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Erster Stremel

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»Insonderheit aber bitten wir dich für die, die auf dem Wasser ihre Nahrung suchen. Segne, segne die Fischerei auf der See und im Fluß, behüte Mann und Schiff in allen Gefahren!«

Pastor Bodemann beugte den grauen Kopf tiefer als zuvor. Da hatte er laut und warm für seinen alten Kaiser gebetet, laut und warm, wie es ihm von Herzen kam, nicht leise und kalt wie sein Vorgänger, ein zäher Welfe, der nur der kirchlichen Vorschrift nachgekommen war: »Laß deine Gnade groß werden über deinem Knecht Wilhelm, unserem Kaiser und Herrn, und über dem ganzen kaiserlichen Haus.«

Die gefurchte Stirn berührte fast das schwarze Tuch, mit dem die Kanzel vom Sonntag Reminiszere bis zum stillen Freitag bedeckt war. Es schien, als wenn die Stimme ihm versagte und er aufhören müßte. Und er hielt überwältigt inne und ließ die große Stille kommen.

Totenstill wurde es in der Kirche auf Finkenwärder. Regungslos saß die Gemeinde. In die Augen kam eine Dunkelheit wie von aufsteigenden Tränen.

Denn die See nahm das Wort, die Nordsee, die Mordsee – mit ihren jagenden, zerrissenen Wolken, mit ihrem pfeifenden, brausenden Sturm, mit ihren haushohen, schäumenden, brüllenden Seen, mit Brand und Wetterleuchten, mit Dünung und Gewitter – mit geborstenen Segeln, gebrochenen Masten, blakenden Notfackeln, verlorenen Wracks und hilferufenden Fahrensleuten.

Und es war niemand da, der nicht ihre Stimme vernommen hätte.

Die hellhaarigen Jungen auf den Bänken neben dem Altar, die als große Schleefen zu den gegenübersitzenden Konfirmandinnen hinübergelacht und ihnen zugenickt hatten, besannen sich, legten beschämt die Hände zusammen und sahen vor sich hin, weil ihnen in der heiligen Stille die Väter und Brüder in den Sinn kamen, die draußen waren, und weil sie daran dachten, daß sie nach Ostern selbst in die Fischerei hineinkamen.

Auch bei den rotbackigen Mädchen wurde es still. Alle falteten rasch die Hände, und manches Kinderherz bebte – vergessen war, daß sie abends am Deich einzuhüten hatten und daß die Jungen dort vor den Fenstern trommelten und pfiffen, bis sie hineingelassen wurden und Blindekuh oder Sechsundsechzig mitspielen durften.

Gesine Külper, die schönste Deern der Hamburger Seite des Eilandes, um die die Junggäste einander Sonntag abends auf Musik bannig in die Wanten stiegen, weil keiner sie dem andern gönnte und jeder sie nach Hause bringen wollte, senkte die Wimpern und neigte den stolzen Kopf, nicht allein, weil sie wußte, daß es ihr gut stand, sondern auch um die Seefischerei, um alle Freundschaft, Bekanntschaft und Verwandtschaft, die unter Segeln war.

Auch Hein Loop betete mit, der Rotbart vom Auedeich, den sie den Seeteufel nannten, wenn er nicht dabei war, Hein Loop, einer der Verwegenen – der Verwogenen, wie sie an der Wasserkante sagen —, einer von denen, die nicht reffen und beidrehen mögen, die mit allen Lappen segeln und bei jedem Wind fischen, denen es ergeht wie dem jungen Lord von Edenhall:

Sie schlürfen gern in vollem Zug,

sie läuten gern mit lautem Schall.


Die mit dem Glück von Edenhall anstoßen und es wohl auch einmal versuchen. Die See schmecke ihm erst dann, wenn sie gar sei, und gar sei sie nach seiner Meinung erst, wenn sie koche, hatte Hein Loop einmal gesagt, und jeder, der ihn kannte, glaubte es ihm. Aber nun betete er, denn er wollte den andern Tag mit seinem Kutter nach See und konnte mooi Wind und mooi Fang gebrauchen.

