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Meri Disoski, Ursula Klingenböck, Stefan Krammer Literaturvermittlung und/als (Ver)Führung Eine Einleitung

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Literaturvermittlung gehört zu den zentralen Fragen im bildungstheoretischen, (fach)wissenschaftlichen und schulpolitischen Diskurs. Das aktuelle Interesse an Literaturvermittlung dürfte einerseits Impulse durch empirische Untersuchungen zur Qualitätsmessung erhalten haben; andererseits scheint der theoretische Paradigmenwechsel der Didaktik hin zur Kompetenzorientierung des Unterrichts ein wesentlicher Faktor in der Diskussion um Literatur und/im Unterricht zu sein. Das schlechte Abschneiden der österreichischen SchülerInnen bei den PISA-Studien (Schwantner/Schreiner 2010) hat nicht nur eine zum Teil sehr emotional geführte Debatte über die Leistungsfähigkeit von Schulsystemen evoziert, sondern auch eine kritische Überprüfung des Erhebungsinstrumentariums (Stichwort: Testing the Test) sowie eine Interpretation der erhobenen Daten nach wissenschaftlichen Kriterien gefordert (u.a. Allerup 2007). Insbesondere für den Teilbereich »Lesen« hat das Sample der Aufgaben zu einer Reflexion des Begriffs »Lesekompetenz« (getestet wurde vor allem Sinn erfassendes Lesen und damit ein Aspekt von Lesekompetenz) und in weiterer Folge zu einer Relationierung von Lesekompetenz und literarischer Kompetenz geführt (Kammler 2006, Kämper-van den Boogaart/Ulrich 2010). In kompetenzorientierten Konzepten, wie sie derzeit von DidaktikerInnen und LehrerInnen kontrovers diskutiert werden (u.a. Abraham u.a. 2007), stehen »messbare« literarische Kompetenzen, Teilkompetenzen und Niveaustufen augenscheinlich einem »traditionellen« und zugegebenermaßen unscharfen Konzept von literarischer Bildung gegenüber, das zumindest partiell als nicht normier- und validierbar vorgestellt wird (Bertschi-Kaufmann/Rosebrock 2009). Obwohl, oder vielmehr: gerade weil Testarrangements wie PISA und kompetenzorientierte didaktische Entwürfe, die ihren Reflex auch in gesetzlichen Vorgaben wie Lehrplänen und Bildungsstandards finden, nicht auf Literatur und ihre spezifische (z.B. ästhetische) Qualität fokussieren, stellt sich vor ihrem Hintergrund die Frage nach Raum und Stellenwert der Literatur im Deutschunterricht und ihrer Vermittlung neu. Es scheint sogar, als würden laufende Debatten – oft auch ungewollt – eine Bresche für die Literatur in der Schule schlagen.

