Читать книгу Erich Glaubmirnix - Kriminalfälle und Abenteuer heute und im Mittelalter - Gregor Kastner - Страница 7

DER TAG FING DOCH SO SCHÖN AN

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04:00 Uhr, Bahnhof Nordhausen

Um diese Uhrzeit war es auf dem Bahnhof Nordhausen noch sehr ruhig. Die Beleuchtung in der Vorhalle stand auf „Sparflamme“ und etliche Winkel waren dunkel. Dort nächtigte ab und zu auch mal ein „Durchreisender“, der seinen letzten Zug verpasst hatte. Und wenn man sich um die Uhrzeit vor den Bahnhof stellt, um die Bahnhofsstraße hoch zu schauen, hat man das Gefühl, dass die ganze Stadt noch schläft. Aber das stimmt nicht. Es gab etliche Menschen, die um diese Uhrzeit schon aufgestanden beziehungsweise unterwegs waren. Man musste nur genauer hinschauen, dann sah man sie. Und wenn man seinen Blick nach Osten richtet, stellt man fest, dass sich langsam der Tag ankündigt und die Nacht sich dem Ende neigt. Am dortigen Horizont begann nämlich die Morgendämmerung. Man sah einen dezent schimmernden Streifen, der sich abzeichnete und langsam aber stetig immer heller wurde. Schaute man hingegen in die westliche Richtung, sah man noch den dunklen Sternenhimmel. Aber nur, wenn man den hell leuchtenden Straßenlaternen ausweichen konnte. Und zu dieser Zeit fuhr auf dem Bahnhofsvorplatz ein Kleintransporter vor. Der Kraftfahrer stieg aus, öffnete die hintere Tür seines Fahrzeuges, nahm etliche Bündel mit Zeitschriften heraus, brachte sie in die Vorhalle und legte sie vor dem Zeitschriftenladen ab. Dort begegnete er einem Eisenbahner, der vermutlich Feierabend hatte und wünschte ihm einen „Guten Morgen“. Der Eisenbahner, der nicht damit gerechnet hatte, um diese Uhrzeit angesprochen zu werden, wünschte dem Fahrer ebenfalls einen „Guten Morgen“. Danach gingen beide ihren Weg, so als hätten sie sich nicht getroffen. Der Bahnsteig selbst war hell erleuchtet und ein Güterzug rollte heran. Als der Zug während der Durchfahrt auf Höhe des Bahnsteiges war, wurde es richtig laut und danach war alles wieder ruhig.

Genau in dem Moment näherten sich vom östlichen Ende des Bahnsteiges zwei dunkle Männergestalten. Als sie näher kamen, sah man, dass es Bundespolizisten waren. Die hatten es, dem Schritt nach zu urteilen, sehr eilig. Vermutlich hatten sie noch einen Anruf bekommen und mussten schleunigst los. Die zwei Polizisten gingen bis zum Ende des Bahnsteiges, schauten nach links und rechts und gingen in den Gleisbereich bis zu einer abgestellten Lok. Einer der beiden schnappte sich einen Fotoapparat, ging um die Lok und machte etliche Aufnahmen. Der zweite Beamte hatte ein Heft mit Kugelschreiber in der einen Hand und in der anderen Hand befand sich ein Zollstock. An der Lok wurden durch unbekannte Täter mehrere Graffiti aufgesprüht und sie sollten den Sachverhalt aufnehmen. Nachdem das Wichtigste aufgenommen war, wurde der Standort auch noch nach Farbspuren abgesucht. Denn die Beamten wollten wissen, ob die Lok hier im Bahnhof besprüht wurde oder ob das Graffiti schon älter ist. Da keine weiteren Farbspuren gefunden wurden und die Farbe komplett ausgehärtet war, ging man davon aus, dass der Tatort woanders lag. Das galt es nun zu ermitteln. Somit war der nächste Weg zum Weichenwärter, der eine gewisse Sicht zur abgestellten Lok hatte. Vielleicht hatte der ja was gesehen und konnte Hinweise geben. Wenn nicht, konnte er sich auf jeden Fall beim Fahrdienstleiter erkundigen, wo die Lok herkam. Danach wollten die zwei auf die Dienststelle zurück, einen „Dreizeiler“ in den Computer geben und Feierabend machen.

05:15 Uhr, vor der Dienststelle der Bundespolizei

Der Polizeiobermeister Erich Glaubmirnix fuhr wie immer mit seinem Auto nach Nordhausen zum Dienst und war auch wie immer, pünktlich angekommen. Nun stand er mit seinem Auto vor der Dienststelle, schaltete den Motor ab, schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er noch knapp dreißig Minuten Zeit hatte. Nun konnte er sich ein wenig Zeit nehmen und das tat er auch. Immerhin hatte er eine Strecke von knapp über sechzig Kilometer hinter sich. Und wenn man diese Strecke jeden Tag zweimal fährt, schlaucht das auf Dauer. Das ließ sich er sich aber nicht anmerken. Das verbot ihm ganz einfach sein Ehrgefühl. Und da er immer pünktlich sein wollte, fuhr er immer bei Zeiten los. Die Zeiten hatte er sich am Anfang einmal ausgerechnet und seit der Zeit waren sie wie in Stein gemeißelt in seinem Kopf verankert. Im Allgemeinen braucht Erich für die Strecke, je nach Verkehrslage, auch dank der Autobahn, zwischen vierzig und fünfundvierzig Minuten. Heute brauchte er nur fünfunddreißig. Da gab es mal Zeiten, so hatte es ihm sein Kumpel Josef Löwinger, auch als Leo bekannt, erzählt, da waren diese Fahrzeiten ein Traum gewesen. Da brauchte man anderthalb Stunden und mehr für die gleiche Strecke. Zu der Zeit gab es noch keine Autobahn und der ganze Verkehr rollte über die Bundesstraße. Und jede Schranke, die sich auf der Strecke befand, war ausgerechnet dann geschlossen, wenn er mit seinem Auto angefahren kam. Und bei manchen Bahnübergängen musste man halbe Ewigkeiten ausharren bis der Zug endlich angefahren kam, am Bahnsteig anhielt, die Fahrgäste aus- und einstiegen und nachdem alle Türen wieder geschlossen waren, die Fahrt weiterging. Und erst wenn der Zug dann endlich über den Bahnübergang gefahren war, konnten die Schranken geöffnet werden. Und manchmal öffneten sich die Schranken, weil schon wieder ein Gegenzug unterwegs war, nicht. Dann wiederholte sich das Ritual. Nur dieses mal in der Gegenrichtung. Der Zug fuhr ein, hielt an, die Leute stiegen ein und aus … Und wenn der dann endlich abgefahren war, konnte es passieren, dass auf der erstgenannten Fahrtrichtung schon wieder ein Zug unterwegs war. Das war auch die Zeit, als ein großer Teil des Güterverkehrs noch auf den Schienen unterwegs war. Da waren zehn bis zwanzig Minuten Wartezeit keine Seltenheit. Und als Krönung fuhr sein Freund Leo noch mit dem Trabi. Das ist zwar schon lange her, aber Leo hat das sein Leben lang nicht vergessen. Es war für ihn halt eine verrückte Zeit.

Leider ist sein Freund schon im Ruhestand. Erich gönnte es ihm. Er hat viel in seinem Leben durchmachen müssen und dabei einen Großteil seiner Gesundheit geopfert, ohne je ein Dankeschön zu erhalten. Das alles ist nun Geschichte. Es gibt Tage, da vermisste er seinen Freund Leo.

Und bei der kurzen Fahrzeit, die Erich heute früh gebraucht hatte, freute er sich: „Na da bin ich ja wieder gut durchgekommen. Autobahn war leer, was will man mehr. Kein Stress am Morgen, also keine großen Sorgen.“ Bei dem letzten Gedanken huschte ihm ein leichtes Lächeln über die Lippen und der nächste Gedanke war: „Hoffentlich bleibt das auch so!“, und stieg aus.

Da wurde er von hinten angesprochen: „Morgen, Erich! Hast du Feierabend?“

Erich kannte die Stimme, drehte sich um und sagte: „Guten Morgen, Anika, auch wieder zum Dienst? Und ja, Feierabend habe ich auch. Aber erst heute Nachmittag.“

Anika lächelte und sagte: „Ich auch. Hab dich lange nicht gesehen. Warst du etwa krank?“

„Nein, meine Gutste, ich war immer im Dienst. Und mit deinem Spruch kann ich übrigens mithalten. Hab dich auch lange nicht gesehen.“

„Und? Gibt’s bei dir was Neues?“

„Nee, eigentlich nicht. Nur mein Sohn will nicht in die Schule. Du glaubst gar nicht, was ich deswegen schon alles durchgemacht habe. Seitdem der aus dem Kindergarten raus ist, fängt er an zu spinnen.“

„Anika, du sagst immer Kindergarten. Heißt das nicht richtig Kita?“ Kurz darauf bereute Erich seine Frage. Denn er bekam einen Vortrag: „Höre auf mit dem Wort: Kita oder Kindertagesstätte! Wenn ich das harte Wort höre, da geht mir schon wieder die Hutschnur hoch. Das ist ganz einfach nur Beamtendeutsch! Möchte mal wissen, wer das Wort erfunden hat. Der Fröbel, der den Kindergarten ins Leben gerufen hat, würde sich im Grabe nicht nur einmal umdrehen, wenn der das Wort hören könnte. Auf der ganzen Welt sagt man das schöne Wort: ‚Kindergarten‘. Selbst im fernen China wird es verwendet, und hier? Da wo es erfunden wurde? Sagt man Kita! Was soll der Scheiß? Wie soll ich dir das bloß auf die Schnelle erklären? Nimm mal das Wort Kindergarten. Was sagt dir das Wort? Überlege mal. Kinder im Garten. Im Garten fühlt man sich wohl und ist geborgen. Im Garten können glückliche Kinder spielen und in Liebe aufwachsen und da dürfen Kinder noch Kinder sein. Nun ja, genau das will das Wort Kindergarten ausdrücken: ‚Behütet sein und spielend aufwachsen!‘ Und was sagt das harte und lieblose Wort ‚Kita‘ oder ‚Kindertagesstätte‘? Das ist eine Stätte, wo die Kinder am Tag hingebracht oder abgestellt werden und Punkt. Obwohl ich die Arbeit der Kindergärtnerinnen achte und lobe. Ach so, nein, ich meine Erzieherinnen. Heute sind es Erzieherinnen. Sie machen trotzdem eine gute Arbeit. Das drückt aber der Name ‚Kita‘ so nicht aus! Weißt du eigentlich, dass die allererste Kindergärtnerin eine Nordhäuserin war?“

„Nee, das habe ich nicht gewusst. Echt? Wirklich eine Nordhäuserin?“

„Na, da will ich dich mal aufklären. Die allererste Kindergärtnerin auf der ganzen Welt hieß Ida Seele. Man nannte sie auch Fröbels Ida. Die wurde im Jahr 1825 hier in Nordhausen geboren, wurde vom Pädagogen Friedrich Fröbel in Blankenburg ausgebildet und dort begann sie auch mit ihrer Tätigkeit. Dann arbeitete und lehrte sie an verschiedenen Kindergärten und Schulen in Darmstadt, Landsberg an der Warthe und in Berlin. Hoffentlich habe ich keinen Ort vergessen. Danach kam sie nach Nordhausen zurück. Lebte und arbeitete hier bis zu ihrem Tod. Das war, glaube ich, im Jahr 1901. Ich muss mal wieder auf das Denkmal schauen. Ich fahre ja fast täglich dran vorbei. Fröbels Ida wurde auch hier in Nordhausen beigesetzt. Die würde sich übrigens auch im Grabe umdrehen, wenn sie das Wort ‚Kita‘ hören könnte. Ach, verdammt! Ich muss mich wieder abregen. Wo waren wir doch gleich wieder stehengeblieben?“

„Bei deinem Sohn. Der will nicht in die Schule.“

„Ach so, ja, sein bester Freund wurde ein Jahr zurückgestellt und deshalb will meiner auch im Kindergarten bleiben. Was hab ich da bloß mit dem Bengel falsch gemacht? Kannst du mir das mal erklären?“

„Ich? Nein, ja! Das ist garantiert Kinderfreundschaft. Aber bei dem Problem kann ich dir nun wirklich nicht helfen. Das musst du schon alleine hinkriegen. Mach das, was für deinen Sohn das Beste ist. Dann liegst du immer richtig. Und was sagt dein Mann dazu?“

„Gar nichts. Der ist auf Montage und kommt nur ab und zu, zu den Wochenenden, heim. Und meistens ist das immer dann, wenn ich arbeite.“

„Ach Anika, wie ich dich kenne, kriegst du das schon hin.“

„Ja, irgendwann, ja. Ich habe übrigens heute die Touren nach Erfurt und da kriege ich einen Praktikanten mit. Der will vielleicht später mal als Azubi bei der Eisenbahn anfangen. Ach, schon wieder so eine Abkürzung. Ich krieg …! Egal, da komme ich wenigstens mal auf andere Gedanken. Immerhin soll ich dem was von der Eisenbahn erzählen. Ich weiß zwar noch nicht was. Aber mir wird schon was einfallen. Erich, nimm’s mir nicht übel, wenn ich dir jetzt sage, dass ich los muss. Man sieht sich.“

„Ja mach’s gut, Anika. Und viel Spaß mit deinem Praktikanten und lass dir den Tag nicht von dem verderben. Und viel Glück mit deinem Sohn. Irgendwann geht der genauso gerne in die Schule, wie du einst gegangen bist. Glaub es mir.“

„Ich? Gerne in die Schule gegangen? Vergiss es.“

Anika drehte sich um und sah zu, dass sie zum Bahnhof kam.

Und pünktlich zum Dienstbeginn um fünf Uhr fünfundvierzig, war auch Erich in der Dienststelle, meldete sich beim Gruppenleiter und ging zu seinen Kollegen. Der Mehlmann, der schon seit zwanzig Minuten auf der Dienststelle war, hatte zwischenzeitlich die Kaffeemaschine in Gang geschmissen und alle warteten darauf, dass das Getränk fertig wird. Nach weiteren zwei Minuten brodelte und zischte es in der Maschine und das war des ultimative Signal: „Der Kaffee ist durch!“

Jeder schnappte sich seine Tasse und Jutta schenkte ein. Dann unterhielt man sich über dieses und jenes und wartete darauf, dass der Gruppenleiter reinkommt und mit der Einweisung beginnt.

