie den benachbarten Kosaken, welche Balken für ihre Mühlen brauchten, die dicken Eichenstämme. Einmal wollte Pulcheria Iwanowna ihren Wald inspizieren. Es wurde auch eine Kutsche mit einer riesigen Schutzdecke angespannt, als jedoch der Kutscher die Leinen anzog und die Pferde, die noch in der Miliz gedient hatten, davontrabten, da erfüllte die Kutsche die Luft mit ganz merkwürdigen Tönen, sodaß man plötzlich Flöten, Schellen und Trommeln zu hören glaubte: jeder Nagel, jede eiserne Klammer stöhnte so laut, daß man es sogar bei den über zwei Werst entfernten Mühlen hören konnte, wie die Herrschaften ausfuhren. Die furchtbare Verwüstung im Walde konnte Pulcheria Iwanowna natürlich nicht entgehen: sie sah daß viele Eichen fehlten, die ihr schon in ihrer Jugend als hundertjährige Bäume bekannt gewesen waren. Sie wandte sich daher an den anwesenden Verwalter, und fragte: „Nitschipor, wie kommt es, daß so wenig Eichen da sind? Paß mal auf, daß dir die Haare auf deinem Kopf nicht ausgehen!“

„Warum?“ antwortete der Verwalter wie gewöhnlich, „sie sind verschwunden, glatt verschwunden. Der Blitz hat sie getroffen, die Würmer haben sie gefressen – sie sind verschwunden, gnädige Frau, – ganz verschwunden.“

Pulcheria Iwanowna begnügte sich vollkommen mit dieser Antwort. Als sie jedoch nach Hause kam, befahl sie, die Zahl der Wächter bei den spanischen Kirschen und bei den großen Winterbirnen zu verdoppeln.

Diese würdigen Herren, der Verwalter und der Dorfälteste, hielten es auch für ganz überflüssig, dem herrschaftlichen Speicher alles Mehl zukommen zu lassen, und meinten, daß die Herrschaft schon an der Hälfte genug hätte: zu guter Letzt bestand diese Hälfte gar nur aus allerhand verschimmelten und feuchten Resten, die auf den Märkten nicht verkauft worden waren. Gewiß stahlen der Verwalter und Dorfälteste außerordentlich viel, und das Gesinde, von der Wirtschafterin abwärts bis hinab zu den Schweinen, vertilgten eine schreckliche Menge von Äpfeln und Pflaumen – diese Tiere stießen nämlich mit ihren Rüsseln oft gegen die Bäume, um sich einen ganzen Fruchtregen herabzuschütteln – gewiß pickten die Sperlinge und Krähen sehr viel an – gewiß beschenkten die Knechte und Mägde ihren Verwandten in den andern Dörfern auf das reichlichste (sie holten sogar ganze Stücke Leinwand und alter Hausgewebe aus dem Speicher). Auch fand außerordentlich viel den Weg ins allgemeine Reservoir d. h. zum Gastwirt, und auch die Gäste, die phlegmatischen Kutscher und Diener mochten nicht wenig wegstehlen: jedoch die fruchtbare Erde brachte alles in solcher Überfülle hervor, und Afanassji Iwanowitsch und Pulcheria Iwanowna hatten so wenig Bedürfnisse, daß diese verheerenden Räubereien in der Wirtschaft vollkommen unbemerkt blieben.

Unsere beiden alten Leutchen liebten vor allen nach Art der Gutsbesitzer aus der alten Zeit auch sehr – zu essen. Kaum brach die Morgenröte an, (sie standen immer sehr zeitig auf), und kaum begannen die Türen ihr vielstimmiges Konzert, – da saßen die beiden auch schon bei Tisch und tranken Kaffee. Nach dem Kaffee ging Afanassji Iwanowitsch gewöhnlich in den Flur, schwenkte sein Taschentuch und rief: „Ksch, Ksch! Marsch! fort von der Treppe ihr Gänse!“ Im Hofe traf er meist den Verwalter und ließ sich gewohnheitsmäßig mit ihm in ein Gespräch ein, ließ sich mit der größten Ausführlichkeit von allen Arbeiten erzählen und gab dann Anweisungen und Befehle, die jeden durch die gediegene Wirtschaftskenntnis, von der sie zeugten, in Staunen gesetzt hätten; ein Neuling hätte es sich sicher nicht träumen lassen, daß man einem so aufmerksamen Hausherrn etwas stehlen könne. Aber der Verwalter war ein geriebener Herr: er wußte, welche Antworten er geben mußte, noch besser aber verstand er sich auf das Wirtschaften.

Dann ging Afanassji Iwanowitsch ins Haus zu Pulcheria Iwanowna zurück und fragte: „Pulcheria Iwanowna, wie denken Sie, wäre es nicht Zeit, einen kleinen Imbiß nehmen?“

„Was könnte man jetzt wohl essen, Afanassji Iwanowitsch? Vielleicht ein paar in Schmalz gesottene Pfannkuchen? Oder kleine Mohnkuchen? Oder ein paar gesalzene Pilze?“

„Meinetwegen – Pilze oder auch Mohnkuchen,“ antwortete Afanassji Iwanowitsch, und plötzlich deckte sich der Tisch mit einem Tischtuch, Pilzen und Mohnkuchen.

Eine Stunde vor dem Mittagessen nahm Afanassji Iwanowitsch wieder einen Imbiß, trank aus einem alten silbernen Becherchen einen Schnaps und aß ein paar Pilze, getrocknete Fischchen und dergleichen. Um zwölf Uhr setzte man sich zu Tisch. Außer den verschiedenen Schüsseln und Saucièren standen auf dem Tisch noch zahlreiche Töpfchen, die sorgfältig zugedeckt und verklebt waren, damit die zahlreichen angenehmen Erzeugnisse der alten, wohlschmeckenden Küche nicht ihr Aroma verlören. Beim Mittagstisch drehte sich die Unterhaltung gewöhnlich um Gegenstände, die eng mit der Mahlzeit verknüpft waren.

