Читать книгу Inklusive Bildung - Группа авторов - Страница 9

Einleitung: Inklusive Bildung im Dialog Ulrich Heimlich, Ewald Kiel & Rudolf Tippelt Vorbemerkung

Оглавление

Nach wie vor befindet sich der erziehungswissenschaftliche Diskurs zur Inklusion im Bildungssystem und zur inklusiven Bildung im deutschsprachigen Raum in einem Stadium der »konzeptionellen Suchbewegung« (Heimlich 2014). Aus diesem Grunde haben die Herausgeber dieses Bandes zur inklusiven Bildung ein Gespräch vereinbart, um im Dialog zwischen Vertretern der Allgemeinen Pädagogik, der Schulpädagogik und der Sonderpädagogik den Versuch zu unternehmen, sich aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven dem gemeinsamen Gegenstand der »inklusiven Bildung« zu nähern. Das Gespräch wurde von der Unterrichtsmitschau der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) aufgezeichnet und auf Basis des Videomitschnitts transkribiert. Das Video zum Gespräch zwischen Prof. Dr. Ewald Kiel, Prof. Dr. Rudolf Tippelt und Prof. Dr. Ulrich Heimlich kann unter der folgenden URL angesehen werden: https://videoonline.edu.lmu.de/inklusivebildung.

Wir danken Frau Dr. Juliane Aulinger, Leiterin der Unterrichtsmitschau der LMU, und Herrn Dipl. Soz. Maxime Pedrotti für die Unterstützung bei der Umsetzung des Vorhabens. Ebenfalls vielen Dank an Charlotte Demmel für die Transkription des Gespräches. Bei der Transkription wurde darauf geachtet, den Dialogcharakter weitestgehend zu erhalten. Zur besseren Lesbarkeit ist bei Personen- oder Personengruppenbezeichnungen die männliche Bezeichnung des Wortlauts beibehalten bzw. auf geschlechtsneutrale Bezeichnungen ausgewichen worden. Es sind jedoch in jedem Fall beide Geschlechter gemeint.

Ulrich Heimlich: »Ich darf sie recht herzlich begrüßen zu unserer Gesprächsrunde ›Inklusive Bildung im Dialog‹. Ich möchte zunächst vorschlagen, dass wir uns kurz vorstellen.«
Ewald Kiel: »Mein Name ist Ewald Kiel und ich leite den Lehrstuhl Schulpädagogik an der LMU München und bin selbst fünf Jahre Gymnasiallehrer gewesen an einer nicht inklusiven Schule.«
Rudolf Tippelt: »Mein Name ist Rudolf Tippelt, ich hatte den Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung von 1998 bis 2016 hier an der LMU München inne und bin seit Oktober 2016 im sogenannten Ruhestand, war vorher an den Universitäten Freiburg und Heidelberg, bin aber nach wie vor recht aktiv, auch bei uns an der LMU, zum Beispiel in der Organisation des Seniorenstudiums und auch des Studium Generale, arbeite auch an meinem Lehrstuhl weiter, vor allem im Bereich von Promotionen und Habilitationen. Ansonsten leite ich auch noch einige »Wissenschaftliche Beiräte« oder auch Kuratorien (z. B. des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung, der WIFF-Initiative am Deutschen Jugendinstitut, des Leibniz Instituts für Bildungsprozesse über die Lebensspanne – LifBi), aber ich versuche mich gerade etwas zurückzuziehen.«
Ulrich Heimlich: »Mein Name ist Ulrich Heimlich, ich habe hier an der LMU den Lehrstuhl für Lernbehindertenpädagogik inne. Ich bin selbst zehn Jahre im Schuldienst in verschiedenen Förderschulen gewesen, habe also Schulpraxis erfahren und bin jetzt seit über zwanzig Jahren tätig im Bereich der Integrations- beziehungsweise Inklusionsforschung. Und das ist auch heute unser Thema. Seit 2009 ist in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft. In Artikel 24 heißt es, dass sich die Vertragsstaaten auf ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen verpflichten. Wir sind im Jahre acht nach Inkrafttreten der Konvention, alles redet über inklusive Bildung. Die Frage, die wir heute hier besprechen wollen, ist: Was ist das eigentlich, inklusive Bildung?«
Ewald Kiel: »Soll ich anfangen? Gut, zunächst einmal gibt es keinen eindeutigen Begriff, was inklusive Bildung ist. Wenn man sich die Handbücher anschaut, die zu diesem Thema gemacht werden – jeder definiert den Begriff Inklusion anders, jeder sucht seinen eigenen Weg zum Begriff. Wenn ich ein schulsystemisches Modell anlegen würde, würde ich sagen, wir brauchen auf der einen Seite personale Kompetenzen. Dazu gehört so etwas wie ein humanistisches Ethos, potenzialorientiert, nicht defizitorientiert. Es geht darum, ein Mandat für die Menschen zu ergreifen, die sich nicht selbst artikulieren können. Andererseits brauchen wir aber auch ganz zweckrationale Kompetenzen. Wie kann ich deeskalieren mit verhaltensauffälligen Schülern? Ich muss etwas über Störungsbilder, über Teilleistungsstörungen wissen, das ist ganz wichtig. Ich bin ja von der Regelschule und nicht von der Sonderpädagogik. Wir brauchen bestimmte Interaktionskompetenzen, wir müssen die Interaktion in der Schule, das soziale Leben, anders gestalten, auf unterschiedliche Art und Weise, dass auch diejenigen, die Hilfe brauchen, unterstützt werden können von den anderen und dabei nicht exkludiert werden. Und wir brauchen schulstrukturelle Kompetenzen, es ändert sich eine ganze Menge in der inklusiven Bildung. Es wird immer mehr dahingehen, dass wir multiprofessionelle Teams haben, dass Leute aus dem Pflegebereich, Sozialpädagogen und Therapeuten mit Regelschullehrern zusammenarbeiten. Diese multiprofessionellen Teams zu entwickeln und zu begleiten wird auch nicht einfach sein. Das heißt, wir brauchen von der individuellen personalen Ebene bis zur strukturellen Ebene unterschiedliche Kompetenzen, um inklusive Bildung möglich zu machen.«
Ulrich Heimlich: »Wie würden Sie es aus der Allgemeinen Pädagogik heraus betrachten, Herr Tippelt?«
Rudolf Tippelt: »Ich kann mich Vielem anschließen, zunächst was die Kompetenzen betrifft. Ich würde vielleicht noch Folgendes ergänzen wollen aus der Sicht der Allgemeinen Pädagogik: Inklusive Bildung ist ein Anspruch an die Schule, aber eben auch an die frühkindliche Bildung. Es ist ein Anspruch in der beruflichen Bildung, es ist ein Anspruch an die Erwachsenen- und Weiterbildung, es ist ein Anspruch an die Hochschule, also über die gesamten Bildungsprozesse über die Lebensspanne ist es ein Anspruch, den wir versuchen müssen, organisational zu realisieren, aber auch aufgrund der personalen Kompetenzen der Pädagogen, die dort jeweils tätig sind, bessere Bedingungen zu schaffen für inklusive Bildung. Für mich als Allgemeiner Pädagoge ist der Begriff ein Gegensatz auch zur Exklusion, zur Ausgrenzung, zur Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen, insofern ein Begriff der Menschenrechtspädagogik. Es geht darum, allen in unserer Gesellschaft eine maximale und optimale Möglichkeit der Realisierung ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu gewährleisten, sowohl individuell als auch in den Institutionen. Es gibt auch einen nicht-institutionellen Bereich von Erziehung und Sozialisation, aber wir reden hier jetzt in erster Linie über die Institutionen und über die Menschenrechte, die mit der Inklusion für alle verbunden sind.«
Ulrich Heimlich: »Aus sonderpädagogischer Sicht kann ich ergänzen, dass wir ein bisschen Sorge haben im Augenblick, dass eben Schüler mit Behinderungen bzw. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in dieser Bildungsvorstellung noch nicht mitgedacht sind. Ich habe den Eindruck, dass Bildung in unserem Bildungssystem häufig von der gymnasialen Bildung aus gedacht wird und dann sozusagen heruntergebrochen wird auf andere Bildungsniveaus. Genauso stellt sich die Frage im Bereich der frühkindlichen Bildung, wenn wir Kinderkrippen anschauen: Ist das, was dort stattfindet, auch Bildung oder ist das eher Betreuung? Also, ich würde mir im Augenblick wünschen, dass wir Bildung auch ein bisschen mehr von den Grenzen unserer Arbeit her sehen, was Entwicklungsvoraussetzungen beim einzelnen Kind angeht, aber auch was im Bildungssystem Bereiche angeht, die jetzt nicht im zentralen Sinne von vornherein mit Bildung gleichgesetzt werden. Kann man sagen, aus der Sicht der Schulpädagogik, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen hier schon mitgedacht sind?«
