Читать книгу Auf den ersten Blick - Группа авторов - Страница 7
ОглавлениеJemand ist im Garten.
»Daniel«, sagt Miranda. »Das ist Santa Claus. Er schaut durchs Fenster.«
»Nein, tut er nicht«, sagt Daniel. Er blickt nicht einmal hoch. »Wir haben unsere Geschenke schon. Und außerdem. Es gibt keinen Santa.«
Sie sitzen gemeinsam unter dem Baum, dem berühmten Honeywell-Weihnachtsbaum. Sie sind beide elf Jahre alt. Es ist gerade genug Platz, um sich im Schneidersitz gegen den Stamm zu lehnen. Daniel lässt die Eisenbahn um den Baum fahren, vorwärts, rückwärts, dann wieder vorwärts. Miranda bewundert ihr schönstes Geschenk, eine Schere mit vergoldeten Griffen, die wie ein Kranich aussieht. Die Schneidblätter bilden den Schnabel. Mit einem Schnipp, Schnipp schneidet sie die spröden Nadeln einzeln von dem Zweig über ihr ab. Kiefernduft. Grüner Nadelregen.
Draußen muss es sehr kalt sein. Am Fenster schimmert der Frost. Es ist schon lange nach Schlafenszeit. Wenn es nicht Santa Claus ist, dann könnte es ein Einbrecher sein, der auf Schmuck aus ist. Oder ein Axtmörder.
Natürlich könnte es auch einer von Daniels Hunderten von Onkeln und Cousins sein. Es fehlt der Bart und das Gesicht am Fenster ist kein glückliches. Auch wenn es in der Dunkelheit und durch den Raureif am Fenster kaum zu erkennen ist, hat es die typischen Honeywell-Züge. Der Raum ist voll mit erwachsenen Honeywells, die über Dinge reden, über die Honeywells immer reden, also über alles, Pferde und Häuser, Gott und Fundamente, Bräunungsstudios und – natürlich – das Theater. Das Theater ist immer dabei. Die Honeywells reden gerne. Wenn die Honeywells keinen Rollentext haben, improvisieren sie. Die Welt ist eine Bühne.
Einen Honeywell sieht man nur selten allein. Sie kommen gebündelt wie Bananenstauden. Sie kommen nicht als einzelne Späher, sondern in Geschwadern. Und sosehr Miranda das rotgoldene Honeywell-Haar, das übersteigerte, ausdrucksstarke gute Aussehen der Honeywells, ihr Repertoire an Scherzen und Geheimnissen, an Gedichten und Unsinn bewundert, sosehr braucht sie hin und wieder auch einmal eine Pause davon. Die Honeywells erwarten, dass man selbst ebenfalls redet. Sie stellen Fragen, bis einem der Mund ganz trocken ist vom vielen Antworten.
Daniel ist ein ungewöhnlich ruhiger Honeywell. Ihm ist es egal, ob man da ist oder nicht.
Miranda schlängelt sich unter dem Baum hervor und drängt sich zwischen den vielen langbeinigen Honeywells mit schwarzen Fliegen und Partykleidern hindurch: apokalyptisch oranger Taft, fließender enger Satin in Kanariengelb und Violett, üppige weiße Seide, hier und da bereits mit Weinflecken darauf.
Man tätschelt sie am Kopf und zwinkert ihr zu. Jemand in einem goldenen Gewand sagt: »Armes kleines Lämmchen.«
»Baaaaah humbug«, platzt Miranda heraus und macht sich davon. Ihr eigenes Kleid ist aus grünem Cordsamt. Empire-Taille. Es kneift an den Achseln. Mirandas Interesse an diesen Dingen ist zum Teil fachlicher Art. Ihre Mutter Joannie (seit sechs Monaten in einem Gefängnis in Phuket, wo sie noch viele weitere Jahre bleiben wird) war Elspeth Honeywells Garderobiere und Vertraute.
Daniel ist Elspeths Sohn. Miranda ist Elspeths Patentochter.
Zwei Männer küssen sich lasziv in der Küche. Sie lehnen sich dabei an das Waschbecken, wo eines der neuen Honeywell-Kätzchen aus einer Sauciere Soße aufleckt. Ein Mädchen – nur ein paar Jahre älter als Miranda – legt fleckige, zerfledderte Tarotkarten auf den Bauerntisch. Leere Weinflaschen liegen da wie schräg gestellte Kanonen. Ein Fleischmesser steckt in einem massakrierten Weihnachtskuchen. Aus dem Ofen sickert die Wärme. Im Warmhaltefach des Standherds schlafen die anderen Kätzchen in einer verkrusteten Pfanne.
Miranda nimmt eine Tüte mit Partymüll – lippenstiftverschmierte Servietten, Wegwerfsektgläser, fettige Pastetenreste – und trägt sie zur Küchentür. Die Katzenmutter schlüpft herein, während Miranda hinausgeht.
Es schneit. Große, klebrige Klumpen schmelzen auf ihren Haaren, ihren Wangen. Schnee an Weihnachten. In Phuket natürlich nicht. Sie überlegt, was es in einem thailändischen Gefängnis an Weihnachten zu essen gibt. Ihre Mutter machte immer Weihnachtskuchen und Miranda half ihr beim Ausrollen des Marzipans.
Sie schlittert mit ihren Ballerinas übers Gras, bindet den Müllsack zu und lehnt ihn gegen die Stufen. Da ist der Mann im Garten, er steht immer noch am Fenster und sieht hinein.
Er muss Miranda gehört haben. Bestimmt hört er sie. Ihre Schritte auf dem gefrorenen Gras. Aber er dreht sich nicht um.
Selbst von hinten erkennt man ihn als Honeywell. Schlacksig und gelbhaarig. Vollkommen still. Er schafft es, vollkommen still zu sein. In einer vollkommenen Pose, die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Unnatürlich natürlich. Der Schnee, der Mirandas Nase zum Laufen bringt und ihre Wangen vor Kälte fleckig macht, schmilzt nicht auf den hellen Honeywell-Haaren oder den Schulterstücken seines ungewöhnlichen Kleidungsstücks.
Typisch Honeywell, denkt Miranda. Ein Streit unter Liebenden. Oder er hat sich über eine Bemerkung von jemandem geärgert und schmollt sich jetzt gut aussehend in der Kälte zu Tode. Ihre Mutter hat ihr zu verstehen gegeben, wie man sich verhält, wenn ein Honeywell ein Drama aus etwas macht, das kein Drama verlangt. Strenge ist der Schlüssel.
Bei diesem neuerlichen Gedanken an ihre Mutter wird Miranda selbst von dramatischen Gefühlen überfallen. Sie konzentriert sich auf den Mantel, schiebt ihre Gefühle beiseite. Was für ein Kleidungsstück. Ein Kostüm? Aus dem Kleiderfundus eines Stücks stibitzt. Achtzehntes Jahrhundert. Wundervoller Schnitt. Kein Gehrock. Ein Justaucorps. Rosendamast. Bestickt mit weißem Seidenfaden – Mohnblüten und Rosen und an den Schößen ein Hirschhornkäfer auf einem grünen Blatt. Sie geht näher und näher heran, bis sie, ohne es zu wollen, die Hand ausstreckt, um den Käfer zu berühren.
Fast erwartet sie, dass ihre Hand ins Leere greift (in Honeywell Hall gibt es bestimmt Geister.) Aber das tut sie nicht. Der Herrenrock ist echt. Mirandas Finger berühren den Damast. Sie sagt: »Was auch immer passiert ist, es ist es nicht wert, sich deswegen zu Tode zu frieren. Du solltest nicht hier draußen sein, sondern reingehen.«
Der Honeywell in dem Justaucorps dreht sich zu ihr um. »Ich bin genau da, wo ich sein soll«, sagt er. »Und das ist hier. Und ich tue genau das, was ich tun soll. Dazu gehört es nicht, mit kleinen Mädchen zu plaudern. Geh weg, kleines Mädchen.«
Sie mag wohl ein kleines Mädchen sein, aber Miranda ist gut gegen das Honeywell’sche Arsenal an Tobsuchtsanfällen, Wutausbrüchen, Höhen, Tiefen, Charme und Absonderlichkeiten gewappnet. Über der großen rechten Jackentasche des Justaucorps ist ein rotgoldener Fuchs gestickt, dessen Vorderpfote in einer Falle steckt.
»Ich bin Miranda«, sagt sie. Und dann fügt sie hinzu, weil sie den einen oder anderen Honeywell-Kniff aufgeschnappt hat: »Meine Mutter ist im Gefängnis.«
Für einen kurzen Augenblick sieht der Honeywell sie mitfühlend an, dann zuckt er die Schultern. Natürlich theatralisch. Er vergräbt die Hände in den Taschen. »Was hat das mit mir zu tun?«
»Jeder hat irgendwelche Probleme, so ist es nun mal«, sagt Miranda. »Ich bin hier, weil Elspeth Mitleid mit mir hat. Ich hasse es, wenn Leute mich bemitleiden. Dich bemitleide ich ganz sicher nicht. Ich kenne dich nicht. Ich finde es nur nicht sehr schlau, hier draußen zu stehen, nur weil man schlechte Laune hat. Aber vielleicht bist du ja nicht sehr schlau. Meine Mutter sagt, bei gut aussehenden Leuten ist das manchmal so. Wie heißt du?«
»Wenn ich es dir sage, gehst du dann weg?«, fragt der Honeywell.
