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Einleitung: Grundschule im Kontext von Flucht und Migration

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Heike de Boer & Daniela Merklinger

Manchmal I

Manchmal spricht ein Baum durch das Fenster mir Mut zu

Manchmal leuchtet ein Buch als Stern auf meinem Himmel

Manchmal ein Mensch den ich nicht kenne der meine Worte erkennt

Rose Ausländer © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. M.

Seit 2015 kam mehr als eine Million Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nach Deutschland. Viele davon sind Familien mit Kindern im Grundschulalter, die einerseits unterschiedliche Lebens- und Bildungserfahrungen mitbringen und andererseits viele Gemeinsamkeiten mit Familien und Grundschulkindern im Einwanderungsland Deutschland haben. Auch Kinder mit Fluchtgeschichte sind in erster Linie Kinder (vgl. Berthold 2014). Sie haben die gleichen Bedürfnisse wie alle Kinder in dieser biografisch sensiblen Phase. Sie freuen sich an Kontakten zu anderen, am gemeinsamen Spiel oder Unternehmungen. Der Ausschluss von Freizeitangeboten und Kontakt mit Gleichaltrigen aufgrund ökonomischer, sprachlicher und behördlicher Hindernisse wirkt besonders schwer (vgl. ebd.). Gleichzeitig stehen die Kinder ihrer neuen Heimat, der Schule und der Möglichkeit, Freunde zu finden, sehr positiv und aufgeschlossen gegenüber, allen Hindernissen zum Trotz, wie Interviews mit neu zugewanderten Kindern zeigen (World Vision 2016).

Integration durch Bildung kann an diesen Potenzialen ansetzen, indem sie den Kindern Räume und Möglichkeiten dafür bietet, sich selbst als angenommen und kompetent zu erfahren, ihr kulturelles und sprachliches Wissen einzubringen und zugleich zu erweitern. Für diese Aufgabe sind professionell agierende Lehrkräfte und Pädagog*innen elementar, die zum einen über ein großes Handlungsrepertoire verfügen und andererseits auch das eigene Handeln reflektieren, aktiv Potenziale und Gemeinsamkeiten in den Blick nehmen und die Unterschiede als konstitutiv für migrationsgesellschaftliche Verhältnisse respektieren. Denn kulturelle und sprachliche Unterschiede sind »Kennzeichen der einen (pluralen) Gesellschaft: Wir sind different, sprechen Türkisch, Kurdisch, Russisch und Deutsch, haben unterschiedliche Weltanschauungen, die traditionell oder in neuen, hybriden Formen verknüpft, geglaubt und gelebt werden« (Karakaşoğlu/Mecheril 2019: 25).

Dennoch ist die Tatsache, dass Deutschland eine Migrationsgesellschaft ist, weder in Schulen noch an den Universitäten angekommen und gelebte Praxis.

So zeigen die jüngeren Ergebnisse der vom Stifterverband initiierten Projekte »Stark durch Diversität – interkulturelle Bildung in der Lehrerbildung«1, dass es an deutschen Universitäten zwar vereinzelt qualitativ hochwertige Bildungsangebote für Lehramtsstudierende zum Thema Migration und Mehrsprachigkeit gibt. Da es sich aber in den meisten Fällen um singuläre oder additive Einzelprojekte handelt, bleibt die Nachhaltigkeit begrenzt (vgl. Stifterverband 2020). Auch Universitäten bedürfen einer Lehrerbildung für die Einwanderungsgesellschaft (ebd.), in der nicht nur Konzepte für mehrsprachiges, bildungs- und fachsprachliches Handeln entwickelt werden, sondern eine systemisch-konzeptionelle Perspektive eingenommen wird, in der sozio-kulturelle, religiöse und sprachliche Bedingungsfaktoren zusammengedacht werden. In einer Zeit, in der rassistische und diskriminierende Positionen in der Gesellschaft zunehmen, ist dies wichtiger denn je.

In schulischen und auch pädagogisch-fachdidaktischen Kontexten wird Integration/Inklusion heute häufig auf das Erlernen der deutschen Sprache reduziert. Doch ein erfolgreicher Integrationsprozess ist vor allem auch daran gebunden, dass Schüler*innen und Eltern neue positive Erfahrungen machen können, eigene Stärken erfahren und ausbauen, dass soziale Beziehungen entstehen und Kinder und Familien sich als Teil der Aufnahmegesellschaft fühlen.

