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EINFÜHRUNG

Kirche auf der Fährte des Galiläers

Roland Hardmeier

Einleitung

Die Welt verändert sich. Wie stark, das ist vielleicht gar nicht allen von uns bewusst. Als ich 1965 geboren wurde, holte die Polizei in Zürich noch Konkubinatspaare aus den Betten und zeigte sie wegen Sittenlosigkeit an. In der Welt von heute hat man dafür nur noch ein müdes Lächeln übrig.

Hat die Kirche in dieser Welt eine Zukunft? In Europa steigt die Zahl der Konfessionslosen stetig an. Die großen Landeskirchen verlieren Mitgliederzahlen. Viele Freikirchen stagnieren. Das Christentum wird als eine alt gewordene Religion empfunden, die nicht in unsere Welt der Toleranz passt. Die Kirche ist für die Kleidersammlung und fürs Kerzenziehen da. Kaum jemand traut ihr zu, einen Beitrag zu den großen Fragen der Gegenwart zu leisten.

Aber es gibt auch innovative Kirchen, die sich erfolgreich gegen den Ausverkauf des christlichen Glaubens zur Wehr setzen. Sie wachsen und sind für postmoderne Menschen attraktiv. Dieses Buch zeigt, was diese Kirchen richtig machen. Ihr Beispiel motiviert und regt zur Nachahmung an.

Zu den wichtigsten Fragen, welche die Kirche der Zukunft klären muss, gehört die Frage, in welchem Verhältnis sie zur Kultur steht, in der sie existiert. Muss sie sich kulturell anpassen, um gehört zu werden? Oder sollte sie eine Gegenkultur aufbauen? Oder die Gesellschaft mit christlichen Werten zu transformieren versuchen? Nicht umsonst sind diese und ähnliche Fragen in der Diskussion um die missionale Kirche zentral. An diesen Fragen entscheidet sich, ob die Kirche der Zukunft lebenstauglich ist oder nicht.

Natürlich weiß niemand, wie die Kirche der Zukunft aussieht. Aber erahnen kann man es. Die Kirchen, die in diesem Buch vorgestellt werden, verbinden gewisse Konstanten, die entscheidend dafür sind, dass sie ihren Auftrag erfolgreich gestalten. Es ist nicht erstaunlich, dass sich diese Konstanten schon im Neuen Testament finden. Auf den folgenden Seiten möchte ich die Herausforderungen der Zukunft mit Einsichten aus dem Neuen Testament in Verbindung bringen. Der Blick auf Jesus und die Urkirche soll helfen, herauszuarbeiten, welche Konstanten die Kirche lebenstauglich für die Zukunft machen.

Einladende Kirche

Ich bin überzeugt, dass die Kirche der Zukunft eine einladende Kirche ist, eine Kirche, die eine Willkommenskultur für postmoderne Skeptiker entwickelt und diese mit Überzeugung lebt. In einer einladenden Kirche spüren die Menschen, dass das Evangelium seinem Wesen nach keine Forderung, sondern eine Einladung ist – eine Einladung, am Fest teilzunehmen, das Gott ausrichtet (Mt 22,1ff), eine Einladung an die Mühseligen und Beladenen, bei Jesus zur Ruhe zu kommen (Mt 11,28–30) und ein Leben in Fülle zu finden (Joh 10,10). Wenn wir das Evangelium so präsentieren, wie Jesus es gegenüber den Sündern tat, wird sein gewinnender Charakter offenbar werden.

Einer der Vorwürfe, die am häufigsten gegen die Kirche erhoben werden, besteht darin, dass die Kirche verurteilend ist. Wir werden nicht selten an den Dingen erkannt, die wir ablehnen. Es entsteht der Eindruck, der christliche Glaube bestehe im Wesentlichen in der Ablehnung von Dingen, die dem postmodernen Menschen Spaß machen oder für ihn selbstverständlich sind. Es ist nicht möglich, mit der Botschaft des Evangeliums die Zustimmung aller zu gewinnen, aber es ist möglich, die Botschaft so zu leben, dass ihr gewinnender Charakter erkannt wird. Das gilt nicht nur für den einzelnen Christen, sondern auch für die Kirche und ihre soziale Gestalt, etwa den Gottesdienst.

