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Ivan Ertlov: Das Dorf der Anderen

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Vorsichtig, langsam, vor allem aber lautlos schob sich die Marauder durch die dunkle, schwüle Nacht. Mit nicht einmal Vierteldampf, und damit nur einem Bruchteil der zwölftausend Pferdestärken, die die beiden Kessel auf die Schrauben bringen konnten. Ihre größten Stärken, Geschwindigkeit und Wendigkeit, konnte sie so nicht ausspielen. Dafür durchquerte sie den Luftraum leise.

Captain Fowler nickte im Zwielicht der abgedunkelten Gondel seiner ersten Offizierin stumm zu, deutete nach vorne. Der dichte Regenwald unter ihnen war erfüllt mit anderen, fremdartigen, teilweise bizarren Geräuschen.

Lieutenant Kirwashi verstand ihn auch ohne Worte. Behände warf sie sich den schweren Lederrucksack über die Schultern, klappte das Fenster auf und kletterte auf der Gondel nach vorne, bis auf den breiten Sporn mit dem aufwendig geschnitzten Narwal. Als sie sich mit beiden Beinen fest verankert hatte, schloss sie die Augen und holte tief Luft.

Der wilde, ungezähmte und teilweise noch unkartografierte Regenwald unter ihr verbreitete einen ganz speziellen, würzigen Duft, den sie gierig in ihre Lungen sog. Temperaturen und eine Luftfeuchtigkeit, die ihren europäischen Kollegen Schweißströme von Stirn und Achseln laufen ließen, kümmerten sie nicht. Dies war ihre Welt – oder zumindest eine ihrer Welten. Und im Zweifel zog sie das grüne Herz Indiens jedem britischen Schlosspark im Sommer, jedem noch so extravaganten Landsitz einer ihr nachstellenden Lordschaft vor.

Nein, der indische Subkontinent war ihr Zuhause, ihre Heimat. Aber nicht dieser Teil. Das verbotene Land hatte es ihre Großmutter genannt, unkartografiert nannten es die Eierköpfe der Royal Geographic Society, das Reich der Anderen die für indische Verhältnisse seltsam großwüchsigen, oft grotesk muskulösen Bewohner der wenigen Dörfer am Rand.

Ein Stück Land östlich von Sundarnagar, dichtes, dunkles Grün, überwucherte Ruinen aus längst vergangenen Zeitaltern. Schleichend hatte sich die Stimmung verändert, als sie den beruhigend wegweisenden Godavarai-Fluss hinter sich gelassen und Richtung Norden geflogen waren. Das Grün des Blätterdaches war dunkler, entsättigt, kränklicher geworden, die Schatten und die Dunkelheit darunter dichter, beinahe physisch spürbar.

In Jimalgatta hatten sie das letzte Mal Halt gemacht, Wasser für die Kessel, frisches Fladenbrot und die letzten Gerüchte aufgenommen. Die Blicke, die ihnen die Einheimischen zugeworfen hatten, waren eindeutig gewesen. Hass auf die Kolonialherren bei den einen, ein mitleidiges Bedauern bei den anderen, abhängig davon, wo ihre Loyalität lag. In einem waren sie sich einig: Niemand rechnete damit, die Marauder oder ihre Besatzung wiederzusehen.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, trotz der drückenden, schwülen Hitze. Angespannt öffnete sie den Rucksack und enthob ihm jene Speziallampe, die sich Fowler von einem exzentrischen Erfinder in der Schweiz hatte aufschwatzen lassen.

Fünfundachtzig britische Pfund hatten sie dafür in Zürich auf den Tisch gelegt. Mehr als das Jahresgehalt eines Fabrikarbeiters – und bis heute war sie noch nie zum Einsatz gekommen, hatte noch nie bewiesen, ob sie ihren horrenden Preis wert war. Ungefähr eine Elle hoch, mit einem aufwendig gearbeiteten, handtellergroßen Reflektor, dessen Brennweite mit einer Stellschraube geregelt werden konnte. Solide Schweizer Präzisionsarbeit, keine Frage. Aber das war nicht das Besondere.

Wenn sie wirklich all das vermochte, mit dem der geschäftstüchtige Sprüngli ihrem klugen, aber manchmal zu gutgläubigen Captain das Teil aufgeschwatzt hatte, dann hielt sie nichts weniger als eine Revolution in ihren Händen.

Sorgfältig öffnete sie die Rückseite der Lampe und schraubte einen der kleinen Messingzylinder ein. Ein leises Zischen verriet, dass die Membran durchstoßen war und das Gas in die Brennkammer strömte. Neugierig drückte sie den schweren, aus Horn gedrehten Knopf an der Seite, trieb ein Gestänge im Inneren der Brennkammer an einer Feuersteinplatte vorbei …

… und schnaufte erst mal enttäuscht. Das Gas hatte sich entzündet, wie erwartet, aber es gab kein Feuer, kein Licht, keine Helligkeit – nur ein ganz schwaches Glimmen. Nichts, was der Reflektor bündeln und auf sein Ziel werfen konnte. Zumindest nichts, was der Rede wert war. Allerdings auch nichts, was man vom Boden aus sehen konnte. Gut für sie.

Schulterzuckend zog sie das schwere Teleskop heraus und schraubte den Spezialfilter darauf. Vorsichtig, um das Gewinde nicht zu verschneiden. Ohne den helfenden, leitenden Lichtschein einer echten Fernlaterne, richtete sie die Lampe so aus, als ob sie den Dschungel unter ihr beleuchten wollte. Skeptisch und neugierig zugleich holte sie noch einmal tief Luft und setzte das Teleskop ans Auge.

Ein spitzer Schrei kam über ihre Lippen, ein unwillkürlicher Schreckenslaut, den sie gerade noch nach den ersten Silben abwürgen konnte. Ein Laut, der hoffentlich in den Geräuschen des Regenwaldes unter ihr unterging. Unbewusst war sie zurückgekippt, nur vom gnadenlos klammernden Griff ihrer Schenkel um den Sporn der Marauder in Position gehalten.