Auch Jan Greun, Simon Fock und Hinnik Six, seine Macker, die nicht weit hinter ihm saßen, ließen das Kirchenwort in die unerschrockenen Seemannsherzen hinein, wenn sie in Gedanken auch ein kräftiges Sprüchlein achtern anhängten, das bei Jan hieß: Herr Pastur, de verdreihten Dänen ne vergeten! Bei Simon lautete es: Amen, Herr Pastur: ober dat Is müt irst innen Dut, ans kann ik ne rut! Und bei Hinnik besagte es: De Büt, Herr Pastur, de Büt, de Büt, de hürt dor ok mit to!

Von den mittleren Bänken kam ein Weinen und Schluchzen. Dort saßen die Seefischerwitwen, in ihren schwarzen Kleidern und mit den dunklen Kopftüchern wie morgenländische Klageweiber anzusehen. Der letzte Jahrgang hatte die Stirnen auf der harten Holzlehne liegen, als sei kein Leben mehr in ihm: So wollten es die Sitte und der Schmerz. Zuhinterst saß die greise Geeschen Witten, tiefe Runen im Gesicht, das einer Landkarte ähnlicher sah als einem Menschenantlitz. Sie konnte nur noch für Tote beten, denn alles Leben hatte sie der See gegeben: ihren Vater, der 1843 vor der holländischen Küste über Bord gegangen war, ihren Mann, der in den sechziger Jahren während der Äquinoktien untergegangen war, ihren Bruder, den sich die See fünf Jahre später bei Amrum geholt hatte, ihre beiden Söhne, die vor neun Jahren mit ihrem neuen Ewer verschollen waren. Sie wohnte ganz allein in ihrem großen, leeren Dachhaus, zwischen Netzen und Segeln, die die Gebliebenen zurückgelassen hatten, und wunderte sich, daß sie immer noch lebte und daß auf ihrem Kirchenplatz nicht schon lange eine andere saß.

Einer aber war da, der hatte den Kopf nicht gesenkt und die Augen nicht zugemacht: Thees to Baben, der Segelmacher und Spökenkieker, der Blut stillen, Krankheiten besprechen, Hexen bannen und Schweine zum Fressen bringen konnte und die Gabe des Vorsehens und Vorhörens besaß. Er beobachtete den Pastor scharf, und als Bodemann die Augen schloß, machte Thees seine weit auf und starrte durch das verbleite Fenster, bis er ihn kommen sah, den langen, heimlichen Zug, der vom Deich stieg und über die Äcker, Gräben und Wischen wallte, ohne eines Weges oder Steges zu bedürfen, der durch die von selbst sperrweit aufgehenden Türen drängte und die Kirche füllte. Lautlos und gespenstisch besetzte er alle leeren Plätze und alle Gänge. Kopf an Kopf standen sie, die gekommen waren, die gebliebenen Fahrensleute, die alten und die jungen, die Schiffer und die Knechte. Mit weitgeöffneten, wasserleeren Augen sah der Segelmacher sie an. Wie sie über Bord gespült worden waren, standen und gingen sie, das Wasser leckte ihnen von den Südwestern, glänzte auf den Ölröcken und quoll aus den Seestiefeln. Der Spökenkieker sah sie und lugte, ob sie einen unter sich hatten, dessen Untergang am Deich noch nicht bekanntgeworden war. Dabei blieb er ruhig, denn er war an Spuk gewöhnt; nur wenn einer der Toten ihn ansah, schüttelte er den Kopf, als wenn er sagen wollte: An den Segeln hat es nicht gelegen, daß ihr geblieben seid, die Segel waren gut! Wobei er allerdings voraussetzte, daß er sie auch wirklich gemacht hatte.