Wie eine einladende Kirche konkret aussieht, wird je nach Kontext, in dem sie gebaut wird, anders aussehen. Hier gibt es viele ortsbedingte Variablen, die Gestaltungsspielraum eröffnen. Aber auch gewisse Konstanten verbinden einladende Kirchen miteinander. Eine der wichtigsten Konstanten einladender Kirchen ist, dass die kulturellen Hindernisse, die es zu überwinden gilt, um Teil von ihnen zu sein, gering sind.

Das beste neutestamentliche Beispiel für eine einladende Kirche ist die Gemeinde von Korinth. Wenn man 1Kor 11–14 liest, fällt auf, dass sich der gesamte Abschnitt um das Verhalten im Gottesdienst dreht und dass der Gottesdienst ähnlich verlief wie ein antikes Gastmahl.

Wann immer sich Menschen in der mediterranen Welt zu einem religiösen oder sozialen Anlass trafen, stand das Gemeinschaftsmahl im Mittelpunkt. Das Gastmahl war eine feste gesellschaftliche Einrichtung mit standardisierten Regeln und Abläufen. Es verlief durchweg zweiteilig: Der erste Teil bestand in der Deipnon genannten Sättigungsmahlzeit, bei der kräftig zugelangt wurde. Das Mahl endete mit einem den Göttern geweihten Trankopfer und einer gemeinsam gesungenen Hymne. Damit wurde zum zweiten Teil übergeleitet, dem Symposion. Jetzt wurde reichlich Wein getrunken, Trinksprüche gehalten, sich mit Würfelspielen unterhalten und über Gott und die Welt wortreich diskutiert. Jeder hatte etwas beizutragen und wurde in der Regel auch angehört. Dass es bei reichlich vorhandenem Wein nicht immer ordentlich zu- und herging, liegt auf der Hand. Zu diesem Zweck wurde das Symposion von einem Bankettmeister geleitet, dem Symposiarchen. Er legte Rederechte fest und sorgte dafür, dass der Anlass ordentlich verlief.

Wenn man 1Kor 11–14 mit diesen Daten abgleicht, geht hervor, dass Paulus den Gottesdienst in Korinth als christliche Variante des antiken Gastmahls konzipierte. Es gelang Paulus, einen Gottesdienst-Typus mit hoher kultureller Relevanz zu kreieren. In Jerusalem hätte er damit aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Erfolg gehabt, aber in Korinth erwies er sich als lebenstauglich.

Paulus macht uns in 1Kor 11–14 vor, was es heißt, Kirche mit Rücksicht auf den Kontext zu bauen. Er tritt als Symposiarch auf und versucht, Ordnung in den korinthischen Gottesdienst zu bringen. Offensichtlich verlief der Gottesdienst nach dem Muster des antiken Gastmahls als zweiteilige Veranstaltung: Zuerst erfolgte eine gemeinsame Mahlzeit, die mit dem Herrenmahl abgeschlossen wurde. Paulus behandelt dieses Thema und die entsprechenden Probleme in Kapitel 11. Die Reichen stopften sich voll und die Armen gingen leer aus (1Kor 11,21). Der reichlich vorhandene Wein führte dazu, dass einige betrunken waren, als man zum Herrenmahl überging (1Kor 11,21–23). Es handelt sich um die gleichen Probleme, die bei antiken Gastmählern auftraten. In Kapitel 12 hält Paulus den Grundsatz fest, dass jeder mit seinen Gaben zum Aufbau der Gemeinde beitragen kann und soll. Und in Kapitel 13 ermahnt er, dass alles in Liebe geschehen muss, denn diese war der charismatischen Überflieger wegen Mangelware im korinthischen Gottesdienst. Damit ist Kapitel 14 gedanklich vorbereitet, in welchem deutlich wird, dass der zweite Teil des korinthischen Gottesdienstes dem griechischen Symposion entsprach. Jeder konnte etwas beitragen – ein Psalm, eine Sprachenrede, ein prophetisches Wort (1Kor 14,26ff). Dabei traten dieselben Probleme auf wie bei den antiken Symposien: Rederechte mussten erstritten werden und es musste dafür gesorgt werden, dass alles ordentlich ablief (1Kor 14,27ff).