Sie sah.

Sie sah, wie noch nie in ihrem Leben zuvor.

Von einem grünlichen Schimmer begleitet, durchbrach ihr Blick die Dunkelheit, bohrte sich tief in jene Schatten, die normalerweise selbst bei hellem Tageslicht undurchdringlich waren. Dort, wo der unsichtbare Strahl des Sprüngliwerfers das Dickicht traf, konnte sie gestochen scharf die Details ausmachen. Nicht nur das, alles Lebendige schien zu glühen, ein diffuses, hellgrünes Licht abzugeben.

Sie sah die leuchtenden Schemen der kleinen Zwerghirsche durch das Unterholz hüpfen, die Silhouette einer mächtigen Raubkatze ihnen geschmeidig folgend. Gelassen, ruhig, ihrer Macht bewusst. Affen schliefen in den Bäumen rechts unter ihr, etwas Langes, Astdickes schlängelte sich durch das Unterholz – nur als vager Umriss zu erkennen, da es die gleiche Strahlkraft wie die Umgebung hatte.

Langsam legte sich ihre Faszination angesichts des technischen Wunders, und sie begann, sorgfältig den Dschungel abzusuchen. Ungefähr zwölf Meilen Nordnordwest lag eine größere Lichtung mit einem Dutzend Häuser. Nicht Hütten, Häusern, offenbar aus Stein erbaut. In diesem Teil des Subkontinents so fehl am Platze, dass sie unwillkürlich die Stirn runzelte. Die Anderen waren tatsächlich anders, und ihr Reich lag unmittelbar vor der Marauder.

Im Nordosten, noch ein gutes Stück weiter entfernt, erkannte sie die Struktur eines mächtigen Bauwerks, vermutlich eines alten Palastes oder einer Tempelanlage. Eine Pyramide, das universelle Bauwerk aller alten Kulturen, jahrtausendelang überwuchert, unter dem Dschungel begraben. Von den weit ausladenden, miteinander verwobenen Baumkronen derart perfekt abgeschirmt, dass niemand ohne ihrer Spezialausrüstung sie erkennen konnte. Langsam dämmerte ihr, dass sie – abgesehen von den Anderen, natürlich – vielleicht der erste Mensch seit Jahrtausenden war, dem ein Blick auf dieses Bauwerk vergönnt war.

Oder auch nicht. Ein kleines Stück dahinter, auf einer Lichtung, die künstlichen Ursprungs sein konnte, erhob sich ein dunkles Gerippe aus dem Boden, ein angsteinflößendes Skelett. Es war jener Anblick, der jedem Luftschiffsfahrer, egal ob Leichtmatrose in der Handelsmarine oder Admiral auf einem Träger Ihrer Majestät, die Angst ins Gebein jagen konnte.

Ein ausgebrannter Zeppelin, ein wahrer Gigant, der hier seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Und dahinter …

… ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, ließ sie frösteln, die Zähne unwillkürlich aufeinanderschlagen. Es war, als revoltierte ihr Körper gegen das, was ihre Augen sahen.

Einen Schemen, einen Schatten, zu einer Form kondensiertes Nichts. Ein Umriss, größer als das Wrack, größer als der Tempel, in ständiger, fließender Bewegung, ein Schwarz in einer Umgebung, die mit ihrer Sehhilfe schwarz nicht kannte, nicht kennen durfte. Jedes Mal, wenn sie versuchte, sich auf die Silhouette zu konzentrieren, zerfloss sie, verwandelte sich und kehrte dann wieder in die Ausgangsform zurück – die eine vage Ähnlichkeit mit einem Elefantenkopf hatte.

Ein leises, sanftes Pfeifen aus der Laterne, ein kurzes Flackern vor ihren Augen – und dann nichts. Schwärze. Dunkelheit. Das Spezialgas war verbraucht, das Wunderlicht, das die Nacht durchbrochen hatte, erloschen. Langsam setzte sie das Teleskop ab und schüttelte den Kopf.

Was genau hatte sie gesehen?

Wahrscheinlich nur eine Sinnestäuschung, einen Streich, den ihr die müden Augen und die langsam versagende Lampe gespielt hatten. Genau. Das musste es sein. Auf keinen Fall durften jene Geschichten ihrer Großmutter einen wahren Kern beinhalten, die sie bis heute zu vergessen versuchte, wenn sie nächstens in ihrer Kajüte lag. Legenden aus Gondwana und Ur, Erzählungen aus der Zeit vor der Vergangenheit, Sagen über Götter, die schon alt gewesen waren, als Ganesh noch nicht erdacht worden war.

Sorgfältig verstaute sie Lampe und Fernrohr in ihrem Rucksack und kletterte zurück ins Innere der auf Sparflamme beleuchteten Kabine. Der Captain erwartete sie bereits, mit gut verborgener Erleichterung darüber, dass sie nicht in das Nichts unter ihnen gefallen war. Und mit kaum verhohlener Neugier, die er mit den beiden speziellen Gästen an Bord teilte.

»Das Teil funktioniert wirklich – ich konnte in der Nacht sehen wie am Tag, wenn nicht sogar besser! Wir haben ein Dorf vor uns, einen bis dato unentdeckten Tempel und, viel wichtiger, auch die Admiral Nelson! Etwas mehr als zwanzig Meilen von hier – vollkommen ausgebrannt.«

In seiner ruhigen, stoischen Art nickte Captain Nicolas Fowler nur kurz, aber ein verräterisches Zucken um den Mundwinkel verriet, dass ihm die Nachricht nicht gleichgültig war. Er hatte sich lediglich besser unter Kontrolle als gewisse andere.

