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III.

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Vergebens warteten die Damen Pintor in den nächsten Tagen und Wochen auf ihren Neffen.

Esther ließ besonderes Brot backen: Weißbrot, locker und zart wie eine Hostie, wie man es nur an hohen Festtagen bäckt; und ohne Wissen ihrer Schwestern kaufte sie insgeheim auch noch einen kleinen Korb Backwerk. Schließlich kam doch ein Gast zu Besuch, und die Gastfreundschaft ist heilig. Ruth aber träumte Nacht für Nacht von der Ankunft des Neffen und hielt jeden Tag um drei Uhr – der Stunde, wo die Postkutsche ankam – vom Hoftor Ausschau. Aber die Zeit verging, und ringsum blieb alles still und unverändert.

In den ersten Tagen des Mai blieb Noemi allein im Hause, weil die Schwestern zum Feste Unserer Lieben Frau pilgerten, wie jedes Jahr, schon seit undenklicher Zeit. Zur Buße, wie sie sagten, doch auch zum Vergnügen.

Noemi fand weder an dem einen noch an dem anderen Gefallen; aber als sie an jenem langen, leuchtenden Nachmittag im warmen Schatten des Hauses saß, begleitete sie in wehmütigem Sinnen die Schwestern auf ihrem Weg. Sie sah das graue, runde Kirchlein wieder, das an ein großes, im Gras des weiten Hofes verstecktes Nest erinnerte; sah die steinernen Hütten in der weiten Runde, zwischen denen sich eine bunte, malerische Menge wie ein Zigeunerstamm tummelte; sah die rohgezimmerte Aussichtswarte über der dem Pfarrer zugedachten Hütte, die blaudunstige Ferne, die rauschenden Bäume und das zwischen den silbernen Dünen schimmernde Meer. Und während sie an all diese Dinge dachte, hätte sie am liebsten geweint; aber sie biß sich auf die Zunge und schämte sich ihrer Rührung.

Jedes Jahr erfüllte der Frühling sie mit dieser seltsamen Unruhe. Aber sie spürte, dass es nur eine vorübergehende Stimmung war, eine Anwandlung von Schwäche, die sich mit der ersten Sommerschwüle wieder verlor. Sehnsüchtig ließ sie ihre Gedanken schweifen, ganz der einschläfernden Stille hingegeben, die in der Runde lagerte: über den roten Mohnblumen im Hof, über der Berglehne, über die dann und wann der Schatten einer Wolke glitt, über dem ganzen Dörfchen, dessen Bewohner fast alle auf dem Fest waren.

Und wieder weilte sie in Gedanken dort.

Ihr dünkt, sie sei noch ein junges Mädchen und stehe auf der Warte über der Hütte des Pfarrers, an einem sanften Abend im Mai. Kupferrot taucht die Mondscheibe aus dem Meer. Klagend und seufzend tönen die Klänge der Ziehharmonika durch den Hof, in dem ein helles Reisigfeuer flackert, und sein rötlicher Schein hebt von dem Grau der Mauer klar die schlanke, braune Gestalt des Musikanten und die bläulichen Gesichter der jungen Mädchen und Burschen ab, die den sardischen Reigen tanzen. Gespenstisch wirbeln ihre Schatten über das zerstampfte Gras und die Wände des Kirchleins; die goldenen Knöpfe und silbernen Tressen der Trachten und die Griffe der Ziehharmonika glitzern und funkeln; alles andere verschwimmt im Perlmutterglanz der Mondnacht.

Noemi erinnerte sich, dass sie nie teilgenommen hatte an dem bunten Trubel, indes die älteren Schwestern lachten und sich vergnügten und Lia scheu in einem moosigen Winkel des Hofes kauerte, als hätte sie schon damals auf Flucht gesonnen.

Das Fest dauerte neun Tage und steigerte sich zuletzt beim Klang der Ziehharmonika und fröhlicher Gesänge zu einem ausgelassenen, ununterbrochenen Reigen. Noemi aber stand immerfort auf der Aussichtswarte, zwischen den Überresten des Gelages; um sie her schimmerten die leeren Flaschen, ein zerbrochener Teller, ein grasgrüner Apfel, ein vergessener Eimer oder Löffel; auch die Sterne über dem Hof erzitterten wie unter den stampfenden Takten des Reigens. Nur sie tanzte nicht, nur sie lachte nicht und hoffte doch beim Anblick der fröhlich wirbelnden Menge, dass auch sie noch einmal teilnehmen dürfte an den Freuden des Lebens.

