Читать книгу Die Fahrt der Steampunk Queen - Группа авторов - Страница 9
Rainer Schorm: Der Geist des Alan Stevenson
Оглавление28. März 1920, Palmsonntag
Greenock/Grianaig:
Werft »Scotts Shipbuilding
and Engineering Company«
19:13 Uhr
Lady Summer mochte ihr Büro nicht. Zwar war sie dankbar, dass ihr Scotts, die Inhaber einer der Werften von Greenock, die Räumlichkeit zur Verfügung stellten, aber das Warten auf den Stapellauf der Queen zehrte an ihren Nerven. Die Ingenieure hatten die beeindruckende Maschine beinahe komplett installiert, aber je näher der Stapellauf rückte, desto unruhiger fühlte sie sich.
Das Büro erlaubte keine direkte Sicht auf das Boot – das mochte der Grund für ihre Unzufriedenheit sein. Draußen war es bereits dunkel. Sie hörte den Regen aufs Dach der großen Halle prasseln, in der die Queen lag, eher an einen gestrandeten Wal erinnernd, als an das stolze Boot, das sie bald sein würde.
Es klopfte.
»Herein!«, sagte Lady Summer resolut. Sie wusste, dass sie in dieser Umgebung, keine Schwäche zeigen durfte. Handwerker, Ingenieure und Bootsbauer überhaupt, praktizierten ausgeprägtes Revierverhalten. Dass sie hier residierte, war für viele eine Zumutung; neue Zeit hin oder her.
Ein Mann trat ein.
Wenigstens ist er pünktlich!, dachte sie.
Der Ultraspeed-Telegraf hatte sie vor etwa drei Stunden beim Tee gestört. Der Mann, ein gewisser Alan Stevenson, hatte dringend um einen Termin gebeten, ansonsten aber kaum etwas verraten. Der Ingenieur stammte aus einer Familie von Leuchtturmbauern, die einen guten Ruf besaß. Er selbst sah kein bisschen danach aus.
Lady Summer musterte ihn kritisch. Er war klein, untersetzt und zeigte eine gewisse Pausbäckigkeit. Der üppige Schnauzbart kompensierte das nicht. Die kurzen Haare glänzten geölt, bedeckten den Kopf graubraun und dicht.
Ihr fiel das bläuliche Halstuch auf, über und über bedeckt mit technischen Zeichen.
Nichts vom automatischen Webstuhl!, dachte sie. Das ist teure Handarbeit. Also kein Bittsteller im herkömmlichen Sinn.
»Alan Stevenson«, stellte sich der Besucher vor, verbeugte sich militärisch knapp, dass Lady Summer unwillkürlich erwartete, er werde die Hacken zusammenschlagen. Dabei wirkte er ansonsten nicht wie ein Soldat.
»Sie telegrafierten, Sie hätten einen interessanten Vorschlag«, sagte sie und kam damit sofort zum Kern der Sache.
Stevenson stutzte, dann lächelte er zufrieden. »Sie sagen es, Lady Summer. Wenn Sie sich diese Pläne ansehen wollen … ich bin sicher, sie werden begeistert sein.«
Lady Summer hob kurz zustimmend die Hand. Sofort begann Alan Stevenson mit unglaublicher Geschwindigkeit, mehrere Blaupausen aus einer mitgebrachten Kartonrolle zu ziehen und an ein großes Klemmbrett zu heften, das an der linken Seite des Büros auf einem Dreibein stand. Lady Summer hatte im Lauf der Zeit, und während die Arbeiten an der Queen fortschritten, ein Gespür für technische Feinheiten entwickelt, wie sie sich selbst das niemals zugetraut hatte. Sie hatte viel gelernt. Sie bemerkte also sehr schnell, wie außergewöhnlich das Konzept war, das der Ingenieur ihr präsentierte.
»Es ist ein fortschrittliches Navigationssystem, wenn Sie so wollen«, sagte Stevenson.