»Ja«, sagt Miranda. Sie kann in die Küche gehen und mit den Kätzchen spielen. Den Abwasch übernehmen und sich nützlich machen. Sich ihre Zukunft vorhersagen lassen. Wieder mit Daniel unter dem Baum sitzen, bis es lange nach Schlafenszeit ist. Morgen wird sie mit dem Bus nach Hause geschickt. Nächstes Jahr wird Elspeth wahrscheinlich längst vergessen haben, dass sie eine Patentochter hat.
»Ich bin Fenny«, sagt der Honeywell. »Und jetzt geh weg. Ich habe Dinge zu erledigen und mir bleibt nicht sehr viel Zeit dafür.«
»Na schön«, sagt Miranda. Sie tätschelt den breiten Ärmelaufschlag von Fennys wunderschönem Herrenrock. Sie überlegt, wie er wohl gefüttert ist. Und wie sehr man darin wohl friert. Wie dumm es von dem Mann ist, hier draußen zu stehen, obwohl er drinnen willkommen wäre. »Fröhliche Weihnachten. Gute Nacht.«
Sie streckt ein letztes Mal die Hand aus und berührt den bestickten Fuchs, sein Bein in der Falle. Unsichtbare Stiche, Hohlsäume, Fischgrätenstich. »Es ist wirklich eine sehr feine Arbeit«, sagt sie. »Aber ich hoffe, er kommt frei.«
»Er war dumm genug, in die Falle zu tappen, du seltsames und lästiges Kind«, erwidert Fenny und dreht sich bereits wieder zum Fenster. Was sieht er da drin?
Als Miranda wieder in den Salon zurückkehrt, wo die beschwipsten Honeywells unangemessene Texte zu Weihnachtsliedern grölen, an Christmas-Crackern ziehen und Papierkronen aufsetzen, wirft sie einen Blick zum Fenster hinaus. Es hat aufgehört zu schneien. Niemand ist mehr da.
Wie sich herausstellt, denkt Elspeth Honeywell auch im darauffolgenden Jahr an Miranda, ebenso wie im übernächsten Jahr und im überübernächsten Jahr. Unter dem prachtvollen Baum liegen Geschenke für sie. Eine Eintrittskarte für ein Londoner Musical, das sie sich nie anschaut. Mit dreizehn ein Make-up-Set.
Als sie vierzehn ist, schenkt Daniel ihr ein Schachspiel und eine Schatulle mit Seidenfäden. Unter ihren schwarzen Strümpfen trägt Miranda ein geknüpftes rotes Lederband am Knöchel, das in einem leeren Umschlag aus Phuket kam. Die Kätzchen sind inzwischen ausgewachsen und tun so, als würden sie sie nicht kennen.
Mit zwölf hält sie Ausschau nach dem geheimnisvollen Fenny. Er ist nicht da. Als sie nach ihm fragt, weiß keiner, wen sie meint.
Mit dreizehn trinkt sie zum ersten Mal Champagner.
Mit vierzehn fühlt sie sich an Weihnachten schon ziemlich erwachsen. Der Mann in dem Justaucorps war ein Traum oder irgendeine Geschichte, die sie sich ausgedacht hat, um sich interessant zu machen. Mit vierzehn ist sie zu alt für Märchen, Santa Claus und Gespenstergeschichten. Als Daniel sie darauf hinweist, dass sie unter dem Mistelzweig stehen, küsst sie ihn auf beide Wangen. Dann steckt sie ihre Zunge in sein Ohr.
Als sie fünfzehn ist, schneit es wieder an Weihnachten. Der Schnee war angekündigt und jetzt ist er da. Während sie über die Wahrscheinlichkeit von Schnee nachdenkt, fällt er ihr plötzlich wieder ein. Der Mann im verschneiten Garten. Natürlich gibt es keinen Mann im Garten. Es hat ihn nie gegeben. Aber es gibt Honeywell Hall, und das ist genug – und dazu die scheinbar endlos vielen erwachsenen Honeywells, die sich wieder wie Kinder benehmen.
Der Spaß, den Honeywells einfordern, laugt einen aus und hat fast olympische Ausmaße. Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie es schrecklich oder wunderbar findet.
Am späten Nachmittag spielen die Honeywells Scharade. Es macht keinen Spaß, mit Leuten zu spielen, die Profis darin sind. Miranda steht am Fenster, sieht dem Schneetreiben zu und hält Ausschau. Nach Vögeln. Einem Fuchs. Einem Mann im Garten.
Ein Honywell ruft: »Gute Güte, nein! Kleopatra war in einen Teppich gewickelt, nicht in die Sonntagsbeilage!«
Daniel ist in seinem Zimmer und skypt mit seinem Vater.
Miranda wandert von Fenster zu Fenster und tut so, als würde sie auf nichts Bestimmtes warten. In einiger Entfernung fällt ihr auf dem Anwesen etwas auf. Jemand. Wie der Blitz rennt sie zur Tür hinaus.
»Ich gehe spazieren!«, ruft sie, als die Tür hinter ihr zufällt. Falls das überhaupt jemanden interessiert.
Als sie bei dem Mann ankommt, balanciert er gerade Stein für Stein über die alte Begrenzungsmauer. Fenny. Beim Gehen schlägt er mit einem Stecken gegen jeden Stein.
»Du«, begrüßt er sie. »Ich habe mich schon gefragt, ob ich dich je wiedersehen würde.«
»Miranda«, sagt sie. »Meinen Namen hast du bestimmt vergessen.«
»Nein«, antwortet er. »Habe ich nicht. Willst du hochkommen?«
Er streckt die Hand aus. Als sie zögert, sagt er: »Wie du willst.«
»Das kann ich alleine.« Sie klettert hoch. Jetzt steht sie vor ihm. Sie geht rückwärts, damit sie ihn im Auge behalten kann.
»Du bist keine Honeywell«, stellt er fest.
»Nein«, sagt sie. »Aber du bist einer.«
»Ja«, sagt er. »Sozusagen.«
Miranda bleibt stehen, damit er ebenfalls stehen bleiben muss. Es geht auch gar nicht mehr weiter, hinter ihr ist eine Lücke in der Mauer.
»Ich weiß noch, wie sie diese Mauer gebaut haben«, sagt er zu ihr.
Wahrscheinlich hat sie sich verhört. Oder er neckt sie. »Dann musst du ja sehr alt sein.«
»Älter als du, soviel steht fest.« Er setzt sich auf die Mauer und sie folgt seinem Beispiel.
Vor ihnen erstreckt sich Honeywell Hall. Dahinter schließt sich ein Wäldchen an. Es schneit ein wenig und der Wind wirbelt die Flocken hoch.
»Warum trägst du immer dieses Kleidungsstück?«, fragt Miranda. Sie rutscht auf der Mauer hin und her. Langsam wird ihr Hintern kalt. »Du solltest damit nicht auf einer schmutzigen Mauer sitzen. Dafür ist es viel zu schön.« Sie berührt den gestickten Käfer, dann den Fuchs.
»Ich habe ihn von jemand … Besonderem bekommen«, sagt er. »Ich trage ihn immer, denn das war ihr Wunsch.« Die Art, wie er das sagt, lässt Miranda ein wenig erschaudern.
»Ich verstehe«, sagt sie. »Wie mein Knöchelband. Meine Mutter hat es mir geschickt. Sie ist im Gefängnis. Sie wird nie freikommen. Sie wird dort bleiben, bis sie stirbt.«
»Wie der Fuchs«, erwidert er.
»Wie dein Fuchs«, bestätigt Miranda. Zu ihrem Entsetzen schießen Tränen in ihre Augen. Fängt sie an zu weinen? Dabei ist es noch nicht mal ein echter Fuchs.
Sie hat keine Lust, den Mann im Herrenrock, Fenny, anzusehen, um herauszufinden, ob er es gemerkt hat, daher hüpft sie rasch von der Mauer und kehrt zum Haus zurück. Auf halbem Weg hört es auf zu schneien. Sie blickt zurück. Die Mauer ist leer. Es hört auf zu schneien, dann fängt es wieder an, so geht es den ganzen Tag über. Nach dem Abendessen halten sich die Honeywells stöhnend die Bäuche. Elspeth hat etwas für Miranda.
Sie hält ein Geschenk zwischen zwei Fingern, als wäre es eine besondere Leckerei und Miranda ein streunender Welpe. »Jemand hat es für dich vor die Tür gestellt, Miranda«, sagt sie. »Ich frage mich, wer das war.«
Eingepackt ist es in ein mit einem grünen Faden zusammengebundenes schlichtes weißes Briefpapier. In krakeliger Handschrift steht ihr Name darauf. Miranda. Darin ist ein Fetzen Rosendamast. Der gestickte Fuchs. Die gefletschten Zähne. Das versehrte Bein. Die blutige Falle.
»Lass mal sehen, Süße«, sagt Elspeth und nimmt das Stück Stoff in die Hand. »Was für ein seltsames Geschenk! Soll das ein Scherz sein?«
»Ich weiß es nicht«, sagt Miranda. »Vielleicht.«
Es ist acht Uhr. Das auf einem Hügel gelegene Honeywell Hall erstrahlt jetzt wie eine Fackel. Miranda zieht ihren Mantel an und geht dreimal ums Haus. Der Schnee ist weggeschmolzen. Bei der letzten Runde wird sie von Daniel abgefangen. Er hat Pickel und seine Nase ist zu groß für sein Gesicht. Sie liebt ihn von Herzen, so wie sie auch Elspeth liebt. Die beiden sind immer freundlich zu ihr.