»Bist du dir da sicher, Weib? Die Nelson ist ein Schwerer Kreuzer Ihrer Majestät! Drei Dutzend Kanonen, zwölf Raketenrohre, acht Ornithopter! Wenn sie im Kampf gegen diese Wilden wirklich runtergegangen wäre, wäre der halbe Dschungel verwüstet, wir würden …«

Sie ließ ihn nicht aussprechen. Hatte seine lüsternen Blicke, ebenso wie die herablassenden, ignoriert. Bis jetzt.

»Das heißt immer noch Lieutenant Kirwashi oder First Lieutenant, Commander. Und ja, ich bin sicher. Das Schlachtschiff ist gefallen, und der Regenwald rund um die Absturzstelle sieht reichlich unbeschädigt aus. Vielleicht können wir die Raketen sogar noch bergen.«

Der Zurechtgewiesene blinzelte einen Augenblick lang verwirrt, gefangen in jener Unsicherheit, die so viele Männer erfasste, wenn ihr tadelloses, aristokratisch britisches Englisch ihre dunkle Haut und beinahe schwarzen Augen Lügen straften.

Fähnrich zur Luft Henry Cusack, der blutjunge, schüchterne Adjutant des Offiziers, riss entsetzt die Augen auf. Zu gut kannte der den Jähzorn und die Arroganz seines Vorgesetzten, sah die Katastrophe am Horizont dämmern, wollte reagieren.

Zu spät.

Der graue Schnurrbart zitterte empört im stets etwas aufgedunsen wirkenden, von jahrelangem Ginkonsum gezeichneten Gesicht des Commanders. Man musste keine Hexe aus Siebenbürgen oder ein gesegneter Eremit sein, um seine Gedanken zu lesen. Er, der dritte Sohn des vierten Earls von Irgendwo, der einzige Adelige auf der Brücke, war in seiner Ehre gekränkt. Eine Frau, und noch dazu eine halbe Wilde, ein primitiver Mischlingsbastard, hatte es gewagt, ihm ins Wort zu fallen. Er spie seine nächsten Worte förmlich in den Raum.

»Schweig, Mätze! Das Toleranzpatent Ihrer Majestät gibt dir das Recht auf einen Platz in der Handelsflotte, aber nicht darauf, einen Vertreter der Krone zu unterbrechen. Wer glaubst du eigentlich zu sein …? «

»First Lieutenant Shiara Kirwashi, meine Erste Offizierin und wahrscheinlich der beste Kanonier, der gerade über dem Subkontinent zur Luft fährt. Hat in der zweiten Luftschlacht um London einen preußischen Kreuzer vom Himmel geholt. Als achtzehnjährige Freiwillige, als letzte Überlebende auf einem brennenden Aufklärungszepp, nur mit einem alten Siebenpfünder bewaffnet. Während Sie sicher in Birmingham in der Schreibstube saßen, Commander. Ich weiß alles über Sie, ich habe mein Briefing ernst genommen.«

Shiara blickte zur Seite, auf ihren Captain, der sich zu seiner vollen, imposanten Höhe von mehr als sechs Fuß erhoben hatte. Sie konnte und wollte sich selbst verteidigen, kam aber trotzdem nicht umhin, eine tiefe Dankbarkeit für den alten Luftbären zu empfinden. Ebenso wie für Juri, seinen Heizer und Maschinisten, der sich gerade subtil hinter seinem Captain positionierte. Und den zwei Schritt langen, mehr als zwanzig Pfund schweren Schraubenschlüssel betont entspannt auf die Schulter legte.

Captain Fowlers letzte Anmerkung versetzte dem Offizier Ihrer Majestät eine unsichtbare Ohrfeige. Überraschung und noch mehr Empörung darüber, wie frech und vorlaut diese Zivilisten mit ihm umgingen. Sicher, alle an Bord waren Veteranen des Vierfach-Krieges, aber er war noch in Dienst, Sold und Rang! Niemand konnte ihm …

»Und wenn Sie Ihr Briefing gelesen hätten, Commander, wüssten Sie, dass First Lieutenant Kirwashi die Tochter von Lord Lockerby ist.«

Ein kurzer Anflug von Panik schlich sich in die Augen des Flottenoffiziers, ein Moment des Zögerns, noch mehr Unsicherheit. Fast schien es, als ob er bereit war, sich geschlagen zu geben, es unter in den Bart gemurmelten Verwünschungen gut sein zu lassen.

Der Eindruck täuschte. Zu groß war die Wut, zu unkontrolliert sein Zorn, zu schwach seine Selbstbeherrschung. Höhnisch spuckte er aus. Nicht direkt vor die Füße des Captains oder seiner Ersten Offizierin, aber die Geste ließ keine Zweifel an ihrer Intention. Ebenso wenig wie sein abschätziger Tonfall.

»Eine uneheliche, nicht legitimierte Tochter. Was kümmert es mich, wie viele Mischlingsbastarde der alte Hurenbock irgendwo gezeugt …«

Er kam nicht weiter. Shiara verwandelte sich in einen Schemen, in eine exotisch tänzelnde Furie, deren Bewegungen so schnell waren, dass ihnen kein menschliches Auge folgen konnte. Der erste Schlag einer dunkelbraunen, nur auf den ersten Blick zierlich wirkenden Handkante traf seine rechte Niere, der zweite die linke. Grausame Schmerzen, dem Bürooffizier und Berufssohn ebenso fremd wie ehrliche Arbeit, schossen durch seinen Körper. Er wollte aufschreien, als der nächste Schlag, diesmal mit einem Handballen geführt, sein Brustbein traf.

Paralysiert.

Gelähmt.

Unfähig zu atmen, unfähig, sich zu bewegen, unfähig zu schreien.

Und vor allem nicht in der Lage, den letzten Schlag abzuwehren. Dieser erfolgte langsam, direkt von vorne – und mit einer ganz anderen Intention. Ein sattes Klatschen hallte in der Kabine wider, als die flache Hand Shiaras das rotgeäderte Gesicht, die feiste Wange des Commanders traf.