Zwischenzeitlich gingen zwei Beamte aus der Nachtschicht an ihnen vorbei, um die Frühschicht zu begrüßen. Denn sie wollten Feierabend machen und verabschiedeten sich. Martin Schön, der auch Feierabend hatte, wollte noch ein bisschen sticheln und fragte: „Na Erich? Hast ja vor der Dienststelle ganz schön mit der Schaffnerin geflirtet. Hast noch nicht mal mitgekriegt, dass wir direkt an dir vorbeigegangen sind.“

Erich ließ sich nicht aus der Reserve locken und antwortete ganz cool: „Wenn das ein Flirt war, fress ich den Besen! Und ja, ich hab euch gesehen, wie ihr vorbeigerannt seid!“

Martin konnte aber nicht locker lassen und musste noch einen drauf geben: „Ich kann das ja verstehen, dass du dich so aufregst. Ich geb’ dir trotzdem noch ’nen Tipp: Verbrenne dir nicht die Finger an der Frau!“

Erich reagierte nicht mehr und Martin Schön verließ die Dienststelle. Und pünktlich wie immer stand der Gruppenleiter in der Tür, nahm sich seinen Kaffee und setzte sich. Die Einweisung begann: „Guten Morgen, ich hoffe doch, dass ihr alle gut geschlafen habt.“, und ohne eine Antwort abzuwarten erzählte er weiter: „Und zu der heutigen Lage, da kann ich euch beruhigen. In den letzten drei Schichten war nichts polizeilich Relevantes los. Nur die letzte Nachtschicht hatte ein Graffiti. Ich hoffe, dass es heute ebenso ruhig weitergeht. Nun zur Einteilung: Elu, du schnappst dir ein Auto und fährst mit Jutta die Strecke bis nach Arenshausen ab, kontrollierst die Unterwegsbahnhöfe nach Sachbeschädigungen und nehmt, wo möglich, Kontakt mit der Eisenbahn auf. Und meldet euch von unterwegs. Mehlmann, du schnappst dir den Erich, und ihr fahrt eine Zugstreife nach Erfurt und zurück. Wenn ihr in Erfurt seid, geht bitte mal auf die Inspektion. Die haben dort wichtige Dokumente für uns. Die bringt ihr natürlich mit. Und vergesst nicht die Fahndungskontrollen im Zug.“

„Nein, wie könnten wir das nur vergessen? Das geht ja überhaupt nicht. Und wenn wir alles vergessen, die Fahndungskontrollen nicht!“

„Erich, sei nicht so schnippisch. Schaut auf den Fahrplan und dann macht euch auf die Socken.“

Er ging zum Fahrplan und musste feststellen, dass der Zug bereits abgefahren war.

„Na, dann nehmt den nächsten.“

„Zu Befehl! Den nächsten Zug! Ach, da fällt mir gerade ein. Ich hab noch einen wichtigen Sachverhalt zu schreiben. Der Ermittlungsdienst wartet schon darauf.“

„Eeerich …!“

07:30 Uhr, Bahnhof Kleinfurra, Fahrdienstleiterstellwerk „KS“

Der Fahrdienstleiter Robert Schmidt hatte gerade den einfahrenden Triebwagen aus Richtung Sondershausen beobachtet und sah nebenbei seinen ehemaligen Kollegen Ingolf Glöckner. Dieser näherte sich vom Bahnsteig 1 kommend dem Fahrdienstleiterstellwerk „KS“ (Kleinfurra Süd). Er nutzte dabei den nicht öffentlichen Dienstweg. Dieser führte auf direkten Weg vom Bahnsteig zum Stellwerk und der diensthabende Fahrdienstleiter Robert Schmidt sprach ihn verwundert an: „Ingolf, was machst du denn hier? Ich dachte, die haben dich entlassen?“

„Robert, lass mich bitte hoch. Ich muss unbedingt noch mal an meinen Spind. Ich hab da was vergessen.“

„Okay, komm hoch.“

Während der ehemalige Kollege das Stellwerk betrat und die Treppe zum Bedien- oder Dienstraum hoch ging, erfolgte mittels Streckenfernsprecher die Meldung von der Ankunft des Triebwagens an den Fahrdienstleiter im Bahnhof Sondershausen. Danach erfolgte die Vormeldung an den Fahrdienstleiter im Bahnhof Wolkramshausen. Nachdem die nötigen Handlungen (Weichen stellen, Signale bedienen usw.) abgeschlossen waren, hatte Robert Schmidt ein wenig Zeit für seinen ehemaligen Kollegen und begrüßte ihn freundlich: „Na, Ingolf, wie geht es dir?“

„Was willst du hören? Willst du hören, dass es mir gut geht? Wie geht es einem, der seinen Job verloren hat? Ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Erzähl mir lieber, wie du dich darüber freust, dass du noch da bist und ich nicht mehr. Du hast deinen Job und es geht dir gut. Du darfst hier weiter machen und ich musste gehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich hier geblieben wäre. Ich hatte hier eine tolle Zeit und nun ist alles vorbei. Es fällt mit richtig schwer, hier wegzugehen.“

„Ingolf, das glaube ich dir. Mir würde das auch schwer fallen. Aber tröste dich, uns wird es auch irgendwann treffen. Spätestens dann, wenn die Strecke modernisiert wird. Danach ist unser Stellwerk auch weg. Und wir natürlich auch.“

„Ach, das glaube ich nicht. Da werden noch Jahrzehnte ins Land gehen bis sich hier mal was tut. Glaub es mir. Du wirst deine Rente hier noch erleben. Ich nicht mehr.“

„Ingolf, soweit kannst du nicht in die Zukunft blicken. Das hier mit dem Stellwerk kann nächstes Jahr schon vorbei sein.“

„Oh, das kann ich. Ich weiß, was die Zukunft bringt.“

„Kannst du nicht. Glaub es mir. Ich hatte es früher auch mal gewagt, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Damals war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich recht hatte. Ich will es dir mal kurz erzählen. Es war genau im Jahr 1973. Da bin ich als Lehrling auf diesen Bahnhof gekommen. Für mich war es damals eine schöne Zeit. Da gab es noch den Fahrkartenschalter, den Dienstvorsteher, die Aufsicht, den Bahnhofshelfer und natürlich auch die Bahnhofskneipe. Dort in der Kneipe waren wir innerhalb kürzester Zeit Stammgast. Wir haben da drin gemeinsam gefrühstückt, zu Mittag gegessen und zum Abendbrot waren wir auch dort. Je nachdem, was wir für eine Schicht hatten. Und nach Feierabend haben wir dort unser Bierchen getrunken. Jeder kannte jeden und dazu gehörte natürlich auch der Kneiper, und der kannte uns auch. Der Kneiper hieß übrigens Fazius. Mann, da war noch richtiges Leben auf dem Bahnhof. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern. Und wenn ich heute dahin schaue …“

„Sprich es nicht aus.“

„Hast recht, ich erzähle weiter. Also, ab und zu musste ich im Rahmen der Ausbildung auch mal zum Haltepunkt Großfurra und dort, ausgerechnet dort, hatte ich meine Zukunftsvision: Also, in der kalten Jahreszeit musste, wie sollte es auch anders sein, der Warteraum für die Fahrgäste beheizt werden. Und wer war für das Heizen verantwortlich, wenn ein Lehrling da war? Natürlich der Lehrling. Also ich. Zuerst musste ich aus dem Ofen die kalte Asche rauskratzen. Dann wurde sie zur Aschentonne gebracht und danach ging es zum Kohlebunker. Dort wurden zwei Eimer gefüllt und zurückgebracht. Ein Eimer war für den Warteraum und ein Eimer war für den Dienstraum. Danach wurde im Warteraum das Feuer angezündet. Das war ganz einfach. Da wurde mit einer Schippe ein bisschen Glut aus dem Ofen des Dienstraumes herausgeholt und zum Warteraum hinübergetragen. Manchmal war das nicht notwendig, weil noch ein bisschen Glut vom Vortag im Ofen war. Das kam aber immer darauf an, wann und wie viel das letzte Mal aufgelegt wurde. Und dann musste ich darauf achten, dass das Feuer nicht wieder aus geht. Denn die Fahrgäste sollten es ja immer warm haben und durften auf keinen Fall frieren. Und damals hatte ich mir gedacht, dass es die Lehrlinge in der Zukunft auf jeden Fall besser haben werden. Denn spätestens, allerspätestens im Jahr 2000 gibt es dort im Haltepunkt keine Kohlen mehr und der Warteraum wird durch eine elektrische Heizung oder so etwas Ähnliches beheizt. Auf jeden Fall würde dort keiner mehr Kohlen schleppen. Und wie ich schon sagte, ich war damals felsenfest davon überzeugt. Immerhin gab oder gibt es doch den kontinuierlichen Fortschritt. Und das Jahr 2000? Ja, das lag für mich unerreichbar weit in der Zukunft. Und heute? Das Jahr 2000 ist schon lange Geschichte. Und auf dem Haltepunkt Großfurra stehen die Leute, auch bei Regen und Sturm, im Kalten. So kann man sich täuschen. Und Lehrlinge wird der Haltepunkt wohl auch nicht mehr sehen.“

„Aber in einem Punkt hattest du damals doch recht gehabt.“

„In welchem?“

„Dort schleppt keiner mehr Kohlen aus dem Bunker.“

Beide schauten sich an und lachten. „Ja, von dem Standpunkt aus betrachtet lag ich damals wohl doch richtig. Dort schleppt keiner mehr Kohlen. Und wenn ich darüber nachdenke, wie lange das schon her ist. Das ist doch der blanke Wahnsinn.“

So unterhielten sich die beiden über einen längeren Zeitraum. Zwischendurch wurden die Zugfahrten mal vom diensthabenden Fahrdienstleiter Robert Schmidt geleitet und der ehemalige Kollege Ingolf Glöckner durfte unter Aufsicht hier und da auch mal einen Zug ein- und ausfahren lassen. Für Ingolf, so sagte er, war das noch mal ein schönes Erlebnis und das würde er ihm auch nie vergessen. Dann sagte er: „Ich habe noch eine Thermoskanne mit Kaffee im Auto. Hast du was dagegen, wenn ich den hier hoch hole? Der muss ja nicht sinnlos kalt werden.“

„Ingolf, das ist eine gute Idee. Da muss ich mir nicht selber einen brauen.“

Ingolf Glöckner ging zum Auto, welches auf dem Bahnhofsvorplatz stand, und holte die Thermoskanne, schenkte ein und während die Unterhaltung weiterging, tranken beide genüsslich ihren, noch heißen, Kaffee. Dabei nahm man sich sehr viel Zeit, denn sie hatten sich noch allerhand zu erzählen.

Nach fast zwei Stunden verabschiedete sich der ehemalige Kollege, ging zu seinem Auto und fuhr los.

Robert Schmidt schaute hinterher und hatte ein wenig Mitleid mit ihm. Und ja, das mit der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses konnte er auch nicht ändern. Er kannte noch nicht mal den Grund dafür. Ingolf hatte nie darüber gesprochen.

09:20 Uhr Bahnhof Nordhausen, Bahnsteig 3, Regionalexpress RE 16573

Der Zug 16573 (Nordhausen – Erfurt), bestehend aus einer doppelten Triebwageneinheit, stand abfahrbereit am Bahnsteig 3. Die zum Zug gehörige Kundenbetreuerin Anika Bachmann stand vor dem Zug am Bahnsteig und beobachtete eine ältere Dame. Diese hatte beim Einsteigen Schwierigkeiten mit ihrer Reisetasche. Sie ging augenblicklich hin und half ihr beim Tragen. Sie nahm mit ihrem Einverständnis die schwere Reisetasche und sie gingen zusammen in das nächstgelegene Abteil. Die dankbare Frau brauchte sich nur noch auf ihren Platz zu setzen.

Danach stieg Anika wieder aus und wartete vor dem Zug auf die Abfahrtzeit. Neben ihr stand ein Jugendlicher und sie unterhielten sich über dieses und jenes. Es war der ihr zugewiesene Praktikant. Er war sechzehn Jahre alt und sein Name war Knut Hölzel. Er war Schüler in der zehnten Klasse und wollte sich eventuell bei der Eisenbahn bewerben. Und Frau Bachmann, die jetzt die Verantwortung für den Praktikanten hatte, hatte das Herz einer Eisenbahnerin. Und das spürte der Praktikant. Sie gab sich ihm gegenüber besonders viel Mühe und erklärte jeden Schritt, den sie tat, und jede Tätigkeit, die sie gerade machte beziehungsweise noch machen wollte. Augenscheinlich waren dem Praktikanten die Erklärungen jetzt schon zu viel oder er hatte einfach nicht verstanden, was sie da gerade sagte und deshalb nickte er immer nur noch mit sichtlichem Desinteresse. Nachdem Frau Bachmann gesehen hatte, dass der Bahnsteig menschenleer war, stieg sie mit ihrem Praktikanten ein.

09:25 Uhr, Bundespolizeidienststelle

Auf der Bundespolizeidienststelle bereiteten sich gemäß ihrem Auftrag zwei Polizeibeamte auf die angewiesene Zugstreife nach Erfurt vor.

„Erich, wo bist du denn schon wieder? Unser Zug fährt gleich ab. Der wartet nicht! Und auf uns schon gar nicht!“

„Noch fünf Minuten, bin gerade am Spind und suche was.“

„Soll ich schon mal losgehen und den Zug solange für dich festhalten, bis du gefunden hast, was du da suchst?“

Erich schaute auf die Uhr und erschrak: „Ach du liebe Sch…! Mehlmann! Ich komme!“

Innerhalb weniger Sekunden stand der Obermeister Glaubmirnix vor dem Eingang und fragte: „Mehlmann! Wo bleibst du denn? Ich stehe die ganze Zeit in der Tür und warte auf dich!“

„Erich, du kannst mich nicht verarschen!“

Beide lächelten und beeilten sich, zum Zug zu kommen.

09:29 Uhr, Bahnsteig 3

Lothar Büttner, der Triebfahrzeugführer des Zuges 16573, schaute auf die Uhr und wartete darauf, dass das rot leuchtende Ausfahrsignal grün wird und er endlich losfahren kann. Damit die Zeit bis zur Abfahrt schneller verstreicht, schaute er immer mal über den Bahnsteig und beobachtete die Leute beim Einsteigen und nachdem der Minutenzeiger pünktlich um neun Uhr neunundzwanzig auf die vorgegebene Abfahrtzeit sprang, leuchtete auch das Ausfahrsignal grün und die Strecke war für die Zugfahrt freigegeben. Der Triebfahrzeugführer schaute sicherheitshalber noch mal über den Bahnsteig und sah noch zwei Polizeibeamte, die zielstrebig aus der Unterführung hoch kamen und den Bahnsteig entlang, auf den Zug zu hasteten. Also wartete er noch einen kurzen Moment.

