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Die Anfänge der Diakonie Katastrophenhilfe
„Wer sich einmal in seiner Not hat helfen lassen aus den Spenden von Menschen, die ihn nicht kennen, deren Land er nie gesehen hat, der hat sich damit bereit erklärt, sobald er nur kann, an anderen Menschen, die er auch nicht kennt, deren Land er auch nie betreten hat, so zu handeln, wie an ihm gehandelt worden ist.“
(Herbert Krimm 1955)
Am Anfang stand die eigene Katastrophe. Als das Hilfswerk der Evangelischen Kirche nach 1954 erstmals systematische Anstrengungen zur Linderung der Not außerhalb der eigenen Landesgrenzen unternahm, hatte es bereits hunderte Millionen D-Mark an ausländischen Spenden zur Behebung des Nachkriegselends in Deutschland erhalten. Aus dieser Erfahrung erwuchs der Wunsch, für die empfangene Hilfe etwas zurückzugeben – lange bevor man 1960 aus eigener Initiative darum bat, die Auslandsspenden für Deutschland einzustellen. Damit war der erste Grundstein für die Ökumenische Diakonie und die von der Evangelischen Kirche geleistete Not- und Katastrophenhilfe gelegt.
Neubeginn: Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland.
Das Hilfswerk der Evangelischen Kirche als Ursprung der Diakonie Katastrophenhilfe
Im Erleben der Zeit des Zweiten Weltkriegs liegt eine der Wurzeln der Diakonie Katastrophenhilfe. Im Bombenhagel der letzten Kriegsjahre hatte Eugen Gerstenmaier, der wichtigste Akteur der ersten Stunde, die humanitäre Katastrophe in den zerstörten deutschen Städten heraufziehen sehen. Noch während des Kriegs knüpfte er Kontakte zum Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Dort dachte man ebenfalls über humanitäre Hilfe für die Bevölkerung in Deutschland nach.
Eugen Gerstenmaier war Ideengeber und „Geburtshelfer“ eines evangelischen Hilfswerks, das als institutioneller Rahmen für die Katastrophenhilfe von Bedeutung wurde. Als Gerstenmaier, der wegen seiner Beteiligung am Attentatsversuch auf Hitler am 20. Juli 1944 zwischenzeitlich inhaftiert worden war, im Mai 1945 aus dem Zuchthaus entlassen wurde, führte ihn sein erster Weg zum Ökumenischen Rat der Kirchen in die Schweiz, wo er die konkretisierten Pläne für ein deutsches Hilfswerk der Evangelischen Kirche vorlegte. Neben dem kirchlichen Wiederaufbau, das heißt dem Aufbau kirchlicher Strukturen und der baulichen Wiederherstellung zerstörter Kirchen, stand der Gedanke einer allgemeinen Nothilfe im Vordergrund. Gemeint war damit Hilfe für die vielen Hungernden, Flüchtlinge, Vertriebenen, Ausgebombten und die im Krieg verkrüppelten Menschen, die das Bild in Deutschland nach 1945 überall prägten. Für sie sollten Notunterkünfte gebaut und Essen bereitgestellt werden, damit möglichst schnell wieder Normalität in ihr Leben einziehen konnte. Beides, kirchlicher Wiederaufbau und Nothilfe, sollte zu Anfang auf Deutschland beschränkt sein. Hier sah Gerstenmaier die dringlichste Not und zunächst das unmittelbare Wirkungsfeld des neuen Hilfswerks.
Der Ökumenische Rat unterstützte das Vorhaben und gab eine erste Spende von 20.000 US-Dollar. Von der amerikanischen Besatzungsmacht bekam Gerstenmaier einen Jeep zur Verfügung gestellt, mit dem er von Kirche zu Kirche durch das zerstörte Land fuhr, um weiter für sein Vorhaben zu werben. Gerstenmaier gelang es, die Entscheidungsträger innerhalb der Kirche für seine Idee zu begeistern: Bereits im August 1945 gründete die Evangelische Kirche in Deutschland auf der ersten Kirchenversammlung in Treysa das Hilfswerk. Der württembergische Landesbischof Theophil Wurm wurde zum Vorsitzenden, Gerstenmaier zum Leiter bestimmt. Hauptsitz des Hilfswerks war Stuttgart. Im Gründungsaufruf hieß es: „Wir wissen, dass wir von der Christenheit anderer Länder nicht vergessen sind, aber wir dürfen nicht auf die Hilfe warten, die sich von jenseits der nationalen und konfessionellen Grenzen aufmachen wird. Die Christenheit in Deutschland ist zur Selbsthilfe herausgefordert.“
Frauen bauen Deutschland wieder auf.