Endlich – ein erlösendes Husten unten im Schiff, ein befreiendes Scharren oben auf dem Chor, ein dreistes Sperlingsgeschrei draußen in den Erlen und Eschen. Da vergingen Gespenster und Gedanken, die Sonnenstrahlen fingen wieder an zu spielen, und Alt-Bodemann bekam seine Sprache zurück. Und als er dann bei seinem Herrgott um den Hausstand anhielt und alle, die dazugehörten, um gottesfürchtige Eheleute, Eltern und Herren, gehorsame Kinder und frommes und getreues Gesinde, da war die große Stille vorüber; die Konfirmanden machten wieder ihre verstohlenen Zeichen, die Mädchen kicherten und stießen einander im geheimen an, Gesine Külper dachte an den ersten Schnellwalzer, Thees Segelmacher stützte die Ellbogen auf die Brüstung und hörte so genau zu, als wenn er noch Pastor werde wollte, und die Fahrensleute rollten die Prüntjer geruhig wieder hinter die Kusen.

Klaus Mewes, der junge Seefischer, der in der Nähe der Orgel auf dem Chor saß, war von der Erinnerung an seinen Vater freigekommen, die ihn jäh befallen hatte, und konnte sich wieder seines guten Platzes freuen. Denn er hatte sich so zu Anker gehen lassen, daß er nicht allein recht in der Sonne saß, sondern auch aus dem Fenster sehen konnte. Hinter den Wischen und Gräben sah er den hohen Deich aufragen, und über den Stroh- und Pfannendächern der Häuser gewahrte er die Masten der Fischerfahrzeuge, die auf den Schallen und am Bollwerk lagen, und die Rauchwolken der Dampfer, die im Fahrwasser, hart am holsteinischen Elbufer, auf und ab fuhren: Dinge, die ihm Hirn und Herz mit Mut und Freude füllten.

Wenn er dieses Mal gleichwohl nicht sonderlich darauf achtete, so konnte nur sein Junge schuld daran sein, der unter seinen Augen unermüdlich neben der Kirche im Gras auf und ab ging. Er freute sich wie ein Stint, daß er ihn nicht mit hereingenomen hatte, wie es eigentlich seine Absicht gewesen war, als der Junge ihm mit dem Hund nachgekommen war und gesagt hatte, sie wollten das Gesangbuch tragen und ihn bis an die Kirchentür bringen. Denn hätte der Vogel Bunt so lange ruhig gesessen und geschwiegen? Sicherlich nicht – er wäre bald aufgestanden und umhergelaufen und hätte geguckt und gezeigt und gefragt und getan; beim stillen Eingangsgebet in der Fensternische hätte er gesagt, was jener Bauernjunge vom Osterende gesagt hatte, als er seinen Vater in den Hut gucken sah: Du, Vatter, lot mi ok mol innen Hot kieken! Den Klingelbeutel hätte er in den Händen gewogen und ausgerufen: Junge, Junge, Vadder, dor is ober plenni Monne in! Und Geeschen Witten hätte er laut gefragt: Diern, Geeschen, wat schreest du? Hest du dien Ontjen woll nix to freten geben? Wenn er aber zur Ruhe ermahnt worden wäre, hätte er geantwortet: Ick bün förn Pastur ne bang, Vadder! – oder eingewendet: de lebe Gott is ne bi Hus, Vadder, de kann mi nix seggen!

Es war weder vorwärts noch rückwärts aufzuzählen, was er alles angerichtet hätte, und es war besser, daß er draußen seine Wache abreißen mußte.

Der Seefischer lachte in sich hinein.