Nachdem die Beamten eingestiegen waren, verriegelte er die Türen und der Zug fuhr los. Nun, nachdem der Zug abgefahren war, ging die Kundenbetreuerin mit ihrem Praktikanten vor zum Führerstand und setzte sich. Sie legte nebenbei ihre persönlichen Sachen ab und machte sich für die Fahrausweiskontrolle fertig. Der Praktikant schaute neugierig zum Fenster hinaus und war erstaunt. Solch eine interessante Aussicht hatte er noch nicht gehabt. Er sah die Gleise und verschiedene Weichen vor sich und beobachtete, wie der Zug von einem Gleis über die nächste Weiche fuhr, abbog und auf dem Nachbargleis weiter fuhr. Das konnte er zweimal beobachten. Danach war der Zug auf dem richtigen Streckengleis und nachdem der Zug die letzte Weiche hinter sich gelassen hatte, beschleunigte er bis auf hundert Kilometer pro Stunde. Nun schnappte sich Anika ihren Praktikanten und gemeinsam gingen sie los, um die Fahrausweise auf ihre Gültigkeit zu kontrollieren und nebenbei gingen die Erklärungen weiter: „Sollte jemand ohne Fahrausweis angetroffen werden, so hab ich die Aufgabe, eine Nachlösung auszustellen, und wenn einer nicht bezahlen kann oder nicht bezahlen will, bin ich berechtigt, die Personalien festzustellen und aufzunehmen. Und sollte die Herausgabe der Personalien verweigert werden, kommt die Bundespolizei ins Spiel. Heute haben wir Glück, es sind gerade zwei eingestiegen. Wenn wir die treffen, werde ich sie dir kurz vorstellen und wir können uns ein wenig unterhalten. Ich kenne alle beide. Die sind voll in Ordnung.“

„Muss das wirklich sein?“, fragte daraufhin der Praktikant und bekam die entsprechende Antwort: „Natürlich! Ich kenne die schon seit Ewigkeiten. Und wenn ich die ignoriere, sind die am Ende noch böse mit mir. Wirst schon sehen. Die tun dir nix!“

Heute hatte die Kundenbetreuerin doppeltes Glück. Es sind Polizisten im Zug und sie musste sich bis jetzt mit keinem Fahrgast herumärgern. Alle zeigten ihre Fahrkarten und waren freundlich zu ihr. Der Praktikant, der gerne ein wenig sticheln wollte, erklärte die Situation so: „Also, wenn man keine Polizei braucht, ist sie da. Und wenn man die Polizei braucht, ist sie nicht da.“

„Knut! Erzähle nicht so einen Quatsch! Und lass die das nicht hören.“

„Aber ein Fünkchen Wahrheit ist schon dran. Oder nicht? Hatte da nicht mal einer gesagt: ‚Wenn du einen Polizisten sehen willst, musst du den Fernseher einschalten und den nächsten Krimi gucken?‘“

„Knut! Jetzt ist es aber gut! Lass uns unsere Arbeit machen!“

Die zwei Bundespolizisten hatten sich im letzten Abteil niedergelassen und schauten zum Fenster raus. „Mehlmann, wie sieht es aus. Wollen wir los?“

„Wenn du nichts dagegen hast, warten wir noch bis Wolkramshausen. Danach gehen wir los.“

„Okay. Hast du gesehen, wer als Kundenbetreuerin an Bord ist?“

„Ja, Anika ist an Bord und Lothar sitzt im Führerstand.“

Oh, Anika, das ist gut. Die hat mir heute früh den Unterschied von Kindergarten und Kindertagesstätte erklärt. Wenn du es auch wissen willst, frage ich gleich mal nach. Ich bin mir sicher, dass das für dich ein sehr interessanter Vortrag wird.“

„Höre auf. Das will ich gar nicht wissen. Habe gerade andere Probleme. Aber da spreche ich nicht drüber.“

„Na, dann eben nicht. Kannst es dir ja noch überlegen.“

„Wen interessiert schon der Unterschied zwischen Kita und Kindergarten? Mich nicht!“

„Schau mal da, wer da kommt? Wie heißt das so schön? Spricht man vom Teufel …“

„… da ist er nicht weit! Grüß dich, Anika, der Erich lästert gerade über dich.“

„Waaas? Der kann doch gar nicht lästern.“ Anika drehte sich um und rief: „Knut, komm mal her. Ich will dir zwei gute Polizisten vorstellen. Nun komm schon endlich! Die beißen nicht!“ Danach wandte sie sich wieder den Polizisten zu: „Das ist mein Praktikant. Sein Name ist Knut Hölzel. Den hab ich heute mitbekommen. Der ist unheimlich wissbegierig und will mal bei der Eisenbahn anfangen. Der hat schon allerhand von mir gelernt. Stimmt’s Knut?“

Der Bengel nickte verlegen.

„Du, Anika? Der Mehlmann kennt nicht den Unterschied von Kita und …!“

„Kein Problem!“, sagte Anika, setzte sich und fing an zu erzählen: „Also …“

„Anika, höre auf! Der Erich will dich doch bloß ärgern.“

„Der? Der kann mich nicht ärgern! Das hat er damals in der Schule schon versucht. Hat aber nie geklappt. Da weißt du, wie lange ich den Kerl schon kenne.“

„Na gut! Wechseln wir das Thema! Was gibt es Neues bei der Eisenbahn?“

„Eigentlich nichts! Nur, ja …, lass mich mal kurz überlegen. Ach ja, der Zug ist bis jetzt pünktlich!“

Im selben Moment kam eine Durchsage: „Werte Fahrgäste! Wir warten auf dem Bahnhof Wolkramshausen auf den verspäteten Anschlusszug aus Leinefelde. Die Weiterfahrt könnte sich deswegen um wenige Minuten verzögern. Wir bitten um Ihr Verständnis!“

„Na Anika, sind wir nach dem Anschlusszug immer noch pünktlich?“

„Erich! Der Mehlmann hatte doch recht! Du willst mich ärgern! Ich sage dir nur das eine: Wir warten garantiert nicht länger als zehn Minuten! Und was sind schon zehn Minuten bis Erfurt? Die haben wir spätestens in Greußen wieder drin. Du kennst doch meinen Lokführer!“

Mit Anikas Ankündigung fuhr der Zug in Wolkramshausen ein und musste tatsächlich zehn Minuten auf den Anschlusszug warten. Während der Wartezeit ging Anika mit ihrem Praktikanten wieder vor zum Triebfahrzeugführer und wollte hinter Sondershausen die nächsten Fahrausweise kontrollieren. Die zwei Polizisten beobachteten von ihrem Sitzplatz aus den Umstieg der Reisenden, um im Notfall helfen zu können.

„Und wenn der Zug abfährt, beginnen wir mit unseren Fahndungskontrollen!“, schlug der Mehlmann vor und schaute auf die Uhr. Als der Zug endlich abfuhr, beschleunigte der Triebwagen ungewöhnlich schnell und bei der Einfahrt in den Bahnhof Kleinfurra hatte sich die Verspätung auf neun Minuten verringert und nach Abfahrt vom Haltepunkt Großfurra waren es nur noch acht Minuten. Dieser Fakt führte unseren Erich zur Einsicht: „Langsam glaube ich doch, dass Anika recht hat. Da muss ich mich wohl oder übel doch noch bei ihr entschuldigen.“

Zur selben Zeit in einem Haus in Großfurra

„Verdammt noch mal, du siehst in deinem Hochzeitskleid umwerfend aus. Lass dich mal so richtig anschauen und drehe dich bitte einmal um. Ich will mal sehen, wie dein Kleid von hinten aussiehst.“

„Vati! Du sollst nicht immer verdammt noch mal sagen!“

„Ja, ja, ist schon gut. Dreh dich doch bitte einmal rum.“ Während sich die Tochter Andrea umdrehte, redete der Vater weiter: „Das Kleid passt wie angegossen. Da bin ich gespannt, was dein Bräutigam dazu sagt. Wo ist der denn überhaupt? Hätte der nicht schon längst da sein müssen? Immerhin wollen wir in einer Stunde auf dem Standesamt sein.“

„Beruhige dich, der wird gleich da sein.“

„Der Polterabend war für deinen Ingo bestimmt ein bisschen zu anstrengend. So lustig und ausdauernd, wie der gestern Abend war, hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“

„Vati, das musst du auch nicht. Wo ist denn überhaupt Mutti abgeblieben?“

„Ich denke mal im Schlafzimmer und zieht sich um.“

„Und wo ist Omi?“

„Ich denke mal bei deiner Mutter.“

Kurz darauf ging die Tür auf und zwei festlich gekleidete Frauen kamen rein. Beide waren aufgeregt und diskutierten über das Wetter und die anstehende Hochzeit: „Hoffentlich regnet es nicht, und schau dir mal das wunderschöne Brautkleid an. Das darf auf keinen Fall nass werden … und sieht sie nicht himmlisch aus, meine Kleine? Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie jetzt schon heiratet. Gestern war sie noch in der Schule und heute ist sie schon neunzehn.“

„Moni, beruhige dich. Vorgestern hattest du dein Brautkleid an und ich konnte es genauso wenig begreifen. Und jetzt …? Und wenn ich mir deine Tochter genauer anschaue, bist du auch bald ’ne Oma.“

„Nein, das glaube ich nicht. Ich bin doch erst vierzig! Da kann man doch noch keine Oma werden.“

„Glaub es mir. Man kann. Ich war neununddreißig.“

Der Brautvater, Manfred Kaune, schüttelte bei der Diskussion nur noch mit dem Kopf und lächelte in sich rein.

„Manni! Lache nicht! Kümmere dich lieber um den Sägebock und um die Blumen, die verstreut werden müssen! Und hast du auch genug Kleingeld für die Kinder eingesteckt? Und wo hast du den Brautstrauß? Und hast du …?“ Moni fiel nichts mehr ein und so endete sie mit ihren Forderungen: „Denke dran! Heute darf nichts schiefgehen!“

„Immer schön langsam. Punkt eins steht schon im Hinterhof bereit. Darum hat sich Bernd gekümmert. Wir haben uns auch die stumpfeste Säge ausgesucht und den dicksten Holzklotz besorgt. Mal sehen, wie lange das Brautpaar sägt.“

„Manni, du bist gemein.“

Der Brautvater drehte sich zu seiner Andrea und flüsterte: „Ich habe euch eine extra scharfe Säge hingelegt.“ Dabei zwinkerte er mit dem rechten Auge und die Braut freute sich und dachte: „Wenn Vati jetzt geschwindelt hat, tue ich nur noch so, als ob ich säge. Mein Ingo ist ein kräftiger Mann. Der macht das schon.“

„Punkt zwei hab ich in der Tasche und bei Punkt drei und vier bin ich nicht zuständig! Das ist eure Aufgabe.“

„Beruhigt euch doch bitte“, mischte sich Oma Selma ein, „der Blumenstrauß steht in einer Vase in der Küche. Wenn es soweit ist, hole ich ihn.“

„Du bist doch die beste Oma.“

„Seid mal ruhig! Ich glaube, da kommt eine Kutsche vorgefahren.“

Alle stürmten zum Fenster und schauten auf die Straße. Da stand tatsächlich schon die heiß ersehnte, reich verzierte und mit vielen Blumen geschmückte Kutsche. Der Kutscher im festlichen Anzug mit Fliege und Zylinder, stieg ab und öffnete dem Bräutigam die Tür. Der stieg aus und ging zum Haus. Das war für alle das Aufbruchssignal. Alles rannte im Haus durcheinander und trotzdem stand innerhalb kürzester Zeit die komplette Hochzeitsgesellschaft vor der Tür.

Im Regionalexpress 16573

Die zwei eingesetzten Polizeibeamten erhoben sich von ihren Sitzen und fingen gutgelaunt mit ihren stichprobenartigen Fahndungskontrollen an. Blieben aber gleich bei der ersten Person stecken. Der junge Mann schien keinen Personalausweis bei sich zu haben. Er suchte verzweifelt all seine Taschen ab, fand aber nichts.

„Haben sie kein anderes Dokument wie zum Beispiel eine Fahrerlaubnis, Studentenkarte oder irgendeinen Versicherungsausweis mit Lichtbild bei sich? Schauen Sie bitte noch mal nach.“

Der junge Mann fing wieder an zu suchen.

Zur selben Zeit erklärte Anika ihrem Praktikanten: „Siehst du, wie der Zug die Verspätung aufholt? Spätestens, wenn wir in Sondershausen abfahren, sind wir wieder pünktlich! Wenigstens fast.“

Knut nickte skeptisch.

Jetzt mischte sich der Triebfahrzeugführer ein: „Anika, übertreibe nicht. Es reicht, wenn wir bis Erfurt wieder pünktlich sind. Und nun anderes Thema. Habe ich dir schon erzählt, dass mein Großer gestern eine Fünf in Mathe mit nach Hause gebracht hat? Ich war ganz schön sauer auf diesen Bengel. Und das ist ja nicht die erste Fünf. Erst neulich, das ist gerade mal drei Wochen her, hatte der sogar eine Sechs! Jetzt hab ich ihm eine Woche Ausgangssperre aufgebrummt. Es scheint zu helfen. Glaube ich wenigstens. Du musst mal sehen, wie der jetzt büffelt. Gerade in der heutigen Zeit ist es doch wichtig, dass man gute Noten … Anika! Ich glaube, da kommt eine Lok auf uns zu! Verdammt! Da kommt tatsächlich eine Lok! Scheiße! Anika! Schnapp dir deinen Praktikanten und rennt so schnell wie möglich in den Zug und sucht euch einen sicheren Platz!“

Im selben Moment riss der Triebfahrzeugführer die Bremse herum und schlug mit der Faust auf das Signalhorn. Bei dem Druck, der bei dieser Gefahrenbremsung entstand, hatten sie aus eigener Kraft kaum eine Chance, den Führerstand zu verlassen. Knut, der in der Tür stand, rannte los und erreichte das erste Abteil. Der Triebfahrzeugführer sprang nach Auslösung der Bremse auf, stemmte sich gegen die Bremswirkung, schnappte sich die Kundenbetreuerin und schob sie aus dem Führerstand, schmiss die Tür hinter sich zu und im selben Moment erfolgte der Aufprall. Durch den Aufprall wurde der Führerstand komplett zusammengepresst. Der Druck verformte auch den dahinter liegenden Bereich bis hin zur Eingangstür. Der Triebwagen entgleiste, kippte zur Seite und kam in einer gefährlichen Schräglage zum Stehen. Nun drohte der Triebwagen zu jeder Zeit umzustürzen und die entgegengekommene Diesellok hatte sich im Triebwagen verkeilt.

Im hinteren Teil des Triebwagens hörte man zuerst einen lauten Knall, dann das Bersten von Metall und Kunststoff und dann spürte man die Wucht des Aufpralls. Die Reisenden wurden durch den Zug geschleudert und blieben irgendwo im Abteil liegen. Auch die zwei Bundespolizisten blieben davon nicht verschont. Obwohl sie versucht hatten sich festzuhalten, riss die Wucht beide Beamten mit und sie schlugen auf dem Boden auf und rutschten meterweit durch den Zug. Dabei hatten sie mächtig Glück gehabt, da sie nicht ernsthaft verletzt wurden.