Eine Ohrfeige, vor aller Augen. Jeder im Raum hielt den Atem an – der Getroffene immer noch unfreiwillig. Erst nach einigen Augenblicken schaffte er es, japsend nach Luft zu ringen. Gekrümmt und keuchend trat er einen schwankenden Schritt weg von der Frau, die ihn derart gedemütigt hatte. Gerne hätte er sich wimmernd den Schmerzen hingegeben, doch seine unbändige Wut ließ ihn schwerfällig zur Waffe greifen.

Nein, er wollte nach seiner Waffe greifen. Diesmal war sein Adjutant auf der Lauer gewesen, hatte all seinen Mut zusammengenommen und verhinderte, was er kommen sah. Beschwörend hielt Cusack den Arm seines Vorgesetzten fest, schüttelte heftig den Kopf.

»Sir, die Mission. Die Mission hat immer Vorrang!«

Commander Pence atmete schwer durch, nickte widerwillig – war aber weit davon entfernt, so zu tun, als ob nichts geschehen wäre.

»Captain, ich verlange, dass Sie einen Eintrag ins Logbuch machen! Diese Wilde hier muss bestraft werden!«

Mit zitterndem Zeigefinger deutete er auf Shiara, die sich wieder in eine entspannte Position zurückgezogen hatte.

Fowler lächelte amüsiert.

»Gerne. Ich werde ins Logbuch eintragen, dass sich der Offizier der Royal Air Navy, der auf mein privates Schiff als Beobachter entsandt war, gegen jeden Anstand und jedes Standesverhalten benahm. Die Mission meines vom Gouverneur um Hilfe gebetenen Zepps dadurch gefährdete, dass er Commodore Lord Lockerby als Hurenbock bezeichnete. Jenen von der Majestät posthum als Commander in den Royal Order berufenen Kriegshelden, der bei der Ersten Luftschlacht um London als Oberbefehlshaber an der Spitze seiner Flotte sein Leben ließ.«

Pence erbleichte.

»So war das nicht gemeint! Natürlich hatte ich nie die Absicht …«

Captain Fowler ließ ihn nicht ausreden. Sein Lächeln war verschwunden, einem harten, gnadenlosen Gesichtsausdruck gewichen.

»Und natürlich, dass meine Erste Offizierin aus Loyalität und Pflichtgefühl gegenüber der Krone und Ihrer Majestät gemäß unseren Gesetzen und Traditionen die entsprechende Genugtuung einforderte. Denn eines sollten Sie wissen: Der Gouverneur der indischen Kronkolonie selbst hat First Lieutenant Kirwashi die Satisfaktionsfähigkeit zertifiziert.«

Die Augen von Pence weiteten sich in blankem Entsetzen, warfen einen raschen Blick auf Shiara. Mit einem kalten Lächeln schob sie ihre Jacke eine Handbreit hoch, zeigte ihre Waffen. Zwei Ordonnanzrevolver, für Flaggenoffiziere hergestellte Sonderanfertigungen. Mächtige Trommeln für das Halbzollkaliber, lange, mehrfach gehärtete Läufe, die Griffe aus aufwendig mit Messing und Gold beschlagenem Elfenbein. Kein Zweifel, sie trug die Waffen ihres Vaters.

Blicke wurden ausgetauscht, Erkenntnisse setzten ein. Commander Mike Pence war vielleicht ein Säufer, ein militärischer Drückeberger, einer jener so verhassten Briten, die ihre Untertanen in fernen Ländern als primitive Halbtiere betrachteten – aber er war kein Idiot. Und vor allem hing er an seinem Leben, genug, um sich zähneknirschend zu verbeugen.

»Das wird nicht nötig sein. Mylady, ich nehme hiermit meine Aussagen zurück und bitte formell um Vergebung.«

Shiara warf dem Captain einen kurzen Blick zu, sah sein Nicken und stimmte ihm im Geiste zu. Natürlich war die Beleidigung nicht einfach so zu tilgen, und ihr wäre ein First Lieutenant lieber als Mylady gewesen, aber in dieser Situation.

»Die Entschuldigung ist angenommen, der Ehre wurde Genüge getan.«

Captain Fowler klatschte in die Hände, sichtlich zufrieden und erleichtert, dass Shiara den Commander nicht hatte erschießen müssen.

»Gut, dann können wir unsere nächsten Schritte planen. Wir müssen die Admiral Nelson untersuchen, keine Frage. Commander, nur so aus Neugierde – warum wurde eine archäologische Expedition von einem Kriegsluftschiff durchgeführt?«

Pence zuckte mit der Schulter.

»Das habe ich das Luftflottenkommando auch gefragt. Streng geheim. Weit über meiner Soldstufe, befürchte ich. Wahrscheinlich waren sie auf der Suche nach antiken Wunderwaffen wie die Atlantis-Expeditionen, oder sie haben eine Kreatur erwartet, wie sie in Kanada gesichtet wurde.«

Der Captain nickte bedächtig, ebenso Shiara. Um den Hastur-Zwischenfall rankten sich immer noch viele Mythen und Legenden, aber eines war gewiss: Zwei gut bewaffnete Luftschiffe, ein Dutzend Ornithopter und drei Kompanien Bodentruppen waren nicht zurückgekehrt. Die Krone stellte die Angehörigen mit verdächtig vagen Mitteilungen und noch viel verdächtigeren, hohen Pensionen ruhig. Wenn sie hier, im Kern des britischen indischen Reiches etwas ähnliches vermutet hatten, dann …

»Wir werden die Unterstützung der Einheimischen brauchen. Zumindest müssen wir unseren Rücken frei halten – eine Horde Stammeskrieger mit Zorn auf Briten ist das Letzte, was wir hier brauchen können. Shiara, ich will, dass du mit ihnen Kontakt aufnimmst, ihnen erklärst, warum wir keine Eroberer, Ausbeuter oder Missionare sind.«

Sie schluckte. Erinnerungen an die Erzählungen ihrer Großmutter, aber auch an geflüsterte Gerüchte, Schauermärchen, von traumatisierten Abenteurern in Tavernen betrunken wiedergegebenen Erlebnissen kamen hoch. Zusammen mit den Bildern, die ihr Geist dazu gemalt hatte. Sie wollte protestieren, den Kopf schütteln, eine Alternative vorschlagen.