Als Jude wäre es für Paulus naheliegend gewesen, den Gottesdienst in Korinth als christliche Variante des Synagogengottesdienstes zu kreieren, der zur Zeit des Paulus liturgisch geprägt war. Doch genau das tat Paulus nicht. Weshalb? Er war sich mehr als jeder andere bewusst, dass das Evangelium im griechisch-römischen Kontext heimisch gemacht werden musste, wenn es verstanden werden wollte. Und so entwickelte Paulus einen an antike Gepflogenheiten angepassten Gottesdiensttypus, der für Griechen einladend war.

Die kulturellen Hindernisse, die ein zum Gottesdienst Eingeladener überwinden musste, waren sehr gering. Wenn ein Korinther von einem christlichen Bekannten zum Gottesdienst eingeladen wurde, erlebte der Besucher nichts grundsätzlich anderes als bei jedem anderen Gastmahl, zumindest was die Form des Anlasses betraf. Er war vertraut damit, dass zuerst eine gemeinsame Mahlzeit erfolgte, ebenso, dass nach der gemeinsamen Mahlzeit zum Symposion übergegangen wurde und jeder etwas beitragen konnte. Es war für ihn das Natürlichste der Welt, wenn jemand einen Gedanken oder einen Eindruck weitergab oder ein Lied anstimmte. Diese Elemente gehörten zu jedem antiken Gastmahl. Der Inhalt des Gesagten war für den Besucher dann freilich neu. Die Gebete beim Herrenmahl richteten sich nicht an die Götter, sondern an Jesus Christus. Inhaltlich war der Gottesdienst ganz dem Evangelium von Jesus Christus verpflichtet. Was die Form der Zusammenkunft betraf, mussten hingegen keine kulturellen Hindernisse überwunden werden, was entscheidend war. Der Gottesdienst in Korinth war keine geschlossene Veranstaltung, die in einer christlichen Subkultur gelebt wurde, sondern ein offenes Ereignis mit einladendem Charakter.

Unsere postmoderne Kultur entfernt sich immer mehr von christlichen Grundsätzen. Gerade deshalb ist es nötig, dem Beispiel des Paulus zu folgen und Gottesdienste zu kreieren, die sich in ihrem Inhalt am Evangelium orientieren, von ihrer Form her für den postmodernen Menschen hingegen zugänglich sind. Heute kann man beobachten, dass jene Kirchen anziehend auf ihr Umfeld wirken, die große Anstrengungen unternehmen, kulturell relevante Gottesdienste zu kreieren. Das halte ich mit Blick auf den Apostel Paulus für zukunftsweisend. Die Kirche der Zukunft achtet um der Liebe zu den Menschen willen darauf, dass die Form, in der sie das Evangelium erfahrbar macht, kein Hindernis darstellt, und wird wie Paulus Wege finden, dass das gottesdienstliche Geschehen nahe am Puls der Zeit ist.

Sprachfähig werden

Die Kirche der Zukunft muss sich auf die Fährte von Jesus Christus setzen lassen, auf seinen dienenden Charakter, seine revolutionäre Liebe zu den Menschen und nicht zuletzt auf seine Art, das Evangelium vom Königreich Gottes zu proklamieren. Jesus redete eine Sprache, die jeder Mann und jede Frau verstand. Seine Botschaft vom Königreich unter den Menschen traf sie mitten ins Herz, weil sie fassbar war und neugierig machte. Jesus war ein Meister im Erzählen von Kurzgeschichten. Seine Gleichnisse konnten von seinen Zuhörern sofort in ihre Lebenswelt übertragen werden. Eine Gelehrtensprache sucht man bei Jesus vergeblich, auf theologische Fachbegriffe verzichtete er. Stattdessen verwendete er eine einfache, bildreiche Sprache, in der Hunde und Schweine, Kamele und Nadelöhre vorkamen.

Eine einladende Kirche ist eine Kirche, welche die Sprache der Menschen spricht, zu denen sie gesandt ist. Wenn das Evangelium in einem bestimmten Kontext verständlich gemacht werden will, muss sich die Kommunikation den Zuhörern anpassen. Der erste, der sich in dieser Hinsicht konsequent auf die Fährte des Galiläers machte, war der Apostel Paulus. Als er mit der Botschaft vom Evangelium in die griechisch-römische Welt hinauszog, musste er die Kommunikation seinen Zuhörern anpassen. Viele von ihnen waren gebildet, aber sie waren nicht mit dem Alten Testament vertraut. Ihre Verstehenswelt war die der griechischen Mythen und Legenden. Sie glaubten an die zahlreichen griechischen Götter, die den Himmel bevölkerten. Jahwe, der Gott Israels, und die Geschichte, die er mit seinem Volk schrieb, waren ihnen fremd.