Die Einrichtungen insbesondere des sekundären Bildungssektors sind »klassische« Räume der Literaturvermittlung. Literatur und ihre Vermittlung werden in Bezug auf schulisches Lehren und Lernen vielfältig und differenziert in zahlreichen deutschdidaktischen Publikationen diskutiert. Im Rahmen einer umfassenden Literaturdidaktik muss aber vermehrt auch nach anderen Räumen der Literatur(vermittlung) und möglichen produktiven Verschränkungen von schulischen und außerschulischen Räumen der Literatur und ihrer Vermittlung gefragt werden. Anregungen dazu liefern aktuelle Publikationen, die vor allem auf den nicht schulischen Bereich des Literaturbetriebs fokussieren. So setzt sich etwa Plachta (2008) mit der medialen Verbreitung von Literatur auseinander und bespricht Prozeduren der Literaturkritik sowie der öffentlichen Erinnerungsarbeit, die durch Literaturhäuser, -archive und -museen geleistet wird; ebenso wird die kulturpolitische Funktion von Literaturpreisen und AutorInnenförderungen erläutert. Bei Neuhaus (2009) sind es der Buchhandel und das Verlagswesen, die Literaturkritik und Bildungsinstitutionen wie Bibliotheken, Literaturarchive und -häuser, denen eine zentrale Rolle in der Literaturvermittlung zukommt. In den Blick werden dabei jene AkteurInnen und Instanzen genommen, die sich professionell mit Literatur auseinandersetzen, indem sie Bücher herstellen, vermarkten und verkaufen oder über Inhalt und mögliche Lesarten informieren. Gefragt wird nach den Implikationen des Vermittelns, den technischen Voraussetzungen und Präsentationsmöglichkeiten von Literatur, wobei auch die ökonomischen Bedingungen angesprochen werden, unter denen Literatur als »Ware« an die LeserInnen gebracht werden kann. Ähnliche Betrachtungsweisen werden auch im Sammelband »Perspektiven der Literaturvermittlung« (Neuhaus/Ruf 2011) vorgenommen. Die Fülle an Beiträgen und die jeweils spezifischen Zugänge machen unterschiedliche Dimensionen von Literatur sichtbar, komplexe Systeme und Diskurse des literarischen Feldes werden deutlich. Nicht nur in diachroner, sondern auch in synchroner Perspektive wird nach der Partizipation der literaturvermittelnden Instanzen am literarischen und kulturellen Betrieb gefragt. Mit dem Fokus auf digitale Literaturvermittlung werden im Sammelband von Giacomuzzi u.a. (2010) weniger institutionelle Aspekte der Literatur als medienspezifische Aspekte zum Thema gemacht. Erläutert werden darin theoretische wie praktische Fragen der Archivierung von Netzliteratur wie auch unterschiedliche Formen der Literaturproduktion im Internet.

Eine historische Dimension der Literaturvermittlung beleuchten der Tagungsband »Literaturvermittlung im 19. und frühen 20. Jahrhundert« (Korte/Rauch 2005): Die Beiträge beleuchten die Komplexität der kulturellen Konstellationen, in denen schulische und universitäre Bildungsanstalten ihre Praxis der Vermittlung von Literatur organisieren. Der Fokus liegt auf den Bedingungen schulischer Literaturvermittlung, wie sie durch andere gesellschaftliche Institutionen geschaffen werden. Dabei werden auch Prozesse der Kanon- und Traditionsbildung erläutert. Als eine literaturwissenschaftlich fundierte Literaturdidaktik, wie sie in diesem Band verfolgt wird, ist auch die Publikation »Lesarten« (Delanoy u.a. 1996) zu verstehen, in der verschiedene Vorstellungen von Literatur und deren Vermittlung im Literaturunterricht entworfen werden. In einem interdisziplinären Entwurf werden unterschiedliche Perspektiven auf Vermittlungsfragen aufgerufen und vergleichend diskutiert. Auf den Ebenen des Verstehens, des Inszenierens, der Übersetzung und des Erinnerns wird Literatur auch in Hinblick auf andere mediale Formate beleuchtet, wenn etwa Hörtexte und Filme analysiert werden. Inszenierung als zentraler Begriff der Literaturvermittlung wird als didaktisches Arrangement verstanden, damit Literatur von Lernenden überhaupt wahrgenommen wird (ebd., S. 8). Die spatiale Dimension der Literaturvermittlung wird u.a. im ide-Heft »Lernräume« (Erlacher-Zeitlinger/Fenkart 2010) thematisiert. Nicht nur die Schulbibliothek wird zum Lernort, es werden ebenso virtuelle Räume aufgetan und Hörräume geschaffen. Durch unterschiedliche mediale Formate werden zentrale Kompetenzen angesprochen, die im Deutschunterricht erworben werden sollen. Für eine Öffnung der Literaturdidaktik auf kulturwissenschaftliche und lebenswissenschaftliche Zusammenhänge plädieren auch Dannecker und Thielking (2012) mit ihrem Konzept der »Öffentlichen Didaktik«. Räumliche Zugänge der Literaturvermittlung werden in Zusammenhang mit Konzepten von Local Knowledge, der Area Studies und Varianten von »Lernen vor Ort« diskutiert.