Ewald Kiel: »Nein. Da würde ich eindeutig Nein sagen. Ich will das an einer Anekdote verdeutlichen. Wir machen Anforderungsanalysen und fragen Lehrkräfte verschiedener Schularten, was denn wichtig ist in ihrer Schule, welche Fähigkeiten und Kompetenzen man haben möchte. Und da schildert eine Förderschullehrerin aus einer Kooperationsklasse folgenden Fall: Eine Realschullehrerin soll in der Kooperationsklasse unterrichten, guckt sich zehn Minuten den Unterricht an und sagt: ›Das hab’ ich mir so nicht vorgestellt. Hier unten wollte ich nicht arbeiten.‹ So viel zum Bewusstsein von Regelschullehrern. Das ist natürlich nicht bei allen so, das ist keine Frage, aber gerade im gymnasialen Bereich, bei Realschullehrern, die verstehen sich ganz wie die Gymnasiallehrer als Fachvermittler, als Fachvertreter. Und da muss auch ein Umdenken stattfinden. Ich denke, inklusive Bildung ist einerseits natürlich eine Veränderung in den Köpfen, das Bewusstsein zu haben über die Menschrechte, die Herr Tippelt angesprochen hat, dass hier ein Recht verwirklich wird, was man nicht einfach abwehren kann, nicht sagen kann ›Das passt mir einfach nicht‹. Man muss aber auch zweckrationale Aspekte berücksichtigen. Wenn wir die Lehrkräfte fragen, gerade nicht die Sonderpädagogen, [sondern] die Regelschullehrer, die sagen: ›Ja, ich bin ja im Prinzip dafür, für die Inklusion, aber mir fehlt es an Kompetenzen, was mache ich denn mit einem verhaltensauffälligen Kind, was ist denn eine Deeskalationsstrategie, wie kann ich denn erkennen, ob ein Kind eine Teilleistungsstörung hat oder nicht?‹ Und wenn von einem Bewusstsein für inklusive Bildung die Rede ist: Die Lehrkräfte wollen nicht nur diese Wertrationalität haben und sagen: ›Du musst einfach dieses humanistische Ethos entwickeln!‹, die wollen sagen: ›Zeigt mir ganz genau, was kann ich tun!‹ Und da müssen wir noch enorme Entwicklungsarbeit leisten, sowohl etwas in den Köpfen zu verändern, aber auch zweckrational von den Fachdidaktiken her, von der Schulpädagogik her, von den Sonderpädagogen her, wie die zusammenwirken können und ein System entwickeln. Und mein Nein heißt: Das haben wir bisher noch nicht gemacht. Wir sind dabei, gerade an der LMU auch mit der Qualitätsoffensive Lehrerbildung in diese Richtung im Ausbildungsbereich zu arbeiten, aber da liegt auch noch viel Arbeit vor uns.«
Ulrich Heimlich: »Da klingt ja so ein bisschen dieses Thema inklusive Haltung an, also Inklusion hat etwas mit Einstellung, mit Überzeugung, mit Ethos zu tun. Die große Frage, die sich da stellt: Ist das eigentlich lehrbar, eine inklusive Haltung? Kann man das an pädagogisch Tätige weitergeben? Kann man das bei ihnen anregen?«
Rudolf Tippelt: »Ich glaube, man kann für eine solche Haltung, andere zu akzeptieren, die etwas anders sind als ich, dieses sehr individuelle Denken, jeden anderen so zu nehmen wie er ist, dafür kann man sensibilisieren in unserer Ausbildung. Ich würde allerdings noch einmal Unterschiede machen zwischen sensibilisieren und etwas praktizieren können. Das erste können wir vielleicht, aber wir tun das noch nicht hinreichend. Dennoch haben wir seit 2010, da würde ich wirklich eine Weiche sehen, begonnen, sehr viel intensiver mit dem Begriff der inklusiven Bildung zu arbeiten. Da war die UN-Behindertenrechtskonvention von großer Bedeutung und hatte ihre Auswirkungen. Das hat dazu geführt, dass wir auch engere Kontakte mit der Sonderpädagogik entwickelt haben und die Sonderpädagogik auch mit der allgemeinen Pädagogik, auch mit der Schulpädagogik und anderen »Pädagogiken«. Das ist wichtig, aber es ist nur dann lehrbar, glaube ich, wenn wir auch in authentische Situationen hineingehen. Das heißt, dass wir uns auch konfrontieren mit einer inklusiven Klasse und die Situation auch erleben. Ich glaube, inklusive Pädagogik kann vor allen Dingen als projektorientiertes Lernen gestaltet werden und braucht Praxisphasen, damit das nicht nur eine theoretische Überlegung bleibt, die also entweder normativ oder wertrational ist, wie Herr Kiel richtig sagt, sondern dass man auch weiß ›Wie reagiere ich eigentlich darauf?‹ Und man kann dann auch an den eigenen Reaktionen arbeiten. Das halte ich für sehr wesentlich. Und so kann man es dann, glaube ich, auch unterrichten, denn wir müssen weg von einer Haltung – das können wir durchaus an der Universität befördern –, dass jeder, der irgendwelche Leistungen nicht erbringt, sofort in eine Sondereinrichtung muss – und heraus aus dem Regelbetrieb. Das ist eine Form von Diskriminierung. Diese Einsicht kann man Studierenden vermitteln, dass das so nicht gehen kann in einem humanen Bildungssystem.«
Ulrich Heimlich: »Das bedeutet ja eigentlich, dass wir in der Konsequenz auch aus der UN-Behindertenrechtskonvention unsere Modelle von Qualifizierung und Professionalisierung für pädagogisch Tätige ändern müssen. Es gab ja die Tagung 2013 in Berlin »Professionalisierung für inklusive Bildung«, bei der auch dieses Thema in den Vordergrund gestellt worden ist. Welche Auswirkung hat die UN-Konvention auf unsere Modelle von pädagogischem Studium, möglicherweise auch von Lehrerbildung?«
Ewald Kiel: »Ich würde gleich bei dem anfangen, was Herr Tippelt gesagt hat. Er sprach von Projektorientierung. Ich denke, wir brauchen einen Kontakt der Lehrkräfte, gerade in den Regelschulen, mit Schülern, die inklusiven Herausforderungen ausgesetzt sind. Ein Gymnasiallehrer hat keine Ahnung, was das bedeutet, in einem Kontext mit Schülern mit Behinderungen zu arbeiten, es sei denn im Bereich Körperbehinderung oder ähnlichen Beeinträchtigungen. Das heißt für die Lehrerbildung, wir müssten die Praktika verändern, wir müssen es in Praktika möglich machen, dass Studierende in Kontakt kommen, auch mit schwierigen Situationen, und gleichzeitig aber auch begleitet werden und nicht sagen: ›Uhh, das will ich jetzt unter gar keinen Umständen.‹ Denn man muss ja bedenken, Studierende gehen da mit bestimmten Erwartungen in die Profession hinein, und Gymnasiallehrkräfte verstehen sich sicherlich eher als Fachvermittler, die wollen nicht betreuen, nicht begleiten, sondern die verstehen sich als Romanisten und Germanisten und nicht als Deutschlehrer oder Französischlehrer. Ein anderer Punkt ist, der sicherlich eine große Rolle spielt, zu erkennen, was los ist bei den Schülern. Wir haben ja auch in anderen Kontexten die Forderung, diagnostische Kompetenzen von Lehrkräften zu steigern, oder andererseits wie hier in Bayern den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst hereinzuholen, dass ich mir also jemanden mit der entsprechenden Kompetenz in die Schule hereinholen kann. Das ist ein anderer Punkt, der in der Ausbildung eine große Rolle spielt. Und ein dritter wichtiger Punkt, denke ich, ist auch, dass die Schule sich verändert. Ich begleite Schulentwicklungsprozesse hier in München. Wenn ich da an meine eigene Schulzeit denke, da war der Gymnasiallehrer Gymnasiallehrer und hatte mit den Eltern, den Schülern und den Kollegen zu tun. Heute müssen die Schulen sich öffnen. Man braucht Institutionen unterschiedlichster Art: Therapeuten, die hereinkommen, Pflegeberufe, die hereinkommen, oder man versucht die Eltern in Bildungscafés zu erreichen, ›hard to reach-parents‹, die wir ja nicht nur im Behinderten-Bereich haben. Die haben wir auch in anderen Kontexten. Das heißt, die Rolle von Lehrkräften ändert sich radikal. Sie sind nicht mehr Wissensvermittler, sondern Begleiter, Unterstützer, die an der Öffnung der Schule mitarbeiten, die auch entsprechende Kompetenzen haben, zumindest wissen, wen sie ansprechen können, wenn sie Probleme haben. Ich kann die Kompetenzen von Lehrkräften jetzt nicht extrem ausweiten, wobei mehr diagnostische Kompetenzen sicherlich wünschenswert wären. Aber sie müssen wenigstens wissen, wen sie ansprechen können. Und wir brauchen Strukturen, die sie ansprechen können. Und da finde ich, ist die Situation in Bayern nicht schlecht. Ich mag den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst sehr, das gibt es in vielen Bundesländern nicht, da können wir stolz darauf sein.«
Ulrich Heimlich: »Ich glaube auch, dass der Mobile Sonderpädagogische Dienst unverzichtbar ist. Wie würden Sie, Herr Tippelt, sagen, sieht das in den anderen pädagogischen Arbeitsfeldern aus, über die Schule hinaus? Wie ändert sich Professionalisierung für die anderen pädagogischen Arbeitsfelder möglicherweise?«
Rudolf Tippelt: »Also im Bereich inklusiver Bildung, wenn wir an Professionalität und Professionalisierung denken, ist meines Erachtens noch enorm viel zu tun, obwohl das jetzt schon sechs, sieben Jahre andauert, dass wir darüber nachdenken und es Modellprojekte gibt. Es ist in der Regelschullehrerausbildung noch nicht vollständig angekommen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Herr Kiel hat es richtig gesagt, die Lehrkräfte müssen sich an Multiprofessionalität gewöhnen: nicht nur das eigene Fach, nicht nur die eigene Domäne, nicht nur den eigenen Bereich vor Augen zu haben, sondern bereit zu sein, auch mit Therapeuten, mit Sozialpädagogen und dann vor allen Dingen mit Sonderpädagogen eng zusammen zu arbeiten. Sonderpädagogik ist für viele immer noch ein Fremdwort. Auch hier ergibt sich eine Aufgabe der Professionalisierung für inklusive Bildung und da sind wir, aus meiner Sicht, noch am Anfang. Wie kann das gehen an der Hochschule? Man kann auf keinen Fall, was ja manche glauben, die sonderpädagogischen Fachbereiche auflösen und sie sozusagen in alle anderen Teilbereiche der Lehrerbildung integrieren. So nicht! Es kann nur so gehen, dass die hohe Expertise der Sonderpädagogen stärker hereingeholt wird in die frühkindliche Bildung, in kooperative Lehrveranstaltungen oder zumindest in einige