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2 Brauchen ethische Werte Gott?
ОглавлениеAus der beschriebenen Position ergeben sich unterschiedliche Grundeinstellungen zum Leben und zu den ethischen Prinzipien. Liegt das Ziel des Menschen außerhalb unserer vergänglichen Welt, dann ist ein jenseitiger Gott die Garantie einer sinnvollen Existenz. Diese besteht entweder im Paradies, das die Gottesschau (kirchlich-christlich) oder gutes Essen, Trinken und Sex (Islam) bringt, oder in der Leere, im Nirvana (hinduistisch-buddhistisch), das das Werden und Vergehen beendet. Durch diese Ansichten wird unser Leben auf Erden entwertet. Entweder ist das Erdenleben nur eine Prüfungszeit oder es ist eine Scheinwelt (Maya), die es zu überschreiten gilt. Das ethische Prinzip, das sich daraus ergibt, ist der Indifferentismus. Das heißt nicht, dass jedes Engagement für eine Verbesserung der irdischen Konditionen ausgeschlossen ist, aber es hat nur geringe Bedeutung. Diese Welt kann und darf uns nicht glücklich machen. Damit gewinnt der religiöse und mystisch veranlagte Mensch eine scheinbare „Freiheit“ bzw. Distanz gegenüber der Welt. Die Folge können islamistische Selbstmordattentäter oder zenbuddhistische nationale Eroberungskriege der Japaner sein – schließlich leben wir in einer vorläufigen Welt. Christen können sich selbst kasteien und zur Ehre Gottes Scheiterhaufen errichten. Sicher gibt es auch die andere, gütige Seite dieser „Ethik“, die helfend eingreift und in Gottes Namen Gutes tut. Aber von der Wurzel her ist dieser ethische Ansatz zweideutig und damit beliebiger Manipulation und Rechtfertigung ausgesetzt.
Das Grundprinzip ist in der Stoa verankert, die sich in den verschiedenen Religionen in Ost und West verbreitet hat. Gut fasst Ignatius von Loyola (1491–1556) in seinem Exerzitienbuch (Nr. 23) diese ethische Anschauung zusammen. Es ist „notwendig, uns allen geschaffenen Dingen gegenüber gleichmütig (indifferentes) zu machen, dass wir von unserer Seite Gesundheit nicht mehr als Krankheit begehren, Reichtum nicht mehr als Armut, Ehre nicht mehr als Ehrlosigkeit, langes Leben nicht mehr als kurzes und dementsprechend in allen übrigen Dingen, einzig das ersehnend und erwählend, was uns jeweils mehr zu dem Ziel hin fördert, zu dem wir geschaffen sind“ – und der Mensch ist auf Gott hin geschaffen. Damit ist die Entwertung aller irdischen Güter sowie des menschlichen Lebens selbst eingeläutet. Religionsstifter jeder Couleur propagieren das Ziel des Menschen außerhalb dieser Welt. In der humanistischen Variante wird der konkrete Mensch einem abstrakten zukünftigen Ideal der Menschheit geopfert, das die Rolle eines jenseitigen Gottes übernimmt. Bei Kant heißt dies: Jeder muss die Pflicht um ihrer selbst willen tun und nicht aus Neigung. Die Pflicht übernimmt damit Götzenfunktion und relativiert menschliche Beziehung und Zuneigung. Nicht umsonst protestierten dagegen bereits Goethe und Schiller: „Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu’ ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“8 Wer aber etwas um Gottes willen tut oder um Anteil am göttlichen Urquell zu erlangen oder aus reiner Pflicht, verwendet den Anderen als Mittel zum Zweck, schließt seine Gefühle und Beziehungen aus. Was aber ist ein Leben ohne Emotionen, ohne Beziehungen? Zum vollen menschlichen Leben gehört es, dass wir uns freuen und hoffen, dass wir trauern und bangen, dass wir Glück und Unglück empfinden, staunen und enttäuscht sind. Dies alles wird unterdrückt oder zur Bedeutungslosigkeit herabgedrückt, wenn Welt und Mitmensch nicht als Wert und Sinn in sich verstanden werden. Sie werden im entscheidenden Augenblick „gleich-gültig“. Dies finden wir auch in der Lehre Buddhas.