Als sie vor der Kirche angelangt waren, hatte Jochen Rolf sich zu ihnen gesellt und schalkhaft-ernst gemeint: Wenn der Junge mit hinein wolle, müßten ihm wohl erst die Taschen durchsucht werden, damit er keine Steine bei sich behalte und sie dem Küster an den Kopf werfe. Solle er aber draußen bleiben, dann wäre nur zu wünschen, daß der Pastor es kurz und knapp mache, damit der Junge nicht die Geduld verliere und alles in Brand stecke. Worauf der Vogel Bunt die Kirche von oben bis unten angeguckt und dann ernsthaft erwidert hatte, die brenne ja gar nicht, weil sie ganz aus Stein gemacht sei. Da war dem Seefischer ein köstlicher Einfall gekommen, er hatte den Jungen bei der Hand genommen und ihn neben die Kirche gelotst, ihm dort einen Apfelbaum und einen Birnbaum gezeigt und ihm gesagt, der eine sei der Großmast und der andere der Besanmast, und zwischen ihnen sei der Fischewer, und rechter Hand sei Steuerbord und linker Hand sei Backbord. Dat brukst mi ne to vertillen, hatte der Junge geeifert, dat weet ik jo all lang! Na, dann solle er aufpassen, war des Seefischers Entgegnung gewesen, er wolle einmal ausfindig machen, ob der Junge schon etwas könne, ob er schon zu etwas zu brauchen sei; darum solle er auf dem Ewer zwischen den Bäumen Wache gehen wie auf See in der Schollenzeit, zwei Stunden hindurch. Der Kompaß läge Nordwest an: Er solle darauf achten, daß er nicht aus dem Kurs komme, solle aufpassen, daß die Segel immer voll Wind seien und nicht klapperten, und guten Ausguck halten, damit er keine Haverie mit anderen Fischewern habe. Der Junge hatte wie ein Großer genickt und war von Herzen damit einverstanden gewesen, er hatte sogleich das Deck mit großen Schritten ausgemessen, hatte Großmast und Besan mit den wirklichen Masten verglichen und den Kopf in den Nacken geworfen und die Äste auf ihre Eignung als Giekbaum und Gaffel geprüft.

»Van Burd dött ik ober doch ne gohn, ne, Vadder?« hatte er noch gefragt.

»Och du Dösbattel«, war des Seefischers Erwiderung gewesen, »kannst du ok van Burd gohn? Büst doch up See, is doch all Woter üm di rüm.«

»Is ok jo wohr! Wat is Seemann denn?«

»Seemann?« Klaus Mewes hatte den struppigen Hund ergriffen und an den Birnbaum gesetzt. »Sitten blieben, Seemann! Dat is dat witte Nachthus, Störtebeker, un sien Nüff, dat is de Kumpaß.« Nun wisse er wohl alles; er brauche nicht immer am Ruder zu stehen und das Helmholz festzuhalten, sondern könne geruhig auf Deck hin und her gehen, wie die Fischerleute es täten, hatte der Seefischer geschlossen und war in die Kirche getreten, während der Junge unter dem Geläut der Glocken und dem Gebraus der Orgel an seine erste Schiffswache gegangen war.

Jetzt war Bodemann schon mitten in der Predigt, und der Junge ging immer noch ernst und wachsam zwischen Apfel- und Birnbaum auf und nieder, als ob er wirklich an Bord sei, denn er wollte beweisen, daß er schon groß genug wäre und allein die Wache gehen könne. Er wollte zeigen, daß er schon mit der See klarkommen könne, damit sein Vater ihn im Sommer mit auf den Ewer nahm, wie er ihm versprochen hatte. Wie nach Segeln blickte er nach den Zweigen hinauf. Einen Buchfink, der im Wipfel des Apfelbaumes saß, ließ er sich als Flögel gefallen. Er hatte die Hände nach Fischerart tief in die Hosentaschen gesteckt und pfiff gefühlvoll vor sich hin, spuckte auch einmal großartig in die See hinein, als wenn er bange sei, daß er kein Wasser genug habe und aufs Trockene komme.