Nun hörte Erich schmerzhafte Schreie und verzweifelte Hilferufe. Er rappelte sich auf und schaute sich um. Was er da sah und hörte, machte ihn fassungslos. Bei dem Anblick musste er sich zusammenreißen und durfte nicht zeigen, dass er selbst auch Schmerzen hatte. Und im ersten Moment wusste er nicht, was er zuerst und zuletzt machen sollte: „Ich brauche Hilfe. Nein! Ich nicht! Die Leute brauchen Hilfe. Ich muss helfen! Verdammt noch mal!“ Er nahm sein Funkgerät und rief die Leitstelle: „Efeu 47 für die Efeu 47-20 kommen!“

„Efeu 47 hört.“

„Hier die Efeu 47-20! Ich muss einen Unfall melden! Unser Zug ist vermutlich mit einem Hindernis zusammengestoßen! Wir haben hier etliche Verletzte und brauchen dringendst Unterstützung vom Rettungsdienst, Notarzt und Feuerwehr. Unser Standort liegt zwischen Großfurra und Sondershausen. Den genauen Bahnkilometer kann ich von hier aus nicht sehen. Unser Zug steht ungefähr auf halber Strecke zum ehemaligen Bahnhof ‚Glück Auf‘. Ich gehe jetzt durch den Zug und helfe den Verletzten. Und wenn ich Näheres weiß, melde ich mich wieder. Efeu 47-20 Ende!“

Eine Hochzeitsgesellschaft in Großfurra

Der Brautvater Manfred Kaune verließ als letzter das Haus und schaute nach, ob alles ordnungsgemäß verschlossen war. Dann ging auch er zur Kutsche und begrüßte seinen zukünftigen Schwiegersohn und dessen Eltern. Dieser bestaunte seine zukünftige Braut und war über das Hochzeitskleid sprachlos: „Schatz du siehst umwerfend aus. Komm, lass dich küssen.“

„Nein, jetzt noch nicht!“, mischte sich der Brautvater ein. „Erst nachdem du ‚Ja‘ gesagt hast!“

Der Bräutigam gab nach und half seiner Braut beim Einsteigen in die Kutsche. Da klingelte ein Handy. Es war das Handy des Brautvaters. Er zog es aus seiner Tasche und legte es an sein Ohr. Dann wurde er blass und fing an, ein wenig zu zittern. Alle, die das mitbekommen hatten, sahen, dass hier irgendwas nicht stimmte. Manfred ging ein wenig zur Seite und schaute seine Tochter an. Es war ein trauriger Blick. Er war verunsichert und wusste nicht, was er dem Anrufer antworten sollte. Er ging beiseite und setzte sich auf einen Stein. Stand sofort wieder auf und steckte sein Handy wieder weg. Mit unsicheren Schritten ging er zur Tochter und sagte: „Ich kann nicht mitkommen. Verzeih mir, liebe Andrea. Ich glaube, du musst ohne mich heiraten.“

Die Braut schaute ihn entsetzt an und sagte: „Nein! Das darfst du nicht! Du musst mitkommen! Egal, was man dir da gerade gesagt hat. Das ist unwichtig! Mach mir meinen schönsten Tag nicht kaputt!“

„Ich kann nicht anders. Da gab es einen Unfall auf der Eisenbahn mit vielen Verletzten. Es können auch Tote dabei sein. Ich muss dort hin und muss helfen. Es tut mir wirklich leid. Fahrt los und wartet nicht auf mich. Ich komme so schnell wie möglich nach.“

„Nein! Du steigst sofort in die Kutsche! Die können auch ohne dich dorthin fahren.“

„Nein, das geht nicht. Ich kann nicht anders. Ich bin der Wehrführer.“ Dem Brautvater standen bei dem Anblick seiner Tochter die Tränen in den Augen. Dann drehte er sich um und rannte schweren Herzens zur Einsatzstelle der Feuerwehr.

Kurz darauf hörte man die Sirene.

Im Zug

Erich hatte noch nicht wirklich begriffen, was passiert war, und er musste sich ein Bild von der Situation machen. Zuerst suchte er seinen Kollegen und fand ihn zwei Sitzreihen weiter. Der versuchte auch gerade aufzustehen und stützte sich dabei auf eine Sitzfläche, diese brach auf Grund einer Beschädigung weg und er stürzte wieder zu Boden. Erich rannte hin, half ihm hoch und fragte: Hast du irgendwo Schmerzen? Was kann ich für dich tun?“

„Ich? Ich hab doch keine Schmerzen. Mir geht es gut!“

„Und was ist das für Blut an deiner Schläfe?“

Der Mehlmann fasste sich dorthin und antwortete: „Das ist nicht mein Blut!“

Erich sah, dass er schwindelte, und begutachtete die Wunde genauer. Es war Gott sei Dank nur eine Schürfwunde. Ein größeres Pflaster konnte da schon helfen.

„Mehlmann, wir müssen uns unbedingt einen Überblick verschaffen und den Verletzten helfen. Wir müssen durch den Zug. Die Leitstelle weiß schon Bescheid.“

Beide gingen los. Nebenbei sah Erich den jungen Mann, welcher seinen Personalausweis nicht vorzeigen konnte, wie er sich um eine verletzte ältere Frau kümmerte. Erich fand das gut, war froh und nickte freundlich. Der junge Mann sprach: „Ich wurde beim Militär zum Rettungssanitäter ausgebildet. Ich werde helfen, wo ich kann!“

Und ja, Hilfe war dringend notwendig. Die zwei Polizeibeamten, die den ersten Schock hinter sich gelassen hatten, kümmerten sich ebenfalls um die Verletzten. Nebenbei wurden die Betroffenen gezählt und überprüft, wie schwer die Verletzungen sind. Es sollte dementsprechend Hilfe angefordert werden. Im hinteren Abteil, wo sich die zwei beim Aufprall aufgehalten hatten, zählten sie acht Leichtverletzte und eine schwerverletzte Frau. Die Zahlen wurden sofort durchgegeben. Im Bereich der Eingangstüren wurde versucht, wenigstens eine Tür zu öffnen. Denn sobald die Rettungskräfte eintreffen, sollten sie einen schnellen und barrierefreien Zugang in den Triebwagen haben. Das klappte leider nicht. Die Türen waren verriegelt und hatten sich durch den Aufprall verklemmt. Somit wurden mit dem Nothammer, welcher sich in jedem Abteil befinden sollte, zwei Scheiben eingeschlagen und die Glassplitter entfernt. „So Mehlmann, jetzt wird es schwieriger. Wir müssen sehen, was da vorne los ist.“

„Siehst du, wie schräg der Wagen steht? Hoffentlich kippt der nicht gänzlich um, wenn wir da durch gehen!“

„Egal, wir müssen da rein. Verdammte Scheiße! Siehst du das? Der Führerstand ist komplett eingedrückt.“

„Los, wir müssen da hin! Siehst du die Kundenbetreuerin?“

„Nein.“

„Und den Lokführer?“

„Nein.“

„Hoffentlich ist denen nichts passiert. Das sieht da vorne richtig schlimm aus. Sag mal, die hatten doch noch einen Praktikanten bei sich?“

„Den sehe ich auch nicht.“

Beide Polizisten kämpften sich nun Schritt um Schritt durch das Abteil, mussten ausgerissene Sitzbänke und andere Hindernisse bei Seite schieben und das kostete Kraft und Zeit. Sie wollten alles begutachten und den Verletzten helfen und Hoffnung zusprechen. Und sie wollten bei ihrem Einsatz nicht riskieren, dass durch unnötige oder hastige Bewegungen der Triebwagen gänzlich umkippt und es weitere Verletzte oder Tote gibt. Sie zählten auf ihren Weg noch mal zwölf Leichtverletzte und drei schwerverletzte Personen. Und dort, wo der Wagen zusammengedrückt war, fanden sie den Praktikanten. Der war gerade dabei, eine eingedrückte Seitenwand beiseite zu schieben. Das klappte aber nicht, weil die Decke teilweise eingestürzt war und sich über die verbogene Wand gelegt hatte. Somit war alles blockiert.

Erich sprach ihn sofort an: „Was machst du denn da?“

„Dahinter sind meine Chefin und der Lokführer. Ich will sie da rausholen. Ich hab schon ein paarmal gerufen. Aber die antworten nicht. Deshalb will ich diese Wand hier wegschieben. Ich will nicht, dass alle beide dahinter tot sind.“

Der letzte Satz fiel ihm sichtlich schwer. Erich schnappte sich sein Funkgerät und informierte die Leitstelle über den momentanen Stand. Danach baten sie den Praktikanten, beiseite zu gehen und wollten selber ihr Glück versuchen. Egal, was man ihm sagte und zu erklären versuchte, der Praktikant ließ sich nicht vertreiben. Der wollte hartnäckig seine Chefin retten und antwortete: „Dort hinter dieser Wand ist Frau Bachmann! Und ich bin verantwortlich für sie! Stellen Sie sich mal vor, die kommt da raus, sucht mich überall und findet mich nirgendwo. Was sie sich da für Vorwürfe macht.“

„Nein“, konterte Erich, „du bist nicht für sie verantwortlich. Rede dir das ja nicht ein. Eher ist es umgedreht. Sie trägt für dich die Verantwortung!“

„Na ja, das meine ich doch. Wenn Frau Bachmann da rauskommt und ich bin nicht da! Ich bleibe hier und helfe mit, sie da rauszuholen, und Punkt!“

Da halfen von Seiten der Beamten keine weiteren Drohungen. Der Bengel blieb hart. Nun ja, da wurde eben von Seiten der Polizisten nachgegeben und zu dritt angefasst. Immerhin galt es, Menschenleben zu retten. Egal wie und zu welchem Preis. Während sie nun gemeinsam versuchten, die Wand beiseite zu bekommen, riefen sie immer wieder ihre Namen: „Anika! Anika Bachmann! Lothar! Wo seid ihr? Meldet euch! Wenn ihr nicht könnt, gebt wenigstens ein Zeichen. Ein einfaches Klopfen reicht. Nur damit wir wissen, wo ihr seid und wie es euch geht.“ Es kam keine Antwort. Nach und nach kam der Verdacht auf, dass sie den Unfall nicht überlebt haben könnten. Dieser schreckliche Gedanke spornte die Retter noch mehr an und obwohl der Gedanke immer wieder weggewischt wurde, war er doch immer zugegen: „Wir retten sie auf jeden Fall! Und die sind auch nicht tot!“

Nun hörte man draußen die ersten Signalhörner. Es war die freiwillige Feuerwehr von Großfurra und die von Kleinfurra und Sondershausen waren auch schon auf dem Weg und sollten in Kürze eintreffen. Da kamen die ersten Rettungswagen zum Unfallort. Die Rettungssanitäter und der Notarzt stiegen aus und begaben sich unverzüglich zu den Verletzten. Dann traf die Landespolizei ein und selbst die Kollegen der Bundespolizei waren innerhalb kürzester Zeit vor Ort. Obwohl sie den längsten Anfahrtsweg hatten. Sie kamen von Sollstedt rüber gefahren. Auch der Notfallmanager der Bahn war anwesend und Erich sah, wie er den Einsatzkräften irgendwelche Hinweise gab. Erich achtete nicht weiter auf das Einsatzgeschehen. Er wollte unbedingt mit dem Mehlmann die verdammte Wand wegbekommen.

Und als die ersten Einsatzkräfte der Feuerwehr am Zug waren und dabei die drei Retter im Zug entdeckten, pochten sie vorsichtig mit der Faust gegen das Fenster. Danach gingen sie sofort wieder auf Sicherheitsabstand und beobachteten ihre Reaktion. Sie sahen die gefährliche Position des Triebwagens und wollten unnötige Aktionen vermeiden. Mit Handzeichen und kurzen Sätzen erklärte Erich die Situation im Zug und bat gleichzeitig um Hilfe. Sie sollten so schnell wie möglich zu ihnen kommen, um bei der Rettung zu helfen. Denn, egal wie sie sich anstrengten, alleine schafften sie es nicht. Die Wand war zu sehr mit der herunterhängenden Decke verkeilt. Hier konnte nur noch schwere Technik helfen.

Dann meldete sich das Funkgerät: „Efeu 47-20 für die Efeu 47-30 kommen!“

Erich meldete sich: „Efeu 47-20 hört!“

„Efeu 47-20, wir sehen euch nicht! Seid ihr im Zug? Gebt mal euren Standort! Wir wollen zu euch.“ Sie standen nach ihrer Ankunft mit ihrem Streifenwagen auf Grund von Platzmangel etwas ungünstig und hatten dadurch nur eine begrenzte Sicht zum Ereignisort.

Erich antwortete: „Die Efeu 27-20 ist mit Kollege M. im vorderen Teil des Zuges und sucht die Kundenbetreuerin und den Triebfahrzeugführer. Könnt ihr mal von außen schauen und uns mitteilen, was da konkret passiert ist? Vielleicht seht ihr was von den beiden?“

„Die Efeu 37-30 ist unterwegs, und wie ich von hier aus schon sehe, ist euer Triebwagen gegen eine entgegengekommene Diesellok der Baureihe 232 geprallt. Sieht schlimm aus. Die Lok hat sich voll im Triebwagen verkeilt. Die Feuerwehr ist gerade dabei, auf den Führerstand der Lok zu klettern. Wie es aussieht, suchen die den Lokführer.“

Erich schaute aus dem Fenster und sah, wie sein Kollege Elu zu einem Feuerwehrmann ging und sich mit ihm unterhielt. Dabei schauten beide auf den Triebwagen. Kurz darauf kam der nächste Funkspruch: „Efeu 47-30 hat gerade mit dem Einsatzleiter gesprochen. Der hat mir erklärt, dass sie an den Triebwagen noch nicht herangehen können, weil dieser umzustürzen droht. Uns will der Einsatzleiter auch nicht durchlassen. Es sei zu gefährlich. Der Triebwagen muss erst von beiden Seiten abgestützt werden. Danach können sie handeln. Die entsprechende Technik wurde bereits angefordert und ist unterwegs. Das einzige, was im Moment getan werden kann, ist die Bergung der Verletzten im hinteren Teil des Triebwagens.“

„Efeu 47-30 für die 47-20! Wir haben hier vorne auch Verletzte und zwei von ihnen sind eingeklemmt und wir kommen nicht an sie ran. Die sollen sich so schnell wie möglich was einfallen lassen!“

„Efeu 47-20, der Einsatzleiter Kaune hat mitgehört.“

Erich schaute wieder aus dem Fenster und sah, wie sich der Einsatzleiter nach dem Funkspruch mit schnellen Schritten vom Zug entfernte. Erich war fassungslos: „Der wird doch wohl nicht …?“

„Efeu 47-30, was hat der Mann vor? Hat er dir was gesagt?“

„Nein, leider nicht, und was er vorhat, kann ich dir auch nicht sagen. Ich denke mal, dass der eine Idee hat.“

„Wir werden sehen. Efeu 47-20 Ende!“

Im hinteren Triebwagen hörte Erich, wie die ersten Einsatzkräfte anfingen die Verletzten zu bergen. Diese Aktion funktionierte aus Sicht der zwei Beamten hervorragend. Und das war in der verzweifelten Situation der nächste Funke der Hoffnung. Nun würde es nicht mehr lange dauern und sie wären bei ihnen.