Paulus entwickelte eine erstaunliche Sprachfähigkeit, die für den Erfolg seiner Mission entscheidend gewesen sein dürfte. Es verwundert nur bei flüchtiger Betrachtung, dass in seiner Verkündigung das Königreich, das bei Jesus das Herzstück seiner Botschaft war, nicht dieselbe zentrale Rolle spielte (Mk 1,14–15). Der Grund dafür lag in der Kommunikation des Evangeliums. Ein Grieche in Korinth war mit der Botschaft von der Basileia Gottes nicht vertraut. Dennoch lautete die grundlegende Botschaft des Evangeliums, dass das Königreich nahe war und eine Umkehr des Herzens der Gesinnung verlangte. Paulus stand vor einer Herausforderung: Wie konnte er der Botschaft von Jesus treu sein und gleichzeitig von seinen Zuhörern verstanden werden? Wie das, wenn sie doch kein Verständnis von der Königsherrschaft und des Bußrufs der Propheten Israels hatten?

Paulus fand ein Äquivalent zur Basileia Gottes im griechischen Kyrios-Begriff. Das grundlegende Glaubensbekenntnis der ersten Christen im griechisch-römischen Raum war kyrios Iäsous (Herr [ist] Jesus). Diesen Anspruch vermochte jeder römische Bürger sofort zu verstehen. Denn der unumstrittene Kyrios war der römische Kaiser, der göttliche Verehrung beanspruchte. Jesus als Herrn zu bekennen, bedeutete eine Abkehr vom Glauben, dass der Kaiser Herr und Gott auf Erden ist, und eine Absage an den politischen Messianismus Roms. So wie Jesus mit seiner Botschaft vom Königreich zu Buße und Glauben gerufen hatte, tat es Paulus mit seiner Botschaft, dass Jesus der Kyrios ist. Zweifellos war Paulus der sprachfähigste Missionar der Urkirche, als es darum ging, Grenzen zu überschreiten und das Evangelium in einem neuen Kontext verständlich zu machen.

Jede Zeit hält ihre besonderen Herausforderungen bereit, wenn es darum geht, das Evangelium zu verkündigen. Die Postmoderne mit ihrer radikalen Pluralität bildet den großen kulturellen Rahmen, in dem es in der Zukunft gilt, das Evangelium zu den Menschen zu bringen. Alles ist erlaubt, nichts ist mehr klar. Jeder lebt mit seiner eigenen individuellen Wahrheit. Grundlegende biblische Begriffe wie Sünde, Zorn und Sühne werden kaum noch verstanden.

Nun sind diese Begriffe aber so zentral, dass wir nicht auf sie verzichten können. Also müssen wir sie gebrauchen und erklären. Das gilt auch für Begriffe und Themen, die politisch nicht korrekt sind. Eine Predigt über die Hölle etwa wird heute als Rückfall in das finstere Mittelalter empfunden. Das Thema ist selbst für Christen peinlich, sodass man lieber nicht davon redet. Gewiss, die Hölle muss die Hitliste der zu verkündigenden Themen nicht anführen, damit das Predigtmenü das Prädikat biblisch verdient. Aber darauf verzichten kann man auch nicht. Denn wenn am Ende nicht die Möglichkeit besteht, ewig von Gott getrennt zu sein, gibt es nichts, wovon uns das Evangelium retten müsste. Das aber wäre die Kapitulation vor dem Zeitgeist. Wir reden dann noch, wortreich und aufgeschlossen vielleicht, aber wir haben nichts spezifisch Christliches mehr zu sagen.

Was ist zu tun? Um sprachfähig zu werden, müssen wir ausgetretene Wege verlassen und uns darauf besinnen, wie das Evangelium den Menschen unserer Zeit verständlich gemacht werden kann. Wir stehen hier vor derselben Herausforderung wie Paulus damals. Um beim Beispiel der Hölle zu bleiben, könnte man dieser Herausforderung begegnen, indem man die Hölle nicht vordringlich mit dem Argument der Bestrafung zu erklären sucht, sondern mit unserem Bedürfnis nach Gerechtigkeit in Verbindung bringt. Diese Argumentationsschiene bietet sich geradezu an, wenn man die gesamtbiblische Story ins Blickfeld nimmt und sie mit der Lehre vom Jüngsten Tag verbindet.