Aber die Jahre vergingen, des Lebens Freuden spielten sich fern von dem Dörfchen ab, und um sie genießen zu können, war ihre Schwester Lia schließlich aus dem Haus entflohen ...

Sie aber saß noch immer auf der morschen Veranda des alten Hauses, wie damals auf der Warte des Pfarrers.

Gegen Sonnenuntergang klopfte es am Tor, das sie immer geschlossen hielt.

Es war die alte Muhme Pottoi, die sich erkundigte, ob sie ihrer Dienste nicht bedürfe; und obgleich Noemi sie nicht zum Dableiben aufforderte, setzte sie sich auf die Erde, mit dem Rücken zur Wand, lockerte ihr Tuch über dem buntgeschmückten Hals und begann wehmütig von dem Fest zu plaudern.

»Alle sind nun dort – auch meine Enkel, der Herr behüte sie. Ach ja, alle sind nun dort und haben es hübsch kühl, mit dem Meer vor Augen ...«

»Und weshalb sind Sie nicht auch hingegangen?«

»Und das Häuschen, Euer Gnaden? Nein, so armselig ein Haus auch ist, man soll es nicht ganz allein lassen; sonst nistet sich der Irrwisch ein. Es ist nun einmal so: Die Alten hüten das Haus, die Jungen gehen sich vergnügen.«

Sie seufzte, senkte das Gesicht, um die Korallen auf ihrer Brust zu betrachten und zu ordnen, und erzählte, wie sie früher auch zum Fest gegangen sei – mit ihrem Mann, ihrer Tochter und den lieben Nachbarinnen. Dann sah sie wieder auf und blickte nach dem alten Friedhof.

»In diesen Tagen ist mir immer, als stünden die Toten wieder auf. In einem langen Zuge sehe ich sie zum Fest pilgern. Und ich glaube auch wie einst Frau Maria, Ihre Mutter selig, auf der Bank im Winkel des großen Hofes sitzen zu sehen. Wie eine Königin sah sie immer aus mit ihrem gelben Rock und ihrem schwarzen, buntbestickten Tuch. Und wie Mägde saßen alle Frauen aus der Gegend um sie herum ... ›Komm, Pottoi,‹ sagte sie dann immer zu mir, ›versuch einmal diesen Kaffee. Nun, wie schmeckt er dir? Gut?‹ – Ja, so gütig, so freundlich war sie immer. Ach, und deshalb gehe ich lieber nicht mehr hin; mir scheint, ich habe dort etwas verlassen, was ich nicht wiederfinde ...«

Noemi nickte lebhaft und beugte sich tief über ihre Handarbeit; die Stimme der Alten tönte wie aus ferner Vergangenheit an ihr Ohr.

»Und erst Don Zame, Euer Gnaden! Der war die Seele des Festes. Er fluchte zwar öfters, fuhr wie ein Unwetter zwischen die anderen, war aber im Grunde doch herzensgut. Auf Sturm folgt eben stets Sonnenschein. Ach ja, neulich, als ich vor meinem Häuschen saß und Flachs spann, da glaubte ich auf einmal den Hufschlag eines Pferdes zu hören. Und richtig, da kommt er auch schon angeritten, auf seinem Rappen, mit prallgefüllten Quersäcken ... Er trabt vorüber und nickt mir freundlich zu: ›He, Muhme Pottoi, möchtest du mitkommen zum Fest? Flugs aufgesessen, alte Hexe!‹«

Gerührt ahmte sie die Stimme des »erlauchten Toten« nach; dann fragte sie plötzlich, ihre Gedanken weiterspinnend:

»Und der junge Herr Giacinto kommt nun wohl doch nicht her?«

Da erstarrte Noemi; denn sie gestattete keinem Menschen, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen.

»Wenn er kommt, soll er uns willkommen sein«, erwiderte sie kühl. Aber als die Alte gegangen war, griff sie den Faden ihrer Gedanken auf. Und wieder lebte sie so tief in der Vergangenheit, dass sie der Gegenwart wie entrückt war.