»Hier«, sagt er und reicht ihr das Stück Stoff. »Ein geheimer Santa? Ein geheimer Bewunderer? Ein Geheimcode?«
»Ach, weißt du«, sagt Miranda, »das ist eine lange Geschichte. Die hebe ich mir für meine Memoiren auf.«
»Drinnen tun sie alle so, als wären wir in den Siebzigern und sie wären wieder süße sechzehn. Sie spielen Verstecken und betrinken sich. Es läuft auf Orgien in allen Schränken, dramatische Beichten und versuchten Mord in der Speisekammer, unter der Treppe, in und unter den Betten hinaus, und das die ganze Nacht lang. Also habe ich mir das hier geschnappt und mich aus dem Staub gemacht.« Daniel zeigt ihr die Flasche Strongbow in seiner Jackentasche. »Komm, setzen wir uns in den Tiger. Dann kannst du mir alles von der Schule und deiner schrecklichen Tante erzählen, und ich sage dir, mit welcher Abgeordneten der Torys Elspeth sich heimlich trifft. Dann kannst du die Story an The Sun verkaufen.«
»Von den Einnahmen können wir uns sicher eine unbeheizte Wohnung in Wolverhampton leisten. Das wird ein Leben«, sagt Miranda.
Sie trinken Cider und essen einen halb geschmolzenen Mars-Riegel. Sie unterhalten sich und Miranda überlegt, ob Daniel versuchen wird, sie zu küssen. Ob sie versuchen sollte, ihn zu küssen. Aber er tut es nicht und sie tut es nicht – sie tun es gemeinsam nicht – und irgendwann schläft sie auf dem von Mäusen zerfressenen Polster der grotesken Karosse des Sunbeam Tigers ein, den Kopf an Daniels Schulter gelehnt, den gefangenen Fuchs in ihrer Faust umschlossen.
Im darauffolgenden Jahr steht Elspeth in allen Zeitungen. Der Ehemann der Tory-Abgeordneten hat die Scheidung eingereicht. Elspeth ist als Zeugin vorgeladen. Inzwischen hat sie schon die nächste Sache laufen, mit einem zwanzig Jahre jüngeren Fußballer. Es ist die perfekte Weihnachtsstory. Überall wimmelt es von Journalisten. Als die spektakulär in Ungnade gefallene Elspeth Miranda im Sunbeam Tiger am Bahnhof abholt, trägt sie einen breitkrempigen schwarzen Hut, einen schwarzen Overall und eine schwarze Sonnenbrille. Sie ist ganz in ihrem Element.
Mirandas Tante hatte es ihr in diesem Jahr fast nicht erlaubt herzukommen. Aber wenn Miranda bei ihr geblieben wäre, hätten sie sich beide elend gefühlt. Ihre Tante hat einen neuen Freund. Fast so schrecklich wie sie selbst. Das sollte mal jemand der Klatschpresse stecken.
»Hübsches Kleid«, sagt Elspeth und küsst sie auf die Wange. »Hast du das genäht?«
Besonders mit dem Saum ist Miranda sehr zufrieden. »Es ist gar nicht so schlecht.«
»Ich will auch so eines«, sagt Elspeth. »In Rot. Tieferer Ausschnitt, höherer Saum. Du könntest ein Geschäft daraus machen. Schon mal darüber nachgedacht?«
»Ich bin sechzehn«, sagt Miranda. »Ich muss erst noch viel besser werden.«
»Alexander McQueen hat die Schule mit sechzehn verlassen«, sagt Elspeth. »Er ging als Lehrling in die Savile Row. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, Menschenhaar in das Futter einzunähen. Als eine Art Beschwörung, nehme ich an. Ich habe selbst ein Mantakleid von ihm zu Hause. Deine Mutter war übrigens auch kaum älter, als du jetzt bist, als sie anfing zu arbeiten. Sie lungerte hinter der Bühne herum und nähte Pailletten und Kristalle auf Tüll.«
»Wo ist Daniel?«, fragt Miranda. Sie und ihre Mutter haben sich Briefe geschrieben. Miranda spart jetzt Geld. Ihre Tante weiß es noch nicht, aber im nächsten Sommer wird Miranda nach Thailand gehen.
»Zu Hause. Er hat schlechte Laune und hört meine alten Platten. The Smiths.«
Miranda schaut Elspeth forschend an. »Das Mädchen hat mit ihm Schluss gemacht, stimmt’s?«, fragt sie.
»Wenn du die mit den Frettchen und den unvorteilhaften Knöcheln meinst, dann ja«, antwortet Elspeth. »Wie hieß sie noch gleich? Es ist mir ein Rätsel. Nicht ihr Name, sondern dass sie Schluss gemacht haben. Er ist in zwei Monaten siebeneinhalb Zentimeter gewachsen und seine Haut wird immer reiner. Ehrlich, Miranda, er sieht besser aus, als ich es erwartet hätte. Der Junge hat ein Herz aus Gold und Grips im Kopf. Ich weiß wirklich nicht, was sie sich dabei gedacht hat.«
»Vielleicht war es ein Präventivschlag«, überlegt Miranda.
»Ich wüsste gar nichts von ihrer Trennung, wenn ich nicht zufällig eine ihrer Unterhaltungen mitgehört hätte. Mehr oder weniger zufällig«, erzählt Elspeth weiter. »Das und dann auch noch die Smiths. Er spricht nicht mit mir über sein Liebesleben.«
»Hättest du denn gerne, dass er mit dir über sein Liebesleben spricht?«
»Nein«, sagt Elspeth. »Ja. Vielleicht? Wahrscheinlich nicht. Wie auch immer – was ist mit dir, Miranda? Hast du auch schon so etwas? Ein Liebesleben?«
»Ich habe ja noch nicht einmal Frettchen«, sagt Miranda.
Am Weihnachtsabend, während alle Honeywell-Gäste zusammen mit Cousinen, Ehefrauen, Freunden, Freundinnen und Steuerberatern durchs Dorf ziehen und Weihnachtslieder singen, nimmt Elspeth Miranda und Daniel beiseite. Sie drückt jedem einen Joint in die Hand.
»Denk nicht, ich hätte nicht gemerkt, dass du meinen Vorrat plünderst, Daniel«, sagt sie. »So weiß ich wenigstens, was du treibst. Wenn du schon das Gesetz brechen willst, dann musst du lernen, es verantwortungsvoll zu tun. Unter der Aufsicht von Erwachsenen.«
Daniel verdreht die Augen und sieht Miranda an. Es ist ärgerlich, aber wahr, er hat sich tatsächlich zu einem gut aussehenden Jungen gemausert. Was unvermeidlich war. Anscheinend werden alle hässlichen Honeywells gleich nach der Geburt ertränkt.
»Schon okay, sexy Hexy«, sagt er zu Miranda. »Wenn du deinen nicht willst, nehme ich ihn.«
Miranda schiebt den Joint in ihren BH. »Danke, aber ich behalte ihn lieber.«
»Ich bin sicher, ihr zwei habt euch jede Menge zu erzählen«, sagt Elspeth. »Ich gehe jetzt in den Pub, um die Bardamen zu küssen und die Journalisten zum Weinen zu bringen.«
Als sie draußen ist, fragt Daniel: »Sie will uns verkuppeln, oder?«
»Oder es ist umgekehrte Psychologie«, erwidert Miranda.
Ihre Blicke treffen sich. Courage, Miranda.
Daniel legt vergnügt den Kopf schief.
»Wenn das so ist, sollte ich es tun.« Er beugt sich vor, legt die Hand unter Mirandas Kinn und hebt es an. »Wir sollten es tun.«
Er küsst sie. Seine Lippen sind weich und trocken. Miranda saugt versuchsweise an seiner Unterlippe. Sie schlingt die Arme um seinen Nacken und seine Hände wandern nach unten, umfassen ihren Hintern. Er öffnet den Mund und spielt mit der Zunge, bis sie ebenfalls die Lippen öffnet. Er scheint genau zu wissen, wie es geht. Er und das Mädchen mit den Frettchen haben offensichtlich viel geübt.
Miranda überlegt, ob die Frettchen die ganze Zeit über im Käfig waren oder frei herumgelaufen sind. Es muss verstörend sein, miteinander rumzumachen, während man von Frettchen beobachtet wird. Diese glänzenden Knopfaugen.
Sie spürt Daniels Erektion. Oh Gott. Wie peinlich. Sie schiebt ihn weg. »Tut mir leid«, seufzt sie. »Tut mir leid! Ja, nein, ich glaube nicht, dass wir das tun sollten. Nichts davon!«
»Wahrscheinlich nicht«, sagt Daniel. »Wahrscheinlich ganz sicher nicht. Es ist irgendwie schräg, oder?«
»Sehr schräg«, antwortet Miranda.
»Vielleicht ist es anders, wenn wir zuvor einen Joint rauchen«, sagt Daniel. Sein Haar ist zerzaust. Das war sie gewesen.