Für viele Menschen ist die Hölle das Gegenteil von Liebe. Sie können sich vorstellen, an einen Gott der Liebe zu glauben, aber nicht an einen Gott, der Menschen in die Hölle wirft. Sie gehen davon aus, dass die Hölle das Gegenteil von Liebe ist, aber die Hölle ist nicht das Gegenteil von Liebe, sondern von Ungerechtigkeit.

Die Bibel lehrt, dass Gott die Welt am Jüngsten Tag in Gerechtigkeit richten wird (Offb 20,11–15). Gott wird jedem einzelnen Menschen, der je über diese Erde gegangen ist, geben, was seine Taten wert sind (Röm 2,6). Im Grunde genommen ist es genau das, worauf wir alle hoffen. Ob Christen oder Moslems, ob Agnostiker oder Atheisten – wir alle wünschen uns eine Welt der Gerechtigkeit. Ohne Gott ist das bloße Utopie und die Folge davon eine nihilistische Weltanschauung. Wenn es keinen Gott gibt, gibt es keine Gerechtigkeit und dann macht das Leben keinen Sinn. Der französische Schriftsteller Albert Camus, der kein Christ war, sagte, dass nichts von Wichtigkeit sei, wenn man an nichts mehr glauben könne. Ob man das Feuer der Krematorien schüre oder sich der Pflege der Leprakranken widme, sei völlig unerheblich. Nach Camus ist ein solches Leben absurd. Wenn es keinen Gott gibt, wäre die Menschheitsgeschichte in der Tat eine sinnlose Anhäufung von Ungerechtigkeit und Brutalität. Eine solche Vorstellung ist im Grunde genommen unerträglich.

Die Lehre vom Jüngsten Tag ist die biblische Antwort auf die Unerträglichkeit der nihilistischen Weltanschauung. Eines Tages wird Gott im ganzen Universum Gerechtigkeit schaffen. Keine Untat wird übersehen werden (Röm 2,8–9), kein Becher kalten Wassers wird unbelohnt bleiben (Mt 10,42). Wenn Gott Menschen die Tür zum ewigen Leben auftut und andere in die Gottesferne entlässt (Mt 25,46), wird erstmals auf der Welt Gerechtigkeit herrschen und die neue Welt Gottes kann anbrechen (2Petr 3,13). Das eigentliche Thema der Hölle ist nicht blindwütiges Strafen, sondern die Wiederherstellung von Gerechtigkeit.

Gewiss, wir werden nicht alle Leute auf diesem Weg erreichen. Das Evangelium bleibt für viele barer Unsinn (1Kor 1,23). Eine Sprachfähigkeit zu entwickeln, bedeutet nicht, das Evangelium bis zur Unkenntlichkeit anzupassen. Das Evangelium ist eine Einladung. Wenn wir das Evangelium aber nur noch als das verkündigen und über Sünde, Vergebung und Gottes gerechten Zorn schweigen, lassen wir das Evangelium durch den Weichspüler, bis wir nicht mehr wissen, warum es eigentlich gute Nachricht ist. Es wird dann zu einem Sammelsurium von narrativen Episoden und wir werden wahrscheinlich auch vom Reich Gottes und vom König Jesus sprechen, aber wir werden nicht mehr am Kern des Evangeliums sein und es schlussendlich wortreich verraten haben. Es geht also nicht um eine inhaltliche Verkürzung des Evangeliums, um es annehmbar zu machen. Es geht darum, den Leuten aufs Maul zu schauen, wie es Martin Luther sagte, und ihnen auf intelligente, relevante und verständliche Art und Weise das Evangelium zu präsentieren.

Kirche mitten in der Welt

Wenn die Kirche sich auf die Fährte des Galiläers setzen lässt und ihm konsequent folgt, wird sie zu einer inkarnatorischen Kirche. Kaum etwas ist für die Zukunft von größerer Wichtigkeit als das. So wie Jesus in seiner Inkarnation (Menschwerdung) ein Teil dieser Welt wurde, an ihr litt, sie durchschaute, vor allem aber ihr diente, so muss die Kirche, wenn sie lebenstauglich sein will, mitten in der Welt und Kirche für die Welt sein.