Eugen Gerstenmaier
(geb. 1906 in Kirchheim/Teck; gest. 1986 in Oberwinter bei Bonn)
wirkte als Theologe und CDU-Politiker. Gerstenmaier war in der NS-Zeit Mitglied der Bekennenden Kirche, weswegen er 1934 kurzzeitig inhaftiert wurde. Wegen seiner Mitgliedschaft im „Kreisauer Kreis“ und der Beteiligung am Staatsstreich vom 20. Juli 1944 verhafteten ihn die Nationalsozialisten, erst bei Kriegsende kam er frei. 1945 übernahm er als erster Leiter das von ihm geplante Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gerstenmaier war seit 1949 Mitglied des Deutschen Bundestages, von 1954 bis 1969 dessen Präsident. Er blieb als Mitglied des Diakonischen Beirats der Evangelischen Kirche seinem Prinzip der „solidarischen Beteiligung der ganzen Christenheit an der Gestaltung der Welt“ zeitlebens verbunden.
Nach jahrelanger Ungewissheit: Soldaten kehren aus der Kriegsgefangenschaft zurück.
Flüchtlingslager und provisorische Unterkünfte prägen das Bild im Nachkriegsdeutschland.
Solidarität mit den Besiegten – Das ökumenische Nachkriegswunder
Das Hilfswerk war anfangs massiv auf die Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Ohne großzügige Auslandsspenden wären der Wiederaufbau und die Selbstbefähigung der Deutschen so schnell nicht möglich gewesen. Angesichts der deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus war das alles andere als selbstverständlich. Tatsächlich gab es genügend Fürsprecher im Ausland, die Deutschland nicht wieder aufbauen, sondern in einen Agrarstaat zurückverwandeln oder komplett unter den Nachbarstaaten aufteilen wollten. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und das Misstrauen saßen tief.
Dennoch ließen die ersten Auslandsspenden für Deutschland nicht lange auf sich warten. Bereits im Herbst 1945 brachten schwedische Dampfer Hilfsgüter. In Hamburg kamen die ersten CARE-Pakete an, die das Hilfswerk gemeinsam mit anderen Organisationen überall im Land verteilte und die bis heute im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ihren Platz haben. Neben den USA halfen auch die Niederlande, Norwegen und Dänemark, die während des Kriegs unter deutscher Besatzung schwer zu leiden hatten, mit Lebensmitteln. Selbst Menschen aus ärmeren Ländern wie Kolumbien, Peru, Bolivien oder Mexiko spendeten für das Hilfswerk – Länder, in denen die Diakonie Katastrophenhilfe in den folgenden Jahrzehnten ihrerseits tätig werden sollte. Solidaritätsbekundungen anderer Kirchen kamen aus über 30 Ländern in Form von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern, Geldspenden und zinslosen Krediten oder als Rohstoffe.
Aus aller Welt kommen Spenden.
Mit den ausländischen „Liebesgaben“, wie man sie damals nannte, konnte das Hilfswerk den 14 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, den Ausgebombten und Hungernden in Deutschland helfen. Bis weit in die 1950er Jahre gehörte die Unterstützung der Heimatvertriebenen neben dem Wiederaufbau kirchlicher Strukturen zu seinen wesentlichen Aufgaben. Insbesondere durch ein umfangreiches Siedlungsprogramm – allein bis 1954 wurden 20.000 Wohnungen errichtet – leistete das Hilfswerk einen wichtigen Beitrag zur Integration der Vertriebenen in die Bundesrepublik. Nachdem sie alles verloren hatten, sollte ihnen ein Neuanfang möglich werden.