Es schien stürmisch zu sein, denn alle Augenblicke wehte ihm das weiße Nachthaus über Bord, sei es, weil eine Ratte über den Graben schwamm oder weil sich eine Katze auf der Wurt des nahen Bauernhofes sonnte. Junge, was war das für ein Stück Arbeit! Was sollte der Wachhabende tun? Nachlaufen konnte er nicht, denn ringsum war Wasser, das keine Balken hatte; er verlegte sich deshalb auf Rufen und Pfeifen, und wenn es nicht half, dachte er schließlich: Och wat, nu jump ik eenfach ober Burd. Ik kann jo swümmen – und lief nach der Wurt oder nach dem Graben, ergriff sein Nachthaus und schleppte es zurück, wobei er pustete, als wenn er wirklich im Wasser sei, stellte es wieder an den Birnbaum und sagte: »Du müß sitten blieben, Seemann, ans hebb ik keen Kumpaß!« Dann guckte er verstohlen nach den Kirchenfenstern hinauf, denn er war sich nicht ganz sicher, ob er über Bord springen durfte.

Klaus Mewes sah es wohl und högte sich über ihn, während ihm das Blut, das die Sonnenstrahlen geweckt hatten, heftig und stark in den Schläfen klopfte. Das war sein Junge, der kleine Mann mit den hellen Haaren, den blauen, nordischen Augen und dem wettergebräunten Gesicht, der eine graue, wollene Matrosenmütze aufhatte, um den Hals ein schottischbuntes Tuch trug, einen weißblauen Buscherump und eine marineblaue Büx anhatte und auf braunen Segeltuchschuhen ging wie ein Janmaat, der auf Freiwache ist und sich landfein gemacht hat. Das war sein Junge! Wer den so gehen und stehen sah, dem mochte wohl das Gedicht von Uhland einfallen: Jung Siegfried war ein stolzer Knab… Durch die Brust seines Vaters brauste ein solches Lied, das die Orgel übertönte.

Wieder nahm Klaus Mewes sich freudig und heilig vor, einen Fahrensmann aus ihm zu machen, einen Seefischer, einen so furchtlosen und verwegenen wie Finkenwärder noch keinen gehabt hatte. Noch diesen Sommer wollte er ihn mit nach See nehmen, ob auch die Mutter weinte und die Leute den Kopf schüttelten. Lachend wollte er ihnen trotzen, denn er war es nicht gewohnt, auf andere zu hören, weder an Land noch auf See. Wie seinen Ewer, so steuerte er auch sein Leben selbst.

Ja, Klaus Störtebeker sollte ein Fischermann werden!

Der Junge hieß Klaus Mewes wie er selbst, aber das ganze Eiland, mit Ausnahme von Gesa, nannte ihn Klaus Störtebeker, einmal, weil er wirklich ein großer Strömer und Liekedeeler war, ein Brite und Tunichtgut, dann, weil sein grüner Kahn diesen Seeräubernamen an Steven und Gatt trug, schließlich auch wegen des Großvaters, dem er noch ähnlicher sehen sollte als seinem Vater, wie die alten Leute behaupteten, der auch Klaus Mewes geheißen hatte, wegen seines Freibeutertums aber allgemein Störtebeker genannt worden war. Was den kleinen Klaus Mewes betraf, so war der mit seinem Seeräubernamen so einverstanden, daß er auf seinen wirklichen nicht mehr hörte; rief einer Klaus, so sagte er: Klaus gifft en ganzen Barg! Nannte ihn einer Klaus Mewes, so erwiderte er: Dat is mien Vadder, du anner! Erst bei Störtebeker ließ er sich ermuntern und antwortete.

Klaus Mewes freute sich. Wie treu der Junge Wache ging, wie genau er das Deck abmaß! Da war kein Schritt zu viel und keiner zu wenig. Wenn er sich beim Birnbaum umdrehte, vergaß er niemals, nach dem Kompaß zu sehen und die Segel zu prüfen, wenn er beim Apfelbaum angekommen war, spähte er luvwärts und leewärts über die See. Mit großem Behagen und einiger Verwunderung bemerkte der Seefischer diese Einzelheiten, die ihm sagten, daß der Junge ihm und den anderen Fahrensleuten schon viel mehr abgeguckt hatte, als er glauben wollte. Nichts störte den kleinen Fischer, der wußte, daß er auf See war und kein Land in Sicht hatte, und der sich weder um die vorbeigehenden Kinder kümmerte noch den vorüberrollenden Wagen nachlief.