»Oder wir rauchen einfach einen Joint«, schlägt Miranda vor. »Ohne, du weißt schon, alles zu verkomplizieren.«
Nach etwa der Hälfte des Joints meint Daniel: »Wer sagt, dass es alles verkomplizieren würde?« Sein Kopf ruht in ihrem Schoß.
Sie schlingt seine Haarsträhnen um ihren Finger. »Doch, das würde es«, sagt Miranda. »Glaub mir, das würde es ganz bestimmt.«
Später sagt sie: »Ich wünschte, es würde schneien. Das wäre schön. Wenn es schneien würde. Ist das nicht der Grund, warum alle an Weihnachten hierherkommen? Von wegen weiße Weihnachten und so?«
»Schnee ist so ein grässliches Zeug«, sagt Daniel. »Kalt. Rutschig. Gibt einem das Gefühl, dass man singen müsste oder so. Wie im Film.«
»Oder in einer Schneekugel. Man sitzt fest«, sagt Miranda. »Wie in der Falle.«
»Man sitzt fest«, stimmt Daniel zu.
Umschlungen liegen sie auf dem Sofa gegenüber vom Weihnachtsbaum. Ab und zu muss Miranda Daniels Hand wegschieben, weil sie irgendwo ist, wo sie nicht hingehört. Sie bezweifelt, dass er es mit Absicht macht. Gelegentlich küsst sie ihn hinters Ohr.
»Das ist nett«, sagt er. Tätschelt ihren Hintern.
Sie windet sich unter seiner Hand weg. Küsst ihn wieder. Im Fernsehen läuft ein Film. Ständig gibt es irgendwelche Explosionen. Zombies. Cameron Diaz ist ganz allein in einer Hütte und packt ihre Einkäufe aus.
Nein, das ist ein anderer Film, denkt Miranda. Offenbar ist sie eingeschlafen. Daniel schläft immer noch. Warum muss er so irritierend gut aussehen, sogar im Schlaf? Miranda mag sich gar nicht vorstellen, wie sie im Schlaf aussieht. Kein Wunder, dass das Frettchen-Mädchen ihn abserviert hat.
Jemand hat einen Berg an Decken über sie ausgebreitet, offenbar ist Elspeth bereits wieder vom Pub zurückgekehrt.
Draußen schneit es.
Miranda greift in die Tasche ihres Kleids und tastet nach dem Damast, den sie den ganzen Tag mit sich herumgetragen hat. Es ist eine große Tasche. Jede Menge Platz für alles Mögliche. Miranda will keine von diesen Designerinnen sein, die nur hübsche Sachen entwerfen. Sie sollen auch nützlich sein. Und provozieren. Sie behält die schönste Decke und legt die anderen über Daniel, sodass er ganz zugedeckt ist.
Als sie am Spiegel vorbeigeht, bleibt sie stehen, streicht ihr Haar glatt und bindet es zu einem Pferdeschwanz. Dann schlingt sie die Decke um sich wie einen Schal und tritt hinaus in den Schnee.
Und da steht er, unter dem Weißdorn. Sie zittert und redet sich ein, dass die Kälte daran schuld ist. Auf dem Boden liegt noch nicht sehr viel Schnee. Sie redet sich ein, dass sie nicht allzu lange geschlafen hat. Dass er nicht lange gewartet hat.
Er trägt denselben Herrenrock wie immer. Sein Gesicht ist wie immer. Er ist nicht so alt, wie er ihr beim ersten Mal vorgekommen ist. Nur ein paar Jahre älter als sie. Als Daniel. Er ist nicht älter geworden. Im Gegensatz zu ihr. Wo ist er, wenn er nicht hier ist?
»Bist du ein Geist?«, fragt sie.
»Nein«, sagt er. »Ich bin kein Geist.«
»Dann bist du also eine echte Person? Ein Honeywell?«
»Fenwick Septimus Honeywell.« Er verbeugt sich. Es sieht besser aus, als es dürfte, was vielleicht an dem Kleidungsstück liegt. Heutzutage macht so was keiner mehr. Und keiner heißt mehr so. Wie alt er wohl ist?
»Du kommst nur her, wenn es schneit«, stellt sie fest.
»Ich darf nur kommen, wenn es schneit«, erwidert er. »Und nur an Weihnachten.«
»Ich verstehe«, sagt sie. Und dann: »Eigentlich nicht. Nein, ich verstehe es nicht. Wer gibt die Erlaubnis?«
Er zuckt die Schultern. Antwortet nicht. Vielleicht darf er nicht.
»Du hast mir etwas gegeben«, sagt Miranda.
Er nickt wieder. Sie streckt die Hand aus und berührt die Stellte des Justaucorps, wo er den Fuchs herausgerissen hat. Um ihn ihr geben zu können.
»Oh«, seufzt Miranda. »Das gute alte Stück. Du hast ja nicht einmal eine Schere benutzt, oder? Lass es mich in Ordnung bringen.«
Sie nimmt das Stück Stoff aus ihrer Tasche und das Näh-Set, das sie immer bei sich trägt. Seit über einem Jahr hält sie genau den richtigen Faden bereit. Nur für den Fall.
Dann zeigt sie ihm den Damaststreifen. Vor ein paar Monaten hat sie alle Fäden vom Bein des Fuchses aufgetrennt. Die Falle. Die Blutstropfen. Den Schwanz und das gefletschte Maul. Dann hat sie nach ihren eigenen Entwürfen einen neuen Fuchs gestickt und dabei versucht, möglichst nah am Original zu bleiben. Jetzt ist der Fuchs frei, die Zunge hängt heraus, der Schwanz ist aufgestellt und er rennt über den pinkfarbenen Damast. Als neuen Untergrund für den Fuchs hat sie einen pinkfarbenen Baumwollstoff gewählt, den sie aus einem alten Nachthemd herausgetrennt hat.
Er nimmt den Fuchs und dreht ihn hin und her. »Das hast du gemacht?«
»Letztes Jahr hast du mir etwas geschenkt. Und das ist mein Geschenk für dich«, sagt sie. »Ich werde ihn wieder annähen. Es wird nicht ganz so ordentlich aussehen, aber zumindest hast du dann kein Loch mehr in deiner wunderschönen Jacke.«
»Ich habe ihr gesagt, dass ich an einem Zweig hängen geblieben bin«, erwidert er. »Es ist schon gut so.«
»Es ist nicht gut«, sagt sie. »Bitte, lass es mich nähen.«
Er lächelt. Es ist ein echtes Lächeln, vielleicht flirtet er sogar ein bisschen. Er und Daniel könnten Brüder sein, so ähnlich sind sie sich. Warum hat sie Daniel davon abgehalten, sie zu küssen? Warum muss sie sich manchmal auf die Zunge beißen, wenn Daniel so nett zu ihr ist? In Honeywell Hall ist sie nur so echt, wie Elspeth und Daniel es ihr zugestehen. Das ist nicht ihr echtes Leben.
Was lächerlich ist. Echt ist echt. Daniel ist echt. Miranda ist echt, auch wenn sie nicht hier ist. Was Fenwick Septimus Honeywell angeht, ist es komplizierter, das steht fest.
»Bitte«, sagt sie.
»Wie du willst, Miranda«, erwidert Fenny. Sie hilft ihm aus dem Herrenrock. Ihre Hand berührt seine und sie unterdrückt den unerklärlichen Wunsch, sich an ihn zu klammern. So als könnte einer von beiden jeden Moment in die Tiefe stürzen.
»Komm mit hinein«, sagt sie. »Nur solange ich nähe. Das muss ich drinnen machen. Da ist das Licht besser. Du könntest Daniel kennenlernen. Oder Elspeth. Ich könnte sie aufwecken. Jede Wette, Elspeth weiß, wie man mit so was umgeht.« Was auch immer dieses so was ist. »Theaterleute scheinen sich damit auszukennen. Komm rein.«
»Ich kann nicht«, sagt er bedauernd.
Natürlich nicht. Es ist gegen die Regeln.
»Okay«, gibt Miranda sich geschlagen. »Dann bleiben wir eben beide hier. Ich bleibe bei dir. Du kannst mir alles von dir erzählen. Es sei denn, das ist ebenfalls gegen die Regeln.« Sie tut sehr geschäftig mit den Nadeln. Er nimmt ihre Hand und hält sie fest.
»Bitte nähe den Streifen linksherum an«, sagt er. »Den Fuchs nach innen.«
Er hat wunderschöne Hände. Keine Schwielen an den Fingerspitzen. Gepflegte Nägel. Er kann nicht echt sein. Sein Daumen streicht über ihre Fingerknöchel.
Miranda sagt etwas atemlos: »Also linksherum. Damit sie nichts merkt?« Wer auch immer sie ist.
»Sie merkt es sofort«, sagt er. »Aber zumindest merkt sie auf diese Weise nicht, dass der Fuchs frei ist.«
»Okay. Das klingt vernünftig. Nehme ich zumindest an.« Miranda lässt seine Hand los. »Hier. Wir können uns draufsetzen.« Sie breitet ihre Decke aus. Setzt sich. Ihr fällt ein, dass sie einen Mars-Riegel in der Tasche hat. Sie gibt ihn Fenny. »Setz dich.«
Er betrachtet den Mars-Riegel. Wickelt ihn aus.