Und während der warme Schatten des Hauses weiter und weiter durch den Hof glitt und der Duft der Wolfsmilch süßer und süßer aus der Ebene heraufwehte, erinnerte sie sich immer klarer an Lias Flucht. Es ist ein milder Abend, genau wie heute; der weiss und grün gescheckte Berg lastet schwer auf dem Haus, der Himmel ist wie aus blankem Gold. Lia weilt in den oberen Räumen und huscht lautlos hin und her; dann tritt sie auf die Veranda, bleich, in einem schwarzen Kleidchen, mit dunklem Haar, in dem sich ein Abglanz des goldblauen Himmels fängt; sinnend blickt sie auf die Schlossruine, schlägt dann plötzlich die schweren Lider auf, zuckt zusammen und hebt die Arme, als wenn sie sich wie eine Schwalbe emporschwingen wolle ins goldene Blau. Langsam kommt sie nun herunter, geht an den Brunnen, besprengt die Blumen, und indes sich in der Luft der zarte Duft des Goldlacks mit dem herberen der Wolfsmilch mischt, tauchen über dem Berg die ersten Sterne auf.

Und nun geht sie wieder nach oben und setzt sich auf die oberste Treppenstufe, die Hand auf dem Seil, die Augen starr in die Dämmerung gerichtet.

Noch immer sah Noemi sie dort sitzen, wie an dem letzten Abend, als sie an ihr vorüberschritt, um schlafen zu gehen. Sie schliefen zusammen in einem Bett, aber an diesem Abend hatte sie vergeblich auf sie gewartet. Wartend war sie schließlich eingeschlummert und wartete nun noch immer.

Alles andere wirbelte verworren durch ihre Erinnerung, unsäglich bange Stunden und Tage voll geheimnisvollen Grauens, wie man sie nur im Fiebertraum erlebt ... Sie sah nur noch das fahle, verzerrte Gesicht des Knechts, der regungslos, mit hängendem Kopf zu Boden sah, als suchte er dort einen verlorenen Gegenstand.

»Ruhig Blut, Herrinnen!« murmelte er; aber dann rannte er selbst durchs Dorf, fragte alle, ob sie Lia nicht gesehen hätten, schaute in alle Brunnen und spähte in die Ferne.

Und dann war Don Zame heimgekehrt.

Bei dieser Erinnerung ging es wie ein Sturm durch Noemis Geist. Jedes Mal überkam sie dann das Verlangen, sich loszureißen – fortzueilen, wie um den schrecklichen Bann zu brechen.

Und so erhob sie sich und ging nach oben in ihr Zimmer.

Das gleiche Zimmer, in dem sie einst mit Lia schlief; das gleiche rostige Eisenbett, bemalt mit längst verblassten goldenen Blättern und Trauben, von denen nur da und dort noch eine rot oder bläulich schimmert wie eine wirkliche Beere; die gleichen weißgetünchten Wände, die gleichen Bilder in den schwarzen Rahmen; der gleiche wurmstichige Schrank, auf dem Orangen und Zitronen wie goldene Äpfel in der untergehenden Sonne leuchten.

Noemi öffnete den Schrank, um ihre Stickerei zu verwahren, und die Angel kreischte wie eine zerspringende Saite durch die Stille, während die nun schon strahlenlose Sonne einen rosigen Schein auf das Linnen in den blaubespannten Fächern warf.

Alles dort drinnen war fein säuberlich eingeordnet: zuoberst einige Stickereien, Seidentücher und Wolldecken, die safrangelb geworden waren im Lauf der Zeit; darunter die nach frischen Quitten duftende Wäsche und etliche Binsen- und Weidenkörbchen, von deren gelbem Geflecht sich schwarz die Sinnbilder der sardischen Volkskunst abhoben: kleine Schalen und Fische.

Noemi legte ihre Handarbeit in eines von diesen Körbchen und hob ein anderes auf. Darunter lag ein Bündel Papiere: Familienurkunden, Tauf- und Trauscheine, Vermächtnisse und Prozessakten, die sorgsam mit einem gelben Bündchen zusammengeschnürt waren, zum Schutze gegen bösen Zauber. Und dieses gelbe Bändchen, das nicht hatte verhindern können, daß das Erbe der Familie in fremde Hände überging und der Prozess zugunsten der Gegner entschieden wurde, umschlang nebst all dem toten Papier einen Brief, den Noemi jedes Mal, wenn sie das Körbchen aufhob, mit entsetzten Augen betrachtete, wie man vom Meeresufer aus die langsam auf den Wogen treibende Leiche eines Ertrunkenen betrachten mag.