„Mir scheint,“ sagte zum Beispiel Afanassji Iwanowitsch, „daß diese Grütze etwas angebrannt ist. Meinen Sie nicht auch, Pulcheria Iwanowna?“

„Nein, Afanassji Iwanowitsch, nehmen Sie nur etwas mehr Butter, so wird sie nicht mehr angebrannt schmecken, oder hier, gießen Sie etwas Pilzsauce darüber – “

„Hm! vielleicht haben Sie recht,“ sagte Afanassji Iwanowitsch und reichte seinen Teller hin. „Ich will es mal versuchen.“

Nach dem Mittag legte sich Afanassji Iwanowitsch auf ein Stündchen nieder. Hierauf brachte ihm Pulcheria Iwanowna eine angeschnittene Wassermelone und sagte: „Afanassji Iwanowitsch, versuchen Sie einmal, sehen Sie nur, was das für eine schöne Melone ist.“

„Lassen Sie sich nicht dadurch täuschen, daß sie in der Mitte so schön rot ist, Pulcheria Iwanowna,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, indem er sich eine gute Portion vorlegte, „es kommt vor, daß Melonen rot und doch schlecht sind!“

Die Melone wurde sofort verzehrt. Hierauf aß Afanassji Iwanowitsch noch einige Birnen und machte mit Pulcheria Iwanowna einen Spaziergang durch den Garten. Wenn sie wieder nach Hause kamen, besorgte Pulcheria Iwanowna ihre Geschäfte und er setzte sich vor die Tür und sah zu, wie der Speicher dem Beschauer bald sein Innerstes preisgab, bald wieder verbarg, und wie die Dienstmädchen sich unaufhörlich stoßend und drängend, allerhand Kram in Holzkisten, Sieben, Mulden und sonstigen Obstbehältern hin- und hertrugen. Nach einer Weile schickte er nach Pulcheria Iwanowna, oder er ging selbst zu ihr hin und sagte: „Was sollte ich jetzt wohl essen, Pulcheria Iwanowna?“

„Ja, was könnte man wohl essen …!“ meinte Pulcheria Iwanowna, „soll ich Ihnen vielleicht Quarkkuchen mit Beerenfüllung bringen lassen, die ich eigens für Sie aufbewahren ließ?“

„Ja, das wäre ausgezeichnet,“ sagte Afanassji Iwanowitsch.

„Oder vielleicht wollen Sie etwas rote Grütze essen?“

„Auch das läßt sich hören,“ antwortete Afanassji Iwanowitsch, und gleich darauf wurde all dieses hereingebracht und, wie zu erwarten war, mit Appetit verzehrt.

Vor dem Abendbrot versorgte sich Afanassji Iwanowitsch noch mit diesem oder jenem. Um ½10 Uhr setzte man sich zum Abendbrot. Darauf ging man sofort schlafen, und eine allgemeine Stille senkte sich auf diesen tätigen und doch ruhevollen Erdenwinkel herab.

Das Schlafzimmer Afanassji Iwanowitschs und Pulcheria Iwanownas war so warm, daß ein anderer kaum einige Stunden in ihm hätte zubringen können; aber Afanassji Iwanowitsch schlief noch eigens auf der Ofenbank, um es wärmer zu haben, obgleich die Hitze ihn des Nachts einige Male zwang, aufzustehen und im Zimmer auf und ab zu laufen. Hin und wieder stöhnte er leise im Gehen.

Gewöhnlich fragte dann Pulcheria Iwanowna: „Warum stöhnen Sie so, Afanassji Iwanowitsch?“

„Weiß Gott, Pulcheria Iwanowna,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, „ich habe wohl ein wenig Leibdrücken!“

„Sollten Sie nicht vielleicht etwas zu sich nehmen, Afanassji Iwanowitsch?“

„Ich weiß nicht, Pulcheria Iwanowna; wird mir das auch bekommen? Übrigens, was könnte ich denn essen?“

„Nun, etwas saure Milch oder ein paar geschmorte Birnen?“

„Ja, so etwas – das wäre noch das Einzige,“ murmelte Afanassji Iwanowitsch; die schläfrige Magd mußte alle Schränke durchsuchen, und Afanassji Iwanowitsch aß einen Teller Milch oder Birnen, wonach er gewöhnlich erklärte: „Mir scheint, es ist mir schon wieder besser.“

Mitunter, wenn es schon heller war und eine angenehme Wärme im Zimmer herrschte, wurde Afanassji Iwanowitsch ganz munter; dann liebte er es wohl, ein wenig mit Pulcheria Iwanowna zu scherzen.

„Was würden wir machen, Pulcheria Iwanowna, wenn plötzlich Feuer im Hause ausbräche? Wohin würden wir uns flüchten?“ fragte er.

„Gott behüte uns davor!“ sagte Pulcheria Iwanowna und schlug ein Kreuz.

„Gewiß – aber nehmen wir einmal an, unser Haus würde niederbrennen? Wohin würden wir dann ziehen?“

„Gott weiß, was Sie da schwatzen, Afanassji Iwanowitsch! Wie kann denn unser Haus abbrennen! Das wird Gott nie zulassen!“

„Hm – und wenn es doch abbrennt?“

„Nun dann werden wir in die Küche übersiedeln. Sie müßten dann für einige Zeit in dem Zimmer wohnen, wo jetzt die Wirtschafterin haust.“

„Und wenn die Küche mit abbrennt?“

„Auch das noch! Das würde Gott nie zulassen, daß Haus und Küche so plötzlich niederbrennen. Dann müßten wir ja in den Speicher ziehen, bis das neue Haus fertig ist.“

„Hm – wenn nun aber auch der Speicher mit abbrennt?“

„Herrgott, was Sie nur reden! Ich will nichts davon hören, es ist eine Sünde, so zu sprechen. Gott straft einen für solche Reden!“

Aber Afanassji Iwanowitsch saß zufrieden lächelnd auf seinem Stuhl und freute sich, daß er Pulcheria Iwanowna ein wenig geneckt hatte.