Zu den vordringlichsten Aufgaben auf dieser Spurensuche gehört es, die sozialethische Lähmung zu überwinden, welche namentlich die sogenannten Bibeltreuen im 20. Jahrhundert befallen hat, als man sich aus der Welt in die private Tugendhaftigkeit verabschiedete.

Der frühe Evangelikalismus zeichnete sich durch das Zusammengehen von Wort und Tat aus. Das gilt nicht nur für den angelsächsischen Evangelikalismus, sondern auch für den deutschen Pietismus. Die Frucht ihres ganzheitlichen Bemühens war die Errichtung von sozialen Einrichtungen, der Aufbau von Schulen und im britischen Empire die Abschaffung der Sklaverei. In der sogenannten großen Wende zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerbrach dieses Miteinander.

Heute ist im deutschsprachigen Europa eine Rückkehr zu diesen Wurzeln sichtbar. Immer mehr Kirchen bemühen sich darum, den Menschen mit Wort und Tat und damit ganzheitlich zu dienen. Die Kirchen der Zukunft haben damit bereits begonnen. Dabei geht es nicht darum, etwas zu tun, um gehört zu werden. Es geht nicht um einen Marketingtrick, weil wir es uns nicht leisten können, sozial im Abseits zu stehen. Es geht um die Wiederentdeckung der Ganzheit des Evangeliums. Noch sind nicht alle Teile der evangelikalen Gemeinschaft aus der babylonischen Gefangenschaft einer bürgerlichen Weltanschauung befreit, aber ein Anfang ist gemacht. Die missionale Theologie ist Anstifterin dazu und kritische Begleiterin auf diesem Weg. Sie wird auf diesem Weg Fehler machen, vielleicht mal über das Ziel hinausschießen, aber dennoch wichtige Impulse vermitteln. Das darf zuversichtlich stimmen für die Zukunft.

Im Westen ist die Religion weitgehend aus der öffentlichen Debatte verschwunden. »Schön, wenn dein Glaube dir hilft«, lautet das Motto. Glaubensfragen muss jedes Individuum selbst beantworten. Allgemeingültige Antworten kann es in der Welt der Postmoderne nicht geben. Wenn der Versuch trotzdem unternommen wird, empfindet man das als moralisierend. Glaubensfragen sind für viele Menschen sekundär und eine Sache des persönlichen Geschmacks. Sie sind auf der gleichen Stufe anzusiedeln wie musikalische Präferenzen oder die Frage, ob man lieber bei Migros oder Aldi einkauft. Kaum jemand fragt noch wie Martin Luther vor 500 Jahren, ob er einen gnädigen Gott bekommen kann. Die Frage, ob Jesus Christus leiblich auferstanden ist, ist für die meisten Zeitgenossen weniger wichtig als die Frage, wer die Champions League gewinnt.

Hat die Kirche in dieser Welt der Belanglosigkeiten eine Zukunft? Hat sie etwas zu sagen, das alle angeht? Es ist verlockend, sich angesichts dieser Situation in einen beschaulichen Eigenheimpietismus zurückzuziehen, wo man sich bequem einrichten kann und Pastoren geistliche und psychologische Bedürfnisse zufriedenstellen. Aber das ist keine Option für eine Kirche, welche die Kirche von Jesus Christus sein will. Denn so, wie er in der Welt war, ist auch sie in der Welt. Das bedeutet, immer wieder die Entscheidung zu treffen, den aufreibenden Mittelweg zwischen Beschaulichkeit und Anpassung zu gehen. Beschauliches Christsein kann es nicht geben, weil das Evangelium mitten in die Welt gehört. Angepasstes Christsein kann es nicht geben, weil die Botschaft des Evangeliums mitsamt seinen anstößigen Elementen auch heute gehört werden muss.

Der Urkirche waren Herausforderungen dieser Art bestens bekannt. Die antike Welt war im Grunde genommen pluralistisch, allerdings nur, solange der messianische Anspruch des Staates nicht infrage gestellt wurde. Die ersten Christen hätten nur auf den Satz »Jesus ist der Herr« verzichten müssen und sie hätten sich die Auseinandersetzung mit dem römischen Kaiser ersparen können. Sie hätten sich darauf verständigen müssen, dass ihr Glaube der persönlichen Erbauung dient und den Verehrungsanspruch des Kaisers nicht tangiert, und sie wären völlig sicher gewesen. Doch genau das taten sie nicht, denn es wäre eine Verleugnung ihres Glaubens gewesen, der besagt, dass Jesus der Herr ist.