»Oh nein«, sagt sie. »Schon wieder irgendwelche Regeln? Darfst du nicht essen?«
»Ich weiß nicht«, sagt er. »Ich habe noch nie zuvor etwas bekommen, wenn ich hier bin. Niemand hat je mit mir geredet.«
»Heißt das, du tauchst immer nur auf, wenn es schneit, schleichst eine Weile herum und spähst durch die Fenster, und wenn es nicht mehr schneit, kehrst du irgendwohin zurück?«
Fenny nickt. Er sieht fast beschämt aus.
»Was für ein Spaß!«, sagt Miranda. »Nein, ich meine, wie gruselig!« Sie hält den bestickten Stoff an die richtige Stelle und näht ihn mit Reihstichen fest, sodass man den Fuchs nicht sieht.
Wenn es aufhört zu schneien, muss er dann sofort weg? Und was ist mit dem Herrenrock? Etwas sagt ihr, dass all das eindeutig gegen die Regeln verstößt. Will er denn wieder zurück? Und was genau heißt zurück? Hierher zurück, nach Honeywell Hall? Oder zurück an den Ort, an dem er ist, wenn er nicht hier ist. Und wieso wird er nicht älter?
Elspeth sagt, älter zu werden, sei ein Kinkerlitzchen. Aber Miranda weiß genau, dass Elspeth das nicht wirklich so meint.
»Das ist gut.« Fenny klingt überrascht. Er leckt seine Finger. Von dem Mars-Riegel ist nichts mehr übrig.
»Ich könnte schnell ins Haus gehen und dir ein Käsesandwich machen«, schlägt Miranda vor. »Und der Weihnachtskuchen für morgen ist auch schon fertig.«
»Nein«, erwidert er. »Bleib hier.«
»Okay«, sagt sie. »Ich bleibe hier. Besser kriege ich es bei diesem Licht nicht hin. Außerdem werden meine Hände langsam kalt.«
Er nickt und nimmt ihr den Herrenrock ab. Legt ihn um ihre Schulter. Zieht sie von hinten an seine Brust. So viel Damast. Er ist schwer. Innen und außen klebt Schnee.
Fenny ist überraschend körperlich für jemanden, der die meiste Zeit nicht da ist. Sie fragt sich, ob sie für ihn genauso überraschend ist wie er für sie.
Sein Mund schwebt direkt über ihrem Kopf. Er bläst seinen heißen Atem in ihr Haar. Ihr ist sehr, sehr kalt. Einfach lächerlich, hier draußen im Schnee zu sein, mit dieser lächerlichen Person mit einer Liste von lächerlichen Regeln.
Sie wird sich den Tod holen.
Behutsam, als rechnete er damit, dass sie ihn stoppen wird, legt er seine Arme um ihre Taille. Er seufzt. Warmer Atem in ihrem Haar. Plötzlich hat Miranda schreckliche Angst, dass es aufhört zu schneien. Sie haben noch über nichts geredet. Sie haben sich noch nicht einmal geküsst. Sie weiß es. Jede einzelne Faser von ihr weiß es, dass sie ihn küssen will. Dass er sie küssen will. Ihre Haut prickelt vor Verlangen. Ihre Eingeweide kribbeln.
Sie schiebt ihr Näh-Set zurück in die Tasche und entdeckt dabei den Joint, den Elspeth ihr gegeben hat, und Daniels Feuerzeug.
»Ich wette, so etwas hast du ebenfalls noch nie probiert«, sagt sie und dreht sich in seinen Armen um. »Man raucht es. Hier.«
Miranda tippt mit dem Joint an seinen Mund, und als er ihn öffnet, steckt sie den Joint zwischen seine Lippen. Sie klickt mit dem Feuerzeug, bis eine Flamme kommt. Aber er nimmt den Joint aus dem Mund und dann schmiegt sie sich stürmisch an ihn, küsst ihn und er erwidert ihren Kuss. Es ist das zweite Mal, dass sie an diesem Abend einen Jungen küsst. Die ersten zwei Jungs, die sie je geküsst hat. Und beide sind Honeywells.
Und ja, es war wunderbar gewesen, Daniel zu küssen, aber das hier ist besser als wunderbar. Sie stehen nur da und küssen sich, sie kann nicht einmal sagen, wie lange. Fenny schmeckt nach Schokolade und sie hat keine Ahnung, was mit dem Joint passiert ist oder mit dem Feuerzeug. Sie küssen sich, bis Mirandas Lippen taub werden und der Justaucorps fast ganz von ihren Schultern heruntergerutscht ist. Sie sitzt auf Fennys Schoß, hat eine Hand in seinem Haar, die andere gräbt sich in Fennys Taille und Miranda hat nur einen Wunsch: Fenny bis in alle Ewigkeit weiter zu küssen.
Nach einer Weile entzieht er sich ihr.
Beide atmen schwer. Seine Wangen sind rot. Sein Mund ist noch röter. Miranda überlegt, ob sie wohl genauso aufgelöst aussieht wie er.
»Du zitterst«, stellt er fest.
»Natürlich zittere ich! Es ist eiskalt! Und du willst ja nicht mit hinein. Weil«, sagt Miranda, nach Atem ringend, zitternd und bebend vor Kälte – ich will mehr, mehr, mehr, denkt sie sich –, »es ja gegen die Regeln ist.«
Fenny nickt. Blickt auf ihre Lippen. Fährt mit der Zunge über seine eigenen. Weicht jedoch zurück, als Miranda ihn wieder küssen will. Sie verspürt den Drang, eine Hand voll nassen Schnees zu nehmen und ihn in sein Honeywell-Gesicht zu werfen.
»Schön, schön! Bleib einfach hier. Rühr dich nicht vom Fleck. Keinen Fingerbreit, hörst du? Ich hole die Schlüssel für den Tiger«, sagt sie. »Es sei denn, es ist gegen die Regel, sich in alte Autos zu setzen.«
»Das alles ist gegen die Regeln«, sagt Fenny, aber er nickt.
Vielleicht, überlegt sie, kann ich ihn ins Auto locken und dann mit ihm wegfahren. Es könnte funktionieren.
»Ich meine es ernst«, sagt Miranda. »Wage es ja nicht wegzugehen.«
Er nickt. Sie küsst ihn, bestrafend, verweilend, verzweifelt. Dann rennt sie los, um in die Küche zu gehen. Ihre Finger sind so kalt, dass sie die Tür zuerst nicht aufbekommt. Sie schnappt sich ihre Jacke, die Schlüssel für den Tiger und dann, aus einem Impuls heraus, schneidet sie ein Stück des noch unangetasteten Weihnachtskuchens an. Falls Elspeth sie darauf anspricht, wird sie ihr die ganze Geschichte erzählen.
Und schon ist sie wieder zur Tür hinaus. Stößt die schlimmsten Wörter aus, die sie kennt, als sie merkt, dass es aufgehört hat zu schneien. Vor ihr liegen die eingeschneite Decke, der Joint und das Einwickelpapier des Mars-Riegels.
Sie legt das Stück vom Weihnachtskuchen auf den Fenstersims. Vielleicht mögen ihn ja die Vögel.
Daniel schläft immer noch auf der Couch. Sie weckt ihn auf. »Frohe Weihnachten«, sagt sie. »Guten Morgen.«
Sie gibt ihm sein Geschenk. Sie hat ihm ein Hemd gemacht. Ägyptische Baumwolle, graublau, passend zu seinen Augen. Aber natürlich passt es ihm nicht. Er ist bereits zu groß.
Am Abend hält Daniel sie unter dem Mistelzweig auf, es ist schon spät, aber niemand will ins Bett gehen, alle sind beschwipst und gelöst und brechen wegen Kleinigkeiten einen Streit vom Zaun. Einfach aus Lust am Streiten. Daniel küsst Miranda. Sie lässt ihn gewähren.
Es ist eine Art Geschenk für Elspeth, wird Miranda klar. Es wäre ja wohl lächerlich, Daniel nicht zu küssen, nur weil sie eigentlich jemand anderen küssen will. Insbesondere wenn die betreffende Person, die sie küssen will, eigentlich gar keine echte Person ist. Zumindest meistens nicht.
Außerdem trägt er das Hemd, das Miranda ihm genäht hat, obwohl es nicht richtig passt.
Am Morgen ist Daniel zu verkatert, um sie ins Dorf an die Bushaltestelle zu fahren. Daher springt Elspeth ein. Sie trägt ein Vintage-Kostüm aus rotbraunem, mit Zobel verbrämtem Gabardine. Miranda juckt es in den Fingern, es auseinanderzunehmen, um herauszufinden, wie es gefertigt ist. Wie schmal ihre Taille ist!
Elspeth sagt: »Er ist in dich verliebt, das weißt du doch, oder?«
»Ist er nicht«, entgegnet Miranda. »Er liebt mich, aber er ist nicht in mich verliebt. Ich liebe ihn, aber ich bin nicht in ihn verliebt.«
»Wenn du das sagst«, erwidert Elspeth. Ihr Tonfall ist kühl. »Obwohl ich nicht umhinkann, mich zu fragen, woher du in deinem zarten Alter so viel über Liebe weißt, Miranda.«
Miranda errötet.