„Mehlmann, wir versuchen es trotzdem noch mal.“

Mit vereinten Kräften wurde wieder an der Seitenwand gezerrt und es war ein leichtes Knarren zu hören und die Wand schien sich zu bewegen. Aber dann gab es einen lauten Knall, der Triebwagen zitterte kurz und neigte sich noch weiter zur rechten Seite.

„Verdammte Sch…! Es hat keinen Zweck. Wenn der jetzt umkippt, gib es …!“ Erich sprach den Satz nicht zu Ende. Er wollte das Wort „Tod“ nicht in den Mund nehmen.

„Ich glaube, wir müssen uns gedulden.“

„Hast recht, Mehlmann, wir können im Moment nichts tun.“ Aber eins machte er dennoch. Er sprach mit den Vermissten: „Anika und Lothar, wir lassen euch auf keinen Fall in Stich! Wir geben nicht eher auf, bis wie euch gefunden und in Sicherheit gebracht haben. Das verspreche ich euch, so wahr ich hier stehe! Wir haben hier viele Helfer, die sind alle hierhergekommen, nur um euch zu retten. Haltet durch! Es dauert nicht mehr lange und wir sind bei euch.“ Und zum Mehlmann gewandt flüsterte er: „Hoffentlich sind sie noch am Leben.“

Da meldete sich der Praktikant: „Natürlich leben die Zwei noch! Das spüre ich! Genau hier drin spüre ich das!“ Dabei schlug er sich mit der rechten Hand auf die Brust und traf genau die Stelle, an der sein Herz schlug, und redete weiter: „Auch wenn ich Frau Bachmann und den Lokführer bis heute Morgen noch nicht kannte, so will ich doch, dass sie leben! Und sie leben, glaubt es mir! Und deshalb bleibe ich auch hier! Basta!“

Nun staunten die zwei Polizisten nicht schlecht über den Praktikanten Knut Hölzel. Diese eindringlichen Worte hätten sie ihm gar nicht zugetraut. Ein anderer hätte vielleicht die erstbeste Gelegenheit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen. Aber dieser Praktikant gehörte nicht dazu.

Erich hörte im Hintergrund Schritte und drehte sich um. Er sah den Einsatzleiter, wie er mit schwerer Technik wieder kam. Er brachte auch zwei Kameraden mit.

„Ich habe hier eine Säge und Hebelwerkzeug und meine Leute sind gerade dabei, mehrere Luftkissen auszulegen und zusätzlich Metallstützen aufzustellen. Wenn die aufgeblasen und verankert sind, legen wir los.“

„So machen wir das!“

Diese schnelle Antwort kam vom Praktikanten und der erntete damit irritierte Blicke getreu dem Motto: „Was bildet der sich ein? Das ist doch kein Chef! Aber er zeigt, selbst in seinen jungen Jahren, schon sehr viel Mut.“

Danach wurde aus dem Triebwagen heraus der Fortschritt der Sicherungsmaßnahmen beobachtet und dann sagte der Einsatzleiter: „Ich glaube, wir können jetzt mit der Bergung anfangen. Reicht mir bitte die Säge!“ Nun erklärte er den Anwesenden, was er vorhatte, und nach deren Zustimmung, setzte er die Säge an. Er fing im oberen Bereich der Wand an und schnitt vorsichtig ein quadratisches Loch hinein. Danach nahm er eine Taschenlampe und leuchtete dahinter. Er sah, dass hinter der Wand alles zusammengepresst war und eine herausgerissene Sitzbank lag quer im Weg. Er sah aber auch einen Teil von einem Bein, welches auf dem Fußboden lag. Mehr konnte er bei aller Anstrengung nicht sehen. Somit wurde die Säge wieder angesetzt und er arbeitete sich vorsichtig von oben nach unten durch. Danach wurde mit Hilfe der Technik die Wand auseinandergedrückt und der Blick war frei. Das was man nun sah, versprach nichts Gutes. Sie sahen zwei eingeklemmte leblose Körper.

Erich erschrak bei dem Anblick, riss sich zusammen und sagte zum Praktikanten: „Knut, schau nicht hin. Das ist nichts für dich. Gehe lieber raus. Einer der Feuerwehrmänner wird dich begleiten.“

Eine zitternde Stimme antworte mit unverständlichen Worten und der Angesprochene ging langsam los. Er machte nur wenige Schritte und drehte sich wieder um. „Ich bleibe hier! Ich habe es versprochen!“

„Knut, du kannst hier nichts mehr machen. Warte draußen auf uns!“

Erichs letzte Worte schienen bei ihm angekommen zu sein. Der Praktikant verließ mit gesenktem Haupt den Triebwagen. Beim Verlassen des Triebwagens sagte er zu sich: „Der Tag hat doch so schön angefangen. Warum muss der so grausam enden?“

Erich schaute in den aufgebrochenen Schlitz und griff nach einer Hand. Auch wenn sie blutig war, wollte er ein Lebenszeichen und das bekam er. Er spürte den Puls.

„Sie leben! Ich spüre es! Sie leben noch!“

Aufgeregt zog er sich zurück und die Säge kam wieder zum Einsatz. Erich und der Mehlmann schauten aufgeregt zu und sahen professionelle Arbeit. Nachdem das letzte Hindernis beseitigt wurde, konnte keiner mehr unseren Erich festhalten. „Entschuldigt bitte!“, rief er. „Ich kann nicht anders. Ich muss da rein!“ Er schob alle Rettungskräfte bei Seite und kroch los und da für eine weitere Person kein Platz darin war, musste er alleine handeln. Das spielte für ihn keine Rolle. Zuerst war er bei dem Lokführer. Da er über der Kundenbetreuerin lag, wurde dieser zuerst geborgen. Erich zog ihn vorsichtig heraus und die Einsatzkräfte übernahmen ihn und brachten ihn aus dem Zug. In der Zwischenzeit konnte er sich um die Kundenbetreuerin kümmern. Nachdem auch sie aus dem zusammengepressten Abteil herausgeholt war, stellte ein Notarzt fest, dass beide noch am Leben sind, aber leider ohne Bewusstsein. Nun wurden sie zusammen mit den anderen Verletzten ins nächst gelegene Krankenhaus gebracht um, auf der Intensivstation behandelt zu werden.

Als das der Praktikant sah, ging er auf die zwei Polizisten zu und sagte: „Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich später machen will. Ich gehe zur Bundespolizei!“

Erich antwortete: „Überlege dir das gut. Das ist kein einfacher Weg und der will wohl überlegt sein.“

Nach Bergung der letzten Fahrgäste wurden die Rettungsmaßnahmen im Zug eingestellt und Erich setzte sich auf einen größeren Stein, um Luft zu holen. Er war froh, dass alles so glimpflich ausgegangen war. Jutta und die anderen zwei Kollegen setzten sich zu ihm. Auch der Einsatzleiter der Feuerwehr setzte sich dazu, um sich zu bedanken.

„Nein“, antwortete Erich, „wir haben zu danken. Ohne Ihren selbstlosen Einsatz hätten wir die zwei nicht retten können.“

Der Einsatzleiter nickte, schaute dabei auf die Uhr und sagte: „Wissen Sie eigentlich, dass meine Tochter gerade heiratet? Und ich kann nicht mit dabei sein? Ich hatte hier einen Einsatz zu leiten? Wissen Sie, was ich gerade gemacht habe? Ich habe meine Tochter in ihrem schönsten Moment verlassen. Wissen Sie, wie man sich da fühlt? Wissen Sie, was für ein schlechtes Gewissen ich dabei habe? Das können Sie sich nicht vorstellen. Da steht freudestrahlend der Bräutigam und da ist meine glückliche Tochter. Alle freuen sich. Und was mache ich? Ich drehe mich um und renne weg. Ich glaube …“

Der Einsatzleiter hörte mitten im Satz auf und Erich sah, wie schwer ihm die Sätze gefallen waren. Erich hatte zugehört und versuchte zu antworten. Es war nicht einfach: „Nein, das habe ich nicht gewusst. Es tut mir wirklich leid. Aber lassen Sie mich bitte dazu was sagen: Sie haben Ihre Pflicht getan und Menschenleben gerettet! Und jetzt gebe ich Ihnen noch einen Rat: Laufen Sie los! Worauf warten Sie noch? Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich zu Ihrer Tochter kommen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“

Einer seiner Kameraden, der das Gespräch mit angehört hatte, sagte: „Manni, der Mann hat recht. Mache dich in die Spur. Das bisschen Aufräumen da ist nun wirklich kein Problem mehr. Das schaffen wir auch ohne dich!“

Der Einsatzleiter Manfred Kaune stand auf, bedankte sich noch mal und wollte los. Da kam die nächste Botschaft: „Manni, warte mal, da will dich jemand sprechen. Du sollst mal zu dem Polizeiauto, welches da hinten an der Straße steht, kommen.“

Der Einsatzleiter schaute in die Richtung und sagte zu sich: „Verdammt noch mal, was wollen die denn schon wieder von mir? Der Einsatz ist doch gelaufen.“

Widerwillig ging er los, bis er eine Frau im weißen Kleid sah. Dann rannte er so schnell es ging. Es war seine Tochter, die er dort gesehen hatte. Als er ankam, sah er nicht nur seine Tochter. Nein, die gesamte Hochzeitsgesellschaft hatte sich hinter den Einsatzfahrzeugen versteckt.

„Überraschung! Wir sind alle hier!“

„Meine Kleine, du bist doch verrückt!“

„Ja Vati, das bin ich. Aber das kann ich nur von dir geerbt haben. Von Mami nicht. Und ja, ich bin stolz auf dich. Jetzt, wo ich das hier gesehen habe, kann ich nur noch sagen: Du bist der beste Papi auf der ganzen Welt!“

Manni fiel ein Stein vom Herzen. Nein, es war nicht nur ein Stein. Es waren hunderte. Er hatte mit allem möglichen gerechnet, nur nicht damit. Die Überraschung war ihr gelungen.

„Vati, ich konnte ohne, dass du mit dabei bist, nicht ‚Ja‘ sagen. Deshalb sind wir alle hierhergekommen. Auch der Standesbeamte ist da. Es hat zwar ’ne Weile gedauert, bis wir ihn davon überzeugen konnten. Aber es hat geklappt. Er hatte es irgendwann eingesehen und nun wartet er da drüben unterm Baum. Jetzt kann ich endlich heiraten.“

Die nun doch ungewöhnliche Hochzeitszeremonie wurde fortgesetzt, indem der Standesbeamte fragte: „Andrea Kaune, möchtest du … so sage: Ja.“

„Ja, ich will! Ich will unbedingt.“

„Somit seid ihr rechtmäßig Mann und Frau.“

Zum Bräutigam gewandt, mischte sich der nun überglückliche Brautvater ein und sagte: „Nun darfst du die Braut küssen.“

Jutta, Klaus, Mehlmann und Erich schauten ein wenig abseits zu und freuten sich für die Braut, den Bräutigam sowie für den Einsatzleiter Manfred Kaune. Sie wünschten ihnen alles Gute und eine tolle Hochzeit.

Der Unfall- oder Tatort selbst blieb noch bis zum Abschluss der fotografischen Dokumentation und der Beweissicherung sowie der Bergung des Triebwagens gesperrt, und das sollte sich noch Tage hinziehen. Denn selbst am Gleiskörper waren Reparaturmaßnahmen notwendig und die Deutsche Bahn hatte für diese Zeit Schienenersatzverkehr zwischen Kleinfurra und Sondershausen eingerichtet.

Der Lokführer von der Diesellok, welche mit dem Triebwagen zusammengeprallt war, wurde ebenfalls geborgen. Er kam glücklicherweise nur mit leichten Schürfwunden davon. Er hatte, nachdem er den entgegenkommenden Triebwagen bemerkte, sofort die Schnellbremsung eingeleitet, und war danach in den Maschinenraum geflüchtet. Dort war er relativ sicher.

Die Ermittlungen laufen an

Als sich Erich am nächsten Tag zur Spätschicht meldete, ging gleich die Tür vom Ermittlungsdienst auf und die Oberkommissarin Ritter bat ihn herein.

„Erich, du hast doch unheimlich viel Ahnung vom Betriebsablauf bei der Eisenbahn?“

„Ja, warum fragst du?“

„Weil du schon so lange dabei bist. Und du warst gestern bei dem Unfall oder dem gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr mit dabei. Natürlich nur als Zeuge. Ich habe hier zwei Aussagen. Die erste Aussage stammt vom Fahrdienstleiter aus Sondershausen und die zweite Aussage stammt vom Fahrdienstleiter aus Kleinfurra und die Aussagen der beiden Lokführer und der Kundenbetreuerin habe ich, wie du es dir schon denken kannst, noch nicht. Die werden erst eingeholt, wenn sie wieder vernehmungsfähig sind. Übrigens, ich war heute früh im Krankenhaus und hab mich erkundigt. Der Lokführer Lothar Büttner liegt leider noch im Koma, aber der Kundenbetreuerin, Frau Bachmann, geht es schon wieder etwas besser, sie ist wieder zu sich gekommen. Hat aber noch mächtige Schmerzen. Die Ärzte sind aber zuversichtlich, dass alles wieder gut wird.

Also, lies dir die Aussagen mal in Ruhe durch und sag mir bitte, was du davon hältst. Und sag mir auch, welcher von den beiden in deinen Augen der Tatverdächtige ist. Ich hab mir zwar schon mit Moto eine Meinung gebildet, aber die verrate ich dir erst, wenn ich deine Meinung höre.“

„Peggy, sind die beiden Zugmeldebücher sichergestellt?“

„Natürlich. Hab ich selbst gemacht. Hier sind alle beide.“

„Okay, ich schau sie mir mal in Ruhe an.“

„Du wirst übrigens im Anschluss auch noch zum Tathergang befragt. Wenn der Mehlmann zum Dienst kommt, schickst du ihn auch mal zu mir ins Büro.“

„Mach ich doch glatt.“

Als Erich das Büro verlassen wollte, rief er: „Mehlmann, du sollst mal hier reinkommen!“ Er kam gerade in dem Moment auf die Dienststelle.