Die Mitarbeiter des Hilfswerks waren von der ausländischen Solidarität mit dem besiegten Deutschland zutiefst beeindruckt. Nur wenige Jahre nach Ende des von Deutschland verantworteten Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Verbrechen erlebten die Deutschen eine Hilfsbereitschaft, mit der sie nicht gerechnet hatten. Elisabeth Urbig, Mitarbeiterin der ersten Stunde, staunte damals: „Hier kamen Freunde, aus der Schweiz, aus Skandinavien, England, USA, Australien, Kanada, die uns als Partner für ihre ganz praktischen Hilfen ansahen. Die weder fragten, wo und wie wir im Dritten Reich gelebt hatten, noch uns als ‚Besiegte’ behandelten.“
Das Hilfswerk als Teil der internationalen kirchlichen Netzwerke
Von Anfang an war das Hilfswerk eng in die weltweiten kirchlichen Netzwerke eingebunden. Es kooperierte nicht nur mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf, sondern auch mit dem 1947 gegründeten Lutherischen Weltbund. Als dessen Unterorganisation entstand 1952 der Lutherische Weltdienst. Er koordinierte die weltweite Flüchtlingsfürsorge, den kirchlichen Wiederaufbau und die allgemeine Nothilfe der lutherischen Kirchen. Die deutsche Abteilung des Lutherischen Weltdienstes siedelte ihr Hauptbüro des Hilfswerks ebenfalls in Stuttgart an. „Die deutsche Christenheit ist nach 1945 vielfältig und schnell wieder in die ökumenischen Beziehungen hineingenommen worden. Es wird kaum jemand in der Lage sein, diese Tatsache umfassend in ihren Einzelheiten zu würdigen.“ (Christian Berg, Leiter der Ökumenischen Abteilung des Diakonischen Werks, 1957)
Elisabeth Urbig
(geb. 1905 in Berlin; gest. 1998 ebd.)
war nach Kriegsende Übersetzerin bei der amerikanischen Militärregierung in Berlin. Von 1947 bis 1972 arbeitete sie im Zentralbüro des Hilfswerks in Stuttgart, wo sie für die Auslandskontakte zuständig war. Gemeinsam mit Herbert Krimm war sie 1954 die wichtigste Mitarbeiterin der ersten Stunde. Urbig betreute verschiedene Projekte im Rahmen der ökumenischen Hilfe. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag in der zwischenkirchlichen Hilfe. Sie unterstützte als Mitarbeiterin für Ökumeneaufgaben Ludwig Geißel und später Hans-Otto Hahn bei der Planung und Abwicklung von Hilfsprojekten im Ausland. Elisabeth Urbig formulierte 1957 ihren Grundsatz: „Ökumenische Diakonie kann niemals nur nehmend oder nur gebend sein, sie ist immer beides: geben und nehmen.“
Zwischen Hilfswerk, Weltkirchenrat und Lutherischem Weltbund entstanden zahlreiche ideelle sowie personelle Verflechtungen. Der spätere Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, Ludwig Geißel, war ein engagierter Mitarbeiter im Lutherischen Weltdienst. Herbert Krimm, seit 1951 Leiter des Hilfswerks, vertrat die deutsche Evangelische Kirche in der Abteilung für zwischenkirchliche Hilfe und Flüchtlingsdienst des Ökumenischen Rates. Gerade in diesen vielfältigen Verflechtungen liegen die – institutionell nicht immer eindeutigen – Ursprünge der Diakonie Katastrophenhilfe.
Erste Spenden an Notleidende im Ausland
Die Anfangsgeschichte der Katastrophenhilfe ist vor allem die Geschichte vom tatkräftigen Handeln einzelner Personen und ihrer Überzeugungen. Sie öffneten den Deutschen die Augen für das Leid jenseits des eigenen Horizonts. Hervorzuheben sind: Herbert Krimm, Ludwig Geißel, Elisabeth Urbig und Christian Berg, der spätere Mitgründer und Namensgeber der 1959 ins Leben gerufenen Aktion Brot für die Welt. Dabei spielte nicht zuletzt die Erkenntnis eine Rolle, dass die Probleme der Gegenwart nur in einer weltumspannenden Verantwortlichkeit zu lösen seien: „Wir sind auf Gedeih und Verderb eine Familie unter dem Himmel. Die Forderung an die Völker der ganzen Welt lautet heute, sich um den Menschen und seine Bedürfnisse zu kümmern, wo immer er lebt.“ (Christian Berg, 1957)
Herbert Krimm
(geb. 1905 in Przemysl, Galizien; gest. 2002 in Karlsruhe)
