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Bernd Schuh: Die Würde des Menschen

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Die gezähmten Wölfe schlugen an. Das Geräusch erzeugte verhaltene Unruhe am Kabinettstisch.

»Das muss nichts bedeuten.« Chief Leader Lindehard murmelte mehr als er sprach. »Das machen die manchmal auch einfach so.«

»Beim letzten Mal hat uns ein Haufen Demokraten Handgranaten aufs Gelände geschmissen.« Der Energieminister, einziges Regierungsmitglied ohne Parteiausweis. Vielleicht traute er sich deshalb manchmal was. Aber auch er grummelte nur kaum verständlich.

CL Lindehard straffte sich. »Lassen Sie uns weiter machen mit der Kabinettsvorlage des Wirtschaftsministers! Wenn ich das richtig verstehe, wollen Sie den Sondersoli für die Unterstützung der Usa drastisch erhöhen, Kollege Soldi.«

Man sprach vom transatlantischen Partner immer als Usa, nicht mehr wie früher üblich als USA. Eine bewusste Kleinschreibung, die der gegenwärtigen Bedeutung der einstigen Weltmacht besser gerecht wurde.

»Sie wissen, welche Zustände seit den Wellen dort herrschen. Und darunter leiden auch unsere eigenen Leute! Es gibt so viele Vernünftige in diesem Land!« Wirtschaftsminister Soldi redete sich in Rage. »So viele Menschen, die bedingungslos hinter CL Trompöl stehen. Aber ohne die entsprechenden Mittel werden sie die geheimen Machtzentren in Langley und …«

Wieder hörte man die gezähmten Wölfe heulen. Darunter mischten sich einzelne Schüsse.

Justizminister Kenmich sprang auf. Wut und Entschlossenheit im Gesicht, einen smaragdgrünen Heilstein in der Hand. »Da haben wir’s! Wenn das wieder diese scheißliberalen Sciencefreaks sind, werde ich sofort ein neues Gesetz vorlegen. Es reicht nicht, diesen Diskursaffen ihre Medien und Gesprächszirkel zu nehmen. Die gehören alle hinter Gitter! In Beugehaft!«

»In Rechtsbeugehaft«, murmelte der Energieminister. Diesmal hatten es alle gehört und schauten ihn empört an.

Die W20 war tolerant. Seit sich die Partei während der Wellen gebildet hatte, war sie ein Sammelbecken für Theoretiker und Ideologen geworden, die ihre eigene Überzeugung für den jeweils besten Beweis hielten. Aber auch Toleranz hatte Grenzen.

»Recht ist, was im Gesetz steht«, erinnerte ihn der CL.

»Und das Gesetz sind wir«, assistierte Kenmich.

Draußen war es kurz still.

»Also lassen Sie uns weiter machen! Seit dem letzten Mal haben wir den Sicherheitsdienst verdreifacht. Der hat jetzt alles im Griff.« Der CL, wegen der sommerlichen Temperaturen leger gekleidet, ließ dabei seinen tätowierten Bizeps unter dem kurzärmeligen Poloshirt spielen.

»Sollten wir nicht langsam die Armee einschalten?« Der Finanzminister war für seine Zaghaftigkeit bekannt. Er war auch mit Abstand der älteste in der Runde. Vielleicht deswegen.

»Ach was!«, ging der Wirtschaftsminister dazwischen. »Das sind doch alles nur Sektierer. Das Volk steht hinter uns …«

»Das ist ja das Schlimme«, murmelte der Energieminister, »da kann man es nicht sehen.«

Soldi tat, als hätte er nichts gehört. »… und die W20 hat einen überwältigenden Wahlsieg errungen. Unsere Wähler würde der Einsatz der Truppe nur irritieren.«

»Außerdem ist zu bedenken«, ließ sich der CL nun doch auf das Thema ein, »dass unser Durchgriff auf die Strukturen des Militärs noch nicht ganz befriedigend ist.«

»Erstaunlicherweise!«, fügte Verteidigungsministerin Minender zustimmend hinzu und schüttete sich ein paar Globuli in die linke Hand.

»Vielleicht sind wir denen zu chaotisch.« Der Energieminister konnte es nicht lassen. Diesmal fing er sich derart strenge Blicke ein, dass er beschämt den Kopf senkte und auf die Koransynopse starrte, die er auf seinem Klapphandy geöffnet hatte.

Der CL schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Das harte Klacken seines Daumenrings schreckte alle auf. »Also zurück zur Vorlage des Wirtschaftsministers!«

»Ja. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, wenn wir eine Weltmacht wie die CIA stürzen wollen, müssen wir richtig viel Geld in die Hand nehmen. Und wie es in den Kassen unseres Freunds Trompöl aussieht, wissen wir ja …«

»Woher soll das Geld denn kommen?« Die W20-Vorsitzende Weyerberg schaltete sich ein. Als Familienministerin sorgte sie sich um die staatliche Unterstützung für berufstätige Männer, deren Frauen arbeiten gingen und die Familie vernachlässigten.