»Es ist … elektrisch?«, fragte Lady Summer fasziniert. »Ist das richtig?«
Stevenson nickte beinahe euphorisch. »Sie haben das Prinzip verstanden? Das ist großartig. See- und Küstenkarten könnten überflüssig werden, stellen Sie sich das vor.«
Lady Summer betrachtete intensiv die Konstruktion, die Stevenson ihr präsentierte. Im Zentrum eines komplexen Netzwerks elektrischer Leitungen, die sich aus vier Stromabnehmern oder Blitzableitern speisten, saß eine Glasbirne, in der wohl ein Vakuum herrschte. Darin formten unzählige haarfeine Drähte ein derart kompliziertes Geflecht, dass sie nicht einmal im Ansatz ahnte, wie man so etwas herstellen konnte.
»James Brown Lindsay brachte mich auf die Idee«, sagte Stevenson. »Ich habe seine Aufzeichnungen aus dem Jahre 1835 intensiv studiert.«
Lady Summer erinnerte sich sehr diffus.
»Ein schottischer Ingenieur, nicht?«, fragte sie. »Aber das eigenartige Geflecht …«
»Sie haben von Santiago Felipe Ramón y Cajal gehört, nehme ich an?«, fragte Stevenson. Er hatte ihren etwas ratlosen Blick offenbar bemerkt.
Der Name kam Lady Summer tatsächlich bekannt vor, aber sie wusste ihn nicht zuzuordnen.
Stevenson lächelte nachsichtig. »Ein spanischer Arzt, der sich mit dem Aufbau des menschlichen Gehirns aus Nervenzellen beschäftigte. Er färbte die Einzelzellen mit einer Silbernitrat-Lösung ein und konnte so die Struktur entschlüsseln. Ein sehr renommierter Mann, der völlig zurecht den Nobelpreis für Medizin erhielt. Das war 1906. Seit 1909 ist er Mitglied mehrerer Akademien der Wissenschaften, darunter Göttingen und Paris. Dieses Jahr steht seine Aufnahme in die National Academy of Sciences an. Seine Arbeit ist für mich die reinste Inspiration. Mein System basiert auf der Ähnlichkeit der neu entdeckten Nervenzellen, die man im menschlichen Gehirn entdeckt hat – und der Art ihrer Vernetzung. Dieses System imitiert die Gedankentätigkeit. Für den Steuermann ist das ein enormer Vorteil. Er benötigt keine gedruckten oder gezeichneten Karten mehr.«
Lady Summer dachte nach. Noch blieb genug Zeit, obwohl der Stapellauf näher rückte. »Wie lange würde die Installation dauern?«, fragte sie deshalb.
»Einen, maximal zwei Tage«, sagte Stevenson erwartungsvoll.
Lady Summer zögerte kurz, dann entschied sie sich. »Gut. Ich werde Kapitän Van Royen und den Steuermann kontaktieren. Stimmen die zu, dann können Sie Ihr Projekt starten. Welche Kosten kämen in diesem Fall auf mich zu?«
Stevenson strahlte. »Lediglich der Materialwert für die vier Stromabnehmer. Die übrigen Teile der Konstruktion wurden auf meine Kosten bereits hergestellt. Es geht mir lediglich darum, das System zu testen.«
»Das ist ausgezeichnet«, sagte Lady Summer. »Wo kann ich Sie telegrafisch erreichen?«
Zufrieden hatte Stevenson bereits damit begonnen, die Pläne wieder zusammenzurollen, bis auf eine deutlich kleinere Kopie.
»Zeigen Sie die Blaupause ihrem Steuermann und am besten auch gleich dem Maschinisten«, sagte er. »Ich logiere im Tontine an der Union Street. Dort erreichen Sie mich jederzeit.«
Er nickte Lady Summer freundlich zu und verließ das Büro ohne weiteres Wort.