war Pfarrerund Direktor des Hilfswerks. Während des Zweiten Weltkrieges wirkte Krimm als Militärpfarrer und nahm Kontakte zur Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ auf, wo er Eugen Gerstenmaier traf. Gerstenmeier berief Krimm 1946 in die Leitung des Hilfswerks. 1951 trat Krimm die Nachfolge Gerstenmaiers als Direktor an. Er gründete 1954 die Abteilung Ökumenische Diakonie in Stuttgart und war einer der geistigen Väter der Diakonie Katastrophenhilfe. 1954 bis 1970 leitete er das Diakoniewissenschaftlichen Institut in Heidelberg. Danach arbeitete er als Seelsorger in einer Nervenklinik. Herbert Krimm orientierte sich an dem Grundsatz: „Die eigentliche, die schwerste, aber auch die bedeutsamste Aufgabe: die Mitverantwortung für die Not der Welt zu einem ebenso selbstverständlichen und undiskutablen Bestandteil des Gemeindelebens zu machen wie die Sorge um die Not in der eigenen Mitte.“
Durch die internationalen Kontakte gewannen die Hilfswerkmitarbeiter tiefe Einblicke in die weltweiten Nöte. So erinnerte sich Elisabeth Urbig, die im Hilfswerk für die Auslandskontakte zuständig war, Mitte der 1950er Jahre: „Der Wendepunkt in unserer ökumenischen Diakonie fing so an, dass ausländische Besucher nicht mehr allein nach Europa kamen, um sich in Deutschland umzusehen, sondern von Asien, von Korea, von Japan, von Indien und Pakistan und von der arabischen Tragödie erzählten. Ihre Berichte gipfelten immer darin: ‚Ja, hier in Deutschland ist es gewiss noch schlimm, aber die Not in Korea, in Jordanien, in Griechenland …‘ – das haben wir uns einfach nicht vorstellen können.“
Um hier zu helfen, überreichte das Hilfswerk 1951 eine erste Spende an den Ökumenischen Rat der Kirchen. Im Begleitschreiben hieß es: „Diese erste Beihilfe zur Linderung der Flüchtlingsnot außerhalb Deutschlands soll auch als Ausdruck des Dankes für alle Hilfe gesehen werden, die Deutschland und seiner evangelischen Christenheit in den letzten Jahren aus Mitteln ausländischer Kirchen zugeflossen ist. Sie soll ein Zeichen dafür sein, dass das Bewusstsein der Verantwortung auch für die Not außerhalb unserer Grenzen im Wachsen begriffen ist.“ Dabei war man sich bewusst, dass es sich nur um „kleine Gaben“ handelte: „Aber sie sind ein Anfang, der die Verpflichtung zu solcher Hilfe bestätigt.“
Was 1951 begann und sich mit einer ersten größeren Hilfsaktion 1953 nach der Flut in den Niederlanden fortsetzte, verdichtete sich 1954. Dieses Jahr steht für einen in dieser Deutlichkeit einmaligen moralischen Appell an die deutschen evangelischen Christen, international Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig gab es innerhalb des Hilfswerks einschneidende Veränderungen. Beides zusammen erhebt 1954 zu dem wichtigen Jahr in der Entstehungsgeschichte der Diakonie Katastrophenhilfe.
1954 als Gründungsjahr der Diakonie Katastrophenhilfe
Unter dem Titel „Drei Meilensteine. Der Weg des Hilfswerks durch das neue Jahr“ rief 1954 Herbert Krimm als Leiter des Hilfswerks die evangelischen Christen in Deutschland mit Nachdruck zu einer „Gesamtverantwortung für die Not [auf], einer Verantwortung, die nicht begrenzt ist nach Ländern, Erdteilen und Hautfarben, nicht billig abzuschütteln durch einen Seitenblick auf die Verschiedenheiten des Kulturstandes und der zivilisatorischen Lebensansprüche“. Im gleichen Jahr wurde die Ökumenische Diakonie als Abteilung des Hilfswerks gegründet und das Ökumenische Notprogramm ins Leben gerufen. Erstmals wurde so die diakonische Aufgabe der Katastrophenhilfe außerhalb der eigenen Landesgrenzen, wenn auch unter anderem Namen, institutionalisiert. Was heute als Diakonie Katastrophenhilfe besteht, war damals das Ökumenische Notprogramm oder wurde mit Begriffen wie Ökumenische Diakonie oder Nothilfe beschrieben. Als ausländische Nothilfe bezeichnete man auch die Aktion „Kirchen helfen Kirchen“, die sich ausschließlich dem Wiederaufbau von Gemeinden widmete, aber in den Quellen vielfach der Katastrophenhilfe zugeordnet wird. Die verschiedenen Namen zeigen, dass die Diakonie Katastrophenhilfe eben noch nicht etabliert und institutionalisiert war. Sie war im Entstehen begriffen und ihre Gründungsgeschichte muss als Prozess verstanden werden.