Der vorliegende Band greift aktuelle Aspekte der Literaturlehr- und -lernforschung (Hochreiter/Klingenböck u.a. 2009) auf und fokussiert sie neu, indem er sie explizit auf Räume der Literatur und deren Vermittlung bezieht. AutorInnen aus unterschiedlichen Disziplinen haben Räume der Literatur(vermittlung) aufgespürt, auf ihre spezifische Qualität hin untersucht und für unterschiedliche Learning Communities didaktisch erschlossen. Neben den »klassischen« Einrichtungen des sekundären und tertiären Bildungssektors wie Schulen, Hochschulen und Universitäten werden öffentliche Einrichtungen wie etwa Bibliotheken, Literaturhäuser, Theater und eine institutionalisierte Literaturkritik nach ihren spezifischen Formen der Literaturvermittlung befragt. Zum anderen wird – ausgehend von einem weit gefassten Literaturbegriff – das Augenmerk auf die Medialität bzw. die Pluri- und Intermedialität von Literatur gelenkt. Neben unterschiedlichen medialen Formaten von Literatur (u.a. Film, Theater, digitale Formen von Literatur) und ihren charakteristischen Rezeptionsweisen sollen auch Transformationsprozesse und ihre Auswirkungen auf Vermittlungsfragen untersucht werden. Der Vielfalt der Gegenstände entspricht die Verschiedenartigkeit der Darstellung: Die Beiträge basieren auf einem breiten Spektrum theoretischer Grundlagen wie empirischer Befunde und bedienen sich unterschiedlicher wissenschaftlicher und diskursiver Formate. An der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Deutschdidaktik adressieren sie FachwissenschaftlerInnen verschiedenster Disziplinen (wie etwa Literaturwissenschaft, Didaktik, Medienwissenschaft, Bildungswissenschaft, Soziologie) sowie Lehrende und Lernende in unterschiedlichen Lehr- und Lernkontexten.

Das Konzept des Bandes versteht Literatur sowohl als Gegenstand und Ziel, als auch als Mittel der (Ver)Führung zu etwas. Beiden Zugängen liegt die Prämisse einer literarischen Attraktion zugrunde, die (Ver)Führung im Sinne einer räumlichen wie qualitativen Annäherung, einer Hinwendung und eines Sich-Einlassens, erst ermöglicht. An ausgewählten Beispielen soll danach gefragt werden, wer unter welchen Bedingungen, mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck wozu (ver)führt bzw. (ver)führen kann. In diesem Sinn verstehen wir den Band als Anstiftung zur Literatur, als Einladung, sich auf Literatur, auf die Auseinandersetzung mit Literatur und mit den theoretischen und praktischen Aspekten ihrer Vermittlung, einzulassen. Wer nach Verführung fragt, fragt aber immer auch nach Führung im Sinne von Lenkung, von Beeinflussung und Machtausübung. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Literaturvermittlung hat mit der Anwesenheit bzw. Sichtbarkeit von Literatur in unterschiedlichen Kontexten immer auch nach deren Abwesenheit bzw. Unsichtbarkeit und deren möglichen Gründen zu fragen. Räume der Literatur(vermittlung) sind im Sinne Bourdieus (2001) auf ihre Situierung und auf ihre Rolle innerhalb des literarischen Feldes zu untersuchen und zu anderen Feldern in Beziehung zu setzen. Denn Literatur und ihre Vermittlung ist nicht nur eine Frage von wissenschaftlichen und kulturellen Konzepten, sondern auch eine eminent politische und systemische Frage, die immer mitreflektiert werden muss.

Im ersten Teil werden Institutionen, die als Räume der Literaturvermittlung fungieren, untersucht. Im Zentrum des Interesses stehen die öffentlichen Einrichtungen Bibliothek, Literaturausstellung, Literaturkritik sowie die mediale Inszenierung von Literatur(vermittlung) wie etwa Buchpreise.