Pence kam ihr zuvor.

»Wir könnten auch einfach das Dorf überfliegen, zwei Brandbomben abwerfen und alles niederkartätschen, was aus den Löchern gekrochen kommt.«

Das war keine Alternative, und sowohl der Captain als auch sie selbst funkelten ihn wütend an.

»Das ist kein indisches Dorf, Commander. Das sind die Anderen – und niemand kann sie einfach niederkartätschen. Weder die Maharadschas noch die Krone haben jemals eine erfolgreiche Militärexpedition hierher geführt. Dutzende Missionare, Anglikaner wie Katholiken, sind hier entweder verschwunden oder vom Wahnsinn gezeichnet zurückgekehrt. Der Captain hat recht – wir brauchen zumindest ihre Duldung. Ich werde gehen.«

Pence zuckte mit den Schultern.

»Meinetwegen. Mein Adjutant wird sie begleiten.«

Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er dessen Eingreifen zuvor nicht vergessen hatte – und auch nie vergessen würde.

Dem Fähnrich hingegen war die Angst überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Bleich und zitternd stand er da, der Jüngling, der mit drei, vier Jahren mehr auf dem Buckel wahrscheinlich sogar ansehnlich gewesen wäre. Schlussendlich nickte er gehorsam.

»Anker vorbereiten!«

»Aye, Captain!«

Mit muskelbepackten, rußgeschwärzten Armen drückte Juri die beiden gewaltigen Hebel nach unten. Zischend strömte der Dampf aus den unentwegt befeuerten Kesseln in die Kompressionsröhren, von dort direkt in die dreifach gesicherte Druckkammer des Ankerwerfers. Zweihundert, dreihundert, vierhundert Atmosphären bauten sich auf.

»Anker bereit, Captain!«

Der Skipper nickt zufrieden.

»Feuer!«

Ein dritter, kleinerer Hebel, von Juri mit einem heftigen Ruck an sich gerissen, öffnete das Schlagventil. Auf achthundert Fuß pro Sekunde beschleunigt, vom Dampf zuerst durch das Rohr und dann in das Blätterwerk des Dschungels getrieben, raste die Ankerharpune dem Erdboden entgegen. Zwanzig Pfund gehärteter Stahl durchschlugen Blätter, ließen Äste in Tausende kleiner surrender Holzsplitter zerbersten, spalteten einen ganzen Baum und bohrten sich schließlich mehrere Fuß tief in das Erdreich. Eine kleine Sprengladung trieb die in der Spitze verborgenen Fixierstangen kreisförmig aus.

Die Marauder lag vor Anker, und die schwere, eichengebeizte und mit den Insignien der Freihändler beschlagene Backbordtür ging auf. Juri ließ sorgfältig die Strickleiter bis zum Boden, ehe er Shiara kumpelhaft auf die Schulter klopfte.

Es war Cusack, der als Erster hinabkletterte, mit einer Geschwindigkeit und Eleganz, die ihm Shiara nicht zugetraut hätte. Von den frühen Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne geküsst, mit dem aus dem dichten Grün aufsteigenden Dunst voll würziger, erdiger Gerüche in der Nase, ging es hinab. Mehr als achtzig Schritt vom Ankerpunkt neben einem der Baumriesen bis zu jenem Moment, in dem ihre Füße sanft in das weiche Unterholz sanken.

Anerkennend nickte sie dem Fähnrich zu, dessen Bewegungen auch im Dickicht trittsicher, elegant, geschmeidig wirkten.

»Jiu-Jiutsu? Judo? Oder irgendeine andere dieser fernöstlichen Kampfkünste, die derzeit so in Mode sind?«

Er drehte sich kurz zu ihr um, verstand sofort, was sie meinte, schüttelte jedoch den Kopf.

»Nein, Lieutenant, nur Preisboxen, auf der Akademie. Und … und … Fußball.«

Cusack lief tatsächlich ein klein wenig rot an, als der das letzte Wort herausbrachte. Kein Wunder, dachte Shiara, und musste unwillkürlich grinsen. Fußball galt immer noch als Damensport, als reine Frauendomäne, als ausgesprochen unmännlich – die Feinfühligkeit und Eleganz zum Dribbeln war nun mal den Herren der Schöpfung nicht gegeben. Die wenigen Männerclubs, die es gab, wurden belächelt, verspottet.

Er hatte Mumm, das musste sie ihm lassen. Und reichlich Neugier, wie sie gleich feststellen musste.

»Sie sind wirklich Lord Lockerbys Tochter? Aber war er nicht …?«

Zynisch grinste sie ihn an, während sie mit der Machete einen weiteren armdicken Strang von Schlingpflanzen beharkte.

»Ja, Fähnrich. Er war verheiratet, mit Lady Elenor von Canterbury. Aber liiert war er mit meiner Mutter, während seiner Stationierung hier – und darüber hinaus. Und ich rede nicht von einer Konkubine oder Mätresse, wie es unsere parfümierten Verbündeten in Frankreich zelebrieren. Nach Hindu-Ritus waren sie sogar verheiratet

Zweihundert Meter hatten sie noch vor sich. Sie kamen schneller voran, auch dank des erstaunlichen Geschicks des Fähnrichs. Aber nicht schnell genug, um das Gespräch vorzeitig zu beenden – die Neugier Cusacks war noch lange nicht befriedigt.