Unter dem Slogan »Integration durch Bildung« gibt es zahlreiche Veröffentlichungen (z. B. KMK 2016; 2020), die Bedingungen für die Integration von Kindern mit Migrations- und Fluchthintergrund formulieren. Doch konkrete Maßnahmen zur Integration lassen soziale und kulturelle Aspekte oft außer Acht.

Der 2016 von King und Lulle herausgegebene europäische Forschungsbericht zur Migration weist eindrücklich darauf hin, dass Integration ein komplexer Prozess ist, der wirtschaftliche, soziale, kulturelle und bildungsorientierte Aspekte umfasst, die nicht losgelöst voneinander wirken, sondern einander wechselseitig bedingen (vgl. King/Lulle 2016: 53). Dort werden vor allem die sozialen und kulturellen Prozesse als förderlich für Bildung eingeschätzt (ebd.). Dass Integration ein komplexer und im besten Fall wechselseitig angelegter Prozess ist, untermauern auch soziologische Reflexionen. Sie machen sichtbar, dass die soziale Integration in weitere Faktoren ausdifferenziert werden kann. So unterscheidet Heckmann strukturelle, kulturelle, soziale und identifikative Integrationsaspekte (Heckmann 2015: 71). Seine Analysen zeigen, dass diese Dimensionen in wechselseitigen Kausalbeziehungen stehen (ebd.: 73); denn identifikative Prozesse gehen z. B. auf als erfreulich erlebte soziale Bezüge zurück, die sich in geteilten kulturellen Erlebnissen ereignen können; genauso wie die kulturelle Integration durch die Zunahme von Kontakten und Austauschmöglichkeiten profitiert, die sich über »die zunehmende Einbindung in Kernsituationen der Aufnahmegesellschaft« (ebd.) vollzieht.

Dementsprechend besteht eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung darin, Familien und ihren Kindern sowohl soziale als auch kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Voraussetzung dafür ist, die unterschiedlichen Sprachen, Lebens- und Bildungserfahrungen der zugewanderten Kinder und ihrer Familien kennenzulernen, wertzuschätzen und in den Unterricht einzubinden. Vor diesem Hintergrund stehen folgende Fragen im Mittelpunkt des Buches:

Welches Wissen brauchen Lehrkräfte und zukünftige Lehrkräfte darüber, welche Erfahrungen Kinder und ihre Familien vor der Flucht und auf der Flucht gemacht haben, um das Handeln von Kindern und Eltern im schulischen Kontext zu verstehen?

Wie kann es gelingen, die sprachliche und kulturelle Vielfalt so zu nutzen, dass alle, die an Schule beteiligt sind, mit- und voneinander lernen können?

Diese Fragen werden in den verschiedenen Beiträgen des Buches ausdifferenziert.

Heike de Boer diskutiert in ihrem Beitrag Migration, Wohlbefinden und Schule, wie soziale und kulturelle Inklusionsprozesse zusammenhängen und durch welche Faktoren die schulische Inklusion neu zugewanderter Kinder gefördert werden kann. Dazu werden aktuelle Studienergebnisse im Kontext der Well-Being-Kindheitsforschung vorgestellt. Darauf aufbauend wird reflektiert, welche blinden Flecken in der Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie in der Professionalisierung von Lehrkräften im Umgang mit Flucht und Migration bestehen. An einem Projektbeispiel werden Bildungsprozesse Studierender dokumentiert, die in einem Mentoring-Projekt durch Fremdheitserfahrungen, Irritationen und antinomische Herausforderungen angestoßen wurden und eine Reflexion der individuellen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster ausgelöst haben. Abschließend werden Faktoren gebündelt, die elementar zur Entstehung von Teilhabegerechtigkeit für Kinder mit Flucht- und/oder Migrationsgeschichte im schulischen Alltag beitragen.