Lady Summer nahm Verbindung mit Kapitän Klaas van Royen und Steuermann Jan de Breukelen auf. Sie trafen sich am nächsten Morgen. Die Arbeiten an der Queen gingen weiter, und da sich bisher keine Schwierigkeiten andeuteten, waren beide Männer bereit, dem Experiment zuzustimmen. De Breukelen zeigte sich skeptischer als der Kapitän, aber seine Vorbehalte bezogen sich nicht auf Stevensons Konstruktion.
»Der Maschinist Gruber wird sich dem nicht in den Weg stellen«, sagte er. »Seine Maschinen sind von all dem nicht betroffen. Er freut sich über seine schrägliegende Zweifachexpansionsdampfmaschine und die exzentergesteuerten Radschaufeln ein Loch in den Bauch. Darin verschwindet momentan jede Menge Whisky aus der lokalen Destillerie. Wenn er beim Stapellauf nüchtern ist, werden wir mit ihm keine weiteren Probleme haben. Er kann von Glück sagen, dass vor fünf Jahren, als die Greenock Distillery geschlossen werden sollte, diese Franzosen alles aufgekauft haben. Ganz schöner Sprung, vom Cognac zum Single Malt. Ich habe den Eindruck, er will das auch die nächsten fünf Jahre lang weiter feiern. Wie gesagt: Er ist unkompliziert, wenn uns sein verdammter Husten nicht noch einen Strich durch die Rechnung macht. Klingt sehr nach Schwindsucht.«
Er unterbrach sich kurz und räusperte sich leise. »Anders ist das mit den Heizern. Das ist ein abergläubisches Pack. Wenn etwas nicht mit Kohle befeuert wird, kommt es vom Teufel.«
»Auf unseren Sicherheitschef Mister Camford müssen wir noch mindestens sechs Wochen verzichten«, sagte Kapitän van Royen. »Einige seiner Leute sichern die Werft, vor allem, was die Spionage betrifft, aber er selbst hat vor dem Stapellauf nichts zu tun.«
Lady Summer glaubte, eine leichte Nervosität zu spüren, aber das mochte Einbildung sein. Van Royen trug seine Gefühle nie zur Schau. Seine Selbstbeherrschung war sprichwörtlich.
»Während das System installiert wird, sind sicher keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen nötig«, sagte sie und zog ein altes Zigarettenetui aus Sterlingsilber hervor. Sie nahm eine Gitanes Maïs heraus und zündete sie an.
Van Royen runzelte die Stirn. »Französische Zigaretten?«
»Ich bekomme sie in der Destillerie«¸ sagte Summer lächelnd. »Unser Maschinist schätzt den dortigen Whisky, ich pflege ein anderes Laster.« Sie nahm einen tiefen Zug und der warme Duft verglühender Maisblätter mischte sich mit dem des Tabaks. »Ich rauche sie seit etwa zehn Jahren, seit es sie gibt. Nicht ausschließlich, man bekommt sie nicht überall.«
Van Royen hustete. »Laster hält man sich, um sie zu kultivieren. Aber das ist harter Tobak.«
»Sie sagen es, Kapitän«, murmelte Lady Summer.
De Breukelen holte tief Luft, als wolle er aktiv mitrauchen. »Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, werden sie diesem …. Stevenson die Erlaubnis geben, ja?«
»Ich denke, genau das werde ich tun«, sagte Lady Summer und drückte die Zigarette aus. »Wir leben in einer aufstrebenden, technischen Welt. Stellen Sie sich vor, welche Möglichkeiten sein Navigationssystem bietet. Wir haben einen Fuß in der Tür, diesen Vorteil sollten wir nicht leichtfertig verspielen.«
Die beiden Männer standen auf und verabschiedeten sich. Lady Summer blieb in ihrem Stuhl sitzen, starrte noch eine ganze Weile auf den kleinen Plan, den ihr Stevenson überreicht hatte.