1954: Im Mitteilungsblatt des Hilfswerks erklärt Herbert Krimm, weshalb Hilfe im Ausland notwendig ist.
Die von Krimm definierten Meilensteine blieben nicht ohne Kritik. Allerorten trat ihm der Vorwurf entgegen, dass die fortwährende Not im eigenen Land doch Vorrang haben müsse. Anderen war es schlichtweg unbegreiflich, weshalb das Hilfswerk sogar unabhängig von religiösen Bekenntnissen helfen wollte. Die Idee der Ökumene stand damals noch am Anfang. Ohne Ansehen von Religion und Nationalität zu helfen, ist bis heute fester Grundsatz der Diakonie Katastrophenhilfe. Mitte der 1950er Jahre war das ein neuartiger Ansatz, der einen kontroversen Lernprozess auslöste. In der Tat ging damals vom Hilfswerk eine gesellschaftliche Innovation aus. Motiviert durch ein modernes, offenes Verständnis christlicher Nächstenliebe und umgesetzt mit einem zupackenden Pragmatismus wurde die Diakonie Katastrophenhilfe schon bald zu einem lebendigen Wirkungsfeld, wie Elisabeth Urbig feststellte: „Sie ist keine Geheimwissenschaft, die aus umwölkten Höhen betrieben wird, sondern harte Arbeit, die fleißig und getreu getan werden muss, und bei der es manchmal befreit und herzlich zu lachen gibt, und nicht nur wegen des babylonischen Sprachengewirrs …“
Genfer Konvention
Katastrophen lösen immer wieder riesige Flüchtlingsströme aus. Die internationale Gemeinschaft hat ein gemeinsames Recht geschaffen, das den Umgang mit Flüchtlingen regelt: Die Genfer Konvention. Die Konvention von 1951 und das ergänzende Protokoll von 1967 wird als „Magna Charta“ der Flüchtlinge bezeichnet. Die Konvention ist Ausdruck der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, Mindeststandards für die Behandlung von Menschen Anerkennung zu geben, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, um Zuflucht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer sexuellen Orientierung zu suchen. Nicht immer handeln Regierungen gemäß dieser internationalen Konvention. Als Grundstein des internationalen Flüchtlingsschutzsystems ist die Genfer Konvention auch für Hilfsorganisationen maßgeblich. Viele Leitgedanken der Konvention finden sich daher in der Arbeit der Diakonie Katastrophenhilfe wieder. Nach Geist und Buchstaben der Konvention von 1951 beruht der Flüchtlingsschutz auf folgenden Grundideen:
■ dass Flüchtlinge nicht dahin zurückgeschickt werden sollten, wo sie der Verfolgung ausgesetzt sind oder Verfolgung droht (Prinzip des non-refoulement)
■ dass allen Flüchtlingen ohne Unterschied und Diskriminierung Schutz zu gewähren ist;
■ dass das Flüchtlingsproblem ein soziales und humanitäres Problem ist und nicht Anlass zu Spannungen zwischen Staaten geben sollte;
■ dass die Versorgung von Flüchtlingen nur durch internationale Zusammenarbeit erreicht werden kann;
■ dass von Personen, die vor Verfolgung fliehen, nicht erwartet werden kann, dass sie beim Verlassen ihres Landes und bei der Einreise in ein anderes Land alle Vorschriften einhalten, und dass sie daher wegen illegaler Einreise in das Land, in dem sie Asyl suchen, oder wegen illegalen Aufenthalts in diesem Land nicht bestraft werden sollten.
Angesichts der immer wiederkehrenden Fluchtwellen vor Gewalt fordert die Diakonie Katastrophenhilfe mehr Schutz und Hilfe für das Millionenheer von Flüchtlingen und Vertriebenen weltweit. Die am 28. Juli 1951 verabschiedete UN-Flüchtlingskonvention muss wieder mit Leben erfüllt werden. Die Armen tragen die Hauptlast: 80 Prozent aller Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern. Pakistan nahm zum Beispiel 2013 mit 1,6 Millionen Flüchtlingen weltweit die meisten Menschen auf, gefolgt von Iran, Libanon, Jordanien und der Türkei. In den ärmsten Ländern Afrikas leben Millionen entwurzelter, vertriebener und verzweifelter Menschen.