Ulrike Tanzer skizziert zunächst zeitgenössische Bibliothekskonzepte wie die der extrovertierten, der introvertierten, der virtuellen bzw. hybriden Bibliothek, um sie anschließend auf ihre spezifische Rolle in der Literaturvermittlung zu befragen. Mit Rekurs auf die viel diskutierten Ergebnisse der PISA-Studie und vor den aktuellen Ergebnissen der Leseforschung fokussiert Tanzer auf die Bereiche Leseförderung und Lesekompetenz, wobei ihr Interesse insbesondere dem literarischen Lesen gilt. Innovative Beispiele aus der Praxis der öffentlichen Bibliotheken (Österreichisches Bibliothekswerk, Stadtbibliothek Salzburg, Bibliothekswerk der Erzdiözese Salzburg), die allesamt den kommunikativen Aspekt des Lesens betonen, illustrieren die Untersuchung. Mit Blick auf den hohen Stellenwert der Bibliotheken für die Lesesozialisation fordert Tanzer einerseits eine Verbesserung der strukturellen (u.a. rechtlichen) Gegebenheiten für Bibliotheken, andererseits sieht sie Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik gefordert, Bibliotheken vermehrt als Institutionen der Literaturvermittlung wahrzunehmen und zum Gegenstand ihrer Forschungen zu machen.

Der Beitrag von Julia Danielczyk zeigt, dass Literaturausstellungen in der Vermittlung von Literatur eine wachsende Bedeutung zukommt. Die Herausforderungen, die sich bei der musealen Präsentation von Literatur ergeben, diskutiert sie entlang folgender Fragestellungen: Wie lässt sich das Literarische in die Sprache der Ausstellung und des Schauraums übersetzen? Wie gelangt Literatur ohne den individuellen Leseakt zur Wirkung? Inwiefern eignen sich Museen und Ausstellungsräume als Orte des Lesens und der Literaturvermittlung? Um die Entwicklung von Literaturausstellungen nachvollziehen zu können, unternimmt Danielczyk zunächst eine sozialgeschichtliche und politische Kontextualisierung. Sodann stellt sie drei Herangehensweisen an Literaturausstellungen vor, die unterschiedliche Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Materialität und Immaterialität von Literatur aufzeigen. Anhand von Fallbeispielen werden Literaturausstellungen erstens als Übersetzung von Literarischem, zweitens als Schaufenster der Literatur und drittens als deren Inszenierung in den Blick genommen. Der Beitrag liefert ein Plädoyer für Literaturausstellungen, die sowohl mit der Materialität literarischer Erscheinungsformen arbeiten als auch den Anspruch verfolgen, Literatur mit ihren spezifischen Erzählweisen, performativen Aspekten und ästhetischen Formen zugänglich zu machen.

Daniela Strigl betrachtet die Räume der Literaturvermittlung aus der Perspektive der Literaturkritik und gibt so aufschlussreiche Einblicke in den Literaturbetrieb wie auch in die Mechanismen des Buchmarktes. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die Krise der Literaturkritik, wie sie im Zuge der Zeitungskrise der letzten Jahre und der wachsenden Bedeutung der Laienkritik im Internet ausgerufen wurde. Dass diese Krise nicht nur eine aktuelle Zeiterscheinung darstellt, sondern die Literaturkritik allenfalls in der Dauerkrise steckt, zeigt Strigl pointiert unter Einbeziehung zahlreicher Stellungnahmen von LiteraturkritikerInnen wie Kurt Tucholsky, Sigrid Löffler, Franz Schuh und Klaus Nüchtern. Für Strigl ist die Krise der Kritik vor allem eine Krise der KritikerInnen. Demnach fragt sie in ihrem Beitrag auch nach deren Rollenverständnis: Übt die Kritikerin bzw. der Kritiker das Amt des »Gatekeepers« (Bodo Rollka) im Haus der Literatur aus? Sind die KritikerInnen »Zirkulationsagenten« (Hans Magnus Enzensberger) ihrer selbst? Oder sind sie vor allem Teil der Werbemaschinerie der Verlage? Besteht ihre Aufgabe in einer wohlwollenden Ausleuchtung und sorgsamen Pflege des literarischen Raumes? Oder regulieren sie Diskurse über Texte mit der Macht eines Exekutivorgans? Angesichts der von Strigl skizzierten Typen von KritikerInnen erweist sich die Literaturkritik auch heute, im Zeitalter der Internetforen und UserInnen-Rezensionen, keineswegs als herrschaftsfreier Raum.