Erst eine halbe Stunde später verließ sie ihr Büro. Neben der Werft gab es eine Nebenstelle des Ultraspeed-Telegrafen. Sie schickte Stevenson eine Depesche. Am nächsten Morgen bereits würde er mit seiner Arbeit beginnen können.
30. März 1920
Greenock/Grianaig: Werft »Cartsburn and Cartsdyke«
15:07 Uhr
Bereits am Nachmittag des nächsten Tages begann Alan Stevenson mit der Arbeit an seiner neuartigen Konstruktion. Das Baudock dröhnte vom Hämmern und anderen Geräuschen der Handwerker und Schiffsbauer. Die Stapellegung lag bereits einige Zeit zurück, die Queen befand sich im letzten Ausbaustadium. Die Maschinen präsentierten sich arbeitsbereit und warteten nur auf die Montage der beiden Schaufelräder. Vor einer halben Stunde hatte man das bewegliche Dach zurückgefahren und zwei gewaltige Kräne hievten die kompletten Schaufelräder ins Dock hinein.
Über Greenock braute sich ein Gewitter zusammen. Erste Blitze flackerten auf. De Breukelen sorgte sich ein wenig, denn die Kräne bildeten für die Entladungen selbstverständlich ein Ziel. Aber Lady Summers Anweisung war deutlich: Keine unnötigen Verzögerungen.
Das Ausdocken näherte sich unaufhaltsam. Als Jungfernfahrt würde die Queen den Weg die ostenglische Küste entlang nach Süden nehmen, um dann Brest anzusteuern.
Stevenson arbeitete konzentriert und zumeist wortlos. Steuermann de Breukelen hielt sich länger auf der Brücke auf, als er das üblicherweise tat. Seine Einstellung »misstrauisch« zu nennen, wäre übertrieben gewesen. Es war eine gesunde Skepsis etwas Neuem gegenüber. Dabei faszinierte ihn die Arbeit des Ingenieurs. Van Royen hatte sich nur kurz sehen lassen. Als er registrierte, dass sein Steuermann ein waches Auge auf Stevenson hatte, verließ er die Brücke.
Was de Breukelen auffiel, war die betont unauffälligen und häufigen Besuche der Heizer. Besonders Ivan Koslov warf immer wieder starre Blicke auf die eigenartige Konstruktion. Ihm schmeckte nichts, was sich jenseits seiner Dampfmaschinen abspielte. Kolben, Kessel, Schieber, Ventile und Übersetzungen – das war sein Zuhause. Dass das System ohne Dampfdruck und Turbinen arbeiten sollte, beunruhigte ihn sichtlich.
»Kannich sein, Mister de Breukelen, Sir. Das is unmöglich. Kein Dampf, keine Ventile … nichts davon. Kann gar nich sein.«
Sein eigenartiger, russischer Akzent verstärkte den Eindruck, er litte an einem Katarrh.
Stevenson lächelte versonnen. Er schien diese Vorbehalte zu kennen.
»Es ist Elektrizität, Mister Koslov«, sagte er. »Nichts, was Ihnen gefährlich werden könnte. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Koslov zog die dicken schwarzen Brauen zusammen und stieß scharf die Luft aus.
»Ich hab keine Angst vor gar nichts, verstanden?«
De Breukelen gab dem Heizer mit einem deutlichen Wink zu verstehen, dass er auf der Brücke nur dann geduldet wurde, wenn er dort zu arbeiten hatte. Für einen Heizer stellte das die absolute Ausnahme dar, ihr Bereich war der Maschinenraum. Koslov räumte mürrisch das Feld.
»Sie können froh sein, dass sie sich nicht im Maschinenraum mit Heizern und den Maschinisten herumschlagen müssen«, sagte er. »Hier haben Sie’s nur mit mir zu tun – ich bin nicht annähernd so abergläubisch. Aber mich sollten Sie überzeugen. Ich muss mit Ihrem … Konstrukt arbeiten.«
»Ich verspreche Ihnen, Sie werden begeistert sein«, sagte Stevenson, ohne den Steuermann anzusehen.