Vorträge zu diesem Feld und in Praktika, die in diesem Bereich stattfinden. Das Gleiche gilt im Schulbereich, das Gleiche in der beruflichen Bildung, in der Erwachsenenbildung und auch in der Hochschule. Die Hochschullehrer sind ja auch nicht wirklich vorbereitet auf inklusive Bildung. Da gibt es viel zu tun, vor allen Dingen durch ein interdisziplinäres, kooperatives Lernen. Und da haben die Sonderpädagogen auf der einen Seite eine hohe Verantwortung und sollten eine hohe Bereitschaft zeigen. Jetzt sag ich mal was Kritisches zu den Sonderpädagogen! Sie sollten sich nicht nur immer auf ihr Feld zurückziehen und auf ihre Zielgruppen, sondern es auch anderen vermitteln. Und auch wenn ein paar Widerstände kommen, sollte das nicht als Angriff gewertet werden, sondern als eine Form von Aufklärung. Ich halte das für sehr bedeutsam, dass hier die Zusammenarbeit intensiviert wird – im Interesse der Professionalität. Wichtig ist vielleicht noch – und das gehört ebenfalls zur Professionalität, auch wenn das ein organisatorischer Hinweis ist –, dass wir dann in den unterschiedlichen Bereichen auch immer so viel Personal haben, dass nicht die eine oder die andere Gruppe plötzlich das Gefühl hat, sie muss sich unterordnen, irgendeinem Lerntempo zum Beispiel, sondern dass wir die Möglichkeit der Differenzierung haben, das heißt, ich glaube, Professionalisierung bedeutet auch, in der Lage zu sein, zu differenzieren an bestimmten Punkten. Das ist aber personalintensiv in Schulen, in Behörden, in der beruflichen Bildung und auch in der Weiterbildung und in der Hochschule.«
Ulrich Heimlich: »Ja, Herr Kiel, bitte gerne unmittelbar dazu.«
Ewald Kiel: »Ich würde gern zu zwei Dingen vom Rudi Tippelt noch etwas sagen. Das eine ist, wir sprechen die ganze Zeit über Schulpädagogik, Sonderpädagogik und Allgemeine Pädagogik. Ich finde, wir dürfen die Fachdidaktiken nicht vergessen. Wenn ich mir zum Beispiel, ich bin Deutschlehrer von Haus aus, die aktuellen Schulbücher anschaue im Deutschunterricht, die versuchen, inklusive Werke auf den Markt zu bringen, dann fällt Folgendes auf: Die haben Texte und die sind einfach nach bestimmten Leistungsvermögen gegliedert. Also für manche Kinder ist der Text kürzer, für andere sehr kurz, andere kriegen komplexe Aufgaben, die eine längere Arbeitszeit benötigen und so weiter. Es wird aber immer nur von der Leistung her geguckt, was muss ich didaktisch ändern. Als jemand der Deutsch unterrichtet hat, wenn ich zum Beispiel in einer achten Klasse so etwas mache wie Erzähltexte besprechen, da unterschiedet man zwischen einem Er-Erzähler, einem Ich-Erzähler, einem auktorialen Erzähler. Hab’ ich einen Autisten in der Klasse, dann ist es das, was er auf gar keinen Fall kann, unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Was heißt das jetzt für die Aufgabenkultur im Deutschunterricht? Da müssen die Fachdidaktiken sich bewegen, ähnliche Phänomene gibt es sicherlich im Mathematikunterricht, aber das ist ein schönes Beispiel, weil gerade Autisten keine Perspektive eines Anderen einnehmen können. Es nützt also nicht, den Text kürzer zu machen, länger zu machen oder sonst irgendetwas, da muss etwas fundamental Anderes passieren. Und da finde ich, und das meinte ich vorhin auch mit zweckrational, da sind die Fachdidaktiken durchaus aufgefordert, eng zusammen zu arbeiten, gerade auch mit den Sonderpädagogen, um da auch Kompetenzen zu erwerben in bestimmten Bereichen. Einen zweiten Punkt, den ich noch aufgreifen würde, den Herr Tippelt angesprochen hat, ist die Frage der Multiprofessionalität. Dem stimme ich sofort zu. Aber auch da haben wir mal Geistigbehindertenpädagogen befragt – 45, in Kleingruppen. Und die haben alle gesagt, sie arbeiten alle ganz stark in multiprofessionellen Teams. Der Tenor war aber, es funktioniert nur begrenzt gut. Und der Punkt ist einfach ein organisatorischer. Wer hat den Hut auf? Da sagt die siebenundzwanzigjährige Sonderpädagogin der zweiundfünfzigjährigen Pflegekraft: ›Du musst das machen.‹ und die Pflegekraft sagt: ›Ich mache das seit dreißig Jahren. Sagt ihr mir das mal.‹. Und es gibt unglaubliche Reibungsverluste in diesen multiprofessionellen Teams. Und ich finde, da sind wir sowohl von der Hochschule gefordert, etwas zu machen, aber auch in der Organisation und in der Praxis muss darüber nachgedacht werden: Wie kann ich multiprofessionelle Teams sinnvoll organisieren? Und es gilt das alte Prinzip, einer muss auch den Hut aufhaben. Man kann nicht alles egalitär regeln. Sonderpädagogen, wage ich mal zu sagen, tendieren zu diesem egalitären Prinzip ›Alle dürfen mitreden‹, aber ich denke, wenn ich so ein Team mit sieben, acht, neun Leuten habe, das muss von einem organisiert werden und einer muss das letzte Wort haben, sonst funktioniert das nicht. Das ist meine Erfahrung mit den Diskussionen mit Sonderpädagogen in der Geistigbehindertenpädagogik.«
Rudolf Tippelt: »Das ist ein wichtiger Punkt, also ich schließe mich da an. Ich glaube, die Ansprüche der inklusiven Bildung, die sind schon präsent, aber es gibt auch – und darüber beginnen wir erst zu diskutieren – viele Konfliktfelder, die das aufwirft. Und das hat auch etwas damit zu tun, dass jemand den Hut aufhaben muss. Natürlich gibt es dann Fachlehrer, die sagen: ›Mir ist die Fachleistung wichtig. Da stören mich manche Prozesse im Rahmen einer inklusiven Bildung‹ und umgekehrt. Der Sonderpädagoge würde vielleicht sagen: ›Ja, tut mir leid, da müssen wir eben mit bestimmten Gruppen auch ein bisschen mehr Geduld oder eine größere Toleranz haben.‹ Oder wenn wir einmal absehen von dem Begriff Toleranz, sondern die Schüler einfach so akzeptieren, wie sie sind. Und wahrscheinlich ist es auch so – aber das sag ich jetzt als ungeschützte These –, dass es nicht so sein kann, dass wir alle Einrichtungen, die heute sonderpädagogische Aufträge haben, integrieren können in den ganz normalen Regelbetrieb von frühkindlicher Bildung über die Schule bis zur beruflichen Bildung. Wir brauchen Sondereinrichtungen – und zwar im Interesse auch derjenigen, die eine Behinderung haben, damit sie nicht den Anschluss verlieren, damit keine Stigmatisierung stattfindet. Trotzdem sind da Konfliktlinien, und es ist auch nicht leicht, genau auszuloten, wann man dann wieder in ein exklusives System verfällt. Aber eine besondere Zuwendung brauchen manche Schülerinnen und Schüler mit einer Lernbehinderung, mit einer Verhaltensstörung, mit einer geistigen Behinderung, mit einer körperlichen Behinderung.«
Ulrich Heimlich: »Auf jeden Fall und ich denke, dass international auch die Tendenz besteht, dass es ganz unterschiedliche Settings gibt, die benötigt werden und diese Settings auch nebeneinander existieren und keineswegs nur dieses eine Modell einer Schule für alle. Also international haben wir mindestens drei Organisationsformen, nämlich schon auch Schulen für alle in dem Sinne, dass da alle Kinder eines Stadtteils hingehen. Aber es gibt dann immer auch einzelne Klassen, zum Beispiel nur für autistische Kinder, das kann man in den skandinavischen Ländern beispielsweise sehen. Oder wir haben eben auch komplett separate Einrichtungen. Selbst bei hoch inklusiven Systemen wie in Norwegen findet man noch spezielle Schulen für einzelne Behinderungsarten, die also auch als geschützter Raum weiter vorgehalten werden. Ich glaube, wir sind bei einem sehr wichtigen Thema, was die Kooperation angeht, und ich möchte aus unserer Erfahrung als sonderpädagogische Lehrkräfte hier einbringen, dass wir häufig in der Kooperation erleben, in so eine Expertenrolle gedrängt zu werden. Jetzt kommen die Sonderpädagogen in irgendwelche allgemeinen Settings, allgemeine Schulen, und die wissen nun, wie die Förderung angelegt sein muss. Wir müssen dann zunächst einmal häufig enttäuschen und ganz einfach sagen, dass diese Schüler uns auch vor Rätsel stellen und diese Kinder und Jugendliche Probleme haben, die wir auch nicht auf Anhieb begreifen. Wir müssen uns auch erst einmal herantasten und versuchen, ein Verstehen in Gang zu setzen. Wir haben im Bereich der Sonderpädagogik die Erfahrung gemacht, wenn wir über gelingende Kooperation in multiprofessionellen Teams mit unterschiedlichen pädagogischen Fachkräften oder auch anderen Fachkräften, wie Therapeuten, Ärzten, Psychologen und so weiter nachdenken, dass es unabdingbar wichtig ist, sich wirklich zu akzeptieren, gegenseitig, in der je spezifischen professionellen Kompetenz. Also, wenn es um das Gelingen von Kooperation geht, dann sind Hierarchien in der Zusammenarbeit zunächst einmal schwierig. Dieser Expertenstatus für sonderpädagogische Lehrkräfte führt nicht zum Gelingen im Bereich der Kooperation. Ich glaube, die Aufgabe ist auch, dass wir lernen müssen, voneinander zu profitieren, voneinander zu lernen. Und viele pädagogische Fachkräfte in allgemeinen Bildungseinrichtungen müssen zunächst einmal auch verstehen, dass sie mit solchen Problemen gar nicht alleine sind. Das ist nämlich häufig die Befürchtung, dass sie damit allein gelassen werden. Sie können jedoch in kooperative Zusammenhänge einsteigen und dann ist die Frage: ›Wie gelingt das?‹ Was sind Gelingensbedingungen für die Kooperation, gerade in multiprofessionellen Teams?‹«