»Aber wie …?«

Shiara seufzte und schob sanft eine grün-braune, gefährlich giftig aussehende Schlange zur Seite, die von einem der Äste herabhing.

»Um es in ihrem Fußball-Jargon zu sagen: Lady Elenor spielte für die andere Mannschaft. Ihre Haushälterin – nun, sie ist nicht wirklich ihre Haushälterin. Ich denke, wir können es bei Busenfreundin belassen, ohne unschicklich zu werden.«

Selbst im Augenwinkel konnte sie erkennen, wie der junge Offizier rot anlief, als bei ihm der Groschen fiel.

»Sie und mein Vater waren beste Freunde, von Kindheit an. Irgendwann, in ihrer Jugend, weihte sie ihn ein. Und er versprach, ihr zu helfen, das Geheimnis zu wahren – indem er sie heiratete, zwei Tage, bevor er nach Indien ging. Wo er meine Mutter traf – was Lady Elenor begeisterte. Sie waren beide glücklich, dem Protokoll war Genüge getan, das Tuscheln hinter ihrem Rücken wurde zumindest leiser.«

Cusack nickte verständnisvoll, während er sich mit einem blütenweißen Seidentuch den Schweiß von der Stirn tropfte.

»Das heißt, es war geplant, Sie zu legitimieren?«

Shiara nickte grimmig.

»Klar. Lady Elenor – Tante Elenor für mich – hatte selbst darauf gedrängt, noch bevor sie mich das erste Mal sah. Aber dann …«

»… starb Ihr Vater in der Luftschlacht. Als sorgfältiger Offizier hatte er ein entsprechendes Testament aufgesetzt, aber ohne Debastardisierung ist es nutzlos. Und nun kann nur Ihre Majestät selbst Ihren Namen, Titel und Besitz wiederherstellen. Was wahrscheinlich trotz des Drängens der Lady von Canterbury abgelehnt oder verzögert wird. Unter fadenscheinigen Ausreden, weil niemand zugeben will, dass man keine braune Lady im Adel haben will.«

Shiara blickte ihn verblüfft an. Ihr Respekt gegenüber dem Jüngling fand neue Nahrung.

»Ganz genau. Sie scheinen zumindest schlauer als Ihr Vorgesetzter zu sein, das muss man Ihnen lassen.«

Cusack schnaubte.

»Selbst ein betrunkener Makake ist schlauer als mein Vorgesetzter. Wir sind da.«

Vorsichtig, mit angehaltenem Atem, traten sie betont langsam aus dem grünen Dickicht auf die Lichtung. Sogar mit erhobenen Händen, um ihre Friedfertigkeit zu demonstrieren.

Was vollkommen überflüssig war.

Bereits nach den ersten Schritten schlugen sämtliche ihrer Sinne Alarm, schickten Schauer um Schauer über ihren Rücken. Zum einen war es die Stille – absolute, totale Stille. Kein Geräusch aus dem Dschungel, der eben noch so laut gewesen war, drang an ihre Ohren. Instinktiv griff sie an ihren Expeditionsgurt, holte den Morser hervor. Ein sanfter Druck auf den Taster – doch die Leuchte sprang nicht an. Entweder zu wenig Strom oder keine Verbindung zum Æther. Verärgert klappte sie die kleine Kurbel aus dem glattpolierten Holzgehäuse, machte zehn, zwanzig, dreißig Umdrehungen, genug Ladung für einen halben Liebesbrief. Und trotzdem blieb die Lampe tot. Also tatsächlich keine Verbindung zum Æther.

Auch das Licht schien Mühe zu haben, diesen Ort zu erhellen. Die erste der kreisförmig um die Mitte erbauten Hütten war nur wenige Schritte vor ihnen, die Sonne stand bereits über ihnen – und doch fiel es schwer, Details zu erkennen. Farben als die zu benennen, die sie waren. Ja, sogar die Unterscheidung, wo der Lehm der Wände endete, und das Gras begann, erschien schier unmöglich.

Jedes Mal, wenn Shiara sich auf ein Detail konzentrieren wollte, entglitt es ihr, löste sich in der Umgebung auf. Ein lebendiger, durchsichtiger und doch schwarzer, eindunkelnder Dunst schien über der Lichtung, den Häusern, dem Dorf zu liegen. Ständig in Bewegung, wie ein schwarz gefärbtes, hauchzartes Seidentuch, das über Möbel gezogen wurde.

Aber das war nicht die Ursache des Geruches. Ein süßlicher, anfangs kaum wahrnehmbarer Duft, der schleichend mit jedem einzelnen Schritt mehr und mehr zu einem grauenvollen Gestank mutierte.

Modriger Verfall, verwesender Leichengeruch – und dazu noch etwas anderes, Fremdartiges.

»Es riecht nach Purpur.«

Shiara stutzte. Ihr erster Instinkt war, ihm zu widersprechen. Purpur ist eine Farbe, kein Geruch. Das Problem war nur – er hatte recht. Mitten in diesem widerwärtigen Gestank schwang tatsächlich eine Note von Purpur mit. Für einen kurzen Moment war ihr, als würde sich ihr Verstand auflösen, ihr ganzes Sein in Moleküle zerstäubt in den dunklen Nebel eingehen, der sie umgab. Fluchend schüttelte sie den Kopf und biss die Zähne zusammen. Ein rascher Blick zur Seite, eine Vergewisserung, dass Cusack noch bei ihr war. Der Fähnrich sah aus, als ob er einen Geist gesehen hätte, aber noch setzte er tapfer einen Schritt vor den anderen.

Gemeinsam schritten sie auf die Mitte der Lichtung zu, wo – offenbar als Zentrum des Dorfplatzes – eine Steinpyramide aufgeschichtet war. Unmittelbar um sie herum schien der Einfluss des Nebels schwächer zu sein, und ihre Spitze, rund fünf Meter hoch über dem niedergetrampelten Gras ringsum, bekam sogar sichtbares Sonnenlicht ab. Rasch erkannte sie, dass es sich um einen kleinen Nachbau des Tempels handelte, mit unzähligen, hieroglyphenartigen Runen, die fleißige Hände tief in die Felsblöcke graviert hatten.