»Du kannst mit mir reden, Miranda«, sagt Elspeth. »Wann immer du willst. Wann immer du das Bedürfnis danach hast. Miranda, mein Liebes. Es gibt einen Jungen, stimmt’s? Nicht Daniel. Armer Daniel.«
»Da ist niemand«, sagt Miranda. »Wirklich. Da ist niemand. Es ist nichts. Ich bin nur ein bisschen traurig, weil ich wieder nach Hause muss. Es war so ein wundervolles Weihnachten.«
»Und so ein wundervoller Schnee!«, sagt Elspeth. »Zu schade, dass er so flüchtig ist.«
Daniel kommt sie im Frühling besuchen. Zwei Monate nach Weihnachten. Miranda hat nicht mit ihm gerechnet. Er steht vor der Tür, mit einem Strauß Rosen. Die Augenbrauen von Mirandas Tante schießen fast bis zum Haaransatz hoch.
»Ich werde Tee machen«, sagt sie und huscht davon. »Und wir brauchen eine Vase für die Blumen.«
Miranda nimmt Daniel die Rosen ab und sagt: »Daniel! Was machst du denn hier?«
»Du gehst mir aus dem Weg«, erwidert Daniel.
»Aus dem Weg? Wir leben noch nicht einmal am selben Ort«, sagt Miranda. »Mir war gar nicht klar, dass du weißt, wo ich wohne.« Sie erträgt es kaum, ihn hier zu sehen, im makellosen Hauseingang des Doppelhauses ihrer Tante.
»Du weißt genau, was ich meine, Miranda. Nie bist du online«, sagt er. »Und wenn du es bist, dann hast du keine Lust zu chatten. Nie schreibst du mir zurück. Willst du mich nicht hereinbitten?«
»Nein«, sagt sie. Greift nach ihrer Tasche. »Du brauchst keinen Tee zu machen, Tante Dora«, ruft sie. »Wir gehen weg.«
Sie packt Daniel und zerrt ihn gewaltsam aus ihrem Leben, ihrem echten Leben. Als ginge das so einfach.
Im Laufschritt eilt sie mit ihm an den Reihenhäusern mit ihren kleinen weißen Steinfronten vorbei, den ganzen Weg entlang bis zur trostlosen, schäbigen, für die Midlands typischen Hauptstraße. Daniel trottet hinter ihr her. Es ist ein langer Weg und sie hat keine Ahnung, was sie zu ihm sagen soll. Ihm scheint es ähnlich zu ergehen.
Ihr Kleid ist experimentell und war nie für die Öffentlichkeit gedacht. Sie hat heute noch nicht einmal ihre Haare gebürstet. Es ist Wochenende. Sie hatte vorgehabt, zu Hause zu bleiben und zu arbeiten. Was fällt ihm ein, einfach so aufzukreuzen?
In der Nähe gibt es einen Tea Shop, wo die Scones und Sandwiches besonders grässlich sind. Sie geht mit ihm dorthin und sie setzen sich. Bestellen.
»Ich hätte dich vorwarnen sollen, dass ich komme«, sagt Daniel.
»Ja«, erwidert Miranda. »Dann hätte ich dir sagen können, dass du es bleiben lassen sollst.«
Er versucht ihre Hand zu ergreifen. »Sexy Hexy«, sagt er. »Ich denke die ganze Zeit an dich. An uns. Ich denke über uns nach.«
»Nein«, sagt sie. »Hör auf!«
»Ich kann nicht«, erwidert er. »Ich habe dich gern. Sehr sogar. Magst du mich denn nicht auch?«
Es ist ein fürchterliches Gespräch. Als würde man auf ein Mäusebaby treten. Ein Mäusebaby, mit dem man befreundet ist. Dass Miranda genau weiß, wie unfair sie ist, macht es nicht besser. Sie dürfte nicht wütend sein, weil er hergekommen ist. Er weiß nicht, wie sie zu diesem Ort steht. Nur noch ein paar Monate, und sie wird für immer von hier verschwinden. Dann wäre es so, als hätte dieser Ort nie existiert.
Als die Scones kommen, sind sie beide den Tränen nahe. Daniel nimmt einen Bissen und spuckt ihn wieder auf den Teller.
»So schlecht ist es auch wieder nicht«, schnappt sie. Wartet geradezu darauf, dass er sich beschwert.
»Doch, ist es«, sagt er. »Es ist wirklich grottenschlecht.« Er nimmt einen Schluck von seinem Tee. »Und die Milch ist ebenfalls sauer.«
Er ist so verdattert, dass sie nicht anders kann, als loszuprusten. Was ihn noch mehr verdattert. Und plötzlich streiten sie nicht mehr. Sie verbringen den Rest des Tages damit, die Enten auf dem gefrorenen See zu füttern und in Kinosälen abwechselnd in Horrorfilme, Actionfilme und Zeichentrickfilme reinzuschauen – alles, nur keine romantischen Komödien, denn warum sollte man noch Salz in die Wunde streuen? Er versucht nicht, ihre Hand zu halten. Sie versucht sich nicht vorzustellen, dass es draußen schneit, dass Fenny in der flimmernden Dunkelheit neben ihr sitzt. Sich das vorzustellen, wäre ein Verstoß gegen die Regeln.
Miranda beendet das Schuljahr. Packt alles, was sie mitnehmen will, und verstaut den Rest in Kisten. Verkauft ihre Nähmaschine. Lässt eine Nachricht für ihre Tante zurück. Der Inhalt ist unwichtig.
Sie weiß, dass sie dankbarer sein sollte. Ihre Tante hat dafür gesorgt, dass sie Essen und Kleidung hat, ihr Bett und Tisch zur Verfügung gestellt. Hat sie nie geschlagen. War nie richtig unfreundlich. Aber Miranda ist es so, so leid, anderen Leuten dankbar zu sein.
Als ihr Flug in Phuket ankommt, ist sie verschwitzt, riecht schlecht und ist wie benommen vom Jetlag. Die Nacht verbringt sie in einem Hostel, dann macht sie sich auf den Weg. Sie hat alles über den Ablauf gelesen. Was man mitbringen darf, wie lange man bleiben kann, wie man sich benehmen muss. All die Regeln.
Letztlich bekommt sie ihre Mutter doch nicht zu Gesicht. Man erlaubt es nicht. Der Grund ist unklar. Ist ihre Mutter da? Angeblich ja. Ist sie noch am Leben? Ja. Kann Miranda sie sehen? Nein. Heute nicht. Komm ein andermal wieder.
Miranda kommt dreimal wieder. Jedes Mal schickt man sie weg. Das Konsulat kann nichts machen. Bei ihrem zweiten Besuch spricht sie mit einer jungen Frau namens Dinda, die Zeit mit den Gefangenen auf der Krankenstation verbringt. Dinda sagt, dass sie zwei oder drei Mal bei Joannie, Mirandas Mutter, war. Dass sie kaum etwas gesagt hat. Seit mehr als sechs Monaten hat ihre Mutter weder Elspeth noch Miranda geschrieben.
Nachdem sie zum dritten Mal weggeschickt wurde, kauft Miranda ein Flugticket nach Japan. Sie verbringt die nächsten Monate dort. Unterrichtet Englisch in Kyoto. Besucht Museen. Schaut sich Kimonos auf den Flohmärkten bei den Tempeln an.
Sie schickt Postkarten an Elspeth, an Daniel. An ihre Mutter. Sogar an ihre Tante. Zwei Tage vor Weihnachten fliegt Miranda zurück.
Im Flugzeug schläft sie ein und träumt, dass es schneit. Sie ist bei Joannie in einer Gefängniszelle in Phuket. Ihre Mutter sagt ihr, dass sie sie liebt. Sie sagt ihr, dass ihre Gefängnisstrafe verkürzt wurde. Sie sagt ihr, dass sie bis Weihnachten zu Hause sein wird, wenn Miranda brav ist und ganz genau die Regeln befolgt.
Dieses Jahr hat sie einen Plan. Der Plan sieht vor, dass es an Weihnachten schneit. Ganz egal, was der Wetterbericht vorhersagt. Es wird schneien. Sie wird Fenny wiedersehen. Und sie wird nicht von seiner Seite weichen. Egal, was die Regeln sagen.
Daniel wird im nächsten Jahr nach St Andrews gehen. Er hat eine Freundin namens Lillian. Elspeth zeigt sich von ihrer besten Seite. Miranda ebenfalls. Sie erzählt einigen Honywells unterhaltsame Geschichten über ihre Schüler, die Hirsche bei den Tempeln und das Mädchen, das ihnen auf der Flöte vorspielt.
Elspeth wird langsam alt. Sie ist immer noch die schönste Frau, die Miranda je gesehen hat, aber inzwischen ist sie in ihren Sechzigern. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie zur Dame ernannt wird und auf weitere Skandale verzichtet.
Lillian ist nett. Sie macht Miranda ein Kompliment zu ihrem Kleid. Sie flirtet mit altersschwachen Honeywells, hilft beim Tischdecken. Daniel beobachtet jede ihrer Bewegungen, als hätte er so etwas noch nie gesehen, als hätte Lillian das Komplimentemachen oder das Flirten erfunden, als hätte es vor Lillian keine Wassergläser und Tischdecken gegeben. Oh, neu entdecktes Land.