Rudolf Tippelt: »Ich möchte einmal vorpreschen mit einem Sachverhalt, der aus der Weiterbildung kommt. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir nicht die einzelnen Gruppen in Sonderfortbildungen schicken, zum Thema Autismus beispielsweise. Da lernen sie bestimmt ganz viel. Oder zu Themen wie Lernbehinderung oder Verhaltensstörung oder Sprachstörung. Das ist eine bestimmte Form von Weiterbildung, die schon viel praktiziert wird in den Schulen oder generell in pädagogischen Einrichtungen. Diese Form der Fortbildung ist aber noch nicht stark genug, denn unter diesem Gesichtspunkt der inklusiven Bildung ist Fortbildung als Teamfortbildung angelegt: in Teams zusammen fallbasiert arbeiten lassen, über einen Fall gemeinsam nachdenken und die verschiedenen Perspektiven sichtbar werden lassen. Man sollte also in der Weiterbildung und Fortbildung die pädagogischen Fachkräfte nicht wieder auseinanderdividieren, wie schon in der Ausbildung. Auch hier sollte durchaus stärker verzahnt werden, es soll Brücken geben, wie wir vorhin sagten. Das halte ich für sehr wichtig. Aber in der Fortbildung, in den verschiedenen pädagogischen Einrichtungen auf allen Ebenen, da glaube ich, ist das fallbasierte Nachdenken über die Entwicklungsfortschritte, über die nächsten Interventionen, extrem wichtig und zwar gemeinsam, getragen von den verschiedenen Gruppen, die dann jeweils betroffen sind. Also das halte ich für eine Voraussetzung für gelingende Kooperation.«
Ewald Kiel: »Ich denke, dass für Teams, insbesondere für multiprofessionelle Teams, dasselbe gilt wie für Teams in der Wirtschaft. Die Formen der Kooperation gelingen in unterschiedlichen Kontexten unter denselben Bedingungen. Es ist zum Beispiel nur bedingt die Frage, welche Hierarchie ein Team benötigt. Aber ein Team braucht Regeln. Ein regelloses Team, wo alle nicht-hierarchisch miteinander kommunizieren, ich hab’ das vorhin schon angedeutet, und wo jeder einen Platzkampf führt um die Frage, wer jetzt der kompetentere ist, ist nicht produktiv. Also das heißt, Teams brauchen eine Organisationsstruktur, die Kompetenzen müssen deutlich sein, wir brauchen Transparenz, wie Prozesse in Teams zustande kommen und wir brauchen auch so etwas wie Gratifikationen. Teams leben auch von Gratifikationen. Es geht also auch darum, dass wir eine Gratifikationsstruktur in den Teams haben. Wenn jetzt zum Beispiel der Sozialpädagoge immer übergangen wird, dann wird er keine Lust mehr haben, dort in diesem Bereich mitzuarbeiten. Und diese Idee der Transparenz, der Organisation, der Regel, der Struktur, der Gratifikation, gilt für jedes Team, auch in der Wirtschaft. Und ich beharre noch einmal darauf: Es muss jemanden geben, der das letzte Wort hat. Sonst funktionieren Teams nicht. Das ist meine Erfahrung in den Schulentwicklungsprozessen, die ich in München immer wieder mache. Es kann nicht immer so sein, dass wir sagen ›Wir sind alle gleich‹ und ›Wir sind alle nett zueinander‹ und ähnliches. Das sind wir dann nämlich nicht. Es gibt eine Letztverantwortung in einem Team und die muss auch geregelt sein.«
Ulrich Heimlich: »Ich wollte nur darauf hinweisen, dass es auch unsere Erfahrung in der Begleitung von inklusiven Schulen, zum Beispiel in unserem Begleitforschungsprojekt zur inklusiven Schulentwicklung hier in Bayern, war, dass die Schulleitung eine ganz entscheidende Rolle spielt. Und das gilt auch für Kindertageseinrichtungen. Leitungen von Einrichtungen können viele Impulse setzen, können Mitarbeiter unterstützen, können auch Strukturen schaffen und insgesamt eine positive Konnotation schaffen für das Thema Inklusion oder auch nicht. Und insofern ist das auch eine ganz interessante Gruppe im Sinne der Begleitung und auch im Sinne der Weiterbildung.«
Ewald Kiel: »Noch ein wichtiger Punkt dazu. Wenn ich das noch sagen darf, das Thema Qualifikation. Wir haben ja gerade in inklusiven Schulen Schulbegleiter. Das ist für mich ein großes Thema, dass Schulbegleiter häufig nicht qualifiziert sind für das, was sie tun. Auch in den Analysen, die ich gerade angesprochen habe, schildert ein Sonderpädagoge beispielsweise: ›Dann gibt es Paul, arbeitsloser Grafiker, sechzig Jahre alt, Schamane. Und Paul fühlt sich in der Lage, mit Autisten umzugehen. Das halte ich nicht für gut. Also dieser Paul darf nicht in die Schule, und das ist eine Schwierigkeit‹. Teams funktionieren auch nur, wenn ein Kompetenzlevel vorhanden ist, das von allen in ihren Bereichen jeweils gegenseitig akzeptiert wird. Und für mich ist zum Beispiel die Schulbegleitung ein ganz kritischer Punkt in multiprofessionellen Teams. Ich finde, es ist eine Schande, dass es dafür keine vernünftige Qualifikation gibt.«
Ulrich Heimlich: »Es ist sicherlich ein riesiges Problem, woran dringend gearbeitet werden müsste, an der Qualifikation.«
Rudolf Tippelt: »Die Bedeutung der Leitung von Bildungseinrichtungen kann ich auch noch einmal unterstreichen. Ich glaube, wir brauchen bestimmte Leitungsstile oder Führungsstile, wir würden es theoretisch transformationale oder ethikorientierte Führungsstile nennen. Der Grundgedanke ist dabei, dass die Mitarbeiter, und übrigens auch die Eltern, eine Rolle spielen für den Ablauf in der jeweiligen pädagogischen Einrichtung. Und, was mir für Leitungen besonders wichtig ist, gerade im Kontext von inklusiver Bildung, dass es nicht nur in einer Einrichtung und in diesen Teams, möglicherweise auch multiprofessionellen Teams, darum geht, das Wissen über Störungen, über Benachteiligungen, über Behinderungen zu erhöhen. Es geht auch darum, mit den Haltungen, mit den Einstellungen, mit den Ängsten der Mitarbeiter zu arbeiten. Das gilt übrigens auch im Umgang mit den problematischen Haltungen, die man sich dann auch eingesteht, es darf kein Tabu geben, dass jemand sagt: ›Der macht mir Angst, wenn der hereinkommt.‹ Das muss man einmal sagen können, aber das muss bearbeitbar sein in einer Fortbildung, insbesondere in einer teamorientierten Fortbildung. Sonst haben wir so eine Werteglocke und lauter Tabus und da würden sich die Probleme nur aufsummieren. Also wir brauchen eine Stimmung, eine Atmosphäre, in der diese Tabus eingerissen werden, nicht akzeptiert werden, wo auch Ängste, wo auch problematische Haltungen zur Sprache kommen, ohne dass die Person gleich mit Nachteilen rechnen muss. Da geht es um Bearbeitung auch von solchen Haltungen, und das kann eine Leitung und eine Führung herbeiführen.«
Ewald Kiel: »Und das ist zugleich eine große Gefahr, gerade im Bereich der Inklusion. Gerade wenn wir über das richtige Ethos reden nach dem Motto: ›Nein, Du hast noch nicht das richtige Bewusstsein, da musst du noch daran arbeiten.‹ Das hört man dann besonders gerne, diese Vorwurfshaltung. Und man darf ja nicht vergessen, der ganze Kontext, sowohl in der Praxis als auch in der universitären Ausbildung, ist extrem ideologisch aufgeladen. Es sind ja auch Kolleginnen und Kollegen unterwegs, die ein hohes Maß an Verachtung für andere haben, die nicht das richtige Bewusstsein haben. Wenn ich nur die beiden Richtungen ›full inclusion‹ versus …«
Ulrich Heimlich: … ›responsible inclusion‹? …
Ewald Kiel: » … ja genau, ›responsible inclusion‹ sehe, danke. Die einen sagen, wir müssen eine radikale Veränderung des Schulsystems haben. Es kann nur die Einheitsschule geben: gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand am gemeinsamen Ort – unbedingt unter jeder Voraussetzung. Oder auf der anderen Seite Positionen, wie die des Kollegen Hillenbrand in Oldenburg, der sagt, ich kann eigentlich in jedem Schulsystem Inklusion und Förderung betreiben. Und diese ideologischen Kämpfe, die wir zur Zeit haben, die mich sehr ärgern, sind nicht förderlich für diesen Kontext, um Inklusion weiterzuentwickeln. Das muss ich deutlich sagen.«
Ulrich Heimlich: »Ich denke auch, dass diese Debatte absolut kontraproduktiv ist. Daran krankt die bundesdeutsche Diskussion zur inklusiven Bildung ein bisschen. Wir diskutieren absolut einseitig auf einer konzeptionellen Ebene, auf einer Ebene von Zielvorstellungen und Sollzuständen. Aber wir müssen auch ganz ungeschminkt in die Praxis gucken und die Frage der praktischen Umsetzbarkeit und Umsetzung anschauen. Dieses Spannungsverhältnis wird häufig außer Kraft gesetzt und es wird häufig in eins gesetzt. Es wird über Konzepte gesprochen und es wird so getan, als ob die schulische Realität oder die Realität in Bildungseinrichtungen damit schon gleichzusetzen ist. Das ist sie aber nicht. Und man muss offensichtlich, da wären wir auch wieder bei professionellen Kompetenzen, man muss dieses Spannungsverhältnis offensichtlich aushalten. Das wäre nochmal auch ein Punkt, den wir hier ansprechen sollten: Welche Probleme gibt es denn in der praktischen Umsetzung von inklusiver Bildung? Also wenn wir jetzt zum Beispiel zunächst einmal an Schulen denken.«