»Das ist … das ist vorgriechisch. Nein, noch älter, das ist vorsumerisch.«

Verwundert sah sie zu, wie Cusack mit wachsender Begeisterung, beinahe Verzückung über die Schriftzeichen fuhr.

»Sie können das lesen?«

Er nickte langsam.

»Ich kann es entziffern, mit genug Zeit. Archäologie ist mein Steckenpferd, besonders jene Fachrichtung, die sich mit den versunkenen, vergessenen, verlorenen Kulturen befasst. Atlantis, Ur, Hyperborea – da liegen die wahren Geheimnisse. Und das ist eine Mischung aus – hm, gute Frage. Die meisten Zeichen sind aus dem Ur-Alphabet entliehen, aber die Bildsymbole weisen auf Zamoria hin.«

Shiara blickte sich instinktiv um, fühlte sich beobachtet. Sie waren nicht alleine hier – doch nur sie schien es zu fühlen. Cusack war abgelenkt, nein, mehr als das: Er war förmlich in die bizarre Schrift versunken. Hoffentlich nicht sinnlos.

»Und was bedeuten sie?«

Der Fähnrich runzelte kurz die Stirn, fuhr mit der Spitze seines Zeigefingers beinahe zärtlich über ein letztes Symbol.

»Es ist die Geschichte von Yasha, einem Magier, und seinem ewigen Kampf gegen Yag-Kosha. Aber ich weiß nicht, wer oder was dieser Yag-Kosha war oder …«

»Ein alter Gott, aus fernen Welten. Ein bösartiger Gott, der die Vormenschen, die ihm hier Unterschlupf gaben, verriet und tötete, sogar seinen Lieblingsschüler Yasha angriff.«

Die Stimme ertönte hinter ihnen, direkt in Shiaras Rücken. Cusack erstarrte in Schrecken, während sie herumwirbelte. Einer der Revolver sprang fast wie von selbst in ihre Rechte, und der Lauf richtete sich auf eine unerwartete, ungewöhnliche Erscheinung.

Keine zwei Schritt von ihnen entfernt stand ein Mann mittleren Alters. Dunkles Haar mit einigen grauen Strähnen, sorgfältig zu einem Scheitel gezogen, europäische Haut, insgesamt eine stattliche Erscheinung. Sogar die Uniform der königlichen Luftflotte war in tadelloser Verfassung. Über der Brusttasche war kunstvoll der Schriftzug Cardwright aufgestickt. Das einzige Zugeständnis an die Katastrophe, der er Zeuge geworden sein musste, war eine breite, doppelt gezackte Narbe, die sich auf seiner Stirn vom Haaransatz bis zur Nase erstreckte. Nein, keine Narbe, eine immer noch offene Wunde – aber nicht mehr blutend und offenbar sauber.

Er hielt seine Hände halbhoch, die Handflächen ihr entgegen gestreckt. Ein universelles Zeichen friedlicher Absicht.

»Verzeihen Sie, ich wollte Sie keineswegs erschrecken. Ich hätte nicht gedacht, jemals wieder Menschen zu sehen. Ich bin …«

Er zögerte kurz, ganz so, als ob er abschätzen würde, ob man Shiara und dem Fähnrich trauen konnte.

»… Lieutenant Tim Cardwright, zweiter Navigator der Admiral Nelson. Und so, wie es aussieht, ihr einziger Überlebender. Sind Sie hier, um mich zu retten? Haben Sie ein Schiff, mit dem Sie mich nach Bhagnagar bringen können?«

Seine Stimme klang warm, angenehm, einnehmend. Sie hatte in der Vergangenheit Menschen getroffen, die ihr auf Anhieb sympathisch gewesen waren – doch keiner hatte je eine derart beruhigende Wirkung auf sie gehabt. Ohne zu zögern, steckte sie ihren Revolver weg und deutete eine Verbeugung an.

»First Lieutenant Shiara Kirwashi von der Marauder, und das ist Fähnrich Cusack, Royal Air Navy.«

Cardwright nickte mit einem subtilen, sanften Lächeln.

»Ausgezeichnet. Und die Marauder ist …?«

»Ein privates Luftschiff, angeheuert vom Gouverneur, um nach der Admiral Nelson zu suchen.«

Seine Augen leuchteten förmlich.

»Das heißt, Sie fliegen mich tatsächlich nach Bhagnagar?«

Shiara nickte, auch wenn sie sich flüchtig wunderte, dass der Offizier den alten, vorislamischen Namen Hyderabads benutzte.

»Ja, sobald wir herausgefunden haben, was hier geschehen ist und das Wrack untersucht haben. Ich denke mal, bei Ersterem können Sie uns helfen?«

Der Lieutenant nickte eifrig.

»Oh ja, ich kann einen vollständigen Bericht verfassen, kein Problem. Und die Nelson können wir vergessen, sie ist vollständig ausgebrannt. Da gibt es nichts mehr zu bergen. Am besten machen wir uns gleich auf den Weg und …«

Cusack hob die Hand.

»Nicht so schnell. Was ist das überhaupt für ein Dorf? Die Hütten sind größer als alles, was ich hier in der Gegend erwartet hätte. Dieser Tempelnachbau als Dorfmittelpunkt erscheint zumindest außergewöhnlich und …«

Cardwright schüttelte heftig den Kopf, und Panik schlich sich in seinen Blick.

»Sie verstehen nicht! Wenn wir nicht sofort aufbrechen, wird er wiederkommen und uns alle vernichten!«

Die letzten Worte waren mit sich überschlagender Stimme, beinahe hysterisch geschrien worden. Ein Schauer lief Shiara über den Rücken, und sie trat instinktiv einen Schritt zurück. Auch Cusack war nun sichtlich auf der Hut, griff unwillkürlich nach der Rotationspistole, die an einer Lederschleife um seine Schulter hing.