Es war der Brief, den Lia nach der Flucht geschrieben hatte.

Noemi war heute wie verstrickt in lauter düstere Erinnerungen. Die Abwesenheit der Schwestern und eine heimliche Angst vor dem Alleinsein brachten sie der Vergangenheit nahe. Auch der orangerote Dämmerschein, der von bläulichen Schleiern eingehüllte Berg, der Duft des Abends, alles gemahnte sie an die Zeit vor zwanzig Jahren. Stumm und dunkel stand sie im Licht zwischen dem Fensterchen und dem Schrank, fast wie eine Botin der Vergangenheit, die aus dem alten Kirchhof heraufgekommen war, um nach dem verlassenen Haus zu sehen. Sie rückte die Körbchen und Stickereien zurecht, machte die Schranktür zu und wieder auf, und das Kreischen der Türangel hallte unheimlich lebendig durch das Haus.

Schließlich zog sie mit einem plötzlichen Entschluss den Brief aus dem Bündel. Er war noch ganz weiß, in einem weißen Umschlag, als wäre er erst gestern geschrieben worden, als hätte noch niemand ihn gelesen.

Noemi setzte sich auf das Bett. Doch kaum hatte sie umgeblättert und die Hand auf den Messingknauf des Bettes gelegt, als es unten klopfte: erst einmal, dann dreimal, dann immer wieder.

Sie hob den Kopf und blickte mit erschrockenen Augen in den Hof.

Der Postbote kann es doch nicht sein? Nein, der ist schon vorbeigegangen.

Laut dröhnten die Schläge durch den stillen Hof. So hatte ihr Vater immer geklopft, wenn sie nicht gleich öffneten.

Sie legte den Brief beiseite und eilte hinunter, blieb aber lauschend am Tor stehen. Ihr Herz schlug heftig, als wenn es zerspringen wollte.

Mein Gott! Das wird doch nicht er sein.

Schließlich fragte sie ziemlich barsch: »Wer ist draußen?«

»Ein Freund«, antwortete eine fremde Stimme.

Aber Noemi vermochte nicht zu öffnen, so heftig zitterten ihre Hände.

Draußen vor dem Tor stand, auf ein Fahrrad gestützt, ein junger Mann, der fast wie ein Arbeiter aussah. Groß, bleich, in einem grünen Anzug, mit staubigen, gelben Stiefeln und einem kecken Schnurrbärtchen von gleicher Farbe wie die Stiefel. Als er Noemi erblickte, nahm er die Mütze ab, die sich in seinem dichten, golden schimmernden Haar abzeichnete, und lächelte sie mit schönen, weiß zwischen den vollen Lippen blitzenden Zähnen an.

Sie erkannte ihn sogleich an den Augen. Großen, mandelförmigen, grünlichblauen Augen. Freilich, das waren die Augen der Pintors! Aber ihre Verwirrung wuchs, als der Fremde nun die Stufen zum Tor emporeilte und sie mit seinen sehnigen Armen umschlang.

»Tante Esther! Ich bin's ... Und die anderen Tanten?«

»Ich bin Noemi ...« stammelte sie befangen; aber gleich darauf faßte sie sich wieder. »Wir haben dich nicht erwartet. Esther und Ruth sind auf dem Fest ...«

»Ach – hier ist gerade ein Fest?« sagte er und zog sein Fahrrad, auf dem ein staubiger Koffer festgeschnallt war, die Stufen herauf. »Richtig, ich erinnere mich. Das Marienfest, nicht wahr? Ah, und das ...«

Er schien die Umgebung zu erkennen. Ja, dort war die Vorhalle, von der seine Mutter ihm so oft erzählt hatte. Er schob sein Rad darauf zu, klopfte mit einem Taschentuch flüchtig den Staub von dem Koffer und begann ihn abzuschnallen.

Noemi dachte: Ich muss die Muhme Pottoi holen, muss zu Efix schicken ... Wie soll ich allein mit allem fertig werden? Ach, die anderen wussten sicher, dass er kam, und haben mich allein gelassen.

Die Umarmung des fremden Mannes, der von irgendwoher kam, aus der weiten Welt, erfüllte sie mit heimlicher Angst; aber sie kannte recht wohl die Pflichten der Gastfreundschaft und durfte sie nicht vernachlässigen.