Ewald Kiel: »Ein bedeutsamer Faktor ist dabei das Rollenverständnis von Lehrkräften. Es gibt eine alte Untersuchung von Caselmann aus den 1960er Jahren, glaube ich. Der unterscheidet zwischen den paidotropen Lehrern, die begleitend sind, und den logotropen Lehrern, die sich als Fachvertreter verstehen. Und diese Grenze haben wir eigentlich auch noch heute. Die Gymnasiallehrer sind diejenigen, die sich als Fachvertreter verstehen, die Sonderpädagogen ganz stark als paidotrope Lehrer, die die Menschen unterstützen wollen, die Schätze in den Köpfen heben wollen. Das ist, finde ich, ein ganz entscheidender Punkt, dass diese Parteien auch aufeinander zugehen in diesem Bereich. Jetzt hab’ ich ein bisschen den Faden verloren, was war die Ausgangsfrage?«
Ulrich Heimlich: »Es ging vor allen Dingen um die Frage, die praktische Umsetzung in den Blick zu nehmen und nicht nur über Konzepte nachzudenken.«
Ewald Kiel: »Die praktische Umsetzung ist meiner Meinung nach einerseits durch die Ideologiedurchtränkung behindert. Das ist extrem schwierig. Ich finde, sie ist auch dadurch erschwert, dass Pädagogen glauben, politisch die Welt verändern zu können. Das sollten sie nicht tun. Ich denke Erziehungswissenschaftler sollten das tun, was sie können, über Kompetenzen nachdenken, über Strukturen nachdenken und nicht glauben, eine bessere Gesellschaft durch Pädagogik zu schaffen. August Hermann Niemeyer hat vor 200 Jahren einmal diskutiert, ob die Pädagogik Vorreiter für die Gesellschaft sein kann oder umgekehrt. Er war schon vor 200 Jahren pessimistisch, ich bin das heute auch noch. Und wir haben immer wieder Wellen, in denen Pädagogen glauben, die Welt verändern zu können. Auch da finde ich, ein Realismus, ein wirklich gesunder Realismus, gehört dazu. Und ich finde, die Praxis wird auch besser, wenn man empirische Ergebnisse zur Kenntnis nimmt, die nicht so positiv sind. Also wenn ich an die Haeberlin-Studie denke und an den Befund, der bis heute international immer wieder repliziert wird. Für viele Kinder und Jugendliche wird die Leistung in inklusiven Schulsystemen besser, sie haben höhere Abschlüsse, aber das soziale Exklusionsverhalten steigt in inklusiven Settings. Das ist ja eigentlich eine Katastrophe! Und das muss man sagen dürfen und man muss darüber nachdenken für die Praxis, was bedeuten solche Befunde, die unseren idealen Vorstellungen nicht entsprechen. Und das finde ich bisweilen schwer in der Diskussion mit Kollegen und Praktikern: Das darf man nicht sagen, so etwas. Ich finde das gar nicht schlimm, dass wir diesen Befund haben. Man muss aber darüber nachdenken, wie kann ich das verändern? Und Alternativen entwickeln und schauen, was kann man machen mit diesen Befunden. Aber häufig habe ich das bei einer Reihe von Kollegen erlebt, dass man das wieder nicht sagen darf.«
Ulrich Heimlich: »Das stimmt. Die ideologischen Scheuklappen sind hinderlich in diesem Zusammenhang, und ich nehme an, das gilt also auch für andere Settings, wenn wir jetzt einmal über die Schule hinausschauen.«
Rudolf Tippelt: »Absolut, das kann man übertragen. Wir haben sehr viel über Professionalisierung gesprochen, also über die Fähigkeiten sozusagen auch des einzelnen Unterrichtenden, des Lehrers, auch des Leiters, das ist richtig. Gleichzeitig ist auch die Organisation angesprochen, weil wir auch Organisationskulturen brauchen, die die Inklusion, so wie wir sie am Anfang definiert haben, als ein Ziel formulieren, das geteilt wird, übrigens nicht nur von den Lehrern, auch von Eltern. Das ist übrigens die Stärke mancher alternativer Pädagogiken, dass die Eltern in der Weiterbildung oder beispielsweise in der Montessori-Pädagogik stärker an einer solchen inklusiven Pädagogik beteiligt sind. Das scheint mir wichtig für die Umsetzung. Das ist gleichzeitig ein fiskalischer Punkt. Wir müssen mit kleineren Gruppen arbeiten können, um die spezifischen Lernfähigkeiten, aber auch Lernprobleme ansprechen zu können, um an bestimmten Punkten auch nicht Konflikte in die Gruppe hineinzutragen, sondern sie differenzieren zu können. Qualitativ gute inklusive Bildung kostet Geld – und zwar auf allen Bildungsstufen. Denn wir brauchen ein sehr starkes Praxisberatungssystem, also nach innen für die Lehrer, auch für die, die Probleme damit haben, aber auch für die Eltern. Also diese Erfahrungen, die die Eltern dann zu Hause mit den Kindern machen, die jetzt von der inklusiven Bildung profitieren sollen, sollen zurückgetragen werden, sodass man Zweifel und Probleme bearbeiten kann, das scheint mir sehr wichtig. Und das, was uns Wissenschaftler interessieren muss: Wir dürfen nicht stehen bleiben bei den Konzepten und bei der Realisierung von Konzepten. Wir müssen durch Wirkungsstudien herausarbeiten, wie sich das dann anschließend auswirkt, beispielsweise im Bereich der sozialen Kompetenz oder der sozialen Haltungen. Sind diese feindlicher geworden oder sind diese integrativer geworden und inklusiver? Wir müssen die personale Kompetenz versuchen zu messen, aber auch die Fachkompetenz. Wir müssen den praktischen Systemen schon genauere Rückmeldung geben. Und das ist übrigens nur in Kooperation mit der Praxis möglich, dennoch ist das ganz stark unsere Aufgabe, auch als Wissenschaftler.«
Ulrich Heimlich: »Ich glaube auch, dass wir einen anderen Typus von Forschung benötigen. Also ich hab’ das jetzt mit Kollegen an der Universität Oldenburg diskutiert, weil die sich weiterentwickeln wollen als Fakultät, und da ging es um die Entwicklung eines neuen Forschungsprogramms. Wir Wissenschaftler haben Interesse daran, Daten zu bekommen und Aussagen über die Praxis, die wir verwerten können. Und ich habe dann darauf hingewiesen: Das ist ein interaktiver Prozess. Wir dürfen nicht nur in der Praxis auftauchen, um etwas von der Praxis zu bekommen, sondern es wird auch erwartet von uns, dass wir in die Praxis hineinwirken. Wir haben das in den vergangenen Jahren versucht im schulischen Bereich, aber auch im Bereich Kindertageseinrichtungen. Und die Rückmeldung aus der Praxis war für mich interessant, die Kolleginnen und Kollegen haben häufig gesagt: ›Wir brauchen für diese Arbeit gute Rahmenbedingungen.‹ Das darf man nicht vergessen. Also das ist sicherlich nicht ohne Investitionen in Bildung zu machen, ein inklusives Bildungs- und Erziehungssystem aufzubauen. Das ist schon richtig und das muss auch zur Verfügung gestellt werden. Aber innerhalb dieser Rahmenbedingungen, das sagen viele Einrichtungen, viele Kolleginnen und Kollegen, wollen wir uns selbst entwickeln können. Wir benötigen einen Spielraum, um uns selbst zu entwickeln. Und deswegen finde ich zum Beispiel hier in Bayern den Begriff ›Profil Inklusion‹ für die Schulen gut gewählt. Wir haben die Feststellung gemacht, dass die Einrichtungen alle ein Profil entwickeln, auch standortbezogen. Und wir haben über die letzten Jahre hinweg die Erfahrung gemacht: Wenn das als Voraussetzung gegeben ist, dann entwickelt sich auch die Qualität des Bildungsangebotes weiter. Wir haben uns also in unseren Forschungen interessiert für die Qualität des Bildungsangebotes in Kinderkrippen, Kindergärten, Grund-, Mittelschulen. Und die Tendenz dieser Forschung geht eindeutig dahin zu sagen: Die Qualität von inklusiven Bildungsangeboten steigt. Und sie ist besser als in nicht-inklusiven Settings. Insofern ist das schon auch ein Vorteil, der sich sozusagen für alle einstellt. Das Problem ist allerdings schlicht und ergreifend, dass wir dafür Zeit benötigen. Das ist nicht von heute auf morgen zu machen, und die Probleme sind auch nicht einfach so vom Tisch zu wischen. Es bringt uns überhaupt nicht weiter, wenn wir diese Probleme sozusagen ausklammern und nicht sehen. Ich schätze die Entwicklung im Bereich der inklusiven Bildung in Deutschland so ein, dass ich sage: Wir sind endlich in einem Stadium, wo wir nicht mehr nur legitimieren müssen, dass das ein guter Weg ist. Sondern wir können jetzt offen diskutieren, welche Probleme da sind, welche Vorteile und Nachteile es gibt und dann daran arbeiten. Zum Beispiel das Problem: soziale Exklusion in inklusiven Settings, eigentlich ein vollkommener Widerspruch. Was heißt das? Das stellt sich nicht von selbst ein, der soziale Zusammenhang. Den muss man unter Umständen auch pädagogisch begleiten und man muss das pädagogisch in den Blick nehmen. Das ist auch eine pädagogische Aufgabe. Und insofern gibt es da schon wirklich die ›Mühen der Ebene‹ sozusagen, also in der praktischen Umsetzung. Das dauert schlicht und ergreifend auch.«