Trotz allem kann Miranda sich vorstellen, Lillian zu mögen. Sie ist klug. Mag Mathe. Und Mirandas Kleid scheint ihr wirklich gut zu gefallen, obwohl das Kleid zugegebenermaßen eine Art Kriegserklärung ist. Miranda hat momentan mit Hübschsein nichts am Hut. Stattdessen kreisen ihre Gedanken um Rüstungen und Waffen, Streitlust und Unbehagen – ihres und das der anderen. Das Kleid ist aus Leder, punkig, mit Stachelnieten, Schnallen, Metallmanschetten und Unmengen von Ketten. Wenn sie sich irgendwohin setzt, muss sie darauf achten, die Sitzmöbel nicht aufzuschlitzen, aufzuspießen oder zu zerfetzen. Eine Umarmung ist völlig ausgeschlossen.
Lillian möchte eine Tour durchs Haus, daher führen Miranda und Daniel sie nach dem Abendessen und der ersten Cocktailrunde durch Honeywell Hall – durch die noch bewohnten Trakte und auch durch jene, die im Schatten versinken. Schließlich landen sie auf einem der Dachböden und wühlen sich durch Elspeths Kostümtruhen. Sie bringen Lillian dazu, Leinenkleider auszuprobieren, handgeknüpfte Feenflügel anzuziehen und altes, klumpiges Bühnen-Make-up aufzulegen. Schießen Selfies. Daniel liest alte Fanpost. Kramt alte Backstage-Fotos von Elspeth und Joannie hervor. Joannie, wie sie auf einer riesigen Vase kauert. Joannie, wie sie den Mund voller Stecknadeln hat. Joannie auf einer Premierenpartie, betrunken, lachend, jung. Der Anblick dieser Bilder müsste wehtun. Oder etwa nicht?
»Meint ihr, wir bekommen Schnee?«, fragt Lillian. »Ich möchte Schnee zu Weihnachten.«
»Letztes Weihnachten hatten wir Schnee«, sagt Daniel. »Dieses Jahr sieht es nicht so aus. Viel zu warm.«
Miranda versucht gar nicht erst, unbeteiligt zu klingen, als sie sagt: »Es wird schneien. Es muss schneien. Und falls es nicht schneit, müssen wir etwas dagegen unternehmen. Wir werden dafür sorgen, dass es Schnee gibt.«
Mit Befriedigung nimmt sie Lillians Blick zur Kenntnis, die Miranda ansieht, als wäre sie verrückt, womöglich sogar gefährlich. Tja, das Kleid hätte ihr eine Warnung sein müssen.
»In diesem Jahr ist mein Geschenk Schnee«, verkündet Miranda. »Ihr könnt Schneekönigin zu mir sagen. Kommt und schaut es euch an.«
Ihre Koffer mit der Spezialausrüstung haben kaum Platz im Tiger gefunden. Elspeth hat kein Wort gesagt, sondern nur eine Augenbraue hochgezogen. Die meisten Sachen stehen immer noch in der Remise.
Daniel ist Feuer und Flamme, als sie ihren Plan erklärt. Lillian auch, zumindest tut sie so. Miranda hat breite, hauchdünne weiße Stoffbahnen dabei, um sie durch das Geäst zu ziehen und am Boden zu befestigen. Außerdem lange Ketten mit Glas-, Kristall- und Silberornamenten. Netze mit von Hand ausgeschnittenen Schneeflocken aus Spitze. Am sperrigsten ist die Snowboy-Stage-Whisper-Kunstschnee-Maschine mit ihrem fünfzehn Meter langen Schlauch. Miranda hat säckeweise künstlichen Schnee angeschleppt. Er reicht für eine Stunde falschen Schneefalls der allerbesten Qualität, die man mit Geld kaufen kann – jedenfalls hat der Typ, der Miranda den Snowboy vermietet hat, das behauptet.
Es ist schon fast Mitternacht, bis endlich alles zu Mirandas Zufriedenheit aufgebaut ist. Sie geht ins Haus, schaltet die Flutlichtanlage ein und dreht die Schneemaschine auf. Feiner glitzernder Schnee rieselt herab. Lillian küsst Daniel ausgiebig. Es ist eine schöne Romanze.
Elspeth hat die ganze Zeit über von den Küchenstufen aus zugesehen. Sie bedeckt ihren Cocktail mit der Hand. Der falsche Schnee stäubt ihr helles Haar ein und durchsetzt es mit weißen Strähnen.
Alle Honeywells, die noch nicht schlafen gegangen sind – also die meisten –, machen ooh und ah. Die jüngsten Honeywells, die noch nicht einmal auf der Welt waren, als Miranda zum ersten Mal nach Honeywell Hall kam, brechen in spontanen Beifall aus. Miranda verspürt ein Gefühl der Macht. Santa Claus existiert also doch.
Irgendwann ziehen sich auch die letzten Honeywells ins Haus zurück, um zu trinken, zu klatschen und Mirandas Special Effects von drinnen zu bewundern. Mag sein, dass es heute Nacht nicht richtig kalt ist, aber es ist kalt genug. Zeit für heiße Schokolade, heißen Grog, ein heißes Bad, eine heiße Wärmflasche und das Bett.
Sie kann sich natürlich nicht sicher sein, ob es funktionieren wird. Ob sie die Regeln einhält. Aber ist das Schicksal ihr das nicht schuldig? Ein kleines bisschen Glück?
Und so ist es tatsächlich. Weil sie es kaum zu hoffen wagt, glaubt sie zuerst, dass Daniel herausgekommen ist, um sie zu holen. Aber es ist nicht Daniel.
Fenny, in dem alten Justaucorps mit Mirandas Flicken über der Tasche, kommt unter dem Weißdorn hervor.
»Es hat funktioniert«, sagt Miranda. Sie schlingt die Arme um sich und bereut es sofort. Zu viele Stacheln. »Au. Oh.«
»Ich dürfte gar nicht hier sein, oder?«, sagt Fenny. »Du hast irgendetwas bewerkstelligt.« Miranda mustert ihn aufmerksam. Wie jung er aussieht. Kaum älter als sie. Wie lange er wohl schon so jung ist?
Falscher Schnee fällt auf ihre Köpfe. »Wir haben etwa eine Stunde«, sagt Miranda. »Das ist nicht viel.«
Er kommt zu ihr und nimmt sie in die Arme. »Vorsicht«, sagt sie. »Ich bin stachlig.«
»Ein lächerliches Kleid«, murmelt er in ihr Haar. »Aber es ist hübsch. Tragen das die Leute in deiner Zeit?«
»Sagt ausgerechnet der Mann mit einem Justaucorps«, erwidert sie. In diesem Jahr sind sie und er fast gleich groß. Ihr fällt auf, dass er inzwischen kleiner als Daniel ist.
Dann küssen sie sich. Sie und Fenny küssen sich und sie denkt nicht mehr länger über Daniel nach.
Sie küssen sich und trotz Mirandas stacheliger Rüstung drückt Fenny sie an sich. Die Hände über ihre Hüfte gelegt, hält er sie fest. So fest, dass sie fürchtet, die Abdrücke seiner Finger könnten blaue Flecken hinterlassen.
»Komm, lass uns hineingehen«, sagt Miranda zwischen zwei Küssen. »Komm mit.«
Fenny beißt auf ihre Unterlippe, fährt mit der Zunge darüber. »Kann nicht.«
»Wegen der Regeln.« Jetzt knabbert er an ihrem Ohr. Sie wimmert. Zerrt ihn an den Haaren weg. »Verhasste Regeln.«
»Ich schwöre dir, wenn ich bei dir bleiben könnte, würde ich es tun. Ich würde bleiben und zusammen mit dir alt werden, Miranda. Oder zumindest so lange bleiben, wie du mich haben willst.«
»Dann bleib«, sagt sie. Ihr Kleid bohrt sich in ihn hinein. In seinen Bauch, seine Hüfte, seine Oberschenkel. Morgen werden sie beide grün und blau sein.
Er sagt kein Wort. Küsst sie nur immer wieder. Es ist ein Ablenkungsmanöver, das ist ihr klar. Ihr Kleid schließt vorne mit einer einfachen Schnalle. Darunter trägt sie ein altes T-Shirt und Leggings. Sie führt seine Hände.
»Wenn du nicht bei mir bleiben kannst«, sagt sie, als Fenny die Schnalle aufmacht, »dann bleibe ich eben bei dir.«
Seine Hände liegen auf ihrem Brustkorb, als sie das sagt. Es ist ein Leichtes, ihn unter die Rüstung ihres Kleids zu ziehen, ihn zu umfassen und den schweren Kettengürtel um sie beide zu schlingen. Die Kette zu verschließen. Der Schlüssel ist im Haus. Auf dem Dachboden, wo sie ihn zurückgelassen hat.
»Miranda«, sagt Fenny, als ihm ein Licht aufgeht. »Was hast du getan?«
»Eine entscheidende Komponente einer jeden Beziehung ist die Fähigkeit, denjenigen, den man liebt, zu überraschen. Das habe ich irgendwo gelesen. In einem Magazin. Du wirst Frauenzeitschriften lieben. Oh, und das Internet. Na ja, zumindest einiges davon. Ich werde dich nicht gehen lassen.« Das Kleid ist gerade groß genug für zwei. Sie spürt jeden seiner Atemzüge. »Wenn du gehst, gehe ich mit. Egal wohin.«
»Das ist ausgeschlossen«, sagt er. »Es gibt Regeln.«
»Es gibt immer einen Weg, Regeln zu umgehen«, erwidert Miranda. »Das habe ich auch irgendwo gelesen.« Sie weiß, dass sie vor sich hin plappert. Eine Bewältigungsstrategie. Auch darüber gibt es einschlägige Artikel. Wieso muss sie immerzu an Frauenzeitschriften denken? Ist das ein Nebeneffekt der Erkenntnis, dass man verliebt ist? Fünfzehn Schritte, um herauszufinden, ob er deine Liebe erwidert, Nummer acht: Er leistet keinen Widerstand, wenn du dich an ihn kettest, nachdem du ihn mit einem falschen Schneezauber in deine Arme gelockt hast.