Am Beispiel des Bachmann-Preises und des Deutschen Buchpreises fragt Doris Moser danach, was mediale Inszenierungen von Literatur vermitteln, welcher Verfahren sie sich bedienen und welches Potenzial zur Generierung von Aufmerksamkeit diesen zukommt. Vor den Theorien Pierre Bourdieus (1999) charakterisiert Moser den im Medium Fernsehen inszenierten Bachmann-Preis als ständige Neuverhandlung des Regelkonflikts zwischen literarischem und medialem Feld. Eine Analyse von Autorenporträt und Lesung Peter Lichts (2007) weist Aufmerksamkeit als Folge einer gelungenen Kombination von Neuheit und Redundanz aus. Den Deutschen Buchpreis beschreibt der Beitrag dagegen als (Ganzjahres-)Inszenierung mittels unterschiedlicher Medien(partnerInnen) wie Feuilleton, Tages- und Wochenpresse, Online-Portalen etc., deren Feldgrenzen überschreitende Strategie vorwiegend auf Marktexpansion und damit ökonomische Ziele gerichtet sei. Mit Bachmann-Preis und Deutschem Buchpreis – beide inszenieren Moser zufolge weniger die Literatur als den Akt der Literaturvermittlung – nimmt der Beitrag nicht nur eine Instanz, sondern auch Begriff und Anspruch der Literaturvermittlung selbst kritisch in den Blick.

Im zweiten Teil wird das Augenmerk auf die Medialität von Literatur gelenkt. Neben unterschiedlichen Formaten von Literatur, wie sie der Film, das E-Book und die Blogliteratur darstellen, werden medial bedingte Rezeptionsweisen untersucht und ihre Auswirkungen auf Vermittlungsfragen diskutiert.

Im Zentrum des Beitrags von Günther Stocker stehen digitale Lesemedien, die in Hinblick auf deren Materialität wie auch Performativität untersucht werden. Dass E-Book-Reader, Tablet-PCs und Smartphones nicht einfach nur tausende digitalisierte Texte rasch und mit einem einzigen kleinen Endgerät zugänglich machen, sondern auch neue Formen des Umgangs mit Texten und Literatur wie auch neue Formen des Lesens implizieren, zeigt Stocker in seinen medienkritischen Überlegungen, die immer auch durch konkrete Beispiele veranschaulicht werden und empirische Befunde aufgreifen. Um die historische Dimension der medialen Veränderungen deutlich zu machen, werden Analogien aus der Buchgeschichte herangezogen. Besonderes Augenmerk legt Stocker auf Fragen nach der Räumlichkeit alter und neuer Lesemedien: das Verhältnis von Teil und Ganzem, die Grenze zwischen dem einzelnen Text und dem gesamten Schrifttum, die Rolle von Ko- und Paratexten. Diskutiert werden des Weiteren die Funktion der Typografie als Instrument der Lesesteuerung wie auch die unterschiedliche Topografie von gedruckten und digitalen Seiten. Der Beitrag macht deutlich, wie sehr digitale Lesemedien zur Mobilisierung, Vernetzung und Multifunktionalität bzw. -medialität tendieren.

Das autonome Publizieren im Internet bildet den Ausgangspunkt von Christiane Zintzen, die am Beispiel literarischer Blogs darlegt, welch neue Formen der Darstellungen ihrer Ästhetiken und Inhalte es AutorInnen ermöglicht. Anhand des von ihr und Hartmut Abendschein herausgegebenen Literaturportals litblogs.net – Literarische Weblogs in deutscher Sprache, welches 20 AutorInnenblogs, ein Verlagsblog und ein kollaboratives Blog umfasst, zeigt Zintzen die Breite der möglichen »écritures« sowie die höchst diverse Nutzung des Mediums Blog auf. Zintzen skizziert zunächst die Charakteristika des Weblogs an sich und des literarischen Blogs im Besonderen, um darauf aufbauend das Potenzial dieses spezifischen Mediums sowohl für AutorInnen als auch für LeserInnen darzulegen. Dabei zeichnet sie ein Bild vom Blog als eine flexible Form des Publizierens im World Wide Web, die an institutionalisierten Qualitätskontrollen wie beispielsweise einem Verlagslektorat oder der Literaturkritik vorbeischreibt.