Ewald Kiel: »Ich denke einfach, wir brauchen auch in der Forschung eine engere Anbindung an die Praxis. Ich arbeite jetzt zusammen mit dem Kollegen Markowetz an einem Konzept für die Umsetzung von Inklusion an 120 Münchner Schulen. Wir machen das wie folgt: einmal ganz klassisch wie Wissenschaftler das tun, mit einem Fragebogen an 5.000 Lehrkräfte. Aber wir gehen auch in 15 ausgewählte Schulen und führen dort Gruppendiskussionen mit den Lehrkräften durch. Dann entwickeln wir mit den Lehrkräften zusammen eine Expertise über das, was gemacht werden soll. Zusätzlich arbeiten wir im Schulreferat der Landeshauptstadt München mit verschiedenen Betreuungsgruppen, also mit der Realschule, mit dem Gymnasium und den anderen betroffenen Schulformen und beraten gemeinsam, was man umsetzen kann, und spiegeln das wieder an die Schulen zurück. Ich finde für den Bereich Inklusion – nicht nur, weil ich es selber mache – aber diese enge Anbindung der Forschung an die Schule wichtig. Wir haben ja eben von Rückmeldung gesprochen. Man muss den Schulen auch einen Blick von außen gewähren, gleichzeitig aber auch den Blick der Schule haben dafür. Ich glaube, dass das eine wichtige Ausrichtung von Forschung ist.«
Rudolf Tippelt: »Wenn ich da auch noch einhaken darf, also wir reden manchmal in diesem Zusammenhang von einem bestimmten Modell von Forschung – ich würde das angewandte Grundlagenforschung nennen oder auch umgekehrt grundlagenbasierte Anwendungsforschung. Das heißt immer, dass die Praxis eine Bedeutung hat – und zwar nicht nur als der zu erforschende Bereich, sondern auch als der Bereich, der uns Forschungsfragen signalisiert. Wir Wissenschaftler haben schon die Aufgabe, den Begründungszusammenhang zu liefern, dafür sind wir ausgebildet und das können wir bewältigen, indem wir Befragungen und Beobachtungen, Protokollierungen und so weiter durchführen und auswerten. Aber die Offenheit für Praxisfragen muss da sein und das ist überhaupt nicht selbstverständlich, weder im pädagogischen Bereich noch in anderen wissenschaftlichen Bereichen. Ich möchte noch etwas sagen: Wir reden ja über inklusive Bildung, das sprengt jetzt ein bisschen den Rahmen, aber ich habe hier diesen Bericht »Bildung in Deutschland 2014« vor mir. Das ist also der Nationale Bildungsbericht, der alle zwei Jahre erarbeitet wird. Seit 2008 gibt es jeweils ein Schwerpunktthema. Und 2014 hatten wir das Thema »Bildung von Menschen mit Behinderungen«, da war ich noch im Beirat, insgesamt acht Jahre übrigens. Wir haben inklusive Bildung dort lange thematisiert und auch ein bisschen gestritten, was denn da thematisiert werden soll – weil inklusive Bildung aus einer anderen theoretischen Perspektive auch meint: gender oder Heterogenität. Zur Inklusion gehört auch die Thematik unterschiedlicher sexueller Orientierungen. Dann: Ethnien, das ist natürlich nicht das gleiche wie eine Behinderung, sondern betrifft die Inklusion von unterschiedlichen ethnischen Gruppen mit sehr verschiedenen kulturellen Voraussetzungen. Oder die Inklusion von sozial Deklassierten. Wir haben das damals im Beirat zum nationalen Bildungsbericht alles unter Inklusion auch thematisiert, haben dann aber gesagt: Das ist so breit, wir müssen jetzt den Schwerpunkt setzen und da ist der Schwerpunkt auf Behinderungen gesetzt worden. Mit Recht! Ich will nur sagen, wenn wir von Inklusion gerade in der Allgemeinen Pädagogik sprechen, haben wir manchmal einen breiteren Inklusionsbegriff, der die Kooperation, das Zusammenwirken heterogener Gruppen, ausgesprochen unterschiedlicher Gruppen, meint und auch thematisiert, wobei die Behinderungen einen ganz spezifischen und mit Recht auch einen ganz prägnanten Fokus bilden.«
Ewald Kiel: »Aber nicht nur allein. Also ich war gestern an einer Berufsschule mit 2.000 Berufsschülern, wo wir einerseits natürlich Personen mit Migrationshintergrund haben. Aber es gibt auch Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen, es werden regelrechte Klassen für Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, als geistige Behinderung, eingerichtet. Und dann gibt es solche praktischen Probleme. Sie haben auch Freigänger oder Personen, die im Gefängnis sitzen. Und dann heißt es: ›Die können wir auf gar keinen Fall mit den Autisten zusammensetzen, die werden aggressiv den Autisten gegenüber, die Autisten können damit nichts anfangen.‹ Die Berufsschule hat einfach große praktische Probleme bei diesen vielen Anforderungen, die Herr Tippelt gerade angesprochen hat. Eine Zusammensetzung der Klasse zu finden, die tragfähig ist. Es ist eines der zentralen Probleme, dass sie sagen: ›Ich kann nicht einfach jeden mit jedem mischen.‹ Das gibt Probleme und die haben Beratungsteams und denken darüber nach, wen kann ich in welche Klasse setzen, damit wir eine vernünftige Lern- und Arbeitsatmosphäre hinkriegen. Und ich bin tief beeindruckt, was für Mühe die sich dort machen und über was für Probleme die dort nachdenken müssen, zum Beispiel das mit den Personen aus dem Gefängnis, den Freigängern und ähnliche Sachen. Das ist mir bisher nicht im Bewusstsein gewesen.«
Ulrich Heimlich: »Das führt auch noch einmal auf die Frage hin: Wie gehen wir eigentlich im Bildungssystem mit Heterogenität um? Und Herr Tippelt, Sie haben ja das weite Verständnis von Inklusion auch gerade angedeutet. Ich als Sonderpädagoge sage im Augenblick allerdings, ich habe ein bisschen Angst, dass die Menschen mit Behinderungen da schon wieder an den Rand gedrängt werden. Deswegen konzentriere ich mich auch auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Aber es ist natürlich ganz wichtig – und das ist auch eine Auswirkung dieser Inklusionsdebatte, die wir haben –, dass wir verstärkt diese unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen oder Diversitäten oder Differenzlinien einfach in den Blick nehmen. Es gibt im Bildungssystem – meiner Überzeugung nach – keine homogenen Gruppen, keine homogenen Lerngruppen, das ist eigentlich eine Weisheit, die seit langem bekannt ist. Die Frage ist einfach: Wie gehen wir mit dieser Heterogenität im Bildungssystem um? Ich bin der Meinung, dass das die größte Herausforderung ist für das Bildungssystem insgesamt: Umgang mit Heterogenität.«
Ewald Kiel: »Also wenn ich in der Schulpraxis bin – und ich begleite jetzt verschiedene Schulentwicklungsprozesse z. B. in dem SIM-Projekt hier in München, auch mit den Gruppendiskussionen –, dann ist für die Schulen die wichtigste Ressource, um mit Heterogenität umzugehen, nur eine einzige, und die lautet: Zeit. Wir brauchen Zeit, um uns abzusprechen. Wir brauchen Zeit, um die Gruppen einzuteilen. Wir brauchen Zeit, um uns zu koordinieren. Wir brauchen Zeit, um Förderpläne zu erstellen. Das kostet einfach Zeit, und Zeit ist bekanntermaßen Geld. Politisch wird ja gehofft, dass das alles ein Nullsummenspiel ist, und man spart vielleicht Lehrstühle ein, man spart für die Sachaufwandsträger, dass wenn wir weniger Sonderschulen haben, auch weniger Sachaufwand betrieben werden muss. Die erhoffen sich also eigentlich sogar Einsparungen. Das wird aber nicht der Fall sein. Und wieder sagen die Kolleginnen und Kollegen an der Schule: Zeit ist das zentrale Moment, um das Ganze gelingen zu lassen. Ich stimme ihnen in dieser Absolutheit nicht zu, aber ich denke, sie haben Recht und das kostet wirklich viel Geld.«
Rudolf Tippelt: »Das andere ist auch die Akzeptanz von Heterogenität, wie Herr Heimlich sagt. Das ist jetzt mehr ein sozialer und vielleicht auch ein psychologischer Hinweis: Also es ist nicht möglich, es ist schlichtweg eine schlechte Utopie sogar, im pädagogischen Bereich alles homogen machen zu wollen. Das geht nicht! Wir müssen miteinander arbeiten, auch mit heterogenen Gruppen, wie Sie sagen. Das heißt nicht, dass wir durch Ausschluss die Heterogenität in dieser ohnehin schon sehr heterogenen Gesellschaft noch weitertreiben. Da gibt es dann eben diese Brücken der Zusammenarbeit und des Wieder-Inklusiven-Zurückführens, aber trotzdem bleibt auch in der inklusiven Bildung der Lernende und bleiben die Lernenden enorm heterogen. Für dieses hohe Maß an sozialer Differenziertheit, aber auch personaler Unterschiedlichkeit, müssen wir – glaube ich – ein hohes Maß an Akzeptanz und an Sensibilität mit erzeugen. Das ist Aufgabe von Professionalisierung, auch in unserer Ausbildung der Lehrkräfte und anderer pädagogischer Fachkräfte.«
Ulrich Heimlich: »Das führt uns natürlich auch zu der Frage nach den Grenzen. Gibt es Grenzen der Inklusion? Das wird ja auch immer wieder in der Inklusionsdebatte angeführt. Eine Schulleiterin einer inklusiven Schule hat mir einmal gesagt, dass sie das Motto entwickelt haben: ›Grenzen sind Aufgaben.‹ Also wie sieht das aus mit den Grenzen der Inklusion, schrecken wir davor zurück oder betrachten wir sie als Möglichkeiten, als Aufgaben, um Grenzen auch zu verschieben?