Erich zog sich mit Genehmigung des Gruppenleiters zurück und las die Aussagen. Er verglich die gemachten Angaben und stellte im Zugmeldebuch von Kleinfurra fest, dass der Triebwagen, in dem er gesessen hatte, nicht zur Weiterfahrt eingetragen wurde. Das heißt, laut dem Buch war sein Zug in Kleinfurra angekommen, aber nicht wieder abgefahren. Aber die Diesellok, die dem Zug entgegen fuhr, war eingetragen. Also war sie vorgemeldet und die Fahrt bestätigt worden. Aber in der Aussage des Fahrdienstleiters wurde sie mit keinem Wort erwähnt, da er sich nicht an die Vormeldung erinnern könne. Beim genaueren Hinschauen in das Zugmeldebuch von Kleinfurra wurde Erich stutzig. Er sah, dass sich die Schrift leicht in die Länge gezogen hatte. In der Aussage erwähnte der Fahrdienstleiter, dass er leicht müde war, aber nicht eingeschlafen sei. Nun ja, das könnte der Grund für die leichte Schriftveränderung sein.

Erich merkte sich die Unstimmigkeit. Nun beschäftigte er sich mit den Unterlagen vom Fahrdienstleiter des Bahnhofs Sondershausen. Laut diesen Unterlagen ist die Lok vor Abfahrt in Sondershausen, dem Bahnhof Kleinfurra vorgemeldet, bestätigt und eingetragen worden und der Personenzug war in dem Zugmeldebuch nicht zu finden. In seiner Aussage stand auch geschrieben, dass er von dem Triebwagen nichts gewusst habe. Er wusste nur, dass der Zug Verspätung hatte. Mehr nicht und wenn er es auch nur geahnt hätte, dass der Zug unterwegs war, hätte er die Lok niemals losgeschickt. In der Aussage wurde auch erwähnt, dass er das Gefühl hatte, dass sich die Stimme des Fahrdienstleiters Schmidt verändert hatte. Sie klang irgendwie müde.

Erichs Schlussfolgerung aus den Aussagen war, dass der Triebwagen nicht vorgemeldet wurde und trotzdem abgefahren war. Nun lag der Verdacht nahe, dass der Fahrdienstleiter Robert Schmidt, vom Bahnhof Kleinfurra die Schuld trägt. Diese Gedanken erklärte er auch so dem Ermittlungsdienst. Und die Oberkommissarin Ritter fühlte sich in ihrer Meinung bestätigt. Sie betonte aber, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien. Sie hatten aber eine Richtung bekommen.

Die Verantwortlichen vom Eisenbahn Bundesamt hatten ebenfalls nach Prüfung der Unterlagen den Fahrdienstleiter Schmidt im Verdacht.

Nach dieser vorläufigen Beweislage, wurde der Fahrdienstleiter Schmidt vorläufig außer Dienst gestellt. Eine endgültige Entscheidung sollte nach dem Gerichtsurteil gefällt werden. Der ehemalige Fahrdienstleiter, Ingolf Glöckner, wurde wieder eingestellt. Dieser freute sich natürlich.

So vergingen zwei Wochen und es kam der Tag, an dem Erich zwei Blumensträuße kaufte. Er wollte zusammen mit seinem Freund Mehlmann ins Krankenhaus, um sich nach dem Wohlergehen der Eisenbahner zu erkundigen. Im Krankenhaus angekommen, gingen sie zuerst zur Kundenbetreuerin und die Begrüßung war deftig: „Was wollt ihr denn hier? Ihr verdammten Kerle wollt wohl meinen Mann eifersüchtig machen? Das klappt aber nicht! Der kommt erst am Wochenende. Also in drei Tagen. Aber, bevor ihr wieder abhaut, kommt doch erstmal rein und lasst euch knuddeln. Ihr glaubt ja gar nicht, wie froh ich bin, euch zu sehen. Ihr habt mir das Leben gerettet und ihr seid von nun an meine Helden.“

„Anika, übertreibe nicht. Das hätten wir auch für jeden anderen getan und sag mal, begrüßt du deine Gäste immer so?“

„Nein, nur euch. Ihr kennt mich doch!“, dabei lächelte sie und Erich wusste, dass der Humor bei ihr zurück war. Bei der späteren Verabschiedung sagte sie: „Lasst uns erstmal aus dem Krankenhaus raus kommen. Da zeigen wir euch unsere Dankbarkeit. Wir geben nämlich einen aus und machen uns einen schönen Abend mit Grillen und was noch alles dazugehört. Es ist schon mit Lothar abgesprochen. Und wehe ihr kommt nicht!“

Die zwei Polizeibeamten schauten sich gegenseitig an und wussten nicht so recht, was sie darauf antworten sollten. Denn, wenn sie dahingehen, könnte man ihnen von Seiten der Dienststelle Bestechlichkeit vorwerfen. Das wäre nicht gut. Und wenn sie nicht dahingehen? Wäre das auch nicht gut. Erich wusste nicht, wie er aus dieser Situation herauskommen sollte. Er überlegte kurz und antwortete: „Deswegen haben wir euch auch nicht gerettet.“

Anika sah die Skepsis und drohte: „Wenn ihr nicht zu mir kommt, bin ich bis in die Steinzeit böse mit euch! Lothar übrigens auch!“

Erich und der Mehlmann sagten zu.

„Und wenn ihr kommt, dann erkläre ich dir, lieber Mehlmann, den Unterschied zwischen Kita und …“

Der Mehlmann winkte ab, schüttelte mit dem Kopf und rief: „Neiiiiiin, Anika, lieber nicht!“

Und sie konterte: „Okay, der Versuch war es aber wert. Und ich wollte nur mal eure Gesichter sehen. Freue mich aber trotzdem auf euch.“

Anschließend gingen sie zum Lokführer. Als dort die Zimmertür aufgemacht wurde, schaute ihnen ein strahlendes Gesicht entgegen: „Kommt rein, meine Retter! Ich hätte niemals geglaubt, dass ihr mich hier im Krankenhaus besuchen kommt. Ihr wisst gar nicht, wie sehr ich mich freue, euch zu sehen. Ihr glaubt gar nicht, wie dankbar ich bin …“

Auch vom Lokführer bekamen sie eine Einladung und die konnten sie ebenfalls nicht ablehnen.

Nun lag die Hauptlast im Ermittlungsdienst. Es galt, neue Hinweise zu sammeln, um den Tathergang genauestens zu rekonstruieren und die Schuldfrage musste eindeutig mit Beweisen unterlegt werden. Und das war nicht einfach. Der Ermittlungsdienst befragte Eisenbahner, Anwohner und Reisende, die zu dem Zeitpunkt im Zug waren und andere Zeugen, die den Zusammenprall als Unbeteiligte beobachtet hatten. Es wurden umfangreiche Erkenntnisse gesammelt und die Akte wurde immer dicker und aussagekräftiger.

Erich versah in der Zeit, wie er es gewohnt war, seinen regulären Streifendienst und war dabei immer wieder froh, mit seinen alten Kollegen zusammenarbeiten zu können. Sei es in der Woche, an den Wochenenden oder an den Feiertagen. Das spielte keine Rolle und das gehört nun mal zum Beruf.

Irgendwann sagte Jutta zu Elu: „Hast du das auch mitgekriegt, wie sich Erich und der Mehlmann verändert haben?“

„Ja, das hab ich. Aber beruhige dich. Mit der Zeit legt sich das wieder.“

„Ja, ich weiß. Trotzdem verstehe ich das nicht. Ich sag’s mal ganz ehrlich. Ich wollte zu dem Zeitpunkt nicht im Zug gewesen sein. Zum Helfen ja, sonst nein. Überlege mal: die Schreie, die Verletzten, das Chaos und die Ungewissheit, ob sie überleben oder nicht? Das alles stand ja auf der Kippe. Im Nachhinein hatten sie großes Glück. Es gab keine Toten. Alle haben überlebt. Und was haben wir in der Zeit gemacht? Ich hab ein schlechtes Gewissen und denke manchmal, ob sie denken, dass wir sie in Stich gelassen haben?“

„Nein, das kann ich dir sagen. Das denken sie nicht! Sie wissen, dass wir auch unsere Aufgaben und Befehle hatten. Wir haben alles dokumentiert, Spuren gesichert und die augenscheinlichen Schäden aufgenommen. Wir haben Gaffer vertrieben und daran gehindert, dass sie zwischen den Gleisen rum laufen. Wir haben die Zufahrtsstraße für die An- und Abfahrt der Einsatzfahrzeuge frei gehalten und den Verkehr geregelt.“

„Und da geholfen, wo unsere Hilfe nötig war. Und ja, am liebsten wäre ich, wie ich schon gesagt habe, in den Zug geklettert, um dort mit anzufassen.“

„Das glaube ich. Ich übrigens auch. Aber da wären wir den Rettungskräften nur im Wege gewesen. Unsere Arbeit war in dem Fall auch sehr wichtig!“

„Ja, hast ja recht! Wir haben unsere Arbeit gemacht.“

Jetzt sollten noch etliche Wochen ins Land gehen, bis wieder Bewegung in die Sache kam. Es war mehr oder weniger der Zufall, der zu Hilfe kam. Erich sah, als er von einer Zugstreife zurückkam, den beschuldigten Fahrdienstleiter Robert Schmidt. Er saß im Bahnhof Nordhausen auf einer Bank und starrte vor sich hin.

Erich sprach ihn an: „Guten Tag, Herr Schmidt. Wie geht es Ihnen?“

„Guten Tag! Was wollen Sie von mir hören? Das es mir gut geht? Mir geht es nicht gut! Mir geht es beschissen! Ich mache mir die ganze Zeit Vorwürfe. Das mit dem Zusammenstoß hätte mir nicht passieren dürfen. Ich bin eindeutig Schuld. Ich habe nicht aufgepasst und bin eingeschlafen. Das habe ich doch alles schon der Frau Ritter so erklärt. Jetzt warte ich nur noch auf die Gerichtsverhandlung. Ich werde dort meine Schuld zugeben und hoffe auf ein mildes Urteil. Ich will hoffen, dass ich nicht in den Knast wandere. Und wenn das alles vorbei ist, wird mich hier nie wieder einer sehen. Ich gehe ganz weit weg von hier! Und ja, meine Frau will sich nun auch noch von mir scheiden lassen! Und da fragen Sie, wie es mir geht? Was wollen Sie noch von mir hören?“

„Ich glaube, ich habe genug gehört. Es tut mir wirklich Leid für Sie. Das können Sie mir glauben. Ich habe trotzdem noch eine Frage.“

„Na fragen sie schon. Ist doch eh alles egal.“

„Eine Frau, welche unweit vom Bahnhof wohnt, wurde kürzlich als Zeugin befragt. Sie hat ausgesagt, dass Sie an dem Tag dreimal Besuch auf dem Stellwerk hatten? Wer war das alles und was wollten diejenigen?“

„Ja, ich hatte Besuch. Es war Ingolf Glöckner, der wollte noch mal zu mir kommen.“

„Und wer noch? Die Frau hat von dreimal geredet.“

„Da irrt sie sich. Es war nur Ingolf. Der war zweimal da und das auch nur, weil er zwischendurch noch mal zu seinem Auto gegangen war, um Kaffee zu holen.“

„Und wer war beim dritten Mal da?“

„Keiner! Es war nur Ingolf, und der war nur zweimal da.“

„Und warum haben Sie das so nicht ausgesagt?“

„Ich wollte die Sache nicht noch schlimmer machen. Denn, laut Fahrdienstvorschrift ist es verboten, dass Betriebsfremde auf das Stellwerk kommen dürfen. Und da Ingolf zu diesem Zeitpunkt schon kein Eisenbahner mehr war, galt er als betriebsfremd. Und jetzt bin ich betriebsfremd und Ingolf arbeitet für mich, er sitzt nun auf meiner Planstelle. … auf meiner ehemaligen Planstelle. Entschuldigung, bringe alles durcheinander.“

„Und was hat der auf dem Stellwerk von Ihnen gewollt? Überlegen Sie bitte in Ruhe.“

„Der wollte noch mal an seinen Spind. Der hatte da was vergessen.“

„Und war er an seinem Spind?“

„Lassen Sie mich mal kurz überlegen. Ich glaube … ja, nein. Nein, der war nicht an seinem Spind.“

„Jetzt habe ich noch eine Frage: Könnte es sein, dass Ihr Kollege, bevor er den Kaffee geholt hat, irgendetwas da rein gemischt hat? Immerhin wurden sie ja nach dem Kaffee müde.“

„Das glaube ich nicht. Ingolf hat denselben Kaffee getrunken. Da hätte er auch einschlafen müssen.“

„Trotzdem habe ich das Gefühl, dass hier irgendwas nicht stimmt. Ich möchte Ihnen noch eine Frage stellen: Warum haben Sie den Triebwagen losgeschickt, obwohl die Lok vorgemeldet war?“

„Es tut mir leid. Ich kann mich nicht daran erinnern. Und außerdem habe ich das alles schon der Frau Ritter erzählt. Ich kann diese Fragen nicht mehr hören! Warum werde ich immer und immer wieder danach gefragt?“

Dabei sackte Herr Schmidt sichtlich in sich zusammen. Erich schaute in sein Gesicht und sah, dass ihn sein Gewissen quälte, und antwortete auf seine Frage: „Weil ich das nicht glaube. Erklären Sie mir doch bitte, wie so ein Zug vorgemeldet wird!“

Herr Schmidt hob seinen Kopf ein wenig an und erklärte in einem leisen Tonfall: „Das geht ganz einfach. Nehmen wir mal an, ich will einen Zug nach Sondershausen fahren lassen. Der Zug steht bei mir am Bahnsteig 1. Da rufe ich mit dem Streckenfernsprecher den entsprechenden Fahrdienstleiter an. Der geht am anderen Ende ans Telefon und meldet sich: ‚Fahrdienstleiter Sondershausen, Henzelmann! Nur um einen Namen zu nennen.‘

Danach rede ich: ‚Kleinfurra, Schmidt! Zug 86593 voraussichtlich ab 24!‘

Dann antwortet Sondershausen: ‚Ich wiederhole, Zug 86593 voraussichtlich ab 24.‘

Dabei wird von beiden Fahrdienstleitern der Zug in ihr Zugmeldebuch eingetragen. Die 24 steht übrigens für die Minuten. Die Stunde ist bekannt und wird nicht mit durchgegeben. Im Zugmeldebuch gibt es dafür die entsprechenden Spalten. Nachdem der Zug eingetragen wurde, werden die entsprechenden Weichen gestellt, die Zustimmung vom Weichenwärter eingeholt, mechanisch und elektrisch gesichert, und danach wird das Signal auf Fahrt gestellt. Sollte zu dem Zeitpunkt eine Weiche falsch liegen, lässt sich die Fahrstraße nicht festlegen und das Signal kann nicht bedient werden. Das dient alles der Sicherheit. Der Weichenwärter sitzt übrigens am anderen Ende des Bahnhofes und bedient dort seine Weichen und Signale. Wir sind ein eingespieltes Team und ohne diese Zusammenarbeit würde kein einziger Zug rollen.“

„Herr Schmidt, nachdem was Sie mir gerade erklärt haben, kann ich es mir nicht vorstellen, dass Sie den Zug im Schlaf losgeschickt haben und dass Sie sich nicht daran erinnern können. Irgendwas verschweigen Sie.“

„Ich verschweige nichts. Wirklich nichts. Ich habe alles, was ich weiß, ausgesagt. Mehr kann ich nicht tun. Sie müssen mir glauben.“

Nach dieser ausführlichen Erklärung hatte Erich einen Verdacht und darüber wollte er sich mit Frau Ritter unterhalten. Zu Herrn Schmidt gewandt sagte er: „So, und jetzt gehen wir auf die Dienststelle und dort erzählen Sie dem Ermittlungsdienst genau das, was Sie mir gerade über den Besuch auf dem Stellwerk erzählt haben. Ich werde auch was dazu schreiben.“

Widerwillig ging der Fahrdienstleiter mit. Eigentlich wollte er die ganzen Befragungen nicht noch mal über sich ergehen lassen. Auf dem Weg zur Dienststelle hatte Erich noch eine Frage: „Wie ist Ihr Verhältnis zu Herrn Glöckner?“

„Wie meinen Sie das?“

„Ist er ein Freund von Ihnen oder nur ein einfacher Kollege?“

„Er ist ein guter Kollege. Ja, man kann auch sagen, dass er ein Freund von mit ist. Und für diese Freundschaft bin ich ihm immer wieder dankbar. Wir haben in den vielen Jahren allerhand erlebt und unseren Spaß gehabt.“

Auf der Dienststelle angekommen, teilte Erich Frau Ritter seine Gedanken mit und die Befragung konnte beginnen.

