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IV.
ОглавлениеEin Plädoyer für die Lebenskunst kann nicht durchgängig von einer wie auch immer gearteten didaktischen Insistenz bestimmt sein. So nimmt Leopardi bewusst auf seine Leserschaft Rücksicht und gibt dem einen oder anderen Pensiero ein vornehmlich narratives Gepräge, das teilweise auch anekdotischen Charakter hat. Der deklarierte Vorsatz, «per isvagamento del lettore» (IV, 37 [«zur Zerstreuung des Lesers»]) zu schreiben, entspricht somit durchaus einer captatio benevolentiae, die darauf abzielt, die Interessierten vom Einfachen zum Komplexeren zu geleiten, sie nicht ohne Unterlass mit virtuellen Entscheidungssituationen hinsichtlich eines zu verändernden Lebens zu konfrontieren. Was die Textstruktur betrifft, geschieht dies nicht in einem linearen Sinne, sondern eher in einem alternierenden Vorgehen. Offenkundig expliziert Leopardi seine «scienza dell’uomo» nicht nur an markanten Beispielen aus eigenem Erleben, der Reflexion, der Imagination und kulturgeschichtlicher Rezeption. Er wendet sie auch gegenüber dem in Menschenkunde zu unterweisenden Leser selbst an, nimmt also Bedacht auf dessen menschliche Schwächen, eine eventuell unangemessene Selbsteinschätzung und ein inkonstantes Interesse an einer diffizilen Fragestellung.
In dieses vermittlungspsychologische Bild fügen sich denn auch solche Pensieri ein, die Leopardis Idee der Lebenskunst in Analogie zu vermuteten Alltagserfahrungen seiner Leser darlegen. Hierzu zählt unter anderem, in Pensiero LXXV (121), die Auffassung, die Frau – «la donna» in generischem Verständnis – sei ein Analogon, eine «figura» der Welt an sich. Denn mit denselben «arti» [«Künsten»], mit denen man die Frauen für sich gewinnen könne, lasse sich auch dem menschlichen Geschlecht, dem «genere umano», erfolgreich begegnen, und zwar: «con ardire misto di dolcezza, con tollerare le ripulse, con perseverare fermamente e senza vergogna» [«mit von Sanftheit durchwobenem Wagemut, mit dem Ertragen von Zurückweisungen, mit festem Beharren ohne Schamgefühl»]. Damit erreiche man sein Ziel bei den meisten Menschen, den Nationen, ja in allen Zeitaltern. Allerdings dürfe man den Frauen nur eine laue Liebe entgegenbringen und keineswegs eine authentische, einen «amore non finto» [eine «nicht vorgetäuschte Liebe»]. Die eigenen Interessen müssten dominieren. Sonst bleibe der Erfolg aus: «E il mondo è, come le donne, di chi lo seduce, gode di lui, e lo calpesta»1 [«Und die Welt gehört, wie die Frauen, dem, der sie verführt, sie zu genießen weiß und sie mit Füßen tritt»].
Unbeschadet der spezifischen Sicht der Geschlechterdialektik2, die hier zutage tritt, zeigen diese Ausführungen zumal, wie sehr es laut Leopardi gilt, die «interessi […] propri» [«eigenen […] Interessen»] unnachgiebig zu verfolgen. Gegenüber Rivalen, in der Liebe wie in weltlichen Belangen schlechthin, seien die gleichen «Waffen» vonnöten, und man müsse sich seinen Weg über die Körper der bezwungenen Kontrahenten hinweg bahnen. «La calunnia» [«die Verleumdung»] und «il riso» [«das Gelächter»] fungieren dabei als die wichtigsten Angriffsmittel überhaupt. Die durchweg martialische Diktion gibt in diesem Fall den Blick frei auf eine mögliche Aporie von Leopardis Lebenskunst. Denn das hier geforderte Verhalten des Lebenskünstlers ist nicht dazu bestimmt, sich in den Fährnissen einer destruktiven Gesellschaft ohne größeren Schaden zu bewegen. Es ist vielmehr ein Verhalten, das eigentümlicherweise gerade das reproduziert, was die Negativität der Gesellschaft ja laut Leopardi im Innersten ausmacht und diese als inakzeptables Modell der Autodestruktion diskreditiert3. Wäre somit der Lebenskünstler im Grenzfalle nichts anderes als ein in die soziale Selbstzerfleischung verstrickter Jedermann und kein «uomo civile» (LIV, 99 [«gesitteter Mensch»])?