Am allerinteressantesten erschienen mir jedoch die alten Leutchen, wenn sie Besuch hatten. Dann nahm in ihrem Hause alles einen andern Anstrich an. Man kann wohl sagen, diese prächtigen Menschen lebten ganz für ihre Gäste. Das Beste, was sie hatten, wurde herausgesucht, und sie wetteiferten miteinander, dem Gast die schönsten Erzeugnisse der ganzen Wirtschaft vorzusetzen. Und was dabei das Angenehmste war: in all ihrer Liebenswürdigkeit lag auch nicht eine Spur von Aufdringlichkeit. Die Treuherzigkeit, Gefälligkeit und Güte leuchtete ihnen aus den Augen und stand ihnen so gut, daß man unwillkürlich ihren Einladungen Folge leistete. Diese Güte und Freundlichkeit quoll aus der schlichten Einfalt ihrer braven und ehrlichen Seelen, und ihre Liebenswürdigkeit hatte nichts mit der eines Staatsbeamten gemein, der es mit Ihrer Hilfe zu etwas gebracht hat, Sie seinen Wohltäter nennt und vor Ihnen kriecht. Der Gast durfte nie am selben Tag wieder gehn: er mußte durchaus bei den Alten übernachten.

„Wie kann man bloß zu so später Stunde noch einen so weiten Weg antreten?“ pflegte Pulcheria Iwanowna zu sagen. (Gewöhnlich wohnte der Gast drei oder vier Werst weit von ihnen.)

„Natürlich,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, „wer weiß, was einem alles passieren kann: es gibt doch Räuber und andres Gesindel, die einen überfallen können!“

„Gott möge Sie vor Räubern bewahren,“ sagte Pulcheria Iwanowna, „warum sprichst du zur Nacht von solchen Dingen. Ich sage es nicht der Räuber wegen, – man sollte überhaupt nicht in solch einer Dunkelheit fahren! Ja, und Ihr Kutscher – ich kenne doch Ihren Kutscher, er ist so ein dürftiger, kleiner Kerl, den wirft jede Stute um – und dann ist er jetzt sicherlich schon betrunken und schläft irgendwo.“

Und dem Gast blieb nichts anderes übrig: er mußte bleiben. Übrigens waren der Abend in dem niedrigen, warmen Zimmer, die treuherzige, erwärmende und zugleich einschläfernde Unterhaltung, und der Geruch, der von den nahrhaften und meisterhaft zubereiteten Gerichten, die den Tisch besetzten, aufstieg, eine entsprechende Belohnung. Ich sehe Afanassji Iwanowitsch noch ganz deutlich vor mir, wie er gebeugt im Lehnstuhl sitzt und dem Gaste voller Aufmerksamkeit, ja mit Entzücken zuhört. Zuweilen war auch von Politik die Rede. Der Gast, der meist auch nur selten aus dem Dorf herauskam, teilte dann wohl mit wichtiger und geheimnisvoller Miene seine Vermutungen mit und erzählte, daß die Franzosen sich heimlich mit den Engländern verbündet hätten, um Bonaparte wieder einmal auf Rußland loszulassen; oder er erzählte einfach von dem bevorstehenden Kriege. Dann pflegte Afanassji Iwanowitsch wohl zu antworten, indem er Pulcheria Iwanowna scheinbar gar nicht beachtete:

„Ich denke auch daran, in den Krieg zu gehen – : warum sollte ich auch nicht in den Krieg gehen?“

„Was er da wieder redet – das fehlt gerade noch,“ unterbrach ihn Pulcheria Iwanowna. „Glauben Sie ihm nicht,“ wandte sie sich an den Gast, „wie kann er in seinem Alter noch in den Krieg ziehen – der erste beste Soldat schießt ihn ja gleich tot; bei Gott, er schießt ihn tot. Ja, er wird auf ihn anlegen, zielen und ihn niederschießen.“

„Nun und was ist dabei?“ erwiderte Afanassji Iwanowitsch, „ich werde ihn auch niederschießen!“

„Hören Sie nur, was er wieder spricht,“ fiel ihm Pulcheria Iwanowna ins Wort, „wie kann er denn in den Krieg gehen! Seine Pistolen sind ja längst verrostet und liegen schon lange in der Rumpelkammer. Sie sollten sie nur ansehen: das sind ganz gräßliche Dinger, bevor man abdrückt, sprengt einem das Pulver das ganze Zeug auseinander. Er wird sich die Hände verstümmeln, und das Gesicht verunstalten, er wird sich noch für ewige Zeiten unglücklich machen!“

„Und wenn schon,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, „ich werde mir eben ein neues Gewehr kaufen – und mir einen Säbel und einen Kosakenspieß anlegen.“

„Dummheiten, Dummheiten! Plötzlich fällt ihm etwas ein, und dann geht es los!“ sagte Pulcheria Iwanowna ganz ärgerlich. „Ich weiß ja, daß er spaßt, aber es ist doch unangenehm, so etwas anhören zu müssen. Sehen Sie, so spricht er immer, mitunter wird einem ganz bange, wenn man ihn so reden hört.“

Aber Afanassji Iwanowitsch saß höchst befriedigt darüber, daß er Pulcheria Iwanowna etwas geängstigt hatte, ganz zusammengebeugt in seinem Stuhl und lachte vergnügt.

Pulcheria Iwanowna war immer am interessantesten für mich, wenn sie einen Gast zu Tische führte. „Dies hier“, – sagte sie, indem sie den Verschluß einer Karaffe entfernte, „ist ein Schnaps, der auf Holz oder Salbei abgesetzt ist, der ist besonders gut gegen Schmerzen im Schulterblatt oder im Kreuz – oder der hier ist aus Tausendgüldenkraut und sehr nützlich gegen Ohrensausen und Flechten im Gesicht; und der da ist aus Pfirsichkernen destilliert, nehmen Sie doch ein Gläschen – ein herrlicher Duft nicht wahr? Wenn man beim Aufstehen zufällig gegen eine Tisch- oder Schrankecke stößt und sich eine Beule auf der Stirn holt, dann hat man nur nötig, vor dem Mittag-Essen ein Gläschen davon zu nehmen – und die Beule ist wie weggeblasen; in einer Minute ist alles spurlos verschwunden.“ Hierauf folgte eine Lobrede auf die übrigen Karaffen, und fast alle hatten irgend eine heilkräftige Wirkung. Wenn sie den Gast in diese vollständige Apotheke eingeführt hatte, so geleitete sie ihn vor eine ganze Sammlung von Tellern. „Das hier sind Pilze mit Pfefferkraut, und da das mit Nelken und Walnüssen. Eine Türkin hat mich gelehrt, sie einzusalzen – das war damals, als noch die Türken bei uns in der Gefangenschaft lebten. Eine so brave Türkin, man merkte es ihr garnicht an, daß sie Mohammed anbetete; sie betrug sich ganz unauffällig, ganz wie unsereiner und wollte nur kein Schweinefleisch essen: „unser Gesetz verbietet uns das“, pflegte sie zu sagen. Diese Pilze da sind mit Johannisbeerblättern und Muskatnüssen angerichtet, und das da sind große Feldnelken, es ist das erste Mal daß ich es versuche, sie mit Essig aufzukochen, ich weiß nicht, ob sie gut schmecken werden. Der Priester Iwan hat mir das Geheimnis mitgeteilt: man muß vor allem einen kleinen Zuber mit Eichenblättern auslegen, dann Pfeffer und Salz darauf streuen und zuletzt die Blüten von Mauseöhrchen darüber legen: aber so, daß die Schwänzchen alle nach oben zu liegen kommen. – Dies hier sind Pastetchen, mit Käsefüllung – die dort mit Schmalz, und das sind Afanassji Iwanowitschs Lieblingspasteten mit Kraut und Buchweizengrütze.“