Die Diakonie Katastrophenhilfe setzt sich insbesondere auch für das Los Binnenvertriebener ein. Laut UN waren 2013 etwa 33,3 Millionen Menschen im eigenen Land auf der Flucht. Schätzungen zufolge sind mindestens die Hälfte davon Kinder, die am meisten unter der Entwurzelung leiden. Binnenflüchtlinge fallen allerdings nicht automatisch unter den Schutz der UN-Konvention. Sie erhalten deshalb oft von keiner Seite offizielle Hilfe, sondern sind auf die Solidarität selbst schon armer Haushalte angewiesen und der Willkür von Behörden und Militärs ausgeliefert.
Helfen, wo immer es nötig ist: Internationale Katastrophenhilfe im Diakonischen Werk
Die Katastrophenhilfe war ein wesentlicher Bestandteil der Ökumenischen Diakonie. Die Flutkatastrophe in den Niederlanden 1953 war einer der letzten Anstöße, die sie mit ins Leben rief. Im Zuge der Nothilfe nach den politischen Unruhen in Ungarn 1956 erreichte das deutsche Spendenaufkommen Millionenhöhe. Mit diesem Geld konnte für die Ungarnflüchtlinge erstmals systematische Katastrophenhilfe geleistet werden. Es machte sich deutlich bemerkbar, dass es den Deutschen wieder besser ging – so gut, dass sie zunehmend bereit waren, etwas abzugeben. Nach diesem Durchbruch blieb die dann so genannte Not- und Katastrophenhilfe unter der Leitung von Ludwig Geißel eine feste Größe im 1957 aus Hilfswerk und Innerer Mission hervorgegangenen Diakonischen Werk.
Eine Besonderheit der Diakonie Katastrophenhilfe war von Anfang an, stets auf die weltweit vorhandene kirchliche Infrastruktur zurückgreifen zu können. Kirchen sind überall und an jedem Ort, wo Katastrophen stattfinden. Durch das partnerschaftliche Verhältnis zu kirchlichen Organisationen in den betroffenen Gebieten ist sie über die Verhältnisse vor Ort gut unterrichtet und kann sich den kulturellen Gegebenheiten und aktuellen Bedürfnissen anpassen. Bis heute ist die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen in den Katastrophengebieten ein wesentlicher Bestandteil. Helfende und Hilfsgüter kommen überwiegend aus den betroffenen Gebieten selbst, die Hilfe ist so kulturell angepasst und die regionale Wirtschaft wird gestärkt. Schnell entwickelte sich auch ein komplexes Verständnis von Katastrophenhilfe, eben nicht nur punktuell und kurzfristig im Katastrophenfall zu helfen. Die enge Kooperation mit der 1959 gegründeten Schwesterorganisation Brot für die Welt als Trägerin der evangelischen Entwicklungshilfe macht es jeweils möglich, akute Nothilfe in längerfristige Hilfsprogramme überzuleiten.
Von Anfang an richtete sich die Katastrophenhilfe stark an ethischen Prinzipien, entsprechend dem christlichen Menschenbild, aus: „Der Mensch in Not steht im Mittelpunkt, unabhängig von Nationalität, Rasse oder Glaube“, hielt Hannelore Hensle, die spätere langjährige Leiterin der Diakonie Katastrophenhilfe, diese Grundsätze fest. Daneben war die Organisation von Anfang an von starkem Pragmatismus und Schnelligkeit geprägt.
Was ist eine Katastrophe?
Der Begriff „Katastrophe“ bedeutet eine plötzliche oder allmählich sich entwickelnde tiefgreifende Störung des natürlichen, ökologischen, kulturellen Geschehens und des menschlichen Verhaltens.
Diese Störung geht – je nach Ursache, Zeit und Umständen – mit nachhaltigen Veränderungen und Zerstörungen einher, so dass eine Wiederherstellung des Status quo ante oder die Möglichkeit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung in Frage gestellt ist. Not- und Katastrophenhilfe wird damit zum systematischen Bemühen, die existenzbedrohenden Folgen von Ereignissen verschiedenster Art und Intensität für einzelne Gruppen oder Bevölkerungsteile durch eine dem Kontext im Notgebiet angepasste humanitäre Hilfe zu mildern und/oder deren Ursachen beseitigen zu helfen.
Das Motto „fly now, pray later“ (fliege jetzt, bete später), hatte ihr der erste Leiter Ludwig Geißel mit auf den Weg gegeben.
