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Markttheorie
ОглавлениеVor allem seit den 1980er Jahren haben die Vertreter der sogenannten Markttheorie die Säkularisierungstheorie stark infrage gestellt. Eine Gruppe von vor allem US-amerikanischen Forschern – Rodney Stark, Roger Finke, William Bainbridge und Laurence Iannaccone – behauptete in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil dessen, was Modernisierungstheoretiker seit vielen Jahrzehnten als gesichertes Wissen angenommen hatten.65 Die Markttheoretiker bestreiten energisch, dass die Modernisierung westlicher Gesellschaften zu einer Abnahme von Religion und Religiosität geführt habe. Dies sei eine Selbsttäuschung, die es ein für alle Mal zu begraben gelte.66 Der religiöse Niedergang in Europa sei ein Mythos, religiöse Glaubensüberzeugungen in Europa seien nach wie vor sehr hoch, in früheren Zeiten seien die Personen viel weniger religiös gewesen als oft vermutet, und ganz generell sprächen die Entwicklungen in den USA, den arabischen Ländern und Osteuropa gegen die These fortschreitender Säkularisierung.67 Wenn nicht durch die Modernisierungstheorie, wodurch lassen sich dann die grossen Religiositätsunterschiede zwischen verschiedenen Ländern erklären?
Die Lösung sei – so die Markttheoretiker – bestechend einfach: Es genüge, Religion als einen Markt mit Anbietern (Kirchen und religiöse Gruppen) und Nachfragern (Gläubige) zu verstehen und die allgemeinen ökonomischen Marktgesetze von Angebot und Nachfrage anzuwenden.68 Eine entscheidende, dem Ansatz zugrundeliegende Annahme ist eine konstant gleichbleibende religiöse Nachfrage – d. h., dass Menschen überall auf der Welt im Prinzip die gleichen religiösen Bedürfnisse, den gleichen Durst nach «überweltlichen Gütern» aufweisen. Das aber bedeutet, dass Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern ausschliesslich durch unterschiedliches religiöses Angebot zu erklären sind, und dieses wiederum hängt zentral von der staatlichen Regulierung des religiösen Marktes ab. |29|
In regulierten Märkten (in denen wir z. B. ein Monopol oder Oligopol finden) würden die Menschen – so die These der Markttheorie – mit zu teuren und qualitativ tief stehenden religiösen Produkten versorgt. Religion sei deshalb unattraktiv und würde aus diesem Grund wenig nachgefragt. Dies erkläre die tiefe Religiosität in Westeuropa. In Ländern ohne Regulierung, in Ländern mit freier Konkurrenz also, stünden die religiösen Gemeinschaften miteinander im Wettstreit, eiferten um die Gunst der Gläubigen und produzierten genau diejenigen religiösen Güter, die den Menschen am besten zusagten. Die Konsequenz bestünde in einer hohen Gesamtreligiosität, wie sie sich etwa in den USA zeigt. Überhaupt sähe man, so die Markttheoretiker weiter, gerade an der Geschichte der USA, wie Industrialisierung und Modernisierung gerade nicht mit einer Abnahme, sondern mit einer Zunahme von Religiosität einhergegangen seien.69
Die Markttheorie weist im Vergleich zu Modernisierungs- und Individualisierungstheorie völlig andere Stärken und Schwächen auf. Positiv ist zu werten, dass diese Theorie die Akteurperspektive beinhaltet. Der Ansatz spricht nicht nur abstrakt von Prozessen, sondern von Individuen und kollektiven Akteuren (Kirchen, Organisationen usw.), die nicht nur passiv den Geschehnissen ausgeliefert sind, sondern diese aktiv gestalten können. Auch wird hier im Unterschied zu den zwei vorherigen Theorien ein klarer kausaler Mechanismus vorgestellt: Es ist einleuchtend, wie – der Theorie gemäss – unterschiedliche gesellschaftliche Makrobedingungen die Situation von Individuen und kollektiven Akteuren verändern, wie diese reagieren und wie sich hieraus die zu erklärenden neuen Situationen ergeben.
Der Schwachpunkt der Theorie liegt nicht in zu geringer Konkretheit, sondern gerade umgekehrt darin, dass ein sehr spezieller Mechanismus in unzulässiger Weise auf alle möglichen Zeiten und Gesellschaften verallgemeinert wird. So ist offensichtlich, dass sich Kirchen in sehr vielen Gesellschaften nicht als Firmen verstehen und Gläubige sich nicht wie Kunden verhalten.70 Empirisch zeigt sich, dass der von der Markttheorie postulierte Mechanismus oft nicht spielt. Vermehrter Pluralismus, ein freierer Markt und weniger Regulierung führen oftmals gerade nicht zu mehr Religiosität.71 Zudem kann auch der religiöse Bedarf nicht einfach als konstant angesehen werden, sondern unterliegt Veränderungen und Beeinflussungen durch die jeweiligen Regionen und Umweltbedingungen.
Auch wenn die Ideen der Markttheoretiker sich als Ganzes nicht bewährt haben, sind u. E. doch verschiedene Elemente ihrer Theorie durchaus brauchbar. |30| Vor allem die Idee der Konkurrenz um die Gunst, Zeit und Energie der Menschen werden wir für unsere eigene Theorie aufgreifen.