„Ja,“ fügte Afanassji Iwanowitsch hinzu, „ich liebe sie sehr, sie sind so weich und etwas säuerlich.“

Pulcheria Iwanowna war überhaupt immer in bester Laune, wenn sie Besuch hatte. Die brave Alte! Sie ging vollkommen in ihren Gästen auf. Ich besuchte sie sehr gern, obgleich ich mich jedesmal schrecklich überaß, wie alle ihre Gäste, was mir sehr schädlich war, aber ich freute mich doch immer wieder, zu ihnen zu fahren. Übrigens glaube ich, daß die Luft in Kleinrußland eine besondere, die Verdauung befördernde Eigenschaft haben muß: wenn es hier jemand einfiele, sich so zu überessen, so würde er zweifellos sehr bald auf dem Tisch statt auf dem Bette liegen.

Die guten alten Leutchen … Jedoch meine Erzählung nähert sich einem sehr traurigen Ereignis, das das Leben dieses friedlichen Winkels für immer veränderte. Dieses Ereignis wirkt um so überraschender, als es durch einen ganz belanglosen Vorfall verursacht wurde. Aber nach dem seltsamen Lauf der Welt haben kleine Ursachen noch immer große Wirkungen gezeitigt, und umgekehrt große Unternehmungen oft nur winzige Erfolge gehabt. Irgend ein Eroberer sammelt alle Kräfte seines Reichs und kämpft viele Jahre lang, seine Feldherrn zeichnen sich aus und werden berühmt, und die ganze Geschichte schließt mit der Eroberung eines Fleckchens Erde, auf welchem man kaum ein paar Kartoffeln pflanzen kann. Und umgekehrt, ein andermal geraten zwei Wurstfabrikanten aus zwei verschiedenen Städten wegen irgendeiner Bagatelle aneinander, der Streit zieht die Städte und alle Dörfer und Flecken mit hinein, und plötzlich ist das ganze Reich in Mitleidenschaft gezogen. Aber lassen wir diese Betrachtungen – sie gehören nicht hierher; ich liebe überhaupt keine Betrachtungen, die nur Betrachtungen bleiben.

Pulcheria Iwanowna besaß ein graues Kätzchen, welches fast immer zu einem Knäul zusammengeballt zu ihren Füßen lag. Manchmal streichelte Pulcheria Iwanowna es freundlich und kraute ihm mit den Fingern den Hals, den das verwöhnte Kätzchen so hoch als möglich emporstreckte. Man kann nicht gerade sagen, daß Pulcheria Iwanowna das Kätzchen besonders liebte, aber sie hatte sich daran gewöhnt, es immer bei sich zu haben. Afanassji Iwanowitsch neckte sie mitunter wegen ihrer Zuneigung zu dem Tierchen.

„Ich begreife nicht, was Sie an der Katze finden, Pulcheria Iwanowna, was für einen Nutzen hat sie? Wenn Sie noch einen Hund hätten, – das wäre ganz etwas anderes – einen Hund kann man mit auf die Jagd nehmen; aber was macht man mit einer Katze?“

„Schweigen Sie nur still, Afanassji Iwanowitsch. Sie wollen ja nur so reden, und weiter nichts. Ein Hund ist nicht reinlich, ein Hund macht viel Schmutz, und wirft alles um – aber eine Katze ist ein stilles Geschöpf, die wird niemandem etwas zuleide tun.“

Übrigens machte sich Afanassji Iwanowitsch weder aus Hunden noch Katzen etwas, er redete nur so, um Pulcheria Iwanowna wieder einmal zu necken.