Von der Ungarnhilfe zum Syrienkonflikt
So wie in der Ungarnhilfe folgten in den kommenden Jahrzehnten viele weitere Einsätze bei humanitärer Not infolge von politischen Krisen: In den 1960er Jahren war das die Nothilfe in Nord- und Südvietnam sowie der Einsatz in der nigerianischen Kriegsprovinz Biafra. Die von Ludwig Geißel organisierte Biafra-Luftbrücke gehört bis heute zu den Meilensteinen der internationalen Katastrophenhilfe. Seit den 1970er und 1980er Jahren folgten viele weitere Einsätze bei Hunger- und Kriegskatastrophen in Afrika, beispielsweise in Äthiopien, Somalia, Sudan oder Kongo.
Die 1990er Jahre und das Ende des „Kalten Kriegs“ brachten Europa zurück auf die Agenda der Diakonie Katastrophenhilfe. Die Not war oft groß in den Nachfolgestaaten der zerfallenen Sowjetunion. Dann kam mit dem Jugoslawienkrieg längst überwunden geglaubtes Kriegselend zurück nach Europa. Hier engagierte sich die Diakonie Katastrophenhilfe auch langfristig beim Wiederaufbau von Häusern, Schulen und Krankenhäusern im Sinne einer nachhaltigen Hilfe zur Selbsthilfe.
Das 21. Jahrhundert brachte erneut Krieg nach Afghanistan und Irak. Dort minderte die Diakonie Katastrophenhilfe die humanitären Katastrophen. Die Einsätze beim Hochwasser 2002 in Deutschland, beim Tsunami 2004 in Süd- und Südostasien und weiteren Ländern, beim Erdbeben 2010 auf Haiti, im Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 sowie andauernde Hilfe in Kriegs- und Hungerkrisen in verschiedenen afrikanischen Ländern waren wichtige Einsätze der letzten Jahre. Nach der unmittelbaren Nothilfe nachhaltige Unterstützung zu leisten, die künftige Katastrophen vermeidet oder abmildert und die Betroffenen so weit wie möglich zur Selbsthilfe befähigt, rückte dabei immer mehr auch die Prävention von Katastrophen in den Mittelpunkt. Denn Katastrophen passieren nicht einfach, sie werden von Menschen gemacht und sind Ergebnis vom Raubbau an der Natur oder von machtpolitischen Interessen.
Nach den Anfängen mit einer Handvoll Mitarbeitern und viel ehrenamtlichem Engagement ist die Diakonie Katastrophenhilfe inzwischen zu einer hochprofessionellen spendenbasierten Organisation mit ca. 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwachsen. Es gibt mehrere Regional- und Projektbüros in Afrika, Asien und Amerika, derzeit im Tschad, im Südsudan, in Kenia und im Kongo, in der Türkei, in Pakistan, in Kolumbien und auf Haiti.
Im Jahr 2012 erlebte das humanitäre Hilfswerk eine bedeutende Umstrukturierung. Seit Ende der 1950er Jahre war es Teil des Diakonischen Werks mit Sitz in Stuttgart. Nun gehört es zum neu gegründeten „Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.“ Dieses Werk entstand aus der Fusion des Diakonischen Werks mit der Diakonie Katastrophenhilfe, Brot für die Welt und dem Evangelischen Entwicklungsdienst. Pfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel ist Vorstandsvorsitzende des Werks und Präsidentin von Brot für die Welt, wo heute die Diakonie Katastrophenhilfe angesiedelt ist.
Die Abteilung Diakonie Katastrophenhilfe leitet heute als Nachfolger von Ludwig Geißel, Hannelore Hensle, Thomas Hoerz und Volker Gerdesmeier Martin Keßler. Die Fusion brachte auch den Umzug von Stuttgart nach Berlin mit sich. Unbeeinflusst davon bleiben die Grundsätze der Arbeit: „Das Mandat der Diakonie Katastrophenhilfe, Betroffenen unabhängig von Religion, Hautfarbe und Nationalität in akuten Notlagen gemäß ihrem Hilfsbedarf so zu helfen, dass sie so bald als möglich wieder auf die eigenen Beine kommen, bleibt durch die Fusion ebenso unverändert wie ihre Arbeitsweise“, hält die Präsidentin Cornelia Füllkrug-Weitzel fest.
Organigramm der Diakonie Katastrophenhilfe