Dass der Glaube eine öffentliche Angelegenheit ist, war keine Erfindung der Urkirche, sondern geht auf Jesus zurück. Jesus beschränkte sich nicht darauf, die Menschen aufzufordern, an das Evangelium zu glauben. Er rief nicht zu einer Gotteserfahrung, welche die Gläubigen in eine geistliche Welt entführte, in welcher man seinen Frieden fand, weil man sich nicht um die Belange der Gesellschaft kümmerte. Jesu Predigtmenü reichte von den großen religiösen Fragen (ist Scheidung erlaubt? – Mt 19,2–12) über aktuelle gesellschaftliche Fragen (wie geht man mit dem Abschaum der Gesellschaft um? – Lk 15,1–32) bis zu den brennenden politischen Fragen seiner Zeit (wie verhält man sich gegenüber seinen politischen Unterdrückern? – Mt 5,41; soll man dem Kaiser Steuern zahlen? – Lk 20,20–26).

Die Kirche muss sich auf die Fährte des Galiläers setzen lassen, wenn sie nicht in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit versinken will. Christen folgen ja einem Propheten, der sich eingemischt hat. Jesus war ein Störenfried der Mächtigen. Es war Lesslie Newbigin, der Spiritus Rector der Missional Church, der in den 1980er-Jahren darauf hingewiesen hat, dass die Kirche die Einschränkung ihrer Rolle auf den privaten Sektor niemals hinnehmen darf. Zweifellos hat er damit Jesus und die Urkirche auf seiner Seite. Und er hat damit der Kirche den Weg gewiesen, den sie zu gehen hat.

Kreuzen am Wind

Alles das macht deutlich, dass die Aufgabe, die vor der Kirche liegt, herausfordernd und voller Unwägbarkeiten ist.

Bei einem Marathonlauf über 42 Kilometer holen die Läufer die letzten Reserven aus sich heraus. Als Hilfe dient ihnen eine blaue Linie am Boden, der sie stur folgen, um direkt auf das Ziel zuzulaufen. Das Rezept ist quasi simpel: Einfach so schnell wie möglich der blauen Linie folgen und nicht darüber nachdenken, was links und rechts von ihr liegt.

Wenn es um den Bau der Kirche geht, gibt es so etwas wie eine blaue Linie nicht. Es wäre verlockend, eine solche zu haben (und manche denken, es gäbe sie), denn dann müsste man ihr nur treu folgen und wir kämen ans Ziel. Aber es reicht nicht, einfach nur treu zu sein und die Dinge so zu machen, wie man sie schon immer gemacht hat. Wir müssen nicht nur treu sein in der Ausführung unsere Auftrags, wir brauchen ebenso Umsichtigkeit, Weisheit und Kreativität.

Für die Kirche der Zukunft bietet sich ein anderes Bild an. Kirche der Zukunft zu bauen, ist wie Kreuzen am Wind auf offener See. Mal kommt der Wind von hier, mal von dort. Ihn vorauszusagen, ist schwierig und manchmal unmöglich. Darauf muss man weise und schnell reagieren und wissen, wie man die Segel richtig setzt. Man muss erkennen, welcher Wind der Wind des Zeitgeistes ist und wo der Heilige Geist weht. Was heute funktioniert, funktioniert in 20 Jahren vielleicht nicht mehr. Der Wind kann drehen, ja er wird drehen, und wir haben bereit zu sein.

Die Unwägbarkeiten der Zukunft verlangen danach, fest in der Welt des Evangeliums verwurzelt zu sein und ebenso in der Welt, in welcher Kirche gebaut wird, zu Hause zu sein, sodass man die beiden Welten miteinander verbinden kann. Wo dies geschieht, kann die Kirche in der Zukunft nicht nur überleben, sondern Zukunft auch gestalten.


BIOGRAFISCHES

Dr. theol. Roland Hardmeier, Jahrgang 1965, verheiratet mit Elisabeth Hardmeier-Gurtner. Von 1995 bis 2010 Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Autor mehrerer Bücher, selbstständiger Dozent und Referent, Dozent bei IGW.

Kontakt: rha@roland-hardmeier.ch.

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