Hinter dem Garten befand sich ein großer Wald, der von dem unternehmenden Verwalter bisher noch verschont geblieben war; vielleicht weil der Lärm des Fällens leicht bis zu den Ohren Pulcheria Iwanownas dringen konnte. Dieser Wald war sehr verwildert und verwahrlost; die alten Baumstämme waren mit wilden Haselnußsträuchern bewachsen und sahen wie befiederte Taubenfüße aus. In diesem Walde hausten auch wilde Waldkater. Diese wilden Waldkater darf man jedoch nicht mit jenen kühnen Helden verwechseln, die auf den Häuserdächern herumlaufen; sie sind in der Stadt trotz ihrer schlechten Manieren weit zivilisierter als im Walde. Die Waldkatzen sind dagegen ein finsteres und wildes Volk; sie sind immer elend und mager, und miauen mit einer groben, unartikulierten Stimme. Manchmal dringen sie durch unterirdische Gänge in die Speicher ein und stehlen Speck, oder sie springen durch das Küchenfenster, wenn sie merken, daß der Koch ins Feld gegangen ist. Überhaupt fehlt es ihnen an allen edleren Regungen, sie leben nur von Raub und würgen die jungen Sperlinge in den eigenen Nestern. Diese Kater hatten seit längerer Zeit ein Liebesverhältnis mit dem schüchternen Kätzchen Pulcheria Iwanownas angeknüpft, sie beschnüffelten es durch ein Loch im Speicher und lockten es endlich zu sich, so wie wohl ein Trupp Soldaten eine dumme Bauerndirne verführt. Pulcheria Iwanowna bemerkte bald das Verschwinden der Katze und schickte Leute aus, um sie zu suchen; aber die Katze konnte nicht aufgespürt werden. So vergingen drei Tage, Pulcheria Iwanowna bedauerte den Verlust der Katze, aber bald war sie ganz vergessen. Eines Tages, als Pulcheria Iwanowna eben ihren Gemüsegarten revidiert hatte und mit einer Menge eigenhändig gepflückter frischer Gurken für Afanassji Iwanowitsch zurückkehrte, vernahm sie zu ihrer Überraschung ein jämmerliches Miauen. Unwillkürlich lockte sie das Kätzchen, rief „Ksch, ksch“, und plötzlich kam eine graue, magere, elende Katze aus dem Steppengras hervorgekrochen, der man es deutlich ansah, daß sie schon einige Tage nichts zu fressen bekommen hatte. Pulcheria Iwanowna ließ nicht nach, sie zu rufen, aber die Katze blieb stehen, miaute und wagte es nicht, näher zu kommen; sie war augenscheinlich in der Zwischenzeit sehr verwildert. Pulcheria Iwanowna ging voraus und hörte nicht auf, die Katze zu locken, die ihr allmählich ängstlich bis zum Speicher nachschlich. Als die Katze jedoch die alten Plätze wiedererkannte, folgte sie ihrer Herrin bis ins Zimmer. Pulcheria Iwanowna befahl sogleich, ihr Milch und Fleisch zu bringen, setzte sich vor ihr nieder und freute sich über die Gier, mit der ihr Liebling ein Stück nach dem andern verschlang und die Milch ausleckte. Die graue Vagabundin wurde zusehends dicker und fraß schon nicht mehr so gierig. Pulcheria Iwanowna streckte die Hand aus, um sie zu streicheln, aber die Undankbare hatte sich offenbar schon zu sehr an die wilden Kater gewöhnt, oder sie hatte den Kopf voll romantischer Ideen und glaubte wohl, Armut und Liebe sei besser als ein Palast (und die Kater waren arm wie Kirchenmäuse), kurzum, sie sprang aus dem Fenster und keiner von den Knechten und Mägden vermochte sie einzufangen.

Die alte Frau wurde nachdenklich. „Der Tod ist zu mir gekommen,“ murmelte sie vor sich hin, und hinfort konnte sie nichts mehr zerstreuen.

Den ganzen Tag war sie traurig. Vergeblich scherzte Afanassji Iwanowitsch und wollte wissen, warum sie plötzlich so melancholisch geworden sei, Pulcheria Iwanowna schwieg, oder sie gab Antworten, die Afanassji Iwanowitsch unmöglich befriedigen konnten. Am nächsten Tage sah sie ganz verändert aus.

„Was fehlt Ihnen, Pulcheria Iwanowna? Am Ende sind Sie gar krank?“ „Nein, ich bin nicht krank, Afanassji Iwanowitsch! Ich muß Ihnen etwas sehr Merkwürdiges mitteilen. Ich weiß, daß ich diesen Sommer sterben werde: der Tod ist schon bei mir gewesen, um mich zu holen.“ Afanassji Iwanowitschs Mund verzog sich schmerzlich, aber er suchte das in seiner Seele aufsteigende traurige Gefühl zu überwinden und sagte lächelnd: „Gott weiß, was Sie reden, Pulcheria Iwanowna. Sie haben gewiß statt des üblichen Kräutertranks ein Gläschen Pfirsichschnaps getrunken!“

„Nein, Afanassji Iwanowitsch, ich habe keinen Pfirsichschnaps getrunken,“ antwortete Pulcheria Iwanowna.

Afanassji Iwanowitsch bereute, daß er Pulcheria Iwanowna geneckt hatte: er sah sie an, und eine Träne hing an seiner Wimper.

„Ich bitte Sie, Afanassji Iwanowitsch, erfüllen Sie meinen Wunsch,“ sagte Pulcheria Iwanowna, „und lassen Sie mich wenn ich sterbe, an der Kirchhofsmauer beerdigen. Ziehen Sie mir das graue Kleid an, wissen Sie – das mit den kleinen Blümchen auf dem braunen Saum. Ziehen Sie mir nicht das Atlaskleid mit dem himbeerroten Streifen an – Tote brauchen keine Kleider – was sollte ich auch damit? Aber Ihnen kann es noch von Nutzen sein, Sie können sich einen schönen Schlafrock daraus machen lassen: wenn Gäste kommen, können Sie sich doch sehen lassen, und sie würdig empfangen.“

„Gott weiß, was Sie da schwatzen, Pulcheria Iwanowna,“ sagte Afanassji, „wer kann denn wissen, wann er sterben wird, und Sie erschrecken mich jetzt mit solchen Worten.“

„Nein, Afanassji Iwanowitsch, ich weiß schon, wann ich sterben werde. Aber Sie dürfen nicht um mich trauern. Ich bin schon alt, wir werden uns bald im Jenseits wiedersehen.“

Aber Afanassji Iwanowitsch schluchzte wie ein Kind.

„Afanassji Iwanowitsch, es ist eine Sünde, so zu weinen. Versündigen Sie sich nicht an Gott, erzürnen Sie ihn nicht mit Ihrem Schmerz. Ich bedaure nicht, daß ich sterben soll, nur das eine tut mir leid (ein tiefer Seufzer unterbrach für einen Augenblick ihre Rede), es tut mir leid, daß ich nicht weiß, wem ich Sie anvertrauen soll. Wer wird für Sie sorgen, wenn ich sterbe? Sie sind ja wie ein kleines Kind – wer für Sie sorgen will, müßte Sie lieb haben!“ Und bei diesen Worten lag ein solch tiefes, herzinniges Mitleid in ihren Zügen, daß ich nicht weiß, ob ihr jemand in diesem Augenblick ohne Bedauern hätte in die Augen sehen können.