Die vier »Blitzableiter«, wie de Breukelen die Spannungsabnehmer an den vier höchstgelegenen Stellen der Queen nannte, hatte Stevenson zuerst installiert. Nun stand er vor einem breiten, bleiern glänzenden Gewinde und zog eine Abdeckplane von einer recht großen Kiste, auf der in blutigem Rot das Wort Fragile! prangte.
De Breukelen runzelte verblüfft die Stirn.
Stevenson hob einen großen Glasballon aus der dicken Polsterung und setzte ihn auf das Gewinde. Im Inneren war ein verwirrend komplexes Geflecht aus Metallfäden erkennbar, wie de Breukelen es nie zuvor gesehen hatte. Es sah aus, als habe man die Netze von mindestens zwanzig Spinnen ineinandergeschoben.
Stevenson bemerkte de Breukelens Faszination.
»Im Inneren des Glasballons herrscht ein absolutes Vakuum. Die Herstellung war eine Herausforderung der ganz besonderen Art. Es ist ein spezielles Borosilikatglas, das ich in einer verruchten Glasbläserei in Böhmen habe fertigen lassen. Die rote Farbe kommt von den verwendeten Kupferoxiden, die einzelnen violetten Schlieren stammen von selektiv beigefügtem Mangan.«
»Und diese … Fäden?«, erkundigte sich de Breukelen. Er trat näher und beugte sich vor.
»Feinste Wolframfäden!«, sagte Alan Stevenson. »Sie kennen das Metall, nehme ich an? Seine Dichte ist beinahe so hoch wie die von Gold und es schmilzt bei 3411 Grad Celsius. Das ist der höchste bekannte Schmelzpunkt überhaupt. Es siedet bei grandiosen 5930 Grad. Für diese Funktion ist es wie gemacht. Es ist als Kontaktdurchführung in das Borosilikatglas direkt eingeschmolzen. Die Glas-Metall-Verbindung ist extrem dicht. Der vakuumierte Innenbereich ist kleiner als man denkt, das Glas dafür umso dicker. Können Sie sich vorstellen, wie schwierig es war, das Neuronat darin zu etablieren?«
»Was, bei allen besoffenen Klabautermännern, ist ein Neuronat?«, fragte der Steuermann verblüfft.
»Ich habe Lady Summer von Santiago Felipe Ramón y Cajal berichtet«, sagte Alan Stevenson. »Der Arzt hat die Struktur der Nervenzellen im menschlichen Gehirn entschlüsselt. Die Wolframfäden bilden dieses unglaublich komplizierte Netzwerk nach. Wussten Sie, dass im Gehirn etwa hundert Milliarden dieser Zellen existieren? Es gibt erste wissenschaftliche Vermutungen, dass das der Anzahl der Sterne in der Milchstraße entsprechen könnte. Eine geradezu monströse Zahl, nicht?
Mein System bildet diese Komplexität nach. Es wird künstliche Erinnerung möglich machen. Sie können alles einspeisen, was sie wollen: Karten, Entfernungen, Koordinaten – was sie eben benötigen. Der Denkballon wird es reproduzieren. Sie müssen das entsprechende Material zwischen diese drei magnetisierten Pole legen.«
»Weshalb drei?«, wunderte sich de Breukelen. »Magnete besitzen nur zwei Pole.«
Stevenson lächelte anerkennend. »Gut mitgedacht. Aber wir benötigen drei Pole, um Dreidimensionalität zu erzeugen. Das funktioniert sogar bei gedruckten Karten, wenn auch nicht optimal. Sie werden durch ein dreidimensionales Modell der Umgebung steuern können.«
De Breukelen war beeindruckt. Sollte Stevenson recht behalten, war dies revolutionär.