»Tritt ein! Willst du dich waschen? Den Koffer werden wir nachher nach oben bringen. Ich werde gleich eine Frau holen, die bei uns sauber macht ... Im Augenblick bin ich ganz allein ... und ich erwartete dich wirklich nicht ...«

Sie versuchte ihre Armut zu bemänteln; aber er schien auch von ihr zu wissen, denn ohne auf Bedienung zu warten, trug er seinen Koffer in das Zimmer hinauf, das Tante Esther schon hergerichtet hatte für ihn, kam dann unbefangen wieder herunter und ging an den Brunnen, um sich zu waschen, ganz wie der Knecht.

Noemi folgte ihm mit einem Handtuch unterm Arm.

»Ja, ich komme aus Terranova. Auf der Straße fährt sich's übrigens ausgezeichnet. Ja, an der Kirche bin ich wohl auch vorbeigekommen, aber ich habe nichts von dem Fest bemerkt. Ja, das Dorf ist wie ausgestorben – und sehr zerfallen, ja.«

Er bejahte alle Fragen Noemis, sah aber ziemlich zerstreut drein.

»Warum ich nicht geschrieben habe? Nun – weil ich mir nach Tante Esthers Brief nicht im Klaren war. Außerdem war ich krank und – und wusste nicht ... Offen gestanden, entschloss ich mich erst vorgestern; da fuhr nämlich ein Freund von mir weg. Nun, und so reiste ich gestern ab, weil das Meer so still war ...«

Er trocknete sich ab und ging auf die Küche zu. Noemi folgte ihm.

Esther hat ihm also geschrieben! Und so ist er denn aufgebrochen – wie zu einem Fest!

Er setzte sich auf die alte Bank gegenüber von dem Berg, der seinen bläulichen Schatten in die Küche warf, kreuzte die langen Beine, verschränkte die langen Arme auf der Brust und strich mit den weißen Händen an ihnen lang. Noemi bemerkte, dass seine Strümpfe grün waren. Eine sonderbare Farbe für Männerstrümpfe! Und während sie Feuer anmachte, wiederholte sie im Stillen:

Ah – Esther hat ihm also heimlich geschrieben. Soll sie sich doch jetzt kümmern um ihn!

Und sie hatte fast Angst, sich umzudrehen und nach der in jeder Hinsicht so sonderbaren Gestalt des jungen Mannes zu schielen, der regungslos auf der Bank saß, als wollte er sich nie wieder von ihr erheben.

Dann begann er von seiner Reise zu erzählen, von der einsamen Straße, und fragte, wie weit es eigentlich nach Nuoro sei. Dorthin – nach Nuoro wolle er demnächst fahren. Zu dem Verwalter einer großen Dampfmühle, einem Freunde seines Vaters, der ihm eine Stellung versprochen hätte.

»Wie weit es mit dem Fahrrad nach Nuoro ist? Das kann ich dir nicht sagen. Ein paar Stunden wohl. Ich bin vor vielen Jahren einmal nach Nuoro geritten. Der Weg ist schön, ja, und die Stadt auch; die Luft ist gut, die Leute freundlich. Dort gibt es auch kein Fieber wie hier – bei uns, und ein jeder kann dort rüstig arbeiten und Geld verdienen. Alle Fremden sind dort reich geworden, während hier alles tot daniederliegt.«

»Ja, ja, das stimmt!«

Sie holte ein paar Eier, um einen Eierkuchen zu backen.

»Siehst du, hier gibt es nicht einmal alle Tage Fleisch, von Wein gar nicht zu reden ... Und wie heißt dieser Mühlenverwalter? Kennst du ihn?«

Nein, er kannte ihn nicht. Aber wenn er nach Nuoro ging, würde er gewiss eine Stellung finden.

Noemi lächelte finster und spöttisch, während sie den Eierkuchen in der Pfanne lockerte. Eine Stellung finden, das ist leicht gesagt! Es gibt so viele Stellungsuchende!

»Und deinen Posten dort, den hast du also aufgegeben?« sagte sie hastig, ohne aufzublicken.

Giacinto antwortete nicht gleich; scheinbar war er sehr gespannt, wie der Eierkuchen ausfallen würde, den sie nun vorsichtig wendete.