Daß der Seefischer bei diesem Ausguck viel von der Predigt hörte, war nicht zu verlangen; er wurde kaum gewahr, daß der goldene Stern oben an der Orgel klingend lief, einem Hochzeitspaare zur Feier, und hätte sogar den Klingelbeutel übersehen, wenn der ihm nicht direkt unter die Nase gehalten worden wäre. Nur der Gesang lenkte ihn eine Zeitlang von seinem Jungen ab, denn es brauste gewaltig durch die Kirche: Krist Kyrie, komm zu uns auf die See! Im Innersten ergriff es ihn, denn das war kein Gesang mehr. Wie ein weher Ruf, wie ein todesbanger Schrei hörte es sich an und schlug wie Meereswogen um die kahlen Pfeiler, es war, als wenn die Stürme sich wieder erheben und die See und die Herzen aufwühlten, die Segel und die Seelen zerrissen, als wenn Geisterlaute, die Stimmen der Ertrunkenen, der Verschollenen, sich hineinmischten. So furchtbar drückte der Küster auf die Tasten, der an seinen gebliebenen Sohn dachte, so übermächtig sangen die Fahrensleute.

Klaus Störtebeker sah sich besorgt um und dachte, es komme Wind auf, weil es mit einem Mal so brauste. Aber er durfte und wollte sich nicht bange machen lassen und ging deshalb wieder auf und ab zwischen den Bäumen, deren Stämme der Hasen und Raupen wegen mit Kalk bestrichen waren. Unverdrossen hielt er aus, bis der Mond aufging, der stille, milde Freund der Menschen: Peter Wittorfs rundes, glänzendes Vollmondgesicht erschien in der Schalluke auf dem Turm. Die Glocke mit der Aufschrift: Ut dat Füer bün ik floten / Peter Struve hett mi gotenAus dem Feuer bin ich geflossen, Peter Struve hat mich gegossen. begann, sich leise knarrend zu wiegen, schwang sich höher und höher, bis der Klöppel dröhnend gegen den Mantel schlug und das helle Geläut sich erhob. Die Türen wurden aufgestoßen, die Jungen stürmten heraus, als sei drinnen eine Feuersbrunst ausgebrochen, die Mädchen drängten nach, dann kamen die Fahrensleute und die Frauen. Da ging das Nachthaus bellend in die Binsen und war nicht wieder in Sicht zu bekommen, so laut Störtebeker auch rief und pfiff. Aber wenn er nun auch ohne Kompaß war, so hielt er dennoch getreulich aus und verließ seinen Posten nicht, bis sein Vater lachend zu ihm trat und ihn erlöste.

Ob er auch Haverei gehabt hätte? Nein, nur das Nachthaus wäre siebenmal über Bord gegangen! Ob der Fang gut gewesen sei? Ja, bannig gut, ein feiner Streek, hundert Stiege, große Südschollen!

»Deubel ok, du kannst dat ober!« lobte Klaus Mewes.

»Ja, Vadder, dat harrst di woll ne dacht, wat? Nimm mi man mit no See, denn schallst mol sehn, wat wi de Fisch belurt!« sagte der Junge mit blitzenden Augen und fuchsklugen Nasenlöchern.

Der Seefischer aber warf ihm das Gesangbuch hin und erwiderte, sie wollten erst mal sehen, ob die Klütjen noch schmeckten. »Kumm, Seemann!« Und er schechtete groß und heiter auf dem Kirchenweg entlang und überholte eine dunkle Reihe nach der andern. Immer größer wurden seine Schritte, so daß Störtebeker in Sprüngen laufen mußte, um mitzukommen, und Seemann, der weite Wege gar nicht gewohnt war, weil er sonst nur von Backbord nach Steuerbord zu wackeln brauchte, seine rote Zunge als Notflagge aussteckte, was Klaus Mewes aber nicht bewegen konnte, sich aus der Fahrt laufen zu lassen.