Nach einer knappen Stunde war die Befragung vorbei und Herr Schmidt wurde aus der Dienststelle begleitet.

Peggy wandte sich nun an Erich und sagte: „Morgen knöpfe ich mir den Herrn Glöckner vor! Ich muss nur noch einige Vorbereitungen treffen. Es wäre schön, wenn ihr mit dabei seid. Ich kläre das mit eurem Chef.“

Erich hob den Daumen und schaute auf die Uhr. Er hatte Feierabend.

Zur nächsten Schicht ging Erich gezielt zur Oberkommissarin: „Grüß dich, Peggy, wie sieht’s aus?“

„Es sieht gut aus. Moto und ich werden Herrn Glöckner einen Besuch abstatten und ihn eindringlich befragen. Und solltest du mit deiner Vermutung recht haben, weiß ich, was zu machen ist. Dazu brauche ich eure Hilfe. Man weiß ja nie, was passiert.“

„Wir stehen bereit.“

Zwei Minuten später kommt der Gruppenleiter und ruft über den Flur: „Alle sofort zum Bahnsteig 3! Da kommt ein Zug mit Fußballfans. Der endet hier und die Fans müssen umsteigen. Keiner weiß, wo die her kommen und wo die hin wollen, und das Schlimme dabei ist, dass die Fans unbegleitet sind. Das heißt, keine Einsatzkräfte im Zug. Wir stehen alleine da! Die Info habe ich gerade vom Kundenbetreuer Harald bekommen. Der hat sich aus Sicherheitsgründen zusammen mit dem Lokführer im Führerstand eingeschlossen.“

„Peggy, ich glaube, da müsst ihr ohne uns fahren.“

„Ach das kriege ich schon hin. Ich hab doch Moto bei mir. Der ist sportlich gebaut und weiß, was zu tun ist.“

Ein unerwarteter Einsatz

Erich stürzte gleich zum Spind, um seine Einsatzausrüstung zu holen und anzulegen. Selbst der Helm wurde mitgenommen. Da der Gruppenleiter auch mit auf den Bahnsteig kommen wollte, waren es fünf Mann. Nein, vier Mann und eine Frau. Jutta wollte auch mit. Und da gerade Schichtwechsel war, war die Frühschicht auch noch anwesend und es kamen zwei Männer dazu. Somit standen sieben Bundespolizisten am Bahnsteig und warteten auf den Zug. Als der endlich mit zwanzigminütiger Verspätung eingefahren kam, hörte man schon den Krach der Fußballfans und es flogen die ersten Flaschen in Richtung der Beamten. Bei dem Anblick sagte der Gruppenleiter: „Bleibt ruhig. Nicht provozieren lassen. Hilfe ist unterwegs. Die Lapo schickt zwei Streifenwagen.“

Die letzten Wörter gingen im Krach der Fans unter. Sie sammelten sich am Bahnsteig und brüllten immer wieder ihre Schlachtrufe: „Hool-, Hool-, Hooligans!“ oder: „Knieet nieder! Wir sind heute bei euch Gast!“, und dann wieder: „Hool-, Hool-, Hooligans!“

Da sich zwischen dem eingefahrenen Zug und der Bahnhofsvorhalle noch zwei Gleise befanden, versuchten unsere Leute, die Fans durch die Unterführung zu leiten. Die ersten Fans folgten noch den Weisungen der Polizisten. Das ging solange gut, bis einer in die Gleise sprang, um schneller auf den anderen Bahnsteig zu kommen. Da rannten alle los. Die Situation war so, als ob keine Polizisten da wären. Sie wurden einfach nicht gesehen oder beachtet. Somit waren sie nicht mehr aufzuhalten und stürmten in die Vorhalle. Die eingesetzten Kräfte gingen langsam hinterher, um Schlimmeres zu verhindern. Nach Schätzungen des Gruppenleiters waren es mindestens zweihundert Fußballfans. „Und wir sind zu siebt“, antwortete Jutta.

„Es hilft alles nichts, wir müssen hinterher“, befahl der Gruppenleiter und in der Vorhalle angekommen, flogen die nächsten Flaschen. Einige Fans brüllten gleich los: „ACAB!“ und „Haut ab, ihr Bullenschweine! Ihr habt hier nichts zu melden!“ (ACAB ist eine Abkürzung für: „All Cops are Bastards“!)

Danach wurde Jutta angespuckt und die wehrte sich, indem sie ihr Pfefferspray einsetzte. Kurz darauf bereute der Hooligan seinen Angriff und verschwand in der Menge. Nachdem Erich das gesehen hatte, sagte er nur noch: „Ich kann es mir nicht vorstellen, dass diese Männer die ganze Woche über ein normales Leben führen, pünktlich zur Arbeit gehen und an den Wochenenden so ausrasten.“

„Doch, so ist es, leider“, antwortete Jutta.

Mehlmann, der die Sache auch beobachtet hatte, fragte sich: „Manch einer muss doch eine Familie haben und Kinder erziehen? Das begreife ich nicht.“

„Ich auch nicht. Aber es gibt unter ihnen bestimmt auch noch vernünftige Fußballfans. Das musst du aber zugeben“, beschwichtigte Jutta, obwohl sie den größten Grund zum Schimpfen hatte.

Klaus schüttelte den Kopf und sagte: „Ich enthalte mich der Stimme.“

Nach Juttas Reaktion hielten die Fans einen gewissen Abstand zu den Einsatzkräften. Nun hörte man im Hintergrund mehrere Martinshörner. Erst ganz leise und dann immer lauter werdend.

Unserem Gruppenleiter fiel ein Stein vom Herzen. „Gott sei Dank! Wir bekommen Verstärkung!“ Es waren die angekündigten Streifenwagen der Landespolizei. Sie fuhren auf den Bahnhofsvorplatz und die Kollegen sprangen förmlich aus ihren Autos. Es waren acht Mann. Die gingen sofort in die Vorhalle und auf die Bundespolizisten zu, um die weiteren Maßnahmen abzustimmen. Und das Wichtigste im Moment war die Sicherheit auf den Bahnsteigen und die Verhinderung von Diebstahlhandlungen in den Geschäften. Es war für die paar Mann eine fast unmögliche Aufgabe.

Aus einzelnen Gesprächen konnte in Erfahrung gebracht werden, dass die Hooligans mit dem nächsten Zug in Richtung Halle fahren wollten. Aber wo ihr eigentliches Ziel lag, konnte leider nicht in Erfahrung gebracht werden. Auf jeden Fall sollte sicherheitshalber die dortige Dienststelle informiert werden.

Der Gruppenleiter kümmerte sich darum und Halle war dankbar. Nun stand Halle vor demselben Problem. „Wo bekomme ich auf die Schnelle so viele Einsatzkräfte her? Obwohl Halle die größere Stadt ist und deshalb auch mehr Beamte im Dienst hat, so könnte die Anzahl dennoch nicht reichen. Magdeburg bot eine Notlösung an. Die dortige Dienststelle fuhr ihren Personalbestand auf ein Minimum zurück und schickte ihre freigewordenen Beamten mit dem nächsten Zug nach Halle. Zeitlich sollte das funktionieren.

Da sich die Situation in der Bahnhofshalle ein wenig beruhigte, wurde Jutta losgeschickt, um sich den angekommenen Zug anzuschauen und den Kundenbetreuer dazu befragen. Nach zehn Minuten war Jutta wieder da und sagte: „Der Zug muss in die Werkstatt! Da drin ist absolut nichts mehr ganz. Alles was zerstört werden konnte, ist auch zerstört. Überall liegt Kotze rum und es stinkt nach Urin und die Notbremse wurde auch mehrmals gezogen. Deshalb hatte der Zug die Verspätung. Den Eisenbahnern ist, Gott sei Dank, nichts passiert. Ich hab ihnen gesagt, dass sie morgen auf unsere Dienststelle kommen mögen, um eine Anzeige zu schreiben. Sie haben zugesagt.“

„Danke Jutta.“

Nach Rücksprache mit dem Fahrdienstleiter wurde bekannt, wann der nächste Zug für die Weiterfahrt bereitgestellt wird, und die Bundespolizisten begaben sich zum Bahnsteig. Als der Zug einfuhr, stürmten die ersten Gruppen los. Wahrscheinlich wollten sie die besten Plätze. Und was Erich bei den Fußballfans sah, war, dass sie ihren Vorrat an Alkohol aufgefrischt hatten.

Der zuständige Kundenbetreuer, welcher den Zustieg skeptisch beobachtete, schüttelte nur mit dem Kopf. Als dann auch noch eine Flasche in seine Richtung flog, sagte er: „Ihr müsst mitkommen! Sonst fahre ich hier nicht ab!“

Das war eine klare Ansage. Man konnte die Entscheidung verstehen. Hier ging es um die Sicherheit während der Zugfahrt. Somit befahl der Gruppenleiter: „Wir fahren mit!“

Und alle eingesetzten Einsatzkräfte hatten mit einem Schlag die Schnauze voll. Ließen es sich aber nicht anmerken. Die Kollegen von der Landespolizei bekamen einen anderen Auftrag und mussten ausgerechnet jetzt zu einer körperlichen Auseinandersetzung in einer Kaufhalle. Mehrere Ladendiebe wurden beim Klauen erwischt und prügelten sich nun mit dem Personal. Somit rückten sie mit Blaulicht wieder ab.

„Was soll’s. Da fahren wir eben alleine nach Halle. Bin lange nicht dort gewesen. Auf der Rücktour können wir uns ja ausruhen.“

Nachdem alle Hooligans eingestiegen waren, ging unser Gruppenleiter noch mal in die Vorhalle und sah, dass sie komplett verunreinigt war. Überall lagen Speiseabfälle, Scherben und Erbrochenes. Selbst ein Graffito wurde festgestellt. Das alles konnte aber erst nach der Rückkehr aufgenommen werden. Unter diesen Umständen sollte die Fahrt nach Halle erst mal losgehen. Der Zug fuhr ab und kurz hinter dem Ausfahrsignal zog der Erste die Notbremse. Erich stand mit seinen Kollegen in unmittelbarer Nähe und keiner hatte es gesehen. Sie wurden gezielt abgelenkt. Irgendeiner aus der Masse warf einen Knallkörper und als der explodierte, schauten alle dorthin. Auch die Polizeibeamten. Im gleichen Moment wurde die Notbremse gezogen. Alle Fans johlten und amüsierten sich. Immerhin wurde die Polizei wieder mal ausgetrickst. Und das war in ihren Reihen eine Heldentat und die Polizeibeamten ärgerten sich. Sie wollten nun unter allen Umständen den Täter haben und schauten sich um. Fanden aber keine Hinweise und niemand wollte es gewesen sein. Und das Schlimmste daran ist, er kann direkt neben ihnen stehen und sie wissen es nicht.

Nachdem der Lokführer die Bremse zurückgestellt hatte, konnte die Fahrt fortgesetzt werden. Nun schien die Fahrt, trotz des Lärms, den die Fans von sich gaben, ruhig zu verlaufen. Und das sollte bis auf wenige Kleinigkeiten so bleiben. Da kam zum Beispiel eine junge Frau mit ihrem Kind und bat die Beamten um Hilfe. Hilfe dahingehend, dass sie dringend zur Toilette musste und sich nicht alleine durch den Zug traue. Außerdem hatte sie Angst um ihren Sohn. Somit begleitete Erich zusammen mit Klaus die junge Frau zu ihrem Ziel. Der Sohn durfte bei Jutta und den restlichen Polizisten bleiben und bei Jutta war er gut aufgehoben. Sie hatte ein Herz für Kinder und spielte gerne mit ihnen.

Und ja, im Nachhinein war die Begleitung gerechtfertigt. Es gab etliche, die anzügliche Bemerkungen von sich gaben und hingrapschen wollten. Bei der Toilette angekommen, war sie natürlich besetzt. Nach einer ganzen Weile pochte Erich gegen die Tür und forderte den Insassen auf, herauszukommen. Das wurde mehrmals wiederholt. Da es zu keiner Reaktion kam, wurde zum Vierkant-Schlüssel gegriffen und die Tür geöffnet. Aber erst ein kleiner Spalt, um zu sehen, wie die Reaktion ist. Da immer noch keine Reaktion kam, wurde die Tür gänzlich geöffnet und gab den Blick auf einen alkoholisierten Mann frei. Der schlief auf dem Fußboden obwohl der mit Urin überspült war. Er wurde vorsichtig geweckt und nun marschierte er auf wackeligen Beinen zu seiner Truppe. Es war nicht nur der Urin, der die junge Frau abschrecken ließ. Sie sagte bei dem Anblick nur noch: „Ich muss nicht mehr.“ Erich hätte auch nicht mehr auf die Toilette gehen können. Sie war nicht mehr nutzbar. Somit wurde die junge Frau zurück zu ihrem Sohn begleitet. Dann kam ein älterer Herr und beschwerte sich, dass er eine Fahrkarte für die erste Klasse habe, aber dort nicht mehr sitzen könne, da sie von mehreren Fußballfans belagert wurde. Die Polizei möge doch bitte für Ordnung sorgen und die Kerle aus der ersten Klasse herauswerfen, da er seine Ruhe haben wolle. Dem Mann wurde die Situation erklärt und er sah es mit bitterem Beigeschmack ein. Für die Räumung der ersten Klassen waren sie zu wenig. Denn es bestand die Gefahr der Eskalation und dann standen sieben Polizeibeamte gegen zweihundert Hooligans.