Der falsche Schnee ist kälter, nasser und schwerer als gedacht. Fast so wie echter Schnee. Fenny murmelt etwas in ihren Nacken. Entweder Ich liebe dich oder Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, Miranda?. Beides. Er sagt beides.
Plötzlich ist da nicht nur falscher Schnee, sondern echter. Echter Schnee, der sich mit dem falschen mischt. Ihr falscher Zauber und echte Magie. Es schneit immer heftiger, bis die ganze Welt weiß ist. Die Luft wird kälter und kälter und immer kälter.
»Irgendetwas geht hier vor, Fenny«, sagt sie. »Es schneit. Es schneit wirklich.«
Es ist, als wäre er in ihren Armen zu Stein erstarrt. Sie spürt, wie er aufhört zu atmen. Aber sein Herz rast.
»Lass mich gehen«, sagt er. »Bitte, lass mich gehen.«
»Ich kann nicht«, erwidert Miranda. »Ich habe keinen Schlüssel.«
»Doch, du kannst.« Eine Stimme wie eine Glocke, klar und rein.
Da ist diejenige, auf die Miranda gewartet hat. Die Sie, von der Fenny gesprochen hat. Die mit Fallen Füchse fängt. Sie nie wieder freilässt. Die die Regeln macht.
Mag sein, dass es albern ist, in diesem Augenblick an Elspeth zu denken, aber als Miranda hochblickt und die Dame auf sich zukommen sieht, ist die Frau mehr Honeywell als jeder Honeywell, den Miranda je kennengelernt hat. Die Präsenz, die Ausstrahlung, über die Elspeth auf der Bühne verfügt, ist nur Theater. Elspeth spielt. Das hier ist echte Substanz. Elspeths Macht wird ihr bereitwillig vom Publikum verliehen. Fennys Dame hingegen besitzt sie dauerhaft. Was für eine Last es sein muss, sie niemals ablegen zu können.
Kann die Dame Mirandas Gedanken lesen? Ihrem Blick entgeht nichts. Fenny hat den Kopf gesenkt, aber Miranda hat seine Hände umfasst. Er ist in ihrer Obhut und sie wird ihn nicht gehen lassen.
»Ich habe keinen Schlüssel«, wiederholt Miranda. »Und er will nicht mit dir weggehen.«
»Er hat sich dafür entschieden«, sagt die Dame. Auch sie trägt eine Rüstung, sie ist ganz aus Eis. Was für eine Ehre wäre es, diese Frau einzukleiden. Ihr zu dienen. Miranda könnte Fenny begleiten, wenn die Dame es zuließe.
Unter ihrem Kleid, vor den Blicken der Dame verborgen, kneift Fenny die weiche Haut zwischen Mirandas Daumen und ihrem Zeigefinger. Der Schmerz reißt sie aus ihren Gedanken. Sie merkt, dass er sie beobachtet. Er sagt nichts und blickt sie nur an, bis Miranda sich selbst in seinen Augen wiederfindet.
»Ich bin freiwillig zu dir gekommen«, bestätigt Fenny. Aber er sieht dabei nicht die Dame an, sondern Miranda.
»Willst du mich jetzt verlassen? Sprich es aus und ich lasse dich sofort gehen.«
Fenny sagt nichts. Eine Regel, denkt Miranda. Es geht wieder um eine Regel.
»Er kann es nicht aussprechen«, erwidert sie an seiner Stelle. »Weil du ihn nicht lässt. Also werde ich für ihn das Wort ergreifen. Er wird hierbleiben. Hast du ihn nicht lange genug von seinem Zuhause ferngehalten?«
»Sein Zuhause ist bei mir. Lass ihn los«, sagt die Dame. »Sonst wird es dir noch leidtun.« Sie streckt ihre schmale Hand aus und berührt die Kette an Mirandas Kleid, die unter der federleichten Berührung zersplittert. Miranda spürt, wie der Gürtel nachgibt.
»Lass ihn gehen und ich erfülle dir deinen Herzenswunsch«, sagt die Dame. Sie ist so nah, dass Miranda ihren frostigen Atem auf der Wange spürt.
Plötzlich hält Miranda nicht mehr Fenny im Arm, sondern Daniel. Miranda und Daniel sind verheiratet. Sie lieben einander sehr. Honeywell Hall ist ihr Zuhause. Ist es immer gewesen. Ihre Kinder unter dem Baum. Elspeth am Kopf des Tisches, weißhaarig und liebenswürdig, in einem Kleid aus Mirandas Modekollektion.
Nur dass es gar nicht Elspeth ist, oder? Sondern die Dame. Fast hätte Miranda Daniel losgelassen. Fenny! Er umklammert ihre Hände und sie schlingt ihre Arme noch fester um seine Taille.
»Vorsichtig, Mädchen«, sagt die Dame. »Er beißt.«
Miranda hält einen Fuchs. Er zappelt, schnappt, haucht seinen fauligen Atem in ihr Gesicht. Miranda hält ihn fest.
Dann wieder Fenny. Er schmiegt sich zitternd an sie.
»Es ist okay«, sagt Miranda. »Ich hab dich.«
Aber es ist gar nicht Fenny. Sondern ihre Mutter. Sie sind zusammen in einer kleinen, schmutzigen Zelle. Joannie sagt: »Es ist gut, Miranda. Ich bin hier. Es ist gut. Lass los. Ich bin hier. Lass los, dann können wir nach Hause gehen.«
»Nein!«, schreit Miranda, die plötzlich vor Wut kocht. »Nein, du bist nicht hier. Und ich kann nichts dagegen tun. Aber hier kann ich etwas tun.« Sie hält ihre Mutter umklammert, bis ihre Mutter wieder Fenny ist. Die Dame sieht Miranda und Fenny an, als wären sie ein Stück Dreck unter ihren Schuhen.
»Nun denn.« Sie lächelt, wie man nur ein Stück Dreck anlächeln würde. »Dann behalte ihn. Eine Weile zumindest. Aber wisse, dass er niemals wieder das Glück empfinden wird, das ich ihm beigebracht habe. Bei mir war er immer glücklich. Dafür habe ich gesorgt. Du hingegen bringst ihm Kummer und Tod. Du hast ihn in eine Welt gezerrt, in der er sich nicht auskennt. In der er nichts hat. Er wird dich anschauen und daran denken, was er verloren hat.«
»Niemand bleibt ohne Verlust«, sagt eine schneidende Stimme. »Wir alle lieben und wir alle verlieren und lieben dennoch weiter.«
»Elspeth?«, fragt Miranda. Sie hält es für eine Falle. Nur eine weitere Falle. Deshalb drückt sie Fenny so fest, dass er nach Luft schnappt.
Elspeth schaut Fenny an und sagt: »Ich glaube, ich habe dich schon mal gesehen. Draußen vor dem Fenster. Ich hielt dich für einen Schatten oder einen Geist.«
»Ich erinnere mich«, erwidert Fenny. »Damals hattest du noch nicht die Blüte deiner Schönheit erreicht.«
»Schmeichler! Ich fürchte, dein Talent ist an Miranda verschwendet«, sagt Elspeth. »Und Sie, Mylady, müssen sich, fürchte ich, geschlagen geben. Gehen Sie und suchen Sie sich ein anderes Spielzeug. Bei uns finden Sie keine Beute mehr.«
Die Dame knickst. Blickt ein letztes Mal auf Elspeth, Miranda … und Fenny. Diesmal hält er ihrem Blick stand. Was sieht er? Drängt etwas in ihm ihn dazu, ihr zu folgen? Seine Hand umschließt wieder Mirandas Hand.
Dann ist die Dame verschwunden, der Schnee wird spärlicher und verweht schließlich ganz.
Elspeth atmet tief aus. »Nun«, sagt sie. »Du bist ein störrisches und ein gutherziges Mädchen, Miranda, und klüger als deine arme Mutter. Aber wenn ich geahnt hätte, was du vorhast, hätten wir ein Wörtchen miteinander zu reden gehabt. Bühnenzauber ist schön und gut, aber von der echten Magie sollte man sich besser fernhalten.«
»Vielleicht wäre das für Miranda besser gewesen«, sagt Fenny. »Aber mit ihrer mutigen Finte hat sie meine Freiheit gewonnen.«
»Und jetzt werden wir wohl überlegen müssen, was wir mit dir anstellen«, sagt Elspeth. »Du brauchst etwas Praktischeres als diesen Rock.«
»Komm«, sagt Miranda. Sie hält immer noch Fennys Hand. Vielleicht sogar etwas zu fest, aber es scheint ihm nichts auszumachen. Denn er hält ihre Hand genauso fest umklammert.
»Lass uns reingehen«, sagt sie zu ihm.