Ewald Kiel: »Also ich hasse den Satz ›Grenzen sind Aufgaben‹. Das muss ich deutlich sagen. Der ist mir so idealistisch. Natürlich gibt es Grenzen, das ist keine Frage. Für mich ist Inklusion eine Art Schieberegler. In der vor-inklusiven Zeit, vor der UN-Behindertenrechtskonvention, ist der Schieberegler ganz stark auf Exklusion gestellt gewesen, gar keine Frage, und das hat mit Stigmatisierung und all diesen Dingen zu tun. Wir schieben nun den Regler mehr in Richtung Inklusion. Aber er wird niemals an den 100 Prozent sein, dieser Schieberegler, es wird immer Personengruppen geben, die permanent oder auch nur zeitweise ein exklusives Setting brauchen. Ich beschäftige mich gerade ganz intensiv mit der Geistigbehindertenpädagogik. Schwer geistig behinderte Kinder, die blind sind, einen Intelligenzquotienten von 70 haben, kann man diese Kinder vernünftigerweise in die Regelschule bringen? Wenn ich mit den Eltern spreche, was ich in verschiedenen Diskussionsgruppen tue, sagen die: ›Um Himmels Willen, ich möcht nicht, dass mein Kind in die Regelschule kommt, das geht dort unter.‹ Und natürlich gibt es eine Klientel, der Exklusivität oder Exklusion guttut. Oder wenn man das von der anderen Seite, von der Lehrerseite, her betrachtet: Das, wovor Lehrer am meisten Angst haben, sind verhaltensauffällige Kinder oder Kinder mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, wie man heute sagt. Natürlich kann ich nicht in eine Klasse mit 35 Kindern fünf Kinder mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung stecken. Das geht einfach nicht. Das ist eine Grenze von Inklusion. Ein Kind, ein einzelnes Kind mit schweren Bindungsstörungen, kann eine Klasse mit 25 Kindern allein zum Kippen bringen. Man muss einfach im Einzelfall überprüfen, was möglich ist. Und mit einer offenen Haltung mehr möglich machen, als man im ersten Moment ablehnen würde. Aber es gibt ohne Zweifel Grenzen.«
Rudolf Tippelt: »Also ich würde es anders formulieren: Es gibt Grenzen bei den organisatorischen Voraussetzungen. Wenn jemand glaubt, inklusive Bildung findet immer nur in der gleichen Institution statt, ja dann gibt es Grenzen, wobei schon diese Strategie eine Grenze aufwirft, weil sie Stigmatisierungen möglicherweise sogar schon provoziert, auch in einer engen Gruppe. Es gibt keine Grenzen, würde ich sagen, wenn ich von diesem anfangs formulierten Menschenrechtsanspruch ausgehe. Da muss man normativ reden, in einer demokratischen, in einer partizipativen Gesellschaft gibt es keine Grenzen der inklusiven Bildung, wenngleich man sich dann Bildung natürlich nicht so vorstellen darf, dass das alles in der gleichen Institution oder in derselben Institution geschieht. Da gibt es spezifische sonderpädagogische Einrichtungen, trotzdem aber mit dem Anspruch, dass alle Menschen den Anschluss an diese Gesellschaft in einem optimalen Rahmen auch erreichen können. Unter einem solchen Gesichtspunkt würde ich sagen: Inklusion ist dann grenzenlos. Wenn man das dann evaluiert, werden wir immer, im Augenblick jedenfalls, hinter diesen Zielen, die aber erst einmal vielleicht benchmarks sind, hinterherhinken, aber als humaner pädagogischer Anspruch – würde ich sagen – ist inklusive Bildung grenzenlos.«
Ewald Kiel: »Dem würde ich nicht zustimmen. Das muss ich deutlich sagen. Gerade, weil Kinder und Jugendliche immer in Institutionen gebildet werden oder Bildung erfahren, muss man auch die Seite der Lehrkräfte sehen. Das muss man schon sagen. Was können die aushalten? Und ich sage wiederum, eine Klasse mit 35 Kindern und davon fünf verhaltensauffällig, das geht nicht.«
Rudolf Tippelt: »Ja, das sag ich ja auch, ja. Nur wird da der Anspruch einfach fehlerhaft umgesetzt, und zwar radikal fehlerhaft. Aber der Anspruch der inklusiven Bildung, in einer partizipativen, demokratischen, den Menschenrechten gerecht werdenden Gesellschaft, der ist unbeschränkt.«
Ulrich Heimlich: »Also ich glaube hier ist die Sonderpädagogik als Brückenbauerin gefragt, die beiden Positionen widersprechen sich letztlich eigentlich nicht. Denn der Anspruch der inklusiven Bildung, wenn wir davon ausgehen, dass die UN-Konvention Menschenrechte definiert, ist tatsächlich universal und ist auch nicht teilbar auf einer normativen Ebene. In der praktischen Umsetzung kann es davon vielfache Abstriche geben und daran krankt eben die Inklusionsdebatte in Deutschland, dass diese beiden Ebenen immer verwechselt werden, also die normative Ebene und die Ebene der praktischen Umsetzung. Und ich habe ja schon gesagt, ich glaube, dass es wirklich ein Ausweis von pädagogischer Professionalität ist, dass man in der Lage ist, dieses Spannungsverhältnis auszuhalten. Wir haben alle Ideale und Zielsetzungen unserer pädagogischen Arbeit im Kopf, ich weiß nicht, wann wir die tatsächlich irgendwann einmal vollständig umgesetzt haben in unserer Praxis. Wir müssen alle aushalten, dass die, wie Hartmut von Hentig einmal gesagt hat, ›schmuddelige Erziehungswirklichkeit‹ davon abweicht. In diesem Spannungsverhältnis findet das – meiner Meinung nach – statt. Insofern würde ich gerne versuchen, zwischen den beiden Disziplinen Schulpädagogik und Allgemeiner Pädagogik eine Brücke zu bauen.«
Ewald Kiel: »Wir stehen uns da nicht feindlich gegenüber. Da bin ich ganz sicher. Wir haben nur eine andere Perspektive auf den Phänomenbereich.«
Ulrich Heimlich: »Gut, dann haben wir ja schon einmal eine Inklusionsleistung erbracht hier am Tisch. Ich würde vorschlagen, dass wir noch einmal versuchen, den Blick ein bisschen zu öffnen, über die Ländergrenzen hinaus. Es gibt ja in Deutschland durchaus eine eigenständige Entwicklung im Bereich der sonderpädagogischen Institution nach 1945. Also ich wüsste kein anderes Land der Welt, das ein ähnlich differenziertes Sonderschulsystem ausgebaut hat, im Grunde genommen praktisch für jede Behinderungsart eine eigene Schule. Das gibt es so nicht noch einmal, das ist international gesehen eine singuläre Entwicklung. Wie sehen wir das Verhältnis zu den anderen Ländern? Gibt es da andere Modelle der Inklusion, weiterreichende Modelle, wie wirkt sich das aus auf Deutschland?«
Rudolf Tippelt: »Da bin ich jetzt etwas skeptisch. Nach meinen Informationen sind in Deutschland derzeit etwa sieben Prozent eines Schülerjahrgangs in ausdifferenzierten sonderpädagogischen Einrichtungen. Ich hatte vorher schon gesagt, wir brauchen solche Einrichtungen, weil wahrscheinlich in den Regelunterricht nicht alle wirklich so integrierbar sind, dass sie profitieren, sondern dass sie sogar Schaden nehmen, weil sie abgehängt werden, weil sie möglicherweise auch diskriminiert werden. Vermutlich ist die Quote der förderbedürftigen jungen Menschen auch heute höher als die Quote jener, die sonderpädagogische Einrichtung besuchen. In anderen Ländern differieren diese Quoten. Aber grundsätzlicher ist die Auffassung, dass man die sonderpädagogischen Einrichtungen vollkommen auflösen soll. Da bin ich sehr skeptisch und zwar aufgrund dieser jetzt schon formulierten Probleme, dass dann möglicherweise Kinder, und übrigens auch Familien, Schaden nehmen, wenn wir das tun, durch Diskriminierung, die dann vielleicht überhaupt erst so richtig zum Ausdruck gebracht wird. Also da müssen wir sehr aufpassen, sehr sensibel vorgehen und die Gesellschaft kann sich hier nicht nur von Normen leiten lassen. Da würde ich sagen, sind wir international auf einem sehr guten und auch differenzierten Niveau. Manchmal habe ich, Herr Heimlich, Sie wissen das vielleicht besser, den Eindruck, dass die sonderpädagogischen Spezialisierungen selbst ein wenig inklusiver zusammenarbeiten könnten. Ich weiß nicht, ob das alles in eigener Regie gemacht werden muss oder ob man nicht gewisse theoretische Grundlagen gemeinsam diskutieren könnte, eine gewisse Basisdiagnostik gemeinsam machen könnte, methodologische und wissenschaftstheoretische Grundlagen – übrigens auch gemeinsam mit der Allgemeinen Pädagogik oder der Schulpädagogik – entwickeln könnte. Als ich Dekan hier in unserer Fakultät war, hatten wir uns manchmal mehr Inklusion zwischen den sonderpädagogischen Lehrstühlen und Teildisziplinen gewünscht, wenngleich ich schon sehe, dass natürlich die konkrete Symptomatik und das konkrete Bild der Behinderungen sehr unterschiedlich ist. Und trotzdem hoffe ich – auch bundesweit –, dass innerhalb der Sonderpädagogik noch mehr Zusammenarbeit, ich nenne es jetzt mal provokativ: ›Inklusion‹, stattfindet. Das scheint mir möglich und auch sinnvoll, nicht im Interesse von Personaleinsparungen, um da nicht missverstanden zu werden, sondern im Interesse einer gemeinsamen Problemsicht und einer nicht zu starken Aufspaltung und Zerstückelung von Kompetenzen in diesem Feld.«
Ewald Kiel: »Man kann vom Blick in andere Länder natürlich immer lernen, aber das Vergleichen ist auch nicht ohne Probleme. Ich denke, standardisierte Lösungen gibt es nicht. Das Schulsystem in Deutschland muss ein anderes sein als in Finnland. Wir sind ein dicht besiedeltes Land. In Finnland sind zwischen den Schulen 80, 100, 150 Kilometer Entfernung. Es gibt einen großen Teil der Schulen, die nur 50 Schüler haben. Da ist Inklusion viel leichter, als wenn man in einer Berufsschule mit 2.000 Schülern arbeitet, die es wahrscheinlich in ganz Finnland nicht gibt, vielleicht in Helsinki. Und ich finde, man muss darauf achten, in welchen Kontexten Inklusion eingeführt wird und welche organisatorischen Rahmenbedingungen vorhanden sind, welche demografischen Rahmenbedingungen vorliegen. Deswegen bin ich diesen Ländervergleichen gegenüber misstrauisch. Es heißt ja immer, die Finnen sind schon viel weiter als wir. Oder wenn man sich die Statistik der European Agency of Special Needs Education anschaut. Da gibt es dann so ein Ranking. In Österreich sind angeblich 90 Prozent inkludiert, in Italien 85, in Deutschland nur 56. Die Statistik ist einfach krank, anders kann man das gar nicht sagen, weil nämlich nicht definiert wird, was Inklusion ist. Inklusionsbegriff heißt dann, die Kinder haben eine gemeinsame Pause, andere haben vier Stunden Unterricht zusammen oder wieder andere haben 20 Stunden Unterricht zusammen. Aber all das wird in der Statistik unter einer Rubrik verortet. Das heißt, dieser Vergleich zwischen den Ländern hinkt ganz häufig und diesen Vergleich im Sinne eines Rankings finde ich gar nicht zulässig. Das geben die Zahlen bei der unklaren Operationalisierung des Begriffs gar nicht her. Aber natürlich, sich im Sinne von best practice eine vernünftige Schule anzuschauen im Nachbarland ist etwas ganz Wunderbares. Denn die haben Ideen, die wir vielleicht nicht haben. Um nur ein Beispiel zu geben, in Italien wird ja wesentlich mit Schulbegleitern gearbeitet. Die haben ein mehrgliedriges Schulsystem und sagen ›Wir brauchen keine Gemeinschaftsschule, sondern wir regeln das so.‹ Und ich würde mir für Deutschland wünschen, dass wir Wahlsysteme haben, verschiedene Angebote haben, damit Eltern auch mitentscheiden können. Ich finde es auch legitim, wenn Eltern sagen ›Ich möchte mein Kind auf einer sonderpädagogischen Einrichtung halten.‹ Ob wir das für richtig finden von außen oder nicht, es ist ein legitimer Anspruch von Eltern, und mein Ideal wäre, dass wir Angebotsstrukturen haben, die von Eltern und Kindern oder Jugendlichen unterschiedlich wahrgenommen werden können. Das wäre mein Idealzustand und keine standardisierte Lösung für alle Bundesländer.«