Sabine Andresen zeigt in ihrem Beitrag »Bisschen mit Bus, bisschen mit Zug.« Zugänge der Kindheitsforschung zum Themenfeld Flucht auf sehr eindrückliche Weise, dass Interviews mit Kindern mit Fluchtgeschichte die Routinen der meisten Kindheitsforscher*innen durchbrechen. So auch bei den neun Interviews der World Vision Studie 2016, denn existenzielle Themen wie Abschiede, Beziehungsabbrüche, lange Trennungen, Angst um das eigene Leben und Gewalt können die Forschungssituation prägen und Fremdheit zwischen Forscher*innen und Kindern verstärken. Forscher*innen geraten in Anbetracht der Erzählungen der Kinder über ihre Flucht immer wieder an die Grenze des Vorstellbaren. Vor diesem Hintergrund betont Sabine Andresen die zentrale Bedeutung der Vorstellungskraft für die Kindheitsforschung, ebenso die Bedeutung autobiographisch angelegter Texte von Autor*innen mit Fluchterfahrung, die den Forscher*innen eine Möglichkeit geben, sich dem kaum Vorstellbaren zu nähern. Die World Vision Studie 2016 stellt in dem Wissen um die prinzipiellen Ressourcen der Kinder und ihre Verletzlichkeit und Angewiesenheit auf Schutz dar, wie Kinder unter den extremen Bedingungen von Flucht ihre Welt ordnen. Am Beispiel der Bereiche Familie und Freunde, die für das Wohlbefinden von Kindern zentral sind, gibt Sabine Andresen bewegende Einblicke in die Sicht einzelner geflüchteter Kinder. Der Beitrag schließt mit konkreten Fragen für die zukünftige Kindheitsforschung.

In ihrem Beitrag Soziale Netzwerke, Peerkontakte und schulisches Selbstkonzept neu zugewanderter Kinder in der Schule arbeitet Charlotte Röhner heraus, dass flucht- und migrationsbedingte Zuwanderung Kinder und Jugendliche vor eine hohe Anpassungs- und Akkulturationsleistung stellt, die nicht nur das Sprachlernen, sondern vor allem auch die kulturelle und psychosoziale Integration umfasst. Sie stellt Ergebnisse einer empirischen Studie zu sozialen Netzwerken, Peerkontakten und schulischem Selbstkonzept vor, die an der Schnittstelle von Migrations- und Kindheitsforschung der Frage nachgeht, welche Bedeutung einheimische Peers für den Akkulturationsprozess neu zugewanderter Kinder haben. Aus den Befunden werden pädagogische Schlussfolgerungen für die kulturell-soziale und sprachliche Integration gezogen, die den Kontaktaufbau und das Sprachlernen sowohl unter einheimischen als auch unter neu zugewanderten Kindern als Schlüssel für ein gemeinsames Miteinander versteht.

In dem Beitrag Mehrsprachige Kinder zum Sprechen ermutigen: Dialogische Gespräche führen reflektieren Heike de Boer und Daniela Merklinger die Bedeutung eines auf Reziprozität und Dialog ausgerichteten Gesprächshandelns. Diskutiert wird, wie die interaktive Hervorbringung von Erzählwürdigkeit im gemeinsamen Gespräch von Kindern und Erwachsenen durch die Gesprächsführung der Erwachsenen verhindert oder ermöglicht werden kann. Im Anschluss an empirische Forschungen aus der anglo-amerikanischen Interaktionsforschung werden Faktoren herausgearbeitet, die zu einem reziproken Gesprächshandeln führen können. An zwei Fallbeispielen aus dyadischen Erzählsituationen zwischen Kindern mit mehrsprachigem Hintergrund und Studierenden wird dargelegt, wie Kinder trotz sprachlicher Hürden Erzählungen entfalten und diese gemeinsam mit dem erwachsenen Gegenüber im interaktiven Prozess weiterentwickeln. Expliziert wird zum einen, dass dialogisch-reziproke Momente im Gespräch besonders dann hervorgebracht werden, wenn Kinder als Experten ihrer Lebenswelt adressiert werden und zeigen können, was sie wissen und was sie interessiert; zum anderen werden Gesprächshandlungen gesprächsanalytisch ausdifferenziert, an denen eine dialogische und reziproke Grundhaltung erkennbar werden kann.