Hierauf wandte sie sich an die Wirtschafterin, die sie hatte rufen lassen, und sagte: „Paß mir auf, Jawdocha, und sorge für den Herrn, wenn ich sterbe, hüte ihn wie deinen Augapfel, und wie dein eigenes Kind. Achte darauf, daß man in der Küche stets seine Lieblingsgerichte kocht, und daß Du ihm immer reine Wäsche und reine Kleider gibst, achte darauf daß er anständig angezogen ist, wenn Gäste kommen: sonst kann es noch am Ende passieren, daß er im einen alten Schlafrock herauskommt, er vergißt doch jetzt schon manchmal, ob es Feiertag oder ein Wochentag ist. Laß ihn nicht aus den Augen, Jawdocha, ich werde in jener Welt für dich beten, und Gott wird dich belohnen. Vergiß nicht, Jawdocha, du bist schon alt, und hast auch nicht mehr lange zu leben, häufe keine Sünde auf deine Seele. Wenn du nicht auf den Herren acht gibst, so wirst du nie wieder glücklich werden auf dieser Erde, ich werde Gott selbst bitten, dir kein seliges Ende zu gewähren. Du selbst wirst unglücklich sein, deine Kinder werden unglücklich werden, und dein ganzes Geschlecht wird ohne Gottes Segen sein.“

Die arme Alte! In diesem Moment dachte sie nicht an den gewaltigen Augenblick, der ihrer harrte, nicht an ihre eigene Seele, noch an das zukünftige Leben – sie dachte nur an ihren armen Kameraden, mit dem sie ihr Leben geteilt und den sie nun verwaist und hilflos zurücklassen mußte. Mit der größten Geschäftigkeit und Eile richtete sie alles so ein, daß Afanassji Iwanowitsch nach ihrem Tode ihre Abwesenheit nicht merken sollte. Ihre Überzeugung von der Nähe ihres Todes war so stark, ihre Seele war so davon erfüllt, daß sie wirklich nach einigen Tagen bettlägerig wurde und keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen vermochte. Afanassji Iwanowitsch war die Aufmerksamkeit selbst, er wich keinen Augenblick von ihrem Bette. „Vielleicht sollten Sie doch etwas essen, Pulcheria Iwanowna,“ sagte er, und sah ihr ängstlich in die Augen. Aber Pulcheria Iwanowna sprach kein Wort. Endlich, nach langem Schweigen, schien es, als wollte sie etwas sagen, ihre Lippen bewegten sich, und – ihre Seele war entflohen.

Afanassji Iwanowitsch war aufs höchste betroffen. Das alles erschien ihm so unsinnig und schrecklich, daß er nicht einmal zu weinen vermochte. Trüben Auges blickte er auf die Tote, wie wenn er nicht verstünde, was dieser kalte Leichnam zu bedeuten hätte.

Man legte die Verstorbene auf den Tisch, zog ihr das Kleid an, welches sie sich selbst ausgesucht hatte, und gab ihr eine Wachskerze in die gefalteten Hände. Teilnahmslos sah er allem zu. Eine große Volksmenge aus den verschiedensten Ständen erfüllte den Hof; eine große Anzahl Gäste war zur Beerdigung gekommen; im Hofe wurden lange Tische gedeckt, Gebäck aus Reis und Rosinen (das russische Gericht, das bei keinem Totenmahl fehlen darf), Schnäpse und Kuchen standen in großen Massen umher, die Gäste weinten, betrachteten die Tote, unterhielten sich über ihren Charakter und sahen Afanassji Iwanowitsch an: er aber ging wie abwesend herum. Endlich trug man die Verstorbene hinaus, das Volk strömte hinterher, und auch er folgte mechanisch nach. Die Geistlichkeit erschien in vollem Ornat, die Sonne stand leuchtend am Himmel, die Säuglinge schrien auf den Armen ihrer Mütter, die Lerchen sangen, und eine Unzahl nur mit einem Hemde bekleideter Kinder lief durcheinander und tollte am Wege herum. Endlich stellte man den Sarg neben dem Grabe nieder, und bat ihn heranzutreten und die Verstorbene zum letztenmal zu küssen. Er trat hinzu und küßte sie, Tränen füllten seine Augen, aber es waren kalte, gefühllose Tränen. Der Sarg wurde hinabgelassen, der Priester ergriff als erster die Schaufel und warf eine Handvoll Erde hinunter: unter dem wolkenlosen Himmel stimmte der volle, langgezogene Chor des Vorsängers und zweier Kirchendiener das Lied vom ewigen Gedenken an. Die Totengräber ergriffen den Spaten, und bald füllte Erde das Grab und machte es dem Boden gleich. Da drängte Afanassji Iwanowitsch sich vor, und alle wichen zurück und machten ihm Platz, um zu sehen, was er tun würde. Er aber hob die Augen empor, blickte verstört um sich und sagte: „So also, ihr habt sie schon begraben! Warum …? …“ Er stockte und brachte den Satz nicht zu Ende. Aber als er nach Hause kam, und sah, daß sein Zimmer leer war, und daß sogar der Stuhl, auf dem Pulcheria Iwanowna zu sitzen pflegte, fehlte: da weinte er, da weinte er trostlos und bitterlich – und Tränenströme stürzten aus seinen trüben Augen.

Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Welches Leid stillt nicht die Zeit? Welche Leidenschaft hält stand im ungleichen Kampfe mit der Zeit? Ich kannte einen jungen blühenden Mann in voller Jugendkraft, erfüllt von Edelmut und herrlichen Gaben, ich kannte ihn damals, als er leidenschaftlich verliebt war: seine Liebe war zärtlich, glühend, wahnsinnig, brutal und schüchtern zugleich; und in meiner Gegenwart, fast vor meinen Augen, raffte der unersättliche Tod den Gegenstand seiner Liebe, – ein zartes, engelgleiches Mädchen dahin. Ich habe nie solch’ furchtbare Ausbrüche des Seelenschmerzes, eines wahnsinnigen, verzehrenden Jammers, und einer so brennenden Verzweiflung gesehen wie die, die den unglücklichen Liebenden durchrasten. Ich hätte nie gedacht, daß der Mensch selbst sich eine solche Hölle schaffen könnte, in der kein Schatten, kein Bild, – nichts vorhanden ist, was auch nur im entferntesten einer Hoffnung ähnlich sieht … Man gab sich Mühe, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Man versteckte alle Waffen, mit denen er sich vielleicht hätte ein Leid antun können. Nach zwei Wochen aber hatte er plötzlich die Herrschaft über sich selbst wiedergewonnen, er begann wieder zu lachen und zu scherzen; man gab ihm die Freiheit, und das erste, wozu er sie benutzte, war – sich einen Revolver zu kaufen. Eines Tages wurden seine Verwandten durch einen plötzlichen Schuß aufgeschreckt: sie liefen hinzu und fanden ihn mit zerschmettertem Schädel. Der schnell herbeigerufene Arzt, dessen Kunst damals in aller Munde war, fand noch einige Lebenszeichen bei ihm, auch war die Wunde nicht unbedingt tödlich; und zu aller Erstaunen wurde er wieder hergestellt. Die Aufsicht über ihn wurde noch verschärft, sogar bei Tisch legte man nie ein Messer in seine Nähe. Man versuchte alles von ihm fern zu halten, womit er sich hätte töten können. Aber nur zu bald fand er wieder eine Gelegenheit und warf sich unter die Räder eines Wagens. Arme und Beine wurden ihm zerquetscht: aber auch diesmal genas er wieder. Ein Jahr später sah ich ihn in einer großen Gesellschaft. Er saß auf einem Stuhl und sagte fröhlich: „petit ouvert“, indem er eine Karte verdeckte; und hinter ihm, auf die Stuhllehne gestützt, stand seine junge Frau und spielte mit seinen Marken.