»Ein Denkballon!«, murmelte er andächtig. »Künstliches Denken. Kein Wunder, dass Lady Summer Ihnen die Erlaubnis gab. Wir sind stolz auf die Queen. Sie besitzt Zweifachexpansionsdampfmaschinen und die wunderbarsten, exzentergesteuerten Radschaufeln. Rohrpost in jeder Kabine … aber das!«
Stevenson legte einen rot gefärbten Kippschalter um.
»Wollen Sie es testen?«
De Breukelen reichte ihm eine Karte des Seegebietes um Greenock bis hinunter zum Firth of Clyde.
Stevenson lächelte. »So vorsichtig? Die Kapazität reicht für sehr viel mehr …«
De Breukelen hob entschuldigend beide Hände. »Überzeugen Sie mich, dann werde ich Ihrem Denkballon mehr zu futtern geben, als er verdauen kann.«
Vorsichtig legte Stevenson die Karte in die Mitte der drei Pole zwischen eine Eisen- und eine Kupferplatte, etwa fünf Zentimeter darüber. Sie waren über eine Zahnradschiene in der Höhe verstellbar. Es knisterte, dann zuckten bläuliche Elmsfeuer über die Platte und über die Karte.
In diesem Augenblick kam es zur Katastrophe. Ein Blitz fuhr aus den Gewitterwolken in die Halle hinab und schlug in die vier Spannungsabnehmer. Weißes Licht und Donner tobten sich gleichzeitig aus. Die Kabel leiteten den Strom ins Schiff. Zehn Millionen Volt und hunderttausend Ampere – eine Hölle aus Energie. Hölzernes Bersten und metallisches Kreischen drang durch den Lärm der Werft. Dazu etwas wie ein Schrei.
Hoffentlich sind die Schaufelräder unbeschädigt!, schoss es de Breukelen durch den Kopf. Geblendet taumelte er zurück und klammerte sich dann krampfhaft ans Steuerruder. Es stank. Ozon lag in der Luft. Zerschmetterte Sauerstoffmoleküle, die sich zu ihren abartigen Dreierkonstellationen verbanden. Rauch von brennendem Holz und der erstickende Geruch von glühendem Metall mischten sich darunter.
De Breukelen rang nach Luft. Er hustete. Seine Haut, besonders die Fingerspitzen kribbelten widerwärtig.
Nur langsam kehrte das normale Bild der Welt zurück. Der Steuermann blinzelte.
Alan Stevenson war verschwunden. Aufgelöst. Verkocht. Vaporisiert.
Der Glasballon hatte sich dunkel verfärbt, als habe sich von innen Ruß an die Hülle angelagert, schwarz wie das Innere eines Krematoriums.
Die einzige Spur von Stevenson war ein undeutlicher, grünlicher Schatten auf der Eisenplatte: ein Handabdruck.
29. April 1920
Cairngaan, Wigtownshire, nördlich des Mull of Galloway
15:07 Uhr
Das Schiff stampfte und rollte. Wellen und Brecher schlugen gegen den Rumpf. Gischt spritzte und in den wilden, heulenden Böen ging jedes Wort unter.
Sie hält sich gut!, dachte de Breukelen beeindruckt. Raddampfer wie die Queen waren naturgemäß sehr viel stabiler und leistungsfähiger als die historischen Vorgänger, aber Hochseeschiffe waren sie nicht. De Breukelen hatte von einem französischen Schiffsbauer gehört, der das ändern wollte, aber die Robur würde erst in einigen Jahren gebaut werden können. Noch beschäftigte man sich in Saint-Nazair, in den Chantiers de l'Atlantique, den Atlantikwerften, mit den enormen Schwierigkeiten der Rumpfkonstruktion. Ob man dann allerdings einen Transatlantikverkehr würde aufbauen können, wie man seit der Ankunft von John Scott hoffte, bezweifelte er. Scott war von Greenock nach Saint-Nazair gegangen und hatte das Ingenieurswissen mitgenommen.
Es bleibt spannend … aber auf jeden Fall sind die Franzosen im Hintertreffen, dachte er zufrieden. Hätten vielleicht bei ihrem Cognac bleiben sollen.