Pensiero LXXV ist zweifellos ein Ausnahmefall in der variationsreichen Sequenz der moralistischen Rezepturen Leopardis, die den propagierten «uso del mondo» nicht als Synonym des in der Regel ja entschieden bekämpften Missbrauchs der Welt begreifen. Doch der Pensiero lässt sich nicht ausblenden. Im Grunde kann ihm entnommen werden, wie schmal der Grat ist zwischen selbstgewisser Nutzbarmachung einer bedrückenden Welt und dem unvermittelten Mitwirken an dem, was diese Bedrückung im Kern erklärt. Die «arte del vivere» wäre damit im Sonderfall keine anti-pessimistische Lebensform, sondern würde, in paradoxer Weise und kongenial, die pessimistisch stimmenden Verhältnisse zum eigenen Vorteil fortschreiben. Dass das Paradoxon für die Denkweise in den Pensieri konstitutiv ist, legt Leopardi in anderem Zusammenhang offen, wenn er die «sembianza di paradosso» (XCVII, 146 [«Züge des Paradoxes»]) in seiner Argumentation hervorhebt. Doch im Allgemeinen handelt es sich dabei darum, schlüssige Denkmuster in verstörender Weise abzuwandeln, so etwa, wenn in Pensiero LVII (103) zu lesen ist: «Gli uomini si vergognano, non delle ingiurie che fanno, ma di quelle che ricevono. Però ad ottenere che gl’ingiuriatori si vergognino, non v’è altra via, che di rendere loro il cambio»4 [«Die Menschen schämen sich nicht der Beleidigungen, die sie praktizieren, sondern derer, die sie erhalten. Um jedoch zu erreichen, dass die Beleidiger sich schämen, gibt es keinen anderen Weg, als es ihnen in gleicher Münze zurückzuzahlen»].
Es liegt nahe, das Paradoxon bei Leopardi nicht zuletzt als den Versuch zu begreifen, der einförmigen Logik deterministischen Denkens über den sprachlichen Gestus wenn nicht zu entrinnen, so sie zumindest doch momentan zu unterlaufen. Diese ludische Komponente erweist sich mitunter als dazu geeignet, einer aufkeimenden anti-pessimistischen Mentalität besonderen Nachdruck zu verleihen. Die epistemische Statik im Hinblick auf das insgesamt unterstellte Menschenbild sieht sich dann schlaglichtartig durchbrochen. Indem die Negativität menschlichen Verhaltens im des Öfteren paradox anmutenden Handeln des Lebenskünstlers teilweise ins Positive gewendet wird, könnte sich eine vorsichtige Öffnung zu einer historischen – und damit evolutiven – Anthropologie abzeichnen.
Ein plausibles Argument für das implizite Anzweifeln des rigorosen Determinismus der menschlichen Natur ist indessen auch der Umstand, dass die Lebenskunst sensu strictu nur dort ansetzen kann, wo sich eventuelle Lücken im deterministischen Gefüge offenbaren. Demnach weist die menschliche Natur möglicherweise doch eine gewisse Variabilität auf, unterliegt sie kleineren, aber nicht sprunghaften Veränderungen, ganz im Sinne des Linnéʼschen Axioms von Natura non facit saltus5. Der zweifellos ungewisse, doch nicht kategorisch auszuschließende Ausblick auf einen zuversichtlicher gestimmten Leopardi lässt sich zudem durch ein weiteres Argument plausibel machen. Denn nicht zuletzt gilt es für den Lebenskünstler ja, im Zuge der von Menschenkunde geleiteten Optimierung individueller Existenz, bei der Suche nach den Lücken im negativen Kausalzusammenhang der Lebensumstände sich nicht zuletzt auch gegen die eigene Natur in ihrem deterministischen Verständnis zu verteidigen. Dies impliziert per se einen leisen Zweifel an einer homogenen Naturauffassung.
Dennoch kann das Streben nach einem besseren Leben nicht umhin, im praktischen Vollzug zugleich das Bewusstsein der negativ verstandenen existentiellen Grundproblematik – und damit auch des persönlichen Involviert-Seins in diese – wach zu halten. Es ist dies ein Balanceakt, der offen lässt, nach welcher Seite hin die Bewegung am Ende erfolgt: zum Festhalten am Prinzip schierer Negativität der menschlichen Natur oder zur leisen Skepsis gegenüber dessen uneingeschränkter Gültigkeit.
Zumindest eines zeichnet sich indessen ab: Leopardis Pessimismus darf, was seinen oft behaupteten überzeitlichen Geltungsanspruch betrifft,6 in Hinsicht auf die Pensieri mit einem Fragezeichen versehen werden. Nicht zuletzt Leopardi selbst scheint seine Leserschaft diskret dazu anzuleiten. Man könnte darin sogar einen Anflug von Optimismus wahrnehmen.