Ulrich Heimlich: »Also ich fand das auch durchaus hilfreich, andere Länder, andere Bildungssysteme mal anzuschauen unter dem Aspekt Inklusion. Ich habe das vor allen Dingen in den skandinavischen Ländern getan und da sieht man dann schon: Es könnte auch noch anders sein. Alleine das ist schon hilfreich, dass man Anregung bekommt, wie etwas auch anders organisiert wird, anders ausgerichtet ist. Den Vergleich finde ich auch manchmal schwierig, da würde ich bestätigen, was Herr Kiel gesagt hat. Also wir haben jetzt, glaube ich, eine Bevölkerungsgröße von 80 Millionen, in Finnland nicht einmal sechs Millionen. Das kann man einfach nicht vergleichen, was da passiert in den beiden Bildungssystemen.«
Rudolf Tippelt: »Vielleicht muss man auf eine Mikroebene gehen, auf Lehr-Lernprozesse, die optimaler sind in bestimmten Settings. Dann kann man eher vergleichen, als jetzt das Gesamtsystem: Auch auf dieser Mikroebene ist es nötig, das Personal zu verstärken und auf relativ kleine Gruppen zu reduzieren. Das muss dann auch finanziert werden, weil in der ökonomischen Logik sonst andere finanzielle Leistungen folgen. Das kann man auch hochrechnen: Wenn manchmal zwei Lehrer in einer Klasse Unterricht machen, können in bestimmten Situationen Einzelpersonen oder kleine Gruppen immer wieder aufgefangen werden und sie werden nicht abgehängt oder ignoriert.«
Ewald Kiel: »Ich habe da neulich einen interessanten Vortrag von meinem amerikanischen Kollegen Terry Osborne aus Sarasota in Florida gehört. Der sagt, die Antwort auf diese globalen Probleme, die wir eigentlich haben, auf die Globalisierung, ist eine Mikrokontextualisierung, dass sich kleine Kontexte organisieren und wissen, was für diese kleinen Kontexte gut ist. Und ich glaube, das gilt auch für Inklusion, dass man kleinere Einheiten schafft, die sich selber organisieren, dort Regelsysteme, Organisationsformen einrichtet, um Kinder zu fördern und das im Rahmen einer Angebotsstruktur. Und ich fand diese Idee des Wortes ›Mikrokontextualisierung‹ eigentlich eine schöne, die da in dem Vortrag zum Ausdruck kam.«
Ulrich Heimlich: »Ich wollte noch ergänzen, was ich mitgenommen habe, eben aus den Reisen in die skandinavischen Länder, das war so eine gehörige Portion Pragmatismus, mit der da vorgegangen wird, auch gerade im Zusammenhang mit inklusiven Angeboten im Bildungssystem. Da wird dann gesagt: ›Wenn das nötig ist für einen Schüler, eine bestimmte Maßnahme separat aus dem Klassenzimmer heraus zu organisieren, dann wird das gemacht.‹ Aber das wird mit einer hohen Flexibilität gemacht. Und das kann man zum Beispiel auch auf dieser Mikroebene, sozusagen von anderen Systemen, durchaus lernen. Ich denke, dass wir sozusagen als nächsten Schritt im Bildungssystem auch so eine Flexibilisierung benötigen, gleichsam eine Suche nach pragmatischen Lösungen. Was ist jetzt machbar unter den gegebenen Bedingungen? Und eben nicht weitere ideologisch gefärbte Debatten, die sich mehr im Grundsätzlichen bewegen, ohne konkrete Lösungen anzubieten. Das ist ein hoher Anspruch. Das ist letztlich, und damit kommen wir schon fast zum Ende unserer Gesprächsrunde, natürlich auch ein Anspruch, der sich an uns stellt, als Vertreter von drei wissenschaftlichen Disziplinen, Allgemeine Pädagogik, Schulpädagogik, Sonderpädagogik. Was heißt das denn für unsere Zusammenarbeit im Bereich der wissenschaftlichen Strukturen? Sie haben das angesprochen, Herr Tippelt, mehr Kooperation in der Sonderpädagogik, aber eigentlich gilt das ja auch für andere wissenschaftliche Disziplinen.«
Rudolf Tippelt: »Ja, auch weil Sie mich jetzt direkt angesprochen haben, also natürlich: Ja, der Meinung bin ich nach wie vor. Sie wissen es besser, Herr Heimlich, aber auch so viel wie möglich Kooperationen in der Sonderpädagogik. Aber ich erwähnte vorher auch schon die ›Kooperation der pädagogischen Teilbereiche‹. Wir haben hier in München die sehr stark ausdifferenzierte Grundschulpädagogik, die Schulpädagogik, aber auch die Weiterbildung und teilweise die berufliche Bildung, die damit zusammenhängt. Kooperation der Sonderpädagogen sollte auch mit diesen Feldern verstärkt werden. Dann eben auch die Kooperation mit den aufgeschlossenen Medizinern, vielleicht oder auch mit Psychologen, die in diesem Feld tätig sind und interessiert sind. Man könnte auch zu Sozialpädagogen Kontakt aufnehmen, die noch einmal einen anderen Blick auf Bildungseinrichtungen haben. Das ist der Aspekt der Kooperation, also der multiprofessionellen Kooperation, die man auch schon in der Ausbildung stärker betreiben kann, als wir es derzeit begonnen haben. Es ist schon so, dass die Einzeldisziplinen nicht mehr isoliert voneinander wirken. Sie haben ein Buch mit anderen Disziplinvertretern gemeinsam gemacht, sie haben Projekte zusammen erarbeitet, wir schreiben jetzt ein Buch zusammen und ich habe mit Herrn Markowetz etwas Gemeinsames gemacht und so weiter. Also das sind durchaus Dinge, die vor 2010 nicht oder kaum stattfanden. Ich will das noch einmal wiederholen, Kooperation hat sich intensiviert. Es hat, finde ich, eigentlich schon eine positive Signalwirkung.«
Ewald Kiel: »Wir haben jetzt gerade an der LMU durch die Qualitätsoffensive Lehrerbildung einen großen Impuls in dieser Richtung bekommen, wo gerade auch Mediziner, wie Herr Schulte-Körne etwa, ein Online-Seminar über Störungsbilder entwickeln, wo die Fachdidaktiken etwas tun, wo über andere Formen der Praktikumsgestaltung nachgedacht wird. Und man sieht aber an einem großen ›Laden‹ wie der LMU auch, wie schwierig das ist, mit knapp 60.000 Studierenden und ich weiß nicht wie vielen Professoren, das zu organisieren. Die Lehrerbildung ist ja auch ein Bereich mit 16 Fakultäten, die daran beteiligt sind, und der Koordinationsaufwand ist ein großer. Ich bin dafür, die Wände einzureißen, aufeinander zuzugehen, zu kooperieren, aber an einer großen Universität wie unserer ist das deutlich schwieriger als an einer Universität, von der ich ursprünglich komme, der Pädagogischen Hochschule (PH) Heidelberg, wo es gerade einmal 4.000 Studenten gegeben hat und jeder jeden beim Kaffee in der Mensa begrüßen konnte und jeder jeden beim Namen kannte.«
Ulrich Heimlich: »Genau, wir haben es eben schon angesprochen, zum Beispiel ist auch die Zusammenarbeit mit den Fachdidaktiken in diesem Zusammenhang ganz wichtig. Das merkt man eben auch im Rahmen des Projektes Lehrerbildung@LMU, dass hier Rahmenbedingungen da sein müssen, die so etwas unterstützen. Das heißt, die Umsetzung der Inklusion in der Hochschule benötigt entsprechende Unterstützung und entsprechende Strukturen, um das auf den Weg zu bringen. Wir können versuchen, auf einer persönlichen Ebene zusammenzuarbeiten, aber in diesem Projekt haben wir jetzt Mitarbeiter, die diesen Dialog in Gang setzen. Wir entwickeln mit den Fachdidaktiken zusammen Filme und Materialien für eine Reihe von Veranstaltungsformaten zur Inklusion. Da habe ich schon das Gefühl, dass das Thema Inklusion einfach eine Plattform bietet, auf der mehr Zusammenarbeit möglich ist, so nehme ich das jedenfalls wahr. Und insofern habe ich eigentlich die Hoffnung, dass wir es schaffen, auch dieses Signal auszusenden in Bezug auf zukünftig pädagogisch Tätige. Es darf sich eigentlich niemand mehr komplett aus dem Thema herausnehmen. Also meine Idee ist tatsächlich: Es darf zukünftig niemand mehr sagen: ›Das ist nicht mein Thema, und ich bin dafür nicht ausgebildet.‹ Wir müssen versuchen, alle pädagogischen Fachkräfte auf die Inklusion vorzubereiten.«
Rudolf Tippelt: »Es ist wichtig, dass wir einen langen Atem haben, das hatten Sie, Herr Kiel, auch schon einmal angesprochen. Es darf keine Mode sein, sich für inklusive Bildung mal sechs Jahre zu interessieren und danach machen wir, was sicher auch wichtig ist, Integration für Migranten. Und wir handeln das dann nicht mehr unter Inklusion ab und die Inklusion von Behinderten haben wir vergessen. Aber dann kommt die nächste Mode, ach Gott, was haben wir schon für Moden erlebt! Wir müssen dicke Bretter bohren – und die Inklusion ist so eines. Also auch dann, wenn die Öffentlichkeit nicht mehr so aktiv Notiz davon nimmt, muss Inklusion ein institutioneller Auftrag bleiben. Da sind sowohl die ethische Basis als auch die praktischen Erfahrungen und die jetzt schon erkennbaren Evaluationsergebnisse Rückenwind genug, um weiterzumachen. Aber es ist mir wichtig hervorzuheben – man braucht einen langen Atem, gerade wenn nicht fortwährend unmittelbar öffentlich davon gesprochen wird. Wir leben in einer Welt, in der die Themen, auch übrigens die Bildungsthemen, sehr schnellen Veränderungen ausgesetzt sind.«
Ulrich Heimlich: »Ich glaube, der Hinweis auf die Moden und die Modebewegungen in der Pädagogik, Schulpädagogik, Sonderpädagogik ist ein gutes Schlusswort. Inklusion darf keine Modeerscheinung sein, sondern wird uns hoffentlich noch lange beschäftigen. Ich danke an dieser Stelle meinen Gesprächspartnern für den Austausch.«
Inklusive Bildung

Подняться наверх