Gordon MacKeldeys Schwindsucht hatte sich verschlimmert, nachdem ein Brecher den Mann durchnässt hatte. Das eiskalte Wasser des Firth of Clyde war Gift für ihn. De Breukelen gab ihm noch einige Wochen, maximal ein Vierteljahr. Dass der Tod MacKeldeys Namen ausgesprochen hatte, wusste jeder, der ihn ansah.
»Muir Éireann … zum Teufel damit!«, knurrte De Breukelen verbittert. »Kann was Gutes dabei rauskommen, wenn die verdammten Iren mit drinstecken? Irische See … ich lach mich tot! Aber für das verdammte Sauwetter wär's eine Erklärung.«
Es war kurz nach drei Uhr nachmittags, aber so dunkel, wie zur Mitternacht. Ein Blitz zuckte weißviolett quer über den Himmel und beleuchtete die Küste, die für De Breukelens Geschmack viel zu nahe kam. Sie standen auf der Höhe von Wigtownshire, am Leuchtturm von Cairngaan, genauer gesagt des Mull of Galloway.
Außer dem Leuchtturm gab es dort nichts zu sehen und in diesem Moment machte das Leuchtfeuer keine Ausnahme. Mehr als ein müdes Flackern drang nicht durch Nebel, Wolken und Regen.
De Breukelen fluchte wie ein Rohrspatz. Er konnte sich vorstellen, wie Lady Summer und ihre Mutter, deren Gesundheit ohnehin angegriffen war, in ihrer Kabine durchgerüttelt wurden. Die Eignerin hatte sie gegen die Empfehlung des Kapitäns an Bord gebracht, zusammen mit ihrer eigenen Krankenschwester. Einem aparten, dunkelhaarigen Ding namens Ann, das bereits eine halbe Stunde nach dem Auslaufen intensive Bekanntschaft mit der Reling gepflegt hatte. De Breukelen hatte sich zwar amüsiert, aber doch Mitleid mit ihr gehabt. Grün stand der Schwester nicht besonders.
»Immerhin haben die Fische ein wenig profitiert«¸ murmelte De Breukelen. »Jedem das seine …«
Die Queen kämpfte sich mit ihren beinahe siebenunddreißig Metern Länge durch eine wüste Strömung.
Hältst dich gut, Kleine!, dachte der Steuermann.
Die Meldungen aus dem Maschinenraum waren beruhigend. Die beiden Dampfmaschinen taten ihren Dienst ohne Wenn und Aber. Allerdings ging das Zischen der Ventile im Lärm des Unwetters unter.
»Das wär’ etwas für den Cousin dieses versponnenen Ingenieurs gewesen. Ein richtiges Abenteuer«, sagte er leise. Er dachte häufig an den Unglücklichen, der den Unfall mit seinem Leben bezahlt hatte. Später hatte er erfahren, dass Alan Stevenson tatsächlich mit dem bekannten Schriftsteller Robert Louis Stevenson verwandt gewesen war. Auch er war jung gestorben: mit nur vierundvierzig Jahren … ausgerechnet an der Schwindsucht.
Kein gutes Omen!, schoss es ihm durch den Kopf, denn dass MacKeldey den Sommer noch erleben würde, glaubte keiner.
Der Steward brachte ihm einen starken Kaffee und goss, so gut er konnte, einen üppigen Schuss Whisky dazu. Er kannte De Breukelen lange genug.
»Wie sieht’s aus auf meinem Schiff?«, fragte Kapitän Van Royen, als er die Brücke betrat. Wasser rann von dem dicken Wachstuchmantel zu Boden und bildete eine Pfütze.