Fünf Jahre waren seit dem Tode Pulcheria Iwanownas vergangen, als ich wieder in diese Gegend kam. Ich fuhr nach dem Gut Afanassji Iwanowitschs, um meinen alten Nachbar zu besuchen, bei dem ich so manchen frohen Tag verbracht und mir so oft an den schmackhaften Erzeugnissen der liebenswürdigen Hausfrau den Magen verdorben hatte. Als ich in den Hof einfuhr, erschien mir das Haus um zehn Jahre älter: die Bauernhütten hatten sich zur Seite geneigt und ihre Bewohner wahrscheinlich auch; Zaun und Flechtwerk im Hofe waren ganz zerstört, und ich sah selbst, wie die Köchin einen Pfahl herauszog, um den Ofen anzuheizen, obwohl sie nur zwei Schritte hätte machen brauchen, um das dort aufgeschichtete Reisig zu erreichen. Melancholisch fuhr ich bei der Treppe vor; dieselben schwarzen und braunen Hunde, die aber jetzt schon blind waren oder verkrüppelte Beine hatten, schlugen an und wedelten mit ihren zottigen Schwänzen, die voller Kletten waren. Der Alte kam mir entgegen. Ja das war er! Ich erkannte ihn sofort, aber er war doppelt so tief zusammengesunken wie früher. Er erkannte und begrüßte mich mit dem wohlbekannten Lächeln. Ich trat nach ihm ins Zimmer. Es schien, als sei hier noch alles unverändert, aber ich entdeckte überall eine schreckliche Unordnung, – überall machte sich ein empfindlicher Mangel von etwas bemerkbar – mit einem Wort, ich empfand jenes Gefühl, das uns beschleicht, wenn wir zum erstenmal die Wohnung eines Witwers betreten, den wir nie anders, als an der Seite seiner Lebensgefährtin gesehen haben, von der er sich nie trennte: Ein Gefühl, jenem gleich, das wir empfinden, wenn wir einen Menschen ohne Beine sehen, den wir nie anders als völlig gesund kannten. An allem merkte ich die Abwesenheit der sorgsamen Pulcheria Iwanowna; bei Tisch legte man ein Messer ohne Griff auf; die Speisen waren nicht mehr mit der gleichen Kunstfertigkeit zubereitet. Und nach der Wirtschaft wagte ich gar nicht erst zu fragen; ich fürchtete mich sogar, einen Blick in die Wirtschaftsräume zu werfen.

Als wir uns zu Tisch setzten, band das Mädchen Afanassji Iwanowitsch die Serviette vor; und es war gut, daß sie es tat, sonst hätte er seinen Schlafrock ganz mit Sauce begossen. Ich versuchte es, ihn ein wenig zu zerstreuen und erzählte ihm allerlei Neuigkeiten. Er hörte mir mit dem gleichen Lächeln zu, aber mitunter war sein Blick völlig abwesend; kein Gedanke leuchtete aus ihm hervor, und er war ganz leer. Häufig erhob er den Löffel mit dem Brei, aber statt ihn zum Munde zu führen, führte er ihn zur Nase; statt mit seiner Gabel ein Stück Hühnchen aufzuspießen, stieß er mit ihr gegen die Karaffe, und dann nahm das Mädchen seine Hand und führte sie zum Huhn. Manchmal mußten wir einige Minuten lang warten, bis das nächste Gericht aufgetragen wurde. Afanassji Iwanowitsch bemerkte es auch und sagte: „Warum bringt man uns denn so lange nichts zu essen?“ Aber ich sah durch den Spalt, daß der Junge, welcher uns bediente, garnicht darauf achtete, sondern den Kopf auf die Bank gelehnt, dalag und schlief.

„Diese Speise,“ sagte Afanassji Iwanowitsch, als man uns eine sogenannte Nonne mit saurer Sahne vorsetzte, „diese Speise,“ fuhr er fort, und ich spürte wie seine Stimme zu zittern begann und Tränen seine bleischweren Augen erfüllten, – aber er nahm alle Kraft zusammen, versuchte sich zu beherrschen – „diese Speise, welche die Ver – Ver – Verstorb …“ und plötzlich schluchzte er laut auf, die Hand sank auf den Teller, der Teller fiel zu Boden und zerbrach, und die Sauce ergoß sich über ihn. Er saß wie leblos da, steif hielt er den Löffel in der Hand, und Tränenbäche flossen, wie ein nie versiegender Quell in Strömen auf die vorgebundene Serviette.