Ein paar Tropfen Öl fielen in die Glut, eine Dunstwolke verbreitete sich in der Küche; dann begann die Pfanne leise zu schmoren, und Giacinto sagte:

»Ach, der war doch so unbedeutend! Und nicht einmal sicher – und dazu so verantwortungsvoll.«

Mehr sagte er nicht, und Noemi fragte nicht weiter. Die Hoffnung, dass er bald nach Nuoro ginge, machte sie gnädig und geduldig. Sie deckte den Tisch im Esszimmer nebenan, das kahl und feucht war wie eine Schenke, und setzte ihm das Essen vor und entschuldigte sich, daß sie ihm nichts anderes anbieten könne.

»Hier – bei uns heißt es genügsam sein ...«

Giacinto knackte Nüsse zwischen seinen kräftigen Händen auf und lauschte dem Geläute der Herden, die hinterm Haus vorbeizogen. Es war schon ziemlich dunkel; der Berg lag nun düster da, und in dem feuchten Raum mit den grüngefleckten Wänden war es totenstill wie in einer abgeschiedenen Grotte. Die bunten Bilder, die Noemi von dem Fest entwarf, machten ihm großen Eindruck. Ziemlich müde und schläfrig sah er sie an, und ihre dunkle Gestalt, die sich scharf gegen das noch helle Fensterchen abzeichnete, ihr volles Haar und ihre kleinen, auf dem wackligen Tisch ruhenden Hände schienen ihn an die wehmütigen Erzählungen seiner Mutter zu erinnern; denn er begann nach Leuten aus dem Dorf zu fragen, die längst gestorben oder Noemi völlig gleichgültig waren.

»Onkel Pietro? Was für ein Mensch ist eigentlich Onkel Pietro? Er ist der reichste hier im Dorf, nicht wahr? Wieviel mag er wohl besitzen?«

»Ja, reich ist er, aber ein Starrkopf! Und hochmütig wie ein Pfau.«

»Er leiht doch Geld zu Wucherzinsen aus?«

Noemi errötete, denn obwohl sie auf sehr gespanntem Fuße mit ihrem Vetter stand, empfand sie es fast als persönliche Beleidigung, dass Giacinto einen adligen Pintor als Wucherer zu bezeichnen wagte.

»Wer hat dir denn das weisgemacht? Oh, nicht einmal im Scherz solltest du so etwas sagen.«

»Aber der Pfarrer und seine Schwester, das sind doch Wucherer? Sind sie nicht auch sehr reich? Wieviel besitzen sie wohl?«

»Nicht doch, was fällt dir ein! Wucher treibt höchstens der Milese, aber einen erlaubten Wucher – dreißig vom Hundert, nicht mehr ...«

»Oh, das ist erlaubter Wucher? Und was ist dann unerlaubter?«

Da beugte sich Noemi über den Tisch und flüsterte: »Tausend vom Hundert – und manchmal noch mehr.«

Aber statt sich zu wundern, schenkte sich Giacinto noch ein Glas Wein ein und sagte nachdenklich: »Hm, auch bei uns hat der Wucher gewaltig überhandgenommen. Der Neffe des Kardinals Rampollo ist auf diese Weise vor die Hunde gegangen.«

Nach dem Abendbrot wollte er fortgehen. Er fragte, wo die Post sei, und Noemi begleitete ihn bis auf die Straße und deutete auf den kleinen Platz vor Mileses Haus in der Ferne.

Sobald er verschwunden war, blickte sie sich scheu um und ging zur Hütte der alten Muhme Pottoi. Die kleine Tür stand offen, aber drinnen war alles finster, und erst bei den schüchternen Rufen Noemis tauchte die Alte aus dem dunklen Hintergrund der Stube auf, mit einem brennenden Kienspan in der Hand.

»Ich bin's, Muhme Pottoi! Sie müssen gleich jemand zu Efix schicken. Giacinto ist angekommen! Und dann müssen Sie heute Nacht bei mir schlafen. – Ich fürchte mich, allein zu bleiben – mit einem Fremden.«

»Ich will gern jemand holen und aufs Gut schicken. Aber schlafen kann ich nicht bei Ihnen; nein, ich lasse mir mein Häuschen nicht vom Irrwisch verhexen ...«

Und damit dieser sich nicht in ihrer Abwesenheit einschleichen sollte, ließ sie den Kienspan über der Tür brennen.

Schilfrohr im Winde

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