Matthis Kepser geht in seinem Beitrag der Bedeutung der Literaturverfilmung für den aktuellen Deutschunterricht nach. Seine Überlegungen setzen bei den in der schulischen Praxis selten friktionsfreien Interferenzen an, die bei der Lektüre eines literarischen Textes und der anschließenden Rezeption der filmischen Adaption entstehen. Der eigene Film im Kopf, den sich SchülerInnen während des Lektüreprozesses im Gedächtnis aufgebaut haben, will mit den Bildern und Narrationen der Verfilmung nicht so recht zusammengehen. Dadurch kommt es zu einem doppelten Film im Kopf, den Kepser am Beispiel der Romane Krabat und Der Vorleser wie deren Filmadaptionen in den Blick nimmt. Mittels statistischer Auswertungen und Inhaltsanalysen untersucht er Internetforen, in denen entsprechende Lektüre- und/oder Kinoerfahrungen mitgeteilt werden. Kepser geht davon aus, dass derartige Äußerungen im Internet nicht nur einen Einblick in die komplexen Zusammenhänge bei der Rezeption von Literaturverfilmungen erlauben, sondern auch für den schulischen Deutschunterricht genutzt werden können. Die damit verknüpften didaktischen Ziele gehen über die bloße Medienreflexion hinaus, geht es doch um Geschmacks- und Urteilsbildung im Sinne einer produktiven Kritikfähigkeit.

Der dritte Teil fokussiert auf performative Räume – also solche, die über andere Kodes als die des (literarischen) Textes funktionieren – wie Theater(aufführung), Improvisationsarbeit, Poetry Slam und AutorInnenlesung.

Die Konkretisierung von (post)dramatischen Leseakten steht im Zentrum des Beitrags von Stefan Krammer. Wurde Theater in schulischen Lernkontexten bislang vor allem über die Lektüre von Dramentexten rezipiert, fordert Krammer Rezeptionsmodelle, die sich mit unterschiedlichen Kommunikationssituationen von Literatur und Aufführung produktiv auseinandersetzen und so Theater im Kopf entstehen lassen. Als Instrumentarium für das Kennen- und Lesenlernen theatraler Zeichensysteme fungiert ein modifizierter theatersemiotischer Katalog nach Fischer-Lichte. Wie SchülerInnen einerseits Lesekompetenz spezifisch für (post)dramatische Texte entwickeln und andererseits die Kunst des Zuschauens theatraler Aufführungen erlernen können, wird anhand von zwei Unterrichtskonzepten vorgeführt. Bei der aufführungsbezogenen Dramenlektüre steht im Gegensatz zu szenischen Verfahren die Erarbeitung von Inszenierungsentwürfen aufgrund genauer Lektüre und Analyse des Dramentextes im Vordergrund; der Transformationsprozess vom dramatischen Text hin zu seiner Aufführung wird am Beispiel von Thomas Bernhard erläutert. Der textbezogenen Aufführungsrezeption, gezeigt an einem Stück Elfriede Jelineks, geht dagegen die Rezeption der Aufführung der Textlektüre voraus. Über die Suche nach theatralen Zeichen der Aufführung entsteht ein sprachlich fixierter dramatischer Text. Hilfsmittel für die Unterrichtspraxis können filmische Aufzeichnungen von theatralen Aufführungen sein.