Ich sah ihn an und dachte: „Mein Gott, fünf Jahre der alles verschlingenden Zeit – und nun ist er ein Greis, ein stumpfsinniger Greis, er, dessen Leben scheinbar nie durch eine starke Gemütsbewegung erschüttert worden war, dessen ganzes Leben darin bestand, auf einem hohen Stuhl zu sitzen, und getrocknete Fische oder Beeren zu verzehren, – oder harmlose Geschichten anzuhören: und nun dieser heiße, nie endende Gram! Was ist denn das Stärkere in uns: die Leidenschaft oder die Gewohnheit? Sind unsere heftigen Ausbrüche, ist der Sturm unserer Wünsche nur eine Folge der glühenden Jugend, und scheinen sie uns nur deshalb so schrecklich und verwirrend, weil wir jung sind?“ Wie dem auch sein mag, in jenem Augenblick schienen mir all unsere Leidenschaften so kindisch im Vergleich zu dieser allmählichen, fast unbewußten Gewöhnung. Wiederholt versuchte er den Namen der Verstorbenen auszusprechen: aber schon bei der ersten Hälfte des Wortes verzerrte sich sein sonst so ruhiges, indifferentes Gesicht, und sein kindliches Weinen drückte mir das Herz ab. Nein, das waren andere Tränen als die, die alte Leute so leicht bei der Hand haben, wenn sie uns von ihrer trüben Lage und ihrem Unglück vorjammern; das waren auch nicht jene Tränen, die sie so leicht bei einem Glas Punsch vergießen: nein das waren Tränen, die ungewünscht und ungerufen hervorströmten, gehäuft durch das schneidende Weh eines schon erkalteten Herzens.

Er lebte nicht mehr lange. Vor kurzem hörte ich, daß er gestorben sei. Und ist es nicht seltsam, daß die Art seines Todes eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Pulcheria Iwanownas hatte. Eines Tages sollte Afanassji Iwanowitsch ein wenig im Garten spazieren gehen. Als er langsam und gedankenlos in seiner gewöhnlichen Sorglosigkeit des Weges einherschritt, da ereignete sich ein merkwürdiger Zufall. Er vernahm plötzlich, wie jemand hinter ihm mit klarer Stimme seinen Namen rief: „Afanassji Iwanowitsch!“ Er drehte sich um, aber es war niemand da. Er spähte nach allen Seiten, blickte hinter die Büsche, – aber er konnte niemand entdecken. Der Tag war still, und die Sonne strahlte am Himmel. Einen Augenblick versank er in Nachdenken, dann belebten sich seine Züge, und endlich sagte er. „Das ist Pulcheria Iwanowna – sie ruft mich!“

Sicherlich hat schon so mancher Leser einmal eine Stimme gehört, die ihn beim Namen ruft; der Volksmund erklärt das so, daß eine Seele sich vor Sehnsucht nach einem Menschen verzehrt und ihn ruft: die Folge aber sei unbedingt der Tod. Ich muß gestehn, mir war solch ein geheimnisvolles Rufen immer unheimlich. Ich erinnere mich, es in meiner Kindheit recht oft gehört zu haben: manchmal sprach plötzlich hinter mir jemand meinen Namen aus. Gewöhnlich war es ein besonders klarer und sonniger Tag, im Garten regte sich kein Blatt an den Bäumen; überall herrschte eine beklemmende Stille, selbst die Grille verstummte um diese Tageszeit, und keine Menschenseele war im Garten. Und doch muß ich sagen: hätte mich die fürchterlichste, stürmischste Nacht mit der ganzen Hölle der entfesselten Natur im einsamen Urwalde überfallen: ich wäre nicht so erschrocken gewesen, wie bei dieser schauervollen Stille mitten an diesem wolkenlosen Tag! Gewöhnlich lief ich dann, halb wahnsinnig vor Schreck, atemlos aus dem Garten und beruhigte mich erst, wenn irgend ein Mensch mir entgegenkam, dessen Anblick die furchtbare Öde aus meinem Herzen verjagte. – Er gab sich ganz der Überzeugung hin, daß Pulcheria Iwanowna ihn gerufen habe. Er unterwarf sich wie ein Kind, magerte ab, hüstelte und schmolz dahin, wie eine Kerze und verlöschte endlich wie diese, wenn nichts mehr vorhanden ist, was ihre Flamme speist.

„Legt mich neben Pulcheria Iwanowna“ – das war alles, was er vor seinem Tode zu sagen vermochte.

Man erfüllte seinen Willen und beerdigte ihn neben der Kirche, ganz in der Nähe von Pulcheria Iwanownas Grab. Diesmal waren weniger Gäste zur Beerdigung erschienen, dafür aber zahlreiche arme Leute und Bettler. Das Herrenhaus wurde jetzt ganz leer. Der unternehmende Verwalter und der Dorfälteste trugen all die altertümlichen Gegenstände und alles Hausgerät, was die Wirtschafterin übrig gelassen hatte, mit sich fort.

Bald erschien, Gott weiß woher, irgend ein entfernter Verwandter, der Erbe des Gutes; er war ein großer Reformer, und hatte, ich weiß nicht mehr, in welchem Regiment als Leutnant gedient. Er bemerkte sofort die große Unordnung und Verwahrlosung in der Wirtschaft und beschloß dies alles mit Stumpf und Stil auszurotten, zu reformieren und eine neue Ordnung einzuführen. Er schaffte sich sechs prachtvolle englische Sicheln an, ließ an jeder Hütte eine Nummer befestigen und richtete alles so vortrefflich ein, daß das Landgut nach sechs Monaten unter Kuratel gestellt wurde. Die wohlweise Vormundschaft (welche aus einem ehemaligen Assessor und irgend einem Stabsoffizier in einer verblichenen Uniform bestand), vertilgte in kürzester Zeit alle Hühner und Eier. Die Hütten, welche schon fast auf der Erde lagen, stürzten jetzt völlig ein, die Bauern ergaben sich dem Trunk und machten sich zum größten Teil aus dem Staube. Der Besitzer, der im übrigen mit seinen Vormündern auf freundschaftlichem Fuße lebte und mit ihnen Punsch trank, kam nur höchst selten auf sein Gut und verweilte nie lange dort. Er fährt bis heute auf allen Jahrmärkten Kleinrußlands umher und erkundigte sich genau nach den Preisen für die Erzeugnisse: als da sind: Mehl, Hanf, Honig usw., die en gros verkauft werden, aber er selbst kauft nur Kleinigkeiten: wie Feuersteine, einen Nagel zum Reinigen der Pfeife und überhaupt alles, was im Gesamtpreis den Wert eines Rubels nicht übersteigt.

Sämmtliche Werke 4: Mirgorod

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