Christiane Bainski und Ursula Neumann legen in ihrem Beitrag Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule in der Migrationsgesellschaft dar, wie bedeutend die Entwicklung von Bildungs- und Erziehungspartnerschaften für eine produktive Verständigung zwischen Eltern und Vertreter*innen der Schule sind. Am Beispiel des Projektes »Rucksack-Schule« werden wichtige Faktoren expliziert, die zu einer gelingenden Verständigung beitragen. Gezeigt wird, wie vor allem die Defizitperspektive auf die vielfältigen familiären Lebensbedingungen und Lebensweisen verlassen werden kann und die Ressourcen, die Eltern mitbringen, fokussiert werden. Die Autorinnen belegen mit Beispielen aus der empirischen Begleitforschung des Projektes »Rucksack-Schule«, wie bedeutend umfassende Partizipationsmöglichkeiten für Eltern sind. Zugleich wird sichtbar, dass Lehrkräfte Qualifizierungsangebote für die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule benötigen.

Klaus Fröhlich-Gildhoff, Maike Rönnau-Böse und Sabrina Döther stellen in ihrem Beitrag Resilienz im Klassenzimmer zunächst das Resilienzkonzept dar und illustrieren es dann in seiner Anwendung im schulischen Kontext. Dies geschieht auf der Grundlage von zwei Praxisforschungsprojekten des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung an der Evangelischen Hochschule Freiburg, an denen insgesamt 24 Grundschulen teilgenommen haben. Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation dieser Projekte, an denen auch zahlreiche Familien mit Migrations- und Fluchthintergrund teilgenommen haben, werden diskutiert und in ihren positiven Wirkungen auf der Ebene der Institutionen, der Lehrer*innen, der Kinder und Eltern reflektiert. Daraus werden im Weiteren spezifische Hinweise zur Resilienzförderung in der Grundschule bei Kindern mit Fluchterfahrung entwickelt.

Um Geflüchtete Kinder und Traumatisierung geht es in dem Beitrag von Christine Bär. Dabei wird zunächst ein Verständnis von Flucht zugrunde gelegt, nach dem diese kein punktuelles, traumatisierendes Ereignis, sondern vielmehr einen langjährigen Prozess darstellt, der nach der Ankunft im Aufnahmeland noch lange nicht aufhört. Denn insbesondere in den ersten Jahren nach gelungener Flucht können die unsicheren und bedrohlichen Aufenthaltsbedingungen zu weiteren Traumata führen, die die Traumata der Flucht chronifizieren. Bär reflektiert die häufig zu beobachtende Rollenumkehr zwischen Kindern und Erwachsenen, in denen die Kinder zu Hoffnungsträgern der Familien werden; ihre schulischen Leistungen sollen den Selbstwert der Familien stärken. Sie zeigt auf, dass dieser Kontext zu einer schulischen Überangepasstheit und (vermeintlich) selbstständigen Entwicklung führen kann, was für Lehrkräfte als Ausdruck eines Traumas nicht leicht zu erkennen ist. Leichter zu erkennen sind Verhaltensweisen, die als Irritationen oder »Störung« in Erscheinung treten, so Bär. Sie resümiert, dass eine besondere Herausforderung für Lehrkräfte darin besteht, dass es zur Übertragung der traumatischen Beziehung auf die Lehrperson kommen kann. An einem Fallbeispiel wird reflektiert, wie fragil der schulische Umgang mit einem Kind ist, das sich in einer (traumatischen) Krise nach der Flucht befindet. Der Beitrag schließt mit Möglichkeiten des schulischen Umgangs mit traumatisierten Kindern.

In dem Beitrag Interreligiöses Lernen im Unterricht der Grundschule berichtet Susanne von Braunmühl von Erfahrungen mit interreligiösem Lernen in Grundschulklassen. Zunächst wird grundgelegt, was unter interreligiösem Lernen zu verstehen ist und welche Bedeutung das Begegnungslernen in diesem Kontext hat. Im Anschluss daran werden drei unterschiedliche Beispiele aus der Praxis vorgestellt: 1. religiöse Feste, 2. religiöse Artefakte, 3. Besuch von Gotteshäusern. Ausgehend von den Fragen und Erfahrungen der Kinder wird dargestellt, wie interreligiöses Lernen stattfinden kann und wie Kinder sich gegenseitig über Bräuche, Rituale und Geschichten, die in ihrer Religion von Bedeutung sind, befragen und darüber berichten. Von Braunmühl arbeitet Ziele interreligiösen Lernens heraus und illustriert an einem Beispiel, wie dieser Prozess in der Praxis konkret aussehen kann.

Grundschule im Kontext von Flucht und Migration

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