Susanne Hochreiters praxisorientierter Beitrag fokussiert auf das Potenzial szenischer Methoden für die Vermittlung von Literatur. Als eine Form der Auseinandersetzung, in der körperliches Agieren und emotionale Beteiligung wesentlich sind und die grundsätzlich ergebnisoffen ist, unterstützt und erweitert die Improvisation die (literatur)wissenschaftliche Textarbeit: Indem sie sich in der Gruppe und auf der Ebene der Erfahrung mit Literatur auseinandersetzt, kann sie dazu beitragen, einen Text zu verstehen. Am Beispiel des im Rahmen der Tagung gehaltenen Workshops »Vom Spiel zum Text. Spielen mit Texten« demonstriert Hochreiter die Arbeit an einem zuvor nicht gelesenen Text: Auf Übungen zu Körper- und Raumwahrnehmung, Imaginations- und Ausdrucksübungen folgen variierende Improvisationen und deren Reflexion. In der Auseinandersetzung mit einem den TeilnehmerInnen zuvor bekannten Text folgt der Beitrag der Arbeit von Gitta Martens. Die theatertheoretischen Ansätze einer gedoppelten Körper-Leib-Dualität (Lehmann, Fischer-Lichte) aufgreifend und weiterführend, weist der Beitrag auch auf die Bedeutung mimetischen Lernens für die Deutung von Welt und Wirklichkeit und die Relevanz szenischer (Text)Arbeit für die Konzeption von Identitäten hin.

Wie wird in der Theaterpraxis mit literarischen Texten gearbeitet und wie werden literarische Texte in diesem Medium vermittelt? Diese beiden Fragen bilden den Ausgangspunkt des Gesprächs zwischen der Literaturwissenschaftlerin Pia Janke und der Regisseurin und Theaterpraktikerin Eva Brenner. Die Wichtigkeit von Improvisation akzentuierend, beschreibt Brenner dabei anhand ihrer eigenen Arbeiten jene Transformationsprozesse, die ein Text erfährt, bis er im Rahmen einer Aufführung bzw. Performance (auf Theaterbühnen, aber auch im öffentlichen Raum) szenisch dargestellt wird. Die Regisseurin erläutert ihr Konzept des Transformance-Theaters, dessen Intention die radikale Öffnung des Theaters zur Inklusion benachteiligter Personengruppen (wie zum Beispiel MigrantInnen oder sozial benachteiligte Personen) ist, und übt dabei Kritik an »neoliberalen Entwicklungen« in den Bereichen Kunst und Kultur.

Wiebke Dannecker fokussiert auf Slam Poetry/Poetry Slams als (jugend)kulturelles Phänomen. Der erste, kulturwissenschaftliche Teil des Beitrags skizziert die Entstehung von Poetry Slams und die Besonderheiten dieses Formats über produktions- und rezeptionsorientierte Faktoren (insbes. Text, Performance, Veranstaltungsmodus). Mit Begriffen wie »Theatralität«, »Inszenierung« und »Performanz« folgt Dannecker neueren theaterwissenschaftlichen Ansätzen, insbesondere den Arbeiten Fischer-Lichtes; illustriert werden ihre Überlegungen durch mehrere Beispiele. Die Potenziale von Slam Poetry/Poetry Slams im Bereich schulischer Literaturvermittlung stehen im Zentrum des 2. Teiles, der produktionsorientierte Inszenierungsmuster (selbst Texte schreiben und diskutieren; Slam Performances untersuchen und reflektieren) für den (Deutsch)Unterricht vorstellt, der sowohl die sprachästhetische als auch die performative Gestaltung der Slam-Beiträge in den Blick nimmt und zu einer selbstständigen Auseinandersetzung mit literarischen Texten anregen kann.

Fragen nach der zeitgemäßen Gestaltung literarischer Leseformate und der adäquaten Nutzung (neuer) technischer Möglichkeiten für AutorInnenlesungen sowie die Beobachtung, dass Lesungen zunehmend auch intermedial arbeiten, stehen am Beginn des Gesprächs zwischen Meri Disoski und Michael Stavarič. Neben der (Selbst-)Inszenierung von AutorInnen sowie der Ökonomisierung von Literatur wird im Verlauf des Gesprächs vor allem die/der AutorIn als literaturvermittelnde Figur thematisiert. Anhand seiner eigenen Arbeit erläutert Stavarič, der neben dem Verfassen belletristischer Titel auch Kinderbücher schreibt und als Übersetzer tätig ist, exemplarisch, welche Möglichkeiten der Literaturvermittlung AutorInnen zur Verfügung stehen.

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