Für Moses und Mohammed zählt ebenso nur die Ehre des einzigen Gottes. Wer ihm nicht gehorcht, hat keine Lebensberechtigung. Jesu Haltung erscheint völlig anders, auch wenn sein Gedanke des ewigen Lebens, der als Vertröstung auf ein Jenseits allerdings falsch verstanden wird, als betrügerisch gebrandmarkt wird. Er gibt seinen Gefühlen nach, weint über Lazarus, klagt über Jerusalem, freut sich bei der Hochzeit, ärgert sich über die Geldwechsler, ist den Zöllnern und Huren zugetan usw. Er nimmt die Menschen mit ihren guten und schlechten Seiten ernst, verkündet nicht stoische Indifferenz, sondern Freude über die Lilien auf dem Feld, Freude über Menschen, die zur Liebe zurückfinden. Die jesuanische Ethik basiert nicht auf einer Offenbarung Gottes, nicht auf dem Rückzug in die Innerlichkeit, sondern ist ganz auf die Welt und den Mitmenschen bezogen. Ihnen gilt die Liebe. Die Menschen dürfen jedoch nicht auf Besitz, Hab und Gut oder Gewinnerzielung reduziert werden. Sonst würde der Mensch zum Menschenmaterial, würde Mittel zum Zweck, „gleichgültig“, wie in der Stoa. Die Zielrichtung hat sich jedoch, wie schon Epikur lehrte, geändert: Nicht Gottes Ehre, nicht Selbstversenkung, sondern maximaler Genuss ist nun das Ziel! Dies ist nur zu erreichen, wenn wir in „stoischer Ruhe“ verharren und uns daher Trauer und Niederlagen nichts anhaben können. Der Genuss würde sonst gestört. Für den Christen steht weder Gott noch das Selbst noch der Genuss als höchster Wert im Mittelpunkt, sondern die Mitmenschlichkeit. Ein Mensch, der der Welt den Rücken kehrt oder Macht und Habgier zu seinem Lebensprinzip macht, lebt verkehrt und teilt nicht die jesuanische Wertewelt. Menschsein kann nur glücken, wenn an erster Stelle die liebende Beziehung zum Nächsten steht, ohne auf „weltliche“ Freuden verzichten zu sollen. Der Christ lebt nicht von Besitz und Technik, sondern von der solidarischen Liebe, die der letzte Maßstab ist. Alle Schwankungen des Lebens macht er mit, ohne sich zu distanzieren, ohne gleichgültig zu sein.
So tragisch es ist, wenn man verarmt, wenn man nicht helfen kann, wenn man wie Hiob vom Unglück geschlagen ist, Wert und Sinn des Lebens bleiben bestehen: Die solidarische Liebe können Hass und Tod nicht zerstören. So wie Jesus kann der Christ sich zum Sinn der Liebe bekennen, auch wenn Gott und Mensch ihn verlassen haben.
Gerade der Inkarnationsmythos zeigt uns, dass wir nicht über unsere Welt hinausgreifen sollen, auf ein Jenseits oder eine zu erreichende Tiefe, sondern dass Wert und Sinn in unserer Welt liegen. „Wer mich sieht, sieht den Vater“, sagt Jesus (Johannes 10,30). Daher ist es unchristlich und falsch zu behaupten: Ethische Werte brauchen einen transzendenten Gott. Vielmehr braucht Gott ethische Werte, um seine autoritäre Zweideutigkeit zu verlieren und sich in unserer Welt als Liebe zu inkarnieren. So ist auch F. M. Dostojewskis Meinung falsch: Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn es Gott gibt (als ein jenseitiges Wesen), dann ist den Menschen, die seine angebliche Offenbarung verkünden, alles erlaubt. Und was tun und taten Menschen nicht alles im Namen eines solchen Gottes und seines Machtanspruches?