Es war Zeit, die Lage zu beruhigen.

»Alles gut. Wir rufen sofort die Marauder herbei, und bis sie ankommt, sehen wir kurz in den Hütten nach. In Ordnung? «

Nichts war in Ordnung, zumindest nicht, wenn man den gequälten Gesichtsausdruck des Nelson-Überlebenden richtig deutete. Aber schließlich nickte er stumm, gab sich geschlagen, setzte sich in das Gras und hielt sich die Hände vors Gesicht.

Kopfschüttelnd feuerte Shiara die Leuchtpistole ab. Rot, hell, meilenweit sichtbar glühte der Feuerwerkspilz hundert Schritt über dem Boden auf. Das Signalhorn der Marauder gab ihr Antwort, als sie mit Cusack an ihrer Seite zielsicher auf die größte der Hütte zuging.

Der Verwesungsgeruch raubte ihnen beinahe den Atem, und sie rechneten mit dem Schlimmsten, mit dem absoluten Grauen, noch ehe Shiara die Handlampe hervorholte und mit der Linken die Hütte ausleuchte. Die Rechte hatte wieder unwillkürlich einen der Revolver gezogen.

Vollkommen unnötig.

Es war in der Tat ein Grauen, aber keines, das man mit einer Waffe bekämpfen konnte. Alle Menschen in der Hütte waren bereits tot, und der warme, feuchte Dschungel hatte seine gnadenlose, widerliche Zersetzung begonnen.

Drei Riesen, mehr als sechs Fuß lange Kadaver, lagen um einen Tisch herum – keine Inder, sondern Hyperboreer. Angehörige eines alten, vergessenen, längst ausgerottet geglaubten Volkes, dessen Spuren sich schon im Sand der Zeit verloren hatten, als die Pyramiden noch nicht standen. Zumindest behaupteten das die Legenden, mit denen Shiara aufgewachsen war.

Sechs Fuß ohne Köpfe, wohlgemerkt. Diese, fast doppelt so groß wie die Schädel der normalerweise kleinen, drahtigen Einheimischen, waren auf dem Tisch in der Mitte aufgestellt, mit den Gesichtern zum Eingang. Oder dem, was von den Gesichtern übrig war. Zersetztes, schleimiges Fleisch floss von Gebein, Maden wanden sich in leeren Augenhöhlen. Shiara hielt den Atem an, und die Würgelaute Cusacks neben ihr sprachen Bände.

Zu ihren Füßen, links vorne, eine deutlich kleinere Leiche. Nicht nackt, wie die anderen, sondern in einer zerschlissenen, sich langsam zersetzenden Uniform der Flotte. Ein grauenhafter Verdacht, genährt durch Erinnerungen an die schrecklichsten Geschichten ihrer Großmutter, durchzuckte Shiara. Langsam wanderte der Strahl der Lampe hoch, über den Gürtel, an dem noch die Dienstwaffe hing und den Bauch hinweg zur Brust. Er erreichte nicht das Gesicht, sondern blieb an der verdächtig vertrauten Stickerei hängen, die sorgfältig über der linken Brusttasche appliziert war.

Cardwright.

»Das hätte ich Ihnen gerne erspart.«

Mit gezogenen Waffen wirbelten sie herum, wieder von der wohltönenden Stimme in ihrem Rücken aufgeschreckt. Doch es war nicht Cardwright. Sein breites Lächeln wurde zu einer höhnischen Fratze, und die Stirnwunde riss auf. Kein Knochen darunter, sondern schwarze, rissige Haut, die Haut einer fremdartigen, bizarren, falschen Kreatur, die sich aus der falschen Haut des falschen Cardwrights schälte und wuchs. Mehr als sieben Schritt hoch ragte sie auf, direkt vor dem Ausgang der Hütte, streckte ihnen einen langen knorrigen Arm entgegen, während sie ihre Schwingen ausbreitete.

Und sie war nicht alleine. Hinter ihr, auf dem Dorfplatz, versammelten sich Dutzende ihrer Art, starrten sie aus gierigen, rot glühenden Augen an. Am Himmel kreisten noch mehr von ihnen, ein immer dichter werdender Schwarm, selbst das fahle Licht der Nacht verschluckend.

»Die Dunklen, die Dürren, die Verzehrenden« – ja, sie hatte von diesen Wesen gehört, als sie noch ein kleines Kind war, auf den Knien uralter Verwandter Geschichten aus jener Zeit gelauscht hatte, in der noch nicht einmal Sanskrit geschrieben worden war. Nur geflüsterte, in Angst und Schrecken weitergegebene Sagen und Legenden von Wesen so schrecklich, dass sie der menschliche Verstand nicht erfassen konnte.

Konnte er auch nicht. Die Welt endete, alles, woran sie zu glauben dachten, wurde zerstört. Vernichtet von diesem Anblick, von diesen eierköpfigen, schwarzhäutigen Monstren, mit Schwingen, Krallen, viel zu vielen, viel zu langen Zähnen. Ihr Bewusstsein schwand, löste sich auf.

Und doch, ein letzter Rest von Shiara realisierte noch, wie sich der Schatten der Marauder über die Lichtung schob und das Knattern der Bordgeschütze die perverse Stille zerriss. Hastig riss sie den Arm hoch, der schon resignierend herabgesunken war, und eröffnete das Feuer, zusammen mit Cusack an ihrer Seite. Eine verzweifelte, sinnlose Handlung, ein Versuch, das Unmenschliche mit menschlichen Waffen zu bekämpfen. Doch als der erste Schatten zersiebt vom Himmel fiel, nach kurzem Zucken regungslos liegen blieb, schöpfte sie Hoffnung.

Und feuerte weiter.

NECROSTEAM

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