Nun fuhr der Zug in Sangerhausen ein und die Fans verließen fluchtartig den Zug und stürmten in die Vorhalle. Dabei ertönte ihr altbekannter Schlachtruf: „Hool-, Hool-, Hooligan!“ Mit dieser Situation hatten die Polizisten nicht gerechnet. Sie mussten ebenfalls den Zug verlassen und gingen den Fans hinterher. Dort hörten sie, dass die Fans nach Magdeburg wollen.

„Verdammter Mist!“, schimpfte Mehlmann. „Jetzt müssen wir auch noch nach Magdeburg!“

„Das ist ja nicht das Schlimmste“, antwortete Erich. „Die Magdeburger Kollegen sind auf dem Weg nach Halle und was das bedeutet, könnt ihr euch ja denken.“

„Ja, verdammt noch mal, es ist keiner da, wenn wir ankommen.“

„Und ich möchte nicht wissen, wann wir wieder zurück sind. Immerhin haben wir zwei schon eine Frühschicht hinter uns und müssen morgen um vier wieder aufstehen. Na gut, ich um vier und Marc um fünf.“, warf Alex frustriert ein.

Daraufhin überlegte der Gruppenleiter und sagte: „Na gut, da fahrt ihr eben mit dem nächsten Zug zurück und macht Feierabend.“

„Nein, so war das nicht gemeint. Wir lassen euch nicht im Stich!“

Der Gruppenleiter freute sich über die Antwort. Denn sieben Beamte sind besser als fünf.

Während die Fans in der Vorhalle auf den Zug nach Magdeburg warteten, kam Erich mit einigen Fans ins Gespräch. Die erklärten ihm, dass sie sich in Kassel von ihrer Gruppe abgesetzt haben, um einfach mal Magdeburg unsicher zu machen. Außerdem wollten sie ihren Frust runterspülen. Ihre Mannschaft hatte 0:5 verloren. Und dieses Ergebnis war für die Fans absolut nicht hinnehmbar und das mit dem Frust runter spülen konnte man nicht mehr übersehen. Der Alkohol tat seine Wirkung. Manch einer der Fans konnte nicht mehr geradeaus laufen, musste sich ständig irgendwo abstützen, um nicht hinzufallen, und sie hatten teilweise schon eine heisere Stimme. Nun galt es auch noch darauf aufzupassen, dass keiner in den Gleisbereich stürzt. Am liebsten hätte unser Gruppenleiter die Besoffenen heraussortiert und vom Bahnhof verwiesen. Aber das war bei den wenigen Beamten nicht möglich und hätte zu unkontrollierbaren Widerstandshandlungen geführt. Als der Zug in Richtung Magdeburg einfuhr, wurde auch dieser gestürmt. Die Beamten achteten darauf, dass alle Fans zusammenblieben und keiner zurückgelassen wurde.

Und manchmal passieren bei solchen Einsätzen noch kleine Wunder. Denn, nach kurzem Tumult im Zug, konnte man sehen, wie hier und da die ersten Fans einschliefen. Es dauerte nicht lange und alle hatten die Augen zu. Den Beamten war es recht. Sie hatten von nun an eine relativ ruhige Fahrt bis Magdeburg.

Kurz vor Magdeburg wurden die Fans durch mehrere Lautsprecherdurchsagen geweckt und die, die nicht munter wurden, wurden von den Beamten an der Schulter wachgerüttelt. Als der Zug in Magdeburg einfuhr, stand der Großteil der Fans übermüdet an den Türen. Am Bahnsteig angekommen, stiegen sie aus und schlichen in die Vorhalle. Manch einer versuchte mit ihren Schlachtrufen die Stimmung noch mal anzuheizen. Das funktionierte nicht mehr. Es kam mehr oder weniger nur noch ein heiseres Krächzen heraus. Die Truppe war erschöpft und ausgelaugt. Der Dienstgruppenleiter von der Magdeburger Dienststelle stand mit noch zwei Beamten am Bahnsteig und bat die Nordhäuser Kollegen noch um einen Gefallen. Sie sollten mithelfen, die Fans aus dem Bahnhof zu führen. Dieser Bitte wurde nachgekommen. Vor dem Bahnhof standen drei Streifenwagen der Landespolizei und die sollten oder wollten sich nun um die Fans kümmern.

Nun hatten die Nordhäuser es geschafft. Sie waren die Hooligans los. Jetzt, wo sie weg waren, spürte Erich einen unbändigen Hunger und Durst. Sie hatten die ganze Zeit nichts gegessen. Sie hatten bei dem überstürzten Einsatz auch nichts dabei. Erich suchte nach irgendwelchen Kaffeeautomaten und fand in der Mitte vom Nachbarbahnsteig einen. Nun, als er losging, stellte er fest, dass er nicht der Einzige war. Alle hatten Hunger und Durst. Und unweit des Kaffeeautomaten gab es noch was zu beißen. Natürlich auch aus dem Automaten. Das spielte im Moment keine Rolle. Hauptsache, der Magen hatte was zu tun und ihnen ging es danach besser. Fürs erste gesättigt, marschierte die Gruppe zu dem zwischenzeitlich bereitgestellten Personenzug in Richtung Heimat.

In Nordhausen angekommen, war die Schicht fast um und sie bereiteten sich so langsam auf den Feierabend vor. Sie hatten ihn sich verdient. Sie gehören ja nicht mehr zu den Jüngsten.

Auf der Heimfahrt machte sich Erich noch mal Gedanken über den Einsatz. Er konnte es immer noch nicht begreifen, wie man neben ihm die Notbremse ziehen konnte, ohne dass er es bemerkt hatte. Ansonsten sagte er sich: „Die Schicht ist rum. Die Fans sind gut angekommen und keinem ist etwas passiert. Also haben wir eine gute Arbeit abgeliefert! Und außerdem hatten wir schon schlimmere Einsätze mit mehreren verletzten Kollegen, wo deren Einsatz im Krankenhaus endete.“ Beim weiteren Grübeln fiel ihm plötzlich das Gedicht einer Kollegin ein, die dahingehend, in einer Einsatzhundertschaft, reichlich ihre Erfahrungen sammeln durfte.

Von Hirten und Herden

Sie werden empfangen, werden erwartet.

Werden gezählt und zusammengetrieben.

Freundlich aber bestimmt.

Sie sehen uns nicht, wir werden gemieden.

Sie trüben ihre Sinne

mit Alkohol –

vehement.

Sie lachen uns aus, spucken und schimpfen,

ungehemmt.

Ohne Respekt vor dem Menschen, der vor ihnen steht,

die Erziehung der Eltern vergessen,

und wie man mit Werten umgeht.

Mandy Spintge

Erich konnte dem nur Recht geben und sagte zu sich: „Ich glaube, es gibt keinen Bundespolizisten, der nicht diese oder ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Selbst die Kollegen von der Landespolizei konnten ein Lied davon singen.“

Täter ermittelt

Zur nächsten Schicht hielt es Erich nicht mehr aus und stürzte ins Büro der Oberkommissarin: „Hallo Peggy, wie war es gestern? Hattet ihr Erfolg?“

„Komm rein, bleib ruhig und setz dich. Das war ein voller Erfolg. Wir haben jetzt den Richtigen. Ihr wart noch nicht richtig weg, da haben wir uns in die Spur gemacht. Als wir vor seiner Haustür standen und er aufmachte, hat er erst verdutzt geguckt, aber uns dann freundlich hereingebeten und erzählt und erzählt. Mal sehen, ob ich das auf die Kürze zusammen kriege. Also, zuerst hat er den Herrn Schmidt als einen guten Freund bezeichnet und dann hat er umgelenkt und ihn belastet. Er hat sogar behauptet, dass Herr Schmidt im Dienst manchmal leichtsinnig handelt. Und das soll nicht nur einmal gewesen sein. Da waren zum Beispiel erloschene Signallaternen, die er aus Faulheit ignoriert hat. Er hat sich einfach nicht darum gekümmert und andere Kollegen mussten für ihn losgehen und die Birnen auswechseln. Und dass die Signale leuchten ist ganz wichtig für den Betriebsablauf. Und wenn es um das Schmieren der Weichen ging, soll er auch nicht der Fleißigste gewesen sein. Alles zusammengefasst, soll Herr Schmidt ein schlechter Fahrdienstleiter sein. Nun ja, das hab ich mir alles angehört und mitgeschrieben und dann stellte ich konkrete Fragen: Waren Sie an dem betreffenden Tag auf dem Fahrdienstleiterstellwerk? Da kam er kurzzeitig ins Stottern und antwortete: ‚Nein, war ich nicht! Na ja, ja ich war mal ganz kurz da. Ich hatte was im Spind vergessen und das wollte ich holen. Robert hatte mir versprochen darüber zu schweigen. Sie müssen wissen, dass ich laut Fahrdienstvorschrift nicht dort hoch durfte. Aber da sehen Sie wieder, was man von solchen Menschen halten soll. Die würden sogar ihre Großmutter für ein paar Pimperlinge verscherbeln. Und als ich an dem Tag da war, hab ich schon wieder sehen müssen, wie schlampig der gearbeitet hat. Ich musste ihm immer wieder unter die Arme greifen und ich habe auch gesehen, dass mit ihm irgendwas nicht stimmt. Aus diesem Grund habe ich einige Zugfahrten für ihn durchgeführt und damit für die Sicherheit im Betriebsablauf gesorgt. Ich will ihn ja nicht in die Pfanne hauen, aber ich habe gesehen, wie er zweimal hintereinander einschlief. Da hab ich ihn wieder munter machen müssen und er hat mir versprochen, dass das nicht wieder vorkommt.‘ Bei dem letzten Satz schwoll ihm die Brust an. Das hättest du sehen müssen. Auf die Frage, wievielmal er auf dem Stellwerk war, antwortete er: Zweimal. Er begründete den zweiten Besuch damit, dass er Herrn Schmidt helfen wollte, indem er ihm Kaffee anbot. Kaffee macht ja bekanntlich munter. Und danach sei er gegangen.“

„Lass dich mal kurz unterbrechen. Wenn ich das höre, lag ich wohl mit meiner Vermutung daneben?“

„Nein, Erich, du lagst goldrichtig. Der Glöckner war’s. Lass mich weitererzählen. Ich habe ihm dann die entscheidende Frage gestellt: Herr Glöckner, warum sind Sie ein drittes Mal auf das Stellwerk gegangen? Und mit der Frage hatte ich ihn. Er wurde nervös und stotterte. Zuerst stritt er es ab und als ich eine Zeugin ins Spiel brachte, gab er es zu. Er war noch mal dort gewesen. Betonte aber, dass er keine Schlaftabletten in den Kaffee getan habe. Mit dem Satz hatte er sich verraten. Dann stellte ich im die nächste Frage: Woher wissen Sie, dass in dem Kaffee des Herrn Schmidt Schlaftabletten waren? Erich, ich hatte es bis dahin ja selbst nicht gewusst. Nun wurde er wütend und erklärte uns, dass er kein Wort mehr sage und wollte uns rausschmeißen. Als das nicht funktionierte, wollte er abhauen und rannte aus dem Haus. Moto war schneller. Er hat sich gegen die drohende Festnahme gewehrt und immer wieder versucht sich loszureißen. Hat aber nicht funktioniert. Erst, als er die Handschellen dran hatte, wurde er wieder ruhiger. Eine Stunde später saß er bei uns auf der Dienststelle. Und wie du weißt, kann ich bei Befragungen hartnäckig sein. Und siehe da, er hat dann alles zugegeben Und ich weiß jetzt, wie sich das auf dem Stellwerk abgespielt hat. Der hatte für beide einen kräftigen Kaffee gekocht und diesen, zu gegebener Zeit, auf das Stellwerk geholt und eingeschenkt. Bei einer passenden Gelegenheit hat er die Schlaftabletten eingerührt und Robert Schmidt hat den Kaffee getrunken. Danach hat er sich verabschiedet und darauf gewartet, dass er einschläft. Ist dann wieder auf das Stellwerk gegangen und hat den Zusammenstoß arrangiert. Und das vermeintlich Gute für ihn war, dass er bis zu dem Zeitpunkt nicht verdächtigt wurde. Wir hatten ja einen Täter und der hatte in seinem Unwissen und Gutgläubigkeit alles zugegeben. Und dieser Clou hätte beinahe geklappt und Herr Schmidt wäre unschuldig bestraft worden. Nun ist der Fahrdienstleiter Schmidt wieder im Dienst und alles ist gut.“

„Peggy, da gibt es trotzdem noch eine Ungereimtheit, die ich nicht verstehe.“

„Frage, ich kann dir jetzt alles erklären.“

„Warum war der Zusammenstoß von der gefahrenen Strecke her näher am Bahnhof Sondershausen dran? Zeitlich gesehen hätte der Zusammenstoß kurz hinter Kleinfurra passieren müssen. Das heißt doch nichts anderes als, dass der Zug früher losgefahren ist als die Lok? Das ist mir im Nachhinein auch noch bewusst geworden. Hast du dafür eine plausible Erklärung?“

„Erich, die Erklärung hab ich. Vom Prinzip hast du recht. Der Zug ist tatsächlich früher abgefahren als die Lok in Sondershausen. Das ist richtig. Aber die Lok hatte die offizielle Freigabe und sie ist später abgefahren, weil der Lokführer, obwohl die Ausfahrt stand, noch ein menschliches Bedürfnis hatte. Deshalb die verspätete Abfahrt.“

„Okay, das klingt logisch.“

„Ach, das wollte ich dir auch noch erzählen. Ich hab gehört, dass du auf der Liste stehst?“

„Welche Liste?“

„Auf der Liste der Beförderungen. Du wirst Hauptmeister.“

„Mach kein Quatsch!“

„Nein, du stehst wirklich drauf. Glaub es mir.“

Und was sollte Erich sagen? Er wurde tatsächlich befördert. Und während seiner Beförderung dachte er an seinen alten Freund Leo. Leo sollte damals kurz vor Toresschluss auch noch befördert werden. Das hatte leider nicht mehr geklappt. Da gab es irgendwo einen jungen Kollegen, der fühlte sich bei den anstehenden Beförderungen benachteiligt, hatte seinen Anwalt eingeschaltet und dagegen geklagt. Somit sind alle Beförderungen aufgehoben beziehungsweise verschoben worden und sein alter Kumpel Leo ist als Obermeister in den Ruhestand gegangen. Vermutlich fühlt der sich nun bis an sein Lebensende bestraft und er weiß nicht wofür.

Erich Glaubmirnix - Kriminalfälle und Abenteuer heute und im Mittelalter

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