Der Seefischer lachte und sprach laut, ohne sich an die mißbilligenden Blicke der Alten zu kehren. Was ging es ihn an, daß auf dem Kirchenweg nicht gelacht werden sollte? Er tat, was er wollte, und aß, was ihm schmeckte, der große Klaus Mewes, der getrost seine Segel dem Wind bot, weil er keinen mürben Kram fuhr; der wußte, daß er den besten Ewer unter den Füßen hatte, mit dem sich etwas beschicken ließ, und der Herr und König seines Lebens war. Nicht umsonst hatte er Tag und Nacht, bei jedem Wind und Wetter, seine deutsche Flagge auf dem Besan wehen. Das war der Tiefe seines Wesens entsprungen und entsprach seiner Liebe zu seinem Fahrzeug, seiner Wikingerlust an der Seefahrt. Hatte der Wind das bunte Tuch zerfetzt, dann zog er unbekümmert eine neue Flagge auf und ließ weder Furcht noch Aberglauben in seine Seele hinein. Sonnigen Herzens pflügte der glückliche Fischer die See, lachend strich er den reichen Segen ein, den sie für ihn hatte, und wenn der Fische noch so viele waren. Fremd war ihm das alte, heidnische Gefühl, das den Bauer bewog, sein Feld nicht ganz zu mähen, sondern eine Ecke Hafer stehenzulassen, für die Götter, für Wotans Schimmel.

Sie sagten, man solle und dürfe niemanden aufs Wasser weisen. Wer den Weg nach dem Schiff nicht von selbst finde, aus dem könne doch kein Seemann werden. Am besten aber sei es immer noch gewesen, wenn einer gegen seiner Eltern und aller Willen zur See gegangen sei. Was scherte das Klaus Mewes, den Lachenden? Er sprach mit seinem Jungen über nichts als Fischerei und Seefahrt und erfüllte ihn mit nichts anderem, als daß er Fahrensmann werden müsse und solle. Was für Last hatten die Frauen am Deich, daß sie die Kinder vom Graben und von der Elbe fernhielten, daß sie sie aus den Booten und Kähnen herausbrachten! Goh man ne bit Woter! war ihr zweites und drittes Wort. Was tat Klaus Mewes? Er lachte und sagte: »Goh man betjen bit Woter, Störtebeker! Schipper man mol, klüs man mol not Fohrwoter raf, seil man betjen, swümm man mol, dor liggt de Boot, dor is de Kohn!«

Und eines brannte er dem Jungen wie mit glühendem Eisen ins Herz, drückte es tief und unverwischbar, unauslöschlich ein: Ne bang warrn! Nicht bange werden, sonst kommst du nicht mit nach See! Nicht bange werden, zu keiner Zeit und Stunde, einerlei, ob es hell oder dunkel ist. Ob es donnert oder blitzt oder weht, weder auf dem Wasser noch an Land, weder in den Masten noch auf den Bäumen, weder vor Menschen noch vor Tieren, weder vor Lebendigen noch vor Toten. Nicht bange werden, nicht bange werden!

Und der Junge nahm es auf wie das Segel den Wind. Bang dött ik ne warrn, ans komm ik ne no See, sagte er sich immer wieder, wenn ihm etwas Furcht einjagen wollte; so wurde er dreist und verwegen, wie sein Vater es wollte.

Sie hatten die Höhe des Deiches erreicht, und Klaus Mewes blickte aufatmend über die Elbe. Wenn er auch die Fischerewer noch im Wintereis sitzen sah, das nicht von den Schallen schmelzen wollte, so fischte und segelte er doch im Morgenlicht mit allen Segeln bei Helgoland. Und wenn Störtebeker sich auch noch mit dem Gesangbuch abschleppte, so hatte er ihn doch schon an Bord und wies ihm die Feuerschiffe vor der Elbe und die Lotsenschoner auf See.

Da grüßte sein Ewer über das Eis, er sah seine Flagge flattern – und seine Seele faßte noch mehr Wind, sie setzte die letzten und höchsten Segel.

Seefahrt ist not!

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