»Kollege Soldi hat es doch schon gesagt! Eine Erhöhung des Sondersoli Usa!« Der Justizminister war leicht erregbar. Und nicht nur heute.

»Das werden die Leute nicht schlucken, fürchte ich.« Nun meinte auch die Sektenbeauftragte Kentner, etwas sagen zu müssen. »Es gibt schon so viele Solis: Soli Ost, Soli Süd, Kirchensoli, Verteidigungsoli, Seuchensoli, Sektensoli, Antiimpfsoli, Soli Staatsfeindunterbringung, Soli …«

»Bitte! Bitte! Das wissen wir doch alle«, mischte sich Chief Leader Lindehard wieder ein. »Ich bitte um konstruktive Vorschläge. Wo bleibt das Positive, Frau Kentner?« Gelegentlich spielte der CL nicht nur mit seinen Muskeln, sondern auch mit seiner Bildung.

»Wir könnten das Personal in den staatlichen Pflegeeinrichtungen weiter ausdünnen …«

»Und die Gehälter noch ein bisschen senken«, assistierte ihre Kollegin aus dem Verteidigungsressort. Frauensolidarität am Kabinettstisch. »Ganz im Sinne der Doktrin Palmer. Deren konsequente Umsetzung wir den Wählern ja auch versprochen haben.«

Die Unruhe draußen war keineswegs abgeebbt. Sie schien sich im Gegenteil dem Regierungspalais zu nähern. Stimmen, Schüsse, das Jaulen der Wölfe und nun auch das Geräusch sich nähernder Turbodrohnen. Zwei oder drei Kabinettsmitglieder waren schon ans Fenster getreten.

Der CL wollte sie gerade zur Ordnung rufen, als die Tür aufgerissen wurde. Einer der Bodyguards stürmte in den Raum: »Roter Alarm! Wir müssen evakuieren. Keine Zeit für Erklärungen. Alles raus hier, schnell!«

Alle stürzten zu den beiden Türen des Saals. Eine war verschlossen. Kein Ausgang. Diese Tür nur Zutritt verkündete ein Hinweisschild. Offenbar stammte es noch aus der grauen Vorzeit der Wellen. An der Ausgangstür gab es ein Gerangel. Der Energieminister wollte der Sektenbeauftragten den Vortritt lassen, da drängte sich der CL dazwischen. »Arschloch!«, entfuhr es dem Energieminister, und diesmal nicht in gedämpfter Lautstärke. Der CL boxte ihn dafür im Rauseilen in den Magen. Der Bodyguard zog ihn weg. Soldi quetschte sich an Minender vorbei und Kenmich schimpfte die ganz Zeit lauthals: »Diese Scheißliberalen, diese Scheißkanaken, diese Scheißvirologen, diese Scheißfridays, lasst mich vorbei, ihr Scheißignoranten …«

Als der Finanzminister als Letzter durch die Tür ging, explodierte die erste Bombe. Sie fetzte das Dachgeschoss weg. Die zweite Selbstmörderdrohne zündete im Zentrum des Gebäudes und brachte das Palais vollends zum Einsturz. Niemand entkam den Flammen, die kurz danach aufloderten.

Der Anschlag war der Auftakt zu einem Putsch, der innerhalb weniger Tage zu einem radikalen Politikwechsel führte. Das Volk war daran ja schon gewöhnt. Beziehungsweise unterstützte ihn in gewohnter Launenhaftigkeit. Der neue Innenminister der Notstandsregierung ließ es sich nicht nehmen, die Aufräumarbeiten am Anschlagsort als Kulisse für eine Rede an die Nation zu nehmen. In kräftigen, wütenden Stößen bugsierte er seinen Rollstuhl durch die kalte Asche ins Zentrum der Verwüstung. Als die Kameras rot blinkten, begann er seine kurze Ansprache: »Die wehrhafte Demokratie hat letztlich gesiegt. Und der Vernunft zur Wiederkehr verholfen. Schon jetzt zeichnet sich in den Meinungsumfragen eine radikale und längst überfällige Abkehr von den Populisten der W20 ab. Wir werden diese Entwicklung weiter fördern und beizeiten Neuwahlen ausschreiben. Und zu der Kritik an unserem entschiedenen Vorgehen nur so viel: Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.«


Rainer Eisfeld (links), Heinz Zwack und Jörg Weigand auf dem OldieCon 2013. Foto: Robert Christ

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