Montgomery Cliff rieb sich den kurzen, dunklen Bart und packte die Flasche in eine Tasche. Der Steward blieb diskret, so gut er konnte. »Kunigunde hat einige Kunden«, sagte er. »Die Lady allerdings hält sich ausgezeichnet.«
Van Royen lächelte schmal und zog die Mütze ab, die trotz des Wachstuchs klitschnass war. »Unsere Krankenschwester tut ohne Frage ihr Bestes«, sagte er. »Unser Doc hingegen wird hauptsächlich sich selbst kurieren, denke ich.«
Jetzt grinste der Chefsteward. »Das kann man so sagen. Aber ich fürchte, sein Spezialvorrat an Absinth wird unter diesen Umständen nicht lange halten … Er hat noch vor dem Ausdocken eine Lieferung aus Val-de-Travers, Neuchâtel an Bord schaffen lassen. Diese Fee ist besonders grün …«
»Prost!«, kommentierte De Breukelen trocken.
»Unser Maschinist macht sich auf jeden Fall keine Sorgen«, sagte Montgomery Cliff. »Wie er so schön sagte, schnurren seine zwei Lieblinge wie zufriedene Kätzchen.«
»Gute Nachricht«, sagte Van Royen und griff nach De Breukelens Becher. Der verzog das Gesicht, als der Kapitän einen großen Schluck nahm und dann die Stirn runzelte. »Ich hoffe, sie haben die Sauferei im Griff, De Breukelen. Wir sind in Ihren Händen.«
Der Steuermann winkte ab.
Ein Blitz fuhr in die Blitzableiter. Man hatte Stevensons Konstruktion nicht abgebaut, dafür war keine Zeit geblieben. Der Blitzschlag, der den Ingenieur getötet hatte, hatte auch Schäden an der Queen verursacht, deren Behebung sehr viel dringlicher gewesen war. Jetzt war De Breukelen froh darüber.
Mit einem Mal war es hell auf der Brücke. Ein rötlicher Schein drang aus dem geschwärzten Glasballon.
Der Steward ließ die Kaffeekanne fallen.
»Was zum Henker …«, keuchte Van Royen.
De Breukelen ließ das Steuerruder nicht los, obwohl ihm danach war.
Der rote Schein intensivierte sich, bis er die Farbe von arteriellem Blut angenommen hatte.
»Sehen Sie …«, stotterte der Steward und deutete auf den Glasballon. Die haarfeinen Wolframdrähte glühten, aber das war nicht das Schlimmste. Im Innern des Ballons formte sich ein Gesicht. Ein pausbäckiges, schreiendes Gesicht.
»Stevenson!«, entfuhr es De Breukelen. »Seine Maschine hat ihn gespeichert …«
Dann zerbarst das Glas und überschüttete die drei Männer mit spitzen, scharfen Scherben. De Breukelen fühlte etwas Warmes von seiner Stirn laufen. Ein Brecher zwang ihn, sich auf die Steuerung des Schiffes zu konzentrieren.
Van Royen schickte Cliff nach unten, zu Doktor Gunter von Stolzenfels. De Breukelen hoffte, dass der Arzt nicht zu betrunken sein würde. Die Scherbe, die in Cliffs Wange steckte, sah nicht gut aus.
»Das war tatsächlich Stevenson, oder?«, fragte Van Royen dann mit rauer Stimme. »Sie haben ihn ebenfalls gesehen?«
De Breukelen nickte verbissen. »Eindeutig.«
»Ist er … jetzt tot? Endgültig?« Van Royen hatte sich verkrampft. Der Vorfall musste den beherrschten Mann enorm verunsichern. Aber De Breukelen war ehrlich genug zuzugeben, dass es ihm kein bisschen besser ging.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. Er deutete auf ein leichtes, rötliches Flackern, das über einige Metallbeschläge huschte. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass das nicht das Letzte war, was wir von Mister Stevenson gesehen haben.«
Als die Queen einige Tage später Brest erreichte, wusste es bereits jeder an Bord. Die Steampunk Queen hatte ein neues Besatzungsmitglied. Den Geist des